Dem Earl ausgeliefert

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

"Einen Schurken erkennst du am unzüchtigen Glimmen in seinen Augen, der Leichtigkeit seines Charmes und seiner animalischen Anziehungskraft!" Betroffen muss Lady Kathleen an die warnenden Worte ihrer Ziehmutter denken, als sie vor Devon Ravenel, dem neuen Earl of Trenear, steht. Denn verhängnisvoll gut passt diese Beschreibung auf ihn. Plötzlich fühlt sich die irische Schönheit ganz schwach. Als junge Witwe hängt ihre Zukunft von Devon, dem Erben ihres verstorbenen Mannes, ab. Mit einer Handbewegung kann dieser verwegene Schurke sie des Anwesens Eversby Priory verweisen - oder noch Schlimmeres von ihr verlangen …

"Kleypas ist eine Meisterin ihres Fachs."
Kirkus Reviews


  • Erscheinungstag 05.03.2018
  • Bandnummer 1
  • ISBN / Artikelnummer 9783955767143
  • Seitenanzahl 432
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. Kapitel

Hampshire, England,
August 1875

Was zum Teufel habe ich bloß verbrochen, dass das Schicksal mich so hart bestraft?« Devon Ravenel warf seinem jüngeren Bruder einen grimmigen Blick zu. »Mein Leben liegt in Trümmern. Und warum? Weil ein Verwandter, den ich nicht einmal leiden konnte, vom Pferd gestürzt ist.«

»Theo ist nicht gestürzt«, korrigierte Weston geduldig. »Er wurde abgeworfen.«

»Offenbar fand das Tier ihn genauso unleidlich wie ich.« Mit schnellen, rastlosen Schritten begann Devon im Empfangssalon auf und ab zu laufen. »Wenn Theo sich das verdammte Genick nicht bereits gebrochen hätte, würde ich losgehen und ihm eigenhändig den Hals umdrehen.«

In Westons Miene stand komische Verzweiflung, als er seinen Bruder kopfschüttelnd betrachtete. »Worüber beschwerst du dich? Du hast den Titel eines Earls geerbt, der dir ein Anwesen in Hampshire, ausgedehnten Grundbesitz in Norfolk, eine Stadtresidenz in London …«

»Alles Fideikommiss, ich habe lediglich ein Nießbrauchsrecht. Sieh mir nach, wenn ich für Land und Liegenschaften, die mir weder gehören noch verkäuflich sind, wenig Begeisterung aufbringen kann.«

»Es ist nicht ausgeschlossen, dass du die Umwandlung in unveräußerliches Familienvermögen rückgängig machen kannst, je nachdem, wie der Vertrag im Einzelnen geregelt ist. Und wenn das möglich ist, könntest du alles verkaufen und es ist gut.«

»So Gott will.« Angeekelt betrachtete Devon den an der Wand blühenden Schimmel. »Niemand kann von mir verlangen, dass ich hier lebe. Dieses Haus ist eine Ruine.«

Es war das erste Mal, dass die Brüder den auf den Grundmauern einer ehemaligen Klosteranlage errichteten Landsitz ihrer Vorfahren besuchten. Denn obwohl der Titel bereits kurz nach Theos Tod vor drei Monaten auf ihn übergegangen war, hatte Devon es so lange wie möglich vor sich hergeschoben, sich den Problemen zu stellen, die auf Eversby Priory auf ihn warteten.

Bis jetzt hatten sie nur die Eingangshalle und den Empfangssalon gesehen, die beiden Räume, die einen Besucher am meisten beeindrucken sollten. Doch die abgetretenen Teppiche, die heruntergekommenen Möbel mit den zerschlissenen Polstern und die bröckelnden Stuckaturen, in deren Vertiefungen der Staub sich sammelte, verhießen nichts Gutes für den Rest der Besichtigung.

»Das Haus muss dringend instand gesetzt werden.« Weston lächelte schief.

»Es muss dem Erdboden gleichgemacht werden«, korrigierte Devon bissig.

»So schlimm ist es nicht …« Weston schrie kurz auf, als sein Fuß in eine Vertiefung im Teppich einsank. Er sprang erschrocken zur Seite und starrte auf die Einbuchtung. »Was in Dreiteufelsnamen …?«

Devon bückte sich und hob eine Ecke des Teppichs an. Das morsche Parkett darunter wies ein Loch auf. Kopfschüttelnd ließ er den Teppich fallen und trat an das Buntglasfenster im Erker. Das Blei, das die rautenförmigen Glasscheiben zusammenhielt, war korrodiert, die Beschläge und Scharniere an den Rahmen verrostet.

»Warum hat er das nicht reparieren lassen?«, murmelte Weston kopfschüttelnd.

»Aus Geldmangel, was sonst?«

»Aber wie kann das sein? Das Anwesen ist weit über achttausend Hektar groß. Und bei den vielen Pächtern müssen die jährlichen Erträge …«

»Herkömmlich betriebene Landwirtschaft wirft keine Gewinne mehr ab.«

»In Hampshire?«

Devon warf seinem Bruder einen düsteren Blick zu, bevor er sich wieder der Aussicht zuwandte. »Egal wo.«

Die Landschaft, auf die er hinaussah, war saftig grün und ländlich, die Felder waren unterteilt durch Hecken, die in voller Blüte standen. Doch irgendwo hinter den idyllischen Weilern mit ihren reetgedeckten Cottages und den fruchtbaren Ebenen mit ihren Mergelböden und den Waldungen mit altem Baumbestand wurden Hunderte Meilen Stahlschienen verlegt, auf denen bald Dampflokomotiven lange Reihen von Waggons ziehen sollten. In ganz England schossen neue Fabriken und große Hallen für die Textilverarbeitung aus dem Boden, schneller als die Weidenkätzchen im Frühling. Es war Devons Pech, dass er den Titel zu einem Zeitpunkt geerbt hatte, als die Industrialisierung aristokratische Traditionen und die vornehme Lebensweise hinwegfegte wie ein Sturmwind.

»Woher weißt du das?«, fragte sein Bruder in seine Gedanken hinein.

»Das weiß doch jeder, Weston. Die Getreidepreise sind vollkommen eingebrochen. Wann hast du das letzte Mal einen Artikel darüber in der ›Times‹ gelesen? Schenkst du den Diskussionen im Club und in den Tavernen keine Aufmerksamkeit?«

»Nicht wenn es um Landwirtschaft geht«, gab Weston mürrisch zur Antwort. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen und rieb sich die Schläfen.

»Ich versuche es zumindest. Aber wenn Tod und Armut ins Spiel kommen, wird jedes Thema anstrengend.« Devon lehnte die Stirn an die Fensterscheibe. »Ich habe ein bequemes Leben ohne einen einzigen Tag redlicher Arbeit immer geschätzt. Jetzt habe ich Pflichten und Verantwortung.« Er sprach die Worte aus, als handelte es sich um etwas Obszönes.

»Ich helfe dir, Möglichkeiten zu finden, beidem aus dem Weg zu gehen.« Weston grub in den Taschen seines Gehrocks und beförderte einen silbernen Flachmann zutage. Er drehte am Schraubdeckel und trank einen großen Schluck.

Devons Brauen schossen in die Höhe. »Ist es nicht ein bisschen früh für Brandy? Du wirst betrunken sein, ehe es Mittag ist.«

»Richtig, aber wenn ich jetzt nicht anfange, schaffe ich es nicht.« Weston setzte die Taschenflasche noch einmal an.

Sich gehen zu lassen schien bei seinem jüngeren Bruder zur Gewohnheit zu werden. Devon musterte Weston besorgt. Er war ein hochgewachsener, gut aussehender Mann von vierundzwanzig Jahren mit einem messerscharfen Verstand, den er offensichtlich gedachte, so selten wie möglich einzusetzen.

Exzessives Trinken im vergangenen Jahr hatte ihm ungesund rote Wangen beschert und seinen Hals und die Taille füllig werden lassen. Obwohl Devon es sich zum Prinzip gemacht hatte, sich nie in die Angelegenheiten seines Bruders einzumischen, fragte er sich, ob er dessen Trunksucht zur Sprache bringen sollte. Nein, Weston würde dies als unwillkommenen Ratschlag zurückweisen.

Sein Bruder verstaute den Flachmann in seiner Rocktasche, stützte die Ellbogen auf die Knie und legte die Fingerspitzen aneinander. »Du wirst dir Kapital beschaffen und einen Erben zeugen müssen. Eine reiche Ehefrau sollte für beide Probleme die Lösung sein.«

Devon erbleichte. »Du weißt, dass ich nicht vorhabe, zu heiraten.« Schließlich kannte er sich gut genug, er war nicht dazu bestimmt, Ehemann und Vater zu werden. Die Vorstellung, die Farce seiner eigenen Kindheit zu wiederholen, mit ihm selbst in der Rolle des grausamen, gleichgültigen Vaters, verursachte ihm eine Gänsehaut. »Und mein Erbe bist du.«

»Glaubst du wirklich, ich überlebe dich?« Weston lachte ironisch. »Bei den vielen Lastern, die ich habe?«

Devon konnte nicht anders, er grinste schief.

Niemand hatte voraussehen können, dass ausgerechnet sie beide aus einem weit entfernten Zweig der Ravenels die Letzten sein würden, deren Stammbaum sich bis zur normannischen Eroberung zurückverfolgen ließ. Unglücklicherweise waren die Mitglieder der Familie immer etwas zu heißblütig und unbesonnen gewesen. Sie hatten jeder Versuchung nachgegeben, jede Sünde begangen, jede Tugend verachtet – mit dem Ergebnis, dass sie schneller zu sterben pflegten, als sie sich vermehren konnten.

Nun gab es nur noch sie beide.

Aber obwohl sie von Stand waren, hatten sie nie zum Hochadel gehört, jener Welt, die so exklusiv war, dass sie selbst dem niederen Adel verschlossen blieb. Devon kannte die komplexen Regeln und Rituale nicht, die die Aristokratie von den gewöhnlichen Massen unterschied. Aber er wusste, dass Eversby kein Glücksfall war, sondern eine Falle. Das Anwesen warf nicht genug ab, um sich selbst zu finanzieren. Es würde das bescheidene Jahreseinkommen aus Devons Treuhandvermögen verschlingen, ihn erdrücken und anschließend seinen Bruder.

»Lass die Ravenels aussterben«, fuhr Devon fort. »Wir waren von Anfang an ein übler Haufen. Wen schert es, wenn der Earltitel erlischt?«

»Die Dienerschaft und die Pächter könnten etwas dagegen haben, ihren Lebensunterhalt und ihre Wohnstätten zu verlieren«, gab Weston nüchtern zu bedenken.

»Sie sollen sich von mir aus zum Teufel scheren. Ich sage dir, was ich mache. Als Erstes schicke ich Theos Witwe und seine Schwestern Koffer und Taschen packen. Sie sind von keinerlei Nutzen für mich.«

»Devon …«, meldete sein Bruder sich unbehaglich zu Wort.

»Dann finde ich heraus, wie ich die Umwandlung in unveräußerliches Familienvermögen wirkungslos machen kann, und verkaufe das Anwesen stückweise. Wenn das nicht möglich ist, räume ich alles, was nur irgendwie Wert hat, aus, reiße das Haus ab und verkaufe die Steine …«

»Devon.« Weston wies mit der Hand zur Tür. Eine schwarz verschleierte zierliche Gestalt stand auf der Schwelle.

Theos Witwe.

Sie war die Tochter von Lord Carbery, einem irischen Adligen, der ein Gestüt in Glengarrif besaß, und hatte Theo nur drei Tage vor seinem Unfall geheiratet. Die Tragödie, die einem für gewöhnlich so freudigen Ereignis wie der Hochzeit auf dem Fuß gefolgt war, musste ein grausamer Schock gewesen sein, und als eines der letzten Mitglieder einer aussterbenden Familie hätte Devon ihr nach Theos Unfall eine Beileidsbekundung schicken sollen. Doch irgendwie war er nie dazu gekommen, das Vorhaben in die Tat umzusetzen, obwohl der Gedanke sich so hartnäckig in seinem Hinterkopf gehalten hatte wie eine Fluse auf einem Rockaufschlag.

Vielleicht hätte er sich zu dem Kondolenzbrief aufraffen können, wenn er seinen Cousin nicht so sehr gehasst hätte. Das Leben war Theo in vieler Hinsicht wohlgesinnt gewesen, hatte ihn mit Reichtum, Privilegien und gutem Aussehen bedacht, aber anstatt seinem Schicksal dankbar zu sein, hatte er sich wie ein Rüpel benommen, unerträglich selbstgefällig und arrogant. Devon konnte Kränkungen und Beleidigungen nicht leicht vergessen, und so war es jedes Mal, wenn er Theo getroffen hatte, zu Zank und Streit gekommen. Es wäre eine Lüge gewesen, wenn er behauptet hätte, dass das Ableben seines Cousins ihm leidtat.

Und was Theos Witwe betraf, so brauchte sie kein Mitleid. Sie war jung und kinderlos und gut versorgt, sodass es leicht für sie sein würde, sich wieder zu verheiraten. Es hieß, sie sei eine Schönheit, doch da der schwere schwarze Schleier sie verhüllte, war es unmöglich, das zu beurteilen. Eines indes war sicher: Nach all dem, was sie gerade unfreiwillig mit angehört hatte, musste sie Devon für verabscheuungswürdig halten.

Es war ihm egal.

Als er und Weston sich verbeugten, machte sie einen flüchtigen Knicks. »Willkommen, Mylord. Und Mr. Ravenel. Ich werde Ihnen so bald wie möglich eine Aufstellung des Inventars zukommen lassen, damit Sie Ihre Plünderung auf geordnete Art und Weise durchführen können.« Ihre Sprache war geschliffen, die Stimme kultiviert, jedoch mit Abneigung überzogen wie mit Raureif.

Devon sah ihr aufmerksam entgegen, als sie näher trat. Ihre Gestalt war zu schmal für seinen Geschmack, fast gertenschlank in der schweren Trauerkleidung. Doch ihre beherrschten Bewegungen hatten etwas Fesselndes, eine kaum wahrnehmbare Lebhaftigkeit unter der äußeren Ruhe.

»Mein Beileid zu Ihrem Verlust.« Er neigte kurz den Kopf.

»Meine Glückwünsche zu Ihrem Gewinn.«

Devon runzelte die Stirn. »Ich versichere Ihnen, ich habe den Titel Ihres Gatten nie gewollt.«

»Das stimmt«, ließ Weston sich vernehmen. »Den ganzen Weg von London hierher hat er sich darüber beschwert.«

Devon warf ihm einen vernichtenden Blick zu.

»Mr. Sims, der Butler, wird Ihnen das Haus und die Außenanlagen zeigen, wann immer Sie wünschen«, sagte die Witwe. »Da ich, wie Sie zu bemerken geruhten, von keinerlei Nutzen für Sie bin, werde ich mich auf mein Zimmer zurückziehen und anfangen zu packen.«

»Lady Trenear«, sagte Devon knapp, »wir haben einen schlechten Anfang gemacht. Ich bitte um Verzeihung, wenn ich Ihnen zu nahe getreten bin.«

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Mylord. Solche Bemerkungen waren genau das, womit ich bei Ihnen gerechnet hatte.« Sie sprach weiter, ehe Devon dazu kam, zu antworten. »Darf ich fragen, wie lange Sie beabsichtigen, auf Eversby Priory zu bleiben?«

»Voraussichtlich zwei Tage. Vielleicht könnten Sie und ich beim Dinner darüber reden …«

»Ich fürchte, meine Schwägerin und ich werden nicht in der Lage sein, mit Ihnen zu Abend zu essen. Wir sind von Kummer überwältigt und werden die Mahlzeiten unter uns einnehmen.«

»Countess …«

Ohne ein weiteres Wort, ja selbst ohne zu knicksen, verließ sie den Raum.

Verdutzt starrte Devon ihr hinterher. Im nächsten Moment überzog ein Ausdruck von Empörung seine Züge, und er kniff die Augen zusammen. Noch nie hatte ihn eine Frau so behandelt. Er spürte, dass sein Temperament mit ihm durchzugehen drohte. Es war unerhört, dass sie ihn für eine Situation verantwortlich machte, die ihm keinerlei Wahl ließ!

»Womit habe ich das verdient?«

Es zuckte um Westons Mundwinkel. »Abgesehen davon, dass du sagtest, du würdest sie auf die Straße setzen und ihr Zuhause abreißen?«

»Ich habe mich entschuldigt!«

»Entschuldige dich nie bei einer Frau. Es bestärkt sie nur darin, dass du im Unrecht bist, und steigert ihren Zorn.«

Devon wollte verdammt sein, wenn er sich Unverschämtheiten von einer Frau gefallen ließ, die ihm eigentlich Hilfe hätte anbieten sollen, statt ihm Vorwürfe zu machen. Witwe hin oder her, sie würde eine wichtige Lektion lernen müssen.

»Ich spreche mit ihr«, beschied er grimmig.

Weston zog sich eine Polsterbank heran, legte die Füße darauf und streckte sich, ein Kissen hinter seinem Kopf arrangierend, bequem aus. »Weck mich, wenn du fertig bist.«

Devon verließ das Empfangszimmer und folgte der Witwe mit langen, weit ausgreifenden Schritten. In ihrer schwarzen Trauerkleidung segelte sie in einiger Entfernung vor ihm her durch den Korridor wie ein Piratenschiff unter Vollzeug.

»Warten Sie«, rief er ihr zu. »Ich habe es nicht so gemeint.«

»Oh doch.« Sie blieb stehen und wirbelte zu ihm herum. »Sie wollen das Anwesen und Ihr Familienvermögen vernichten, allein aus selbstsüchtigen Gründen.«

Er hatte sie eingeholt und blieb ebenfalls stehen, die Hände zu Fäusten geballt. »Hören Sie«, begann er kühl, »das Einzige, worum ich mich in meinem bisherigen Leben kümmern musste, waren mein Stadthaus, eine Wirtschafterin, ein Kammerdiener und mein Pferd. Und nun soll ich ein heruntergekommenes Anwesen mit mehr als zweihundert Pachtfarmen verwalten. Ich würde sagen, das verdient einige Nachsicht. Wenn nicht sogar Mitleid.«

»Sie Ärmster! Wie anstrengend, wie lästig, dass Sie zur Abwechslung einmal an jemand anderen denken müssen als nur an sich selbst.«

Mit diesem verbalen Hieb wollte sie davonmarschieren. Dummerweise war sie vor einer Wandnische stehen geblieben, in der normalerweise eine Statue oder ein anderes Kunstwerk auf einem Podest zur Schau gestellt wurde.

Nun hatte er sie! Wohlüberlegt stützte er seine Hände rechts und links von ihren Schultern ab und blockierte ihren Rückzug. Er hörte, wie sie nach Luft schnappte, und verspürte, auch wenn er nicht stolz darauf war, Genugtuung darüber, dass er es geschafft hatte, sie zu verunsichern.

»Lassen Sie mich gehen.«

Er reagierte nicht. »Wie heißen Sie?«

»Warum? Ich würde Ihnen nie gestatten, mich bei meinem Namen zu nennen.«

Verärgert ließ er den Blick über ihre verschleierte Gestalt gleiten. »Ist Ihnen schon einmal der Gedanke gekommen, dass wir von gegenseitiger Unterstützung mehr profitieren als von Feindseligkeit?«

»Ich habe gerade meinen Ehemann und mein Heim verloren. Was genau habe ich zu gewinnen, Mylord?«

»Vielleicht sollten Sie es herausfinden, ehe Sie mich zu Ihrem Feind erklären.«

»Sie waren schon ehe Sie hierherkamen mein Feind.«

Devon ertappte sich dabei, wie er versuchte, ihr Gesicht durch den Schleier hindurch zu erkennen. »Müssen Sie dieses verdammte Ding tragen?«, fragte er gereizt. »Ich komme mir vor, als würde ich mich mit einem Lampenschirm unterhalten.«

»Man nennt es einen Trauerschleier, und ja, in Anwesenheit von Besuchern muss ich ihn tragen.«

»Ich bin kein Besucher. Ich bin Ihr Cousin.«

»Mein angeheirateter Cousin.«

Als er sie betrachtete, merkte er, wie seine Wut nachließ. Wie zierlich sie war, wie zerbrechlich. So winzig und flink wie ein Sperling. Er schlug einen sanfteren Ton an. »Seien Sie nicht so stur. Es besteht keine Notwendigkeit, den Schleier in meiner Gegenwart zu tragen, außer Sie wollen wirklich weinen. In dem Fall schlage ich vor, Sie ziehen ihn augenblicklich über Ihr Gesicht. Ich kann es nicht ertragen, wenn eine Frau weint.«

»Weil Sie so weichherzig sind?«, fragte sie sarkastisch.

Eine entfernte Erinnerung meldete sich in ihm, eine, an die zu denken er sich seit Jahren nicht mehr gestattet hatte. Er versuchte sie zu verscheuchen, doch das Bild von ihm selbst als kleinem Jungen von fünf oder sechs Jahren, der vor der geschlossenen Tür des Ankleidezimmers seiner Mutter saß, aufgewühlt vom Weinen, das von drinnen an sein Ohr drang, wollte nicht weichen. Er wusste nicht, was sie zum Weinen gebracht hatte, doch es war zweifellos um eine gescheiterte Liebesbeziehung gegangen, von denen sie viele gehabt hatte. Seine Mutter war eine viel bewunderte Schönheit gewesen, die sich mitunter in einer einzigen Nacht ver- und wieder entliebte. Sein Vater, ihrer Launen müde und von seinen eigenen Dämonen getrieben, war kaum je zu Hause gewesen. Devon entsann sich der erstickenden Ohnmacht, die er empfunden hatte, wenn sie weinte und er außerstande gewesen war, ihr zu helfen. Er hatte sich damit begnügen müssen, Taschentücher unter der Tür hindurchzuschieben, zu betteln, dass sie ihm öffnete, und immer wieder zu fragen, was los war.

»Du bist so ein lieber Junge, Dev«, hatte er sie dann schniefend sagen hören. »Das sind kleine Jungen aber immer. Erst wenn sie erwachsen sind, werden sie selbstsüchtig und grausam. Ihr Männer seid dazu bestimmt, Frauen das Herz zu brechen.«

»Ich nicht, Mummy!«, hatte er zurückgerufen. »Ich verspreche es.«

Bei ihrem Auflachen, das eher wie ein Schluchzen klang, war ihm klar geworden, dass er etwas Dummes gesagt haben musste. »Doch, das wirst du, mein Kleiner. Selbst wenn du es nicht beabsichtigst.«

So oder ähnlich hatte es sich wiederholt abgespielt, doch an diese Szene erinnerte Devon sich am besten.

Seine Mutter hatte recht behalten. Zumindest war ihm oft vorgeworfen worden, dass er ein Herzensbrecher sei. Aber er hatte immer betont, dass er nicht die Absicht hatte, zu heiraten. Selbst wenn er sich je verliebte, würde er einer Frau ein solches Versprechen niemals geben. Es bestand kein Grund dazu, wenn Versprechen doch nur dazu da waren, gebrochen zu werden. Er hatte erfahren, welchen Schmerz Liebende einander zufügen konnten, und das wollte er niemandem antun.

Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Frau vor ihm. »Nein, ich bin nicht weichherzig«, beantwortete er ihre Frage nüchtern. »Aber ich empfinde Frauentränen als manipulativ und schlimmer noch, sie machen unattraktiv.«

»Sie sind mit Abstand der abscheulichste Mann, dem ich je begegnet bin«, sagte sie fest.

Die Art, wie sie jedes Wort betonte, ähnelte dem Abschießen von Pfeilen von einem Bogen. Devon lächelte belustigt. »Wie vielen Männern sind Sie begegnet?«

»Genug, um einen niederträchtigen zu erkennen, wenn ich ihn vor mir habe.«

»Ich bezweifle sehr, dass Sie durch diesen Schleier hindurch überhaupt etwas erkennen.« Er befingerte einen Zipfel der schwarzen Gaze. »Sie können ihn unmöglich gerne tragen.«

»Im Gegenteil.«

»Weil er Ihr Gesicht verbirgt, wenn Sie weinen.« Es war eine Feststellung, keine Frage.

»Ich weine nie.«

Verblüfft fragte Devon sich, ob er sich womöglich verhört hatte. »Sie meinen, nicht seit dem Unfall Ihres Ehemannes?«

»Nicht einmal dann.«

Was für ein Typ Frau würde so etwas sagen, vorausgesetzt, dass es überhaupt stimmte? Devon fasste den Saum des Schleiers und hob ihn an. »Halten Sie still.« Er schlug die Gaze nach hinten. »Nein, weichen Sie nicht zurück. Wir beide werden uns jetzt zusammennehmen und versuchen, eine zivilisierte Unterhaltung von Angesicht zu Angesicht zu führen. Allmächtiger, man könnte ein Handelsschiff auftakeln mit dieser Unmenge an Stoff …«

Devon verstummte abrupt, als er ihr Gesicht enthüllt hatte, und starrte in die bernsteinfarbenen Augen, die ein wenig schräg standen, fast wie bei einer Katze. Sekundenlang stockte ihm der Atem, er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Seine sämtlichen Sinne waren damit beschäftigt, ihr Antlitz in sich aufzunehmen.

Eine Frau wie sie hatte er noch nie gesehen.

Sie war jünger, als er erwartet hatte, mit hellem Teint und rotbraunem Haar, das zu schwer wirkte für die aufgesteckte Frisur, die sie trug. Ausgeprägte hohe Jochbeine und ein schmales Kinn verliehen ihren Zügen etwas Erlesenes und Raubtierhaftes zugleich, eine Art exquisite Katzenhaftigkeit. Ihre Lippen waren so voll, dass sie üppig genannt werden konnten, selbst wenn sie sie so wie jetzt fest zusammenpresste. Sie mochte nicht im konventionellen Sinne schön sein, doch sie war so einzigartig, dass die Frage nach Schönheit sich nicht stellte.

Das Oberteil ihres Trauerkleides war schmal geschnitten und lag eng an, ehe es an den Hüften in einen reich gefältelten, bauschigen Rock überging. Als Mann konnte man nur ahnen, welche Figur unter all dem Fischbein, den Kaskaden von Rüschen, den komplizierten Nähten stecken mochte. Selbst ihre Hände und Handgelenke waren von schwarzen Handschuhen bedeckt, und abgesehen von ihrem Gesicht war ihre Kehle an der Stelle, wo der hohe Kragen eine u-förmige Einkerbung aufwies, das einzig sichtbare Stück Haut. Sie schluckte, und durch die Bewegung wirkte die Stelle unendlich verletzlich und intim. Sie lud förmlich dazu ein, dass ein Mann seine Lippen daraufpresste und das Pochen ihres Pulses spürte.

Am liebsten hätte Devon genau dort angefangen, ihre Kehle geküsst und sie entkleidet, wie man ein kompliziert verpacktes Geschenk auswickelte, bis sie sich stöhnend unter ihm wand. Wenn er es mit einer anderen Frau zu tun gehabt hätte und die Umstände andere gewesen wären, hätte er sie auf der Stelle verführt. Dann ging ihm auf, dass er sie offenen Mundes anstarrte, er kam sich vor wie ein Fisch auf dem Trockenen, und er durchforstete seine heißen, wirren Gedanken nach irgendeiner unverbindlichen Bemerkung.

Zu seinem Erstaunen war sie es, die das Schweigen als Erste brach. »Mein Name ist Kathleen.«

Ein irischer Name. »Wie kommt es, dass Sie ohne Akzent sprechen?«

»Ich wurde als Kind schon nach England geschickt, um bei Freunden der Familie in Leominster zu leben.«

»Wieso?«

Eine Falte erschien zwischen ihren schön geschwungenen Brauen. »Meine Eltern waren mit ihren Pferden beschäftigt. Sie verbrachten mehrere Monate im Jahr in Ägypten, wo sie arabische Vollblüter für das Gestüt erwarben. Ich war … im Weg. Ihre Freunde, Lord und Lady Berwick, beide ebenfalls Pferdenarren, boten ihnen an, mich bei sich aufzunehmen und zusammen mit ihren beiden Töchtern zu erziehen.«

»Und Ihre Eltern leben noch in Irland?«

»Meine Mutter starb, aber mein Vater lebt noch dort, ja.« Ihr Blick ging in die Ferne, in Gedanken schien sie ganz woanders zu sein. »Er hat mir Asad zur Hochzeit geschenkt.«

»Asad?«, wiederholte Devon verwirrt.

Als sie ihn ansah, stieg ihr die Röte ins Gesicht. Sie wirkte bestürzt.

Devon verstand. »Das Pferd, das Theo abwarf«, sagte er ruhig.

»Asad konnte nichts dafür. Er war so schlecht zugeritten, dass mein Vater ihn zurückkaufte von dem Gentleman, der ihn ursprünglich erworben hatte.«

»Warum hat er das Problempferd Ihnen gegeben?«

»Ich pflegte Lord Berwick beim Zureiten der Hengstfohlen zu helfen.«

Devons Blick glitt abschätzend über ihre feingliedrige Gestalt. »Sie sind nicht größer als ein Vögelchen.«

»Man braucht keine rohe Gewalt, um einen Araberhengst zuzureiten. Araber sind eine sensible Rasse – ihr Training erfordert Einfühlsamkeit und Geschick.«

Zwei Eigenschaften, die Theo völlig abgegangen waren. Wie unsäglich dumm von ihm, sein Leben und das eines wertvollen Pferdes aufs Spiel zu setzen!

»Tat Theo es aus einer Laune heraus?«, konnte Devon sich nicht enthalten zu fragen. »Wollte er angeben mit ihm?«

Etwas Hitziges flammte kurz in den leuchtenden Augen auf, erlosch jedoch umgehend wieder.

»Er war schlechter Laune und ließ sich nicht davon abbringen.«

Typisch Ravenel.

Wenn jemand Theo zu widersprechen gewagt oder ihm etwas verweigert hatte, war er sofort sehr wütend geworden. Vielleicht hatte Kathleen geglaubt, mit ihm umgehen zu können, oder sich gesagt, dass er mit der Zeit milder werden würde. Sie konnte nicht wissen, dass das Temperament der Ravenels für gewöhnlich sämtlichen Verstand und Selbsterhaltungstrieb ausschaltete. Devon hätte gern von sich angenommen, dass er davon nicht betroffen war, doch in der Vergangenheit hatte er sich mehrfach zu vernichtend jähzornigen Ausbrüchen hinreißen lassen. Es fühlte sich immer großartig an, zumindest so lange, bis man mit den Folgen konfrontiert wurde.

Kathleen verschränkte die Arme fest vor der Brust, mit den schwarz behandschuhten Fingern umklammerte sie ihre Ellbogen. »Ein paar Leute meinten, ich hätte Asad erschießen sollen nach dem Unfall. Doch es wäre grausam gewesen, ihn zu bestrafen für etwas, das nicht sein Fehler war.«

»Haben Sie in Betracht gezogen, ihn zu verkaufen?«

»Das möchte ich nicht. Doch selbst wenn ich es wollte, ich müsste ihn erst zureiten.«

Devon hielt es nicht für klug, Kathleen in die Nähe eines Pferdes zu lassen, das gerade, wenn auch nicht willentlich, ihren Ehemann getötet hatte. Und aller Wahrscheinlichkeit nach würde sie nicht lange genug auf Eversby Priory bleiben, um Fortschritte mit dem Araberhengst zu erzielen.

Doch darauf einzugehen war jetzt nicht der geeignete Zeitpunkt.

»Ich würde mir gern die Gartenanlage ansehen«, sagte er stattdessen. »Würden Sie mich begleiten?«

Sie wirkte verstört und wich unmerklich zurück. »Ich sage dem Obergärtner Bescheid, dass er sie Ihnen zeigen soll.«

»Mir wäre es lieber, Sie täten es.« Devon machte eine Pause, dann fragte er: »Oder haben Sie Angst vor mir?«

Ihre Brauen zogen sich zusammen. »Ganz sicher nicht.«

»Dann kommen Sie mit.«

Ohne seinem dargebotenen Arm Beachtung zu schenken, warf sie ihm einen misstrauischen Blick zu. »Sollen wir Ihren Bruder bitten, uns zu begleiten?«

Devon schüttelte den Kopf. »Er macht ein Schläfchen.«

»Zu dieser Tageszeit? Ist er krank?«

»Nein, er hält es wie die Katzen. Ausgedehnte Schlummerphasen, unterbrochen von kurzen Perioden, in denen er sich der Körperpflege widmet.«

Ihre Mundwinkel zuckten ein wenig, als gäbe sie widerwillig ihrer Belustigung nach. »Lassen Sie uns gehen.« Sie schob sich an ihm vorbei und schlug einen raschen Schritt an. Devon folgte ihr, ohne zu zögern.

2. Kapitel

Nach nur wenigen Minuten in Devon Ravenels Gesellschaft war Kathleen sich sicher, dass jedes verdammte Gerücht, das sie über ihn gehört hatte, zutraf. Er war ein egoistischer Mistkerl. Ein widerlicher, unzivilisierter Rüpel.

Er sah gut aus … Das musste sie ihm lassen. Wenn auch nicht so wie Theo, der mit den edlen Zügen und dem goldenen Haar eines Apollon gesegnet gewesen war. Devon Ravenel war ein dunkler Typ, seine Züge kühn und verwegen, durchdrungen von einem Zynismus, der ihn keine Minute jünger aussehen ließ als die achtundzwanzig Jahre, die er war. Ihr Blick in seine tiefblauen Augen, deren Farbe sie an die aufgewühlte See im Winter erinnerte, erschütterte sie. Er war glatt rasiert, doch seine untere Gesichtshälfte wies einen Bartschatten auf, den selbst die schärfste Rasierklinge nicht ganz beseitigen konnte.

Er schien genau die Sorte Mann zu sein, vor der Lady Berwick sie gewarnt hatte: »Du wirst es mit Männern zu tun haben, die etwas von dir wollen, mein Liebes. Gewissenlose Männer, die dir Gott weiß was versprechen, die ihren ganzen Charme spielen lassen und ihre Fähigkeiten als Verführer einsetzen, um ihre unkeuschen Ziele zu erreichen und junge Frauen zu entehren. Wenn du merkst, dass du es mit einem solchen Schurken zu tun hast, suche augenblicklich das Weite.«

»Aber woran erkenne ich, dass ein Mann ein Schurke ist?«, hatte Kathleen gefragt.

»Am unzüchtigen Glimmen in seinen Augen und der Leichtigkeit seines Charmes. An den verabscheuungswürdigen Gefühlen, die seine Gegenwart in dir erzeugt. Diese Sorte Mann besitzt ein gewisses Etwas … Eine Art animalische Anziehungskraft, wie meine Mutter es zu nennen pflegte. Hast du mich verstanden, Kathleen?«

»Ich glaube, ja«, hatte sie geantwortet, obwohl es nicht ganz der Wahrheit entsprochen hatte zum damaligen Zeitpunkt.

Heute wusste Kathleen genau, was Lady Berwick gemeint hatte. Der Mann, der neben ihr ging, besaß eine animalische Anziehungskraft im Übermaße. »Von dem, was ich bisher gesehen habe«, unterbrach er ihre Gedanken, »wäre es das Vernünftigste, diesen verrottenden Haufen Holz und Stein anzuzünden, statt auch nur den Versuch zu wagen, etwas zu reparieren.«

Kathleens Augen weiteten sich. »Eversby Priory ist ein historisches Kleinod. Das Anwesen ist vierhundert Jahre alt.«

»Genau wie die Rohrleitungen, möchte ich wetten.«

»Die Rohrleitungen erfüllen ihren Zweck«, sagte sie abwehrend.

Eine seiner dunklen Brauen schoss in die Höhe. »So, dass es für mein Brausebad ausreicht?«

Sie zögerte. »Ein Brausebad werden Sie nicht nehmen können.«

»Ein normales Bad dann? Wunderbar. In welche Art modernem Gefäß werde ich mich also heute Abend zurücksinken lassen können? Einem rostigen Eimer?«

Zu ihrem Verdruss spürte sie, wie ein Lächeln in ihren Mundwinkeln zuckte. Es gelang ihr, es niederzukämpfen. »Einem tragbaren Zuber aus Zink«, antwortete sie würdevoll.

»Es gibt in den Badezimmern keine einzige gusseiserne Wanne?«

»Ich fürchte, es gibt keine Badezimmer. Der Zuber wird in Ihr Ankleidezimmer gebracht und, wenn Sie fertig sind, wieder entfernt.«

»Gibt es überhaupt fließendes Wasser?«

»Im Wirtschaftstrakt und in den Ställen.«

»Aber mit Klosetts ist das Haus doch sicher ausgestattet?«

Sie warf ihm einen tadelnden Blick zu, als er das delikate Thema erwähnte.

»Wenn Sie nicht zu empfindlich sind, Pferde zuzureiten, die nicht gerade für eine diskrete Erledigung ihrer körperlichen Bedürfnisse bekannt sind, können Sie sich sicher auch dazu durchringen, mir die Anzahl der Klosetts im Haus zu nennen.«

Sie wurde rot, als sie sich zu einer Antwort zwang. »Keines. Nur Nachttöpfe und ein Abort, der sich draußen befindet.«

Unübersehbar abgestoßen von dieser Vorstellung, maß er sie mit einem ungläubigen Blick. »Wirklich keines? Es gab Zeiten, da war Eversby eines der wohlhabendsten Anwesen in ganz England. Warum zum Teufel wurden nie Wasserleitungen im Haus verlegt?«

»Theo war in dieser Frage der gleichen Ansicht wie sein Vater. Es gab keine Veranlassung dafür, solange so viele Diener zur Verfügung standen.«

»Gewiss doch. Was für eine angenehme Betätigung, mit schweren Wasserkannen die Treppen hinauf- und hinunterzulaufen. Von den Nachttöpfen ganz zu schweigen. Die Diener müssen unendlich dankbar sein, dass sie bis jetzt dieses Vergnügens nicht beraubt wurden.«

»Sparen Sie sich Ihren Sarkasmus«, konterte sie trocken. »Es war nicht meine Entscheidung.«

Sie folgten einem gewundenen Kiesweg, der von Eiben und beschnittenen Birnbäumen gesäumt war. Devon machte ein finsteres Gesicht.

Als üble Nichtsnutze hatte Theo seinen Cousin Devon und dessen jüngeren Bruder bezeichnet. »Sie gehen jeder anständigen Gesellschaft aus dem Weg und ziehen es stattdessen vor, sich mit Menschen niederen Charakters abzugeben. Die meiste Zeit verbringen sie in Spelunken im East End und in Bordellen. Jede Art von Erziehung war bei ihnen die reine Verschwendung. Weston verließ Oxford sogar ohne Abschluss, weil er ohne Devon nicht dortbleiben wollte.« Theo hatte offenbar den beiden entfernten Verwandten keine große Sympathie entgegengebracht, doch Devon gegenüber hegte er eine besondere Abneigung.

Welch eigenartige Laune des Schicksals, dass ausgerechnet dieser Mann Theo beerbte.

»Warum haben Sie Theo geheiratet?« Devon überrumpelte sie mit der Frage. »Aus Liebe?«

Kathleen zog die Stirn kraus. »Ich würde es vorziehen, wenn wir unsere Unterhaltung auf unverbindliche Themen beschränkten.«

»Unverbindliche Themen sind langweilig.«

»Unabhängig davon würde man von einem Mann Ihres Ranges erwarten, diese Art von Konversation zu beherrschen.«

»Konnte Theo es?« Er klang abfällig.

»Ja.«

Devon ließ ein verächtliches Schnauben hören. »Ich hatte nie das Vergnügen, seine speziellen Fähigkeiten kennenzulernen. Vielleicht weil ich immer zu beschäftigt war, seinen Fäusten auszuweichen.«

»Sie und Theo scheinen nicht das Beste im anderen zum Vorschein gebracht zu haben.«

»Stimmt. Wir waren uns zu ähnlich in unseren Charakteren.« Spott lag in seiner Stimme, als er fortfuhr. »Doch wie es scheint, verfüge ich über keine seiner Tugenden.«

Kathleen schwieg, ließ ihren Blick über die verschwenderisch blühenden weißen Hortensien, die Geranien und den roten Bartfaden gleiten. Vor der Hochzeit hatte sie geglaubt, Theos Fehler und Tugenden genau zu kennen. Während der sechsmonatigen Verlobung hatten sie Tanzabende und andere gesellschaftliche Veranstaltungen besucht und Kutschfahrten und Ausritte gemacht. Theo war stets bestechend charmant gewesen. Obwohl Freunde sie vor dem berüchtigten Temperament der Ravenels gewarnt hatten, war sie zu vernarrt in ihn gewesen, um darauf zu hören. Und die Einschränkungen, denen eine Brautwerbung unterworfen war – begrenzte Gelegenheiten, einander zu sehen, und wenn, dann unter Aufsicht –, hatten das ihrige dazu beigetragen, dass ihr Theos wahrer Charakter verborgen geblieben war. Zu spät hatte sie erkannt, dass man einen Mann erst kennenlernte, wenn man mit ihm zusammenlebte.

»Erzählen Sie mir von seinen Schwestern«, sagte Devon in ihre Gedanken hinein. »Es sind drei, wie ich mich erinnere. Alle unverheiratet?«

»Ja, Mylord.«

Die Älteste von ihnen, Helen, war einundzwanzig. Die Zwillinge, Cassandra und Pandora, neunzehn. Weder Theo noch sein Vater hatten sie in ihren Testamenten bedacht. Für eine blaublütige junge Dame ohne Mitgift war es keine leichte Aufgabe, einen angemessenen Verehrer zu finden. Und der neue Earl hatte ihnen gegenüber keinerlei rechtliche Verpflichtung.

»Sind die Mädchen in die Gesellschaft eingeführt?«

Kathleen schüttelte den Kopf. »Sie waren die letzten vier Jahre praktisch ununterbrochen in Trauer. Zuerst starb ihre Mutter, dann der Earl. Sie sollten dieses Jahr debütieren, doch nun …« Sie verstummte.

Neben einem Blumenbeet blieb Devon stehen, sodass sie gezwungen war, ebenfalls innezuhalten. »Drei unverheiratete junge Damen von Stand ohne Einkommen und ohne Aussteuer«, stellte er nüchtern fest, »ungeeignet für jegliche Form von Arbeit und zu stolz, um einen gewöhnlichen Mann zu heiraten. Und nachdem sie ihr halbes Leben auf dem Land verbracht haben, sind sie wahrscheinlich so fade wie Haferbrei.«

»Sie sind nicht fade. Im Gegenteil …«

Ein gellender Schrei unterbrach sie.

»Hilfe! Scheußliche Bestien greifen mich an! Gnade, ihr grausamen Ungeheuer!« Die Stimme gehörte einem jungen Mädchen und klang nach einer alarmierenden Notlage.

Devon rannte augenblicklich los, den Kiesweg entlang, durch ein offenes Tor in einen von einer Mauer umgebenen Garten. Ein schwarz gekleidetes Mädchen tobte auf einem von Blumen umstandenen Stück Rasen herum, während zwei schwarze Spaniels immer wieder an ihr hochsprangen. Devon verlangsamte seinen Schritt, als die Schreie sich in ein wildes Kichern verwandelten.

»Die Zwillinge«, sagte Kathleen atemlos, als sie ihn eingeholt hatte. »Sie spielen nur.«

»Verdammter Mist!« Devon blieb stehen.

»Zurück, ihr Bestien!« Cassandra hörte sich an wie ein Piratenkapitän, sie täuschte und parierte mit einem Ast, als wäre er ein Degen. »Oder ich ziehe euch euren wertlosen Balg über die Ohren und verfüttere euch an die Haie!« Mit einer geschickten Bewegung zerbrach sie den Ast über ihrem Knie. »Apport, ihr Fellwuschel!«, befahl sie den Hunden und warf die Stöcke über den Rasen.

Fröhlich bellend rannten die Spaniels davon.

Das andere Mädchen, das auf dem Boden lag – Pandora –, stützte sich auf den Ellbogen und beschattete die Augen mit der Hand, als sie die Besucher bemerkte. »Ahoi, Landratten«, begrüßte sie sie übermütig. Weder sie noch ihre Schwester trugen einen Hut oder Handschuhe. An Pandoras einem Ärmel fehlte die Manschette, und von Cassandras Rock hing eine abgerissene Rüsche herunter.

»Wo sind eure Schleier, Mädchen?«, schalt Kathleen.

Pandora schob sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Aus meinem habe ich ein Fischernetz gemacht, und den von Cassandra brauchten wir, um Beeren zu waschen.«

Die Zwillinge waren so ungewöhnlich mit ihren anmutig langen Gliedern und dem zerzausten Haar, auf dem das Sonnenlicht tanzte, dass es nur folgerichtig erschien, sie nach griechischen Göttinnen benannt zu haben. Mit ihren rosig überhauchten Wangen und dem unordentlichen Erscheinungsbild wirkten sie fröhlich ausgelassen und ungezähmt.

Cassandra und Pandora waren viel zu lange von der Welt ferngehalten worden. Insgeheim empfand Kathleen es als eine Schande, dass Lord und Lady Trenears Zuneigung fast ausschließlich Theo gegolten hatte, dem einzigen Sohn, durch dessen Geburt der Fortbestand der Familie und der Titel des Earls gesichert war. In der Hoffnung auf einen zweiten Sohn hatten sie die Ankunft dreier unerwünschter Töchter als absolutes Desaster betrachtet. Die ruhige, fügsame Helen zu übersehen war für die enttäuschten Eltern einfach gewesen. Und die unbändigen Zwillinge hatten sie einfach sich selbst überlassen.

Kathleen ging zu Pandora und half ihr vom Boden hoch. Eifrig begann sie, Blätter und Grashalme, die an den Röcken des Mädchens hafteten, abzuklopfen. »Liebes, ich hatte euch doch heute Morgen gesagt, dass wir Besuch bekommen.« Ohne großen Erfolg versuchte sie, die Hundehaare von dem dunklen Stoff zu wischen. »Hättet ihr nicht eine etwas ruhigere Beschäftigung finden können, Lesen zum Beispiel …«

»Wir haben sämtliche Bücher in der Bibliothek gelesen«, unterbrach Pandora sie bestimmt. »Dreimal.«

Cassandra trat zu ihnen, die kläffenden Spaniels auf den Fersen. »Sind Sie der Earl?«, fragte sie Devon.

Der bückte sich, um die Hunde zu streicheln. Als er sich aufrichtete, war seine Miene vollkommen neutral. »Ja. Es tut mir leid. Mir fehlen die Worte, um auszudrücken, wie sehr ich wünschte, Ihr Bruder wäre noch am Leben.«

»Armer Theo«, ließ Pandora sich vernehmen. »Er hat so oft gefährliche Dinge getan, und nie ist ihm etwas passiert. Wir dachten alle, er wäre unbezwingbar.«

»Das dachte er selbst anscheinend auch«, ließ Cassandra sich nachdenklich vernehmen.

»Mylord.« Kathleen trat dazwischen. »Ich möchte Ihnen Lady Cassandra und Lady Pandora vorstellen.«

Devon musterte die Zwillinge, die einem Paar zerzauster Waldfeen ähnelten. Mit dem blonden Haar, den großen blauen Augen und dem perfekten Rosenknospenmund mochte Cassandra vielleicht als die Hübschere gelten. Pandora dagegen, mit ihrer biegsamen, schlanken Gestalt, dem dunklen Haar und dem schmalen Gesicht war entschieden die Apartere von beiden.

Die schwarzen Spaniels umsprangen sie kläffend. »Ich habe Sie noch nie gesehen«, sagte Pandora zu ihm.

»Doch, haben Sie«, erwiderte er lächelnd. »Bei einem Familientreffen in Norfolk. Aber Sie waren beide zu jung, um sich daran zu erinnern.«

Cassandra musterte ihn. »Kannten Sie Theo?«

»Ein wenig.«

»Mochten Sie ihn?«

Ihre direkte Frage überraschte ihn. »Ich fürchte, nein«, antwortete er ehrlich. »Wir gerieten bei jeder Gelegenheit in Streit.«

»Typisch Jungs.« Pandora zuckte die Schultern.

»Alles Hohlköpfe und Raufbolde.« Als Cassandra merkte, dass sie Devon unabsichtlich beleidigt hatte, schenkte sie ihm ein unbefangenes Lächeln. »Das gilt natürlich nicht für Sie, Mylord.«

Ein entspanntes Lächeln zuckte um seinen Mund. »Ich fürchte, die Beschreibung passt durchaus auf mich.«

»Das Ravenel-Temperament.« Pandora nickte wissend. »Wir haben es auch«, flüsterte sie theatralisch.

»Unsere ältere Schwester Helen ist die Einzige, die nicht damit geschlagen ist«, fügte Cassandra hinzu.

»Nichts bringt sie aus der Ruhe«, ließ Pandora sich wieder vernehmen. »Wir haben sie so oft auf die Probe gestellt, aber ohne Erfolg.«

»Mylord«, schaltete Kathleen sich ein, »sollen wir dann unseren Weg zu den Gewächshäusern fortsetzen?«

»Ja, sicher.«

»Dürfen wir mit?«

Kathleen schüttelte den Kopf. »Nein, Cassandra. Ich schlage vor, ihr beiden geht ins Haus, um euch herzurichten und umzukleiden.«

»Ich finde es fabelhaft, wieder einmal Gäste am Abendbrottisch zu haben«, rief Pandora lebhaft. »Besonders solche, die geradewegs aus London kommen. Ich bin unglaublich gespannt, was sie zu erzählen haben!«

Devon warf Kathleen einen fragenden Blick zu.

Sie antwortete den Zwillingen direkt. »Ich erklärte Lord Trenear bereits, dass wir in Trauer sind und unter uns dinieren.«

Es hagelte Proteste. »Kathleen, bitte! Es war so langweilig ohne Besucher …«

»Wir benehmen uns tadellos, ich verspreche es …«

»Sie sind doch unsere Cousins!«

»Was ist denn so schlimm daran?«

Kathleen verspürte ein leichtes Bedauern. Sie wusste, wie ausgehungert die Mädchen nach jeder Art von Zerstreuung waren. Doch sie hatten es mit dem Mann zu tun, der ihnen ihr Heim nehmen wollte, das einzige Zuhause, das sie kannten. Und Weston, sein Bruder, schien bereits jetzt halb betrunken zu sein. Zwei Wüstlinge waren ganz sicher nicht die passende Gesellschaft für unschuldige junge Mädchen, besonders wenn man bei diesen Mädchen nicht sicher sein konnte, dass sie sich zurückhaltend benahmen. Nichts Gutes würde dabei herauskommen.

»Nein, meine Lieben«, sagte sie daher fest. »Wir werden den Earl und seinen Bruder in Ruhe zu Abend essen lassen.«

»Kathleen!«, drang Cassandra flehend in sie, »wir haben schon so lange nichts Unterhaltsames mehr erlebt.«

»Selbstverständlich nicht.« Kathleen wappnete sich gegen einen plötzlichen Anfall von Schuldgefühlen. »Während der Trauerzeit sind Unterhaltungen tabu.«

Die Zwillinge verstummten und sahen sie finster an.

Devon brach die angespannte Stille, indem er Cassandra leichthin fragte: »Haben wir Erlaubnis, an Land zu gehen, Captain?«

»Aye, Sir«, kam die missmutige Erwiderung. »Nehmt das Frauenzimmer und verlasst das Schiff über die Laufplanke.«

Kathleen zog die Stirn kraus. »Sei so gut und bezeichne mich nicht als Frauenzimmer, Cassandra.«

»Immer noch besser als Schiffsratte«, meldete Pandora sich säuerlich zu Wort. »So hätte ich dich nämlich genannt.«

Kathleen maß sie mit einem tadelnden Blick, dann gingen Devon und sie zurück zum Kiesweg. »Und?«, begann sie nach einem Moment. »Wollen Sie mich nicht auch kritisieren?«

»Ich wüsste nicht, womit ich die Schiffsratte überbieten könnte.«

Kathleen konnte sich ein schiefes Grinsen nicht verkneifen. »Ich gebe zu, es mag ungerecht erscheinen, zwei so lebhaften jungen Damen abzuverlangen, dass sie ein weiteres Jahr Abgeschiedenheit durchstehen, nachdem sie schon vier hinter sich haben. Ich weiß noch nicht, wie ich mit ihnen fertigwerden soll. Keiner weiß das.«

»Die beiden hatten nie eine Gouvernante?«

»Soweit ich weiß, hatten sie mehrere. Aber keine blieb länger als ein paar Monate.«

»Ist es so schwer, eine passende zu finden?«

»Ich vermute, sie waren alle fähige Erzieherinnen. Aber wie soll man Mädchen, die vollkommen desinteressiert daran sind, irgendeine Form des Benehmens beibringen?«

»Was ist mit Lady Helen? Fehlt auch ihr jegliche Unterweisung?«

»Nein, sie hatte Hauslehrer und Privatunterricht. Und sie ist in ihrer Wesensart weit zurückhaltender.«

Sie näherten sich einer Reihe von vier Gewächshäusern, deren Verglasung im Licht der Nachmittagssonne glänzte. »Ich sehe nicht, was es schaden sollte, wenn die Mädchen lieber draußen herumtoben, als in einem trostlosen Haus zu sitzen«, sagte Devon nach einer Weile. »Im Gegenteil – welchen Sinn hat es, Trauerflor vor die Fenster zu hängen? Warum ihn nicht herunternehmen und Sonnenlicht hereinlassen?«

Kathleen schüttelte den Kopf. »Es wäre ein Skandal, den Trauerflor so bald zu entfernen.«

»Selbst hier?«

»Hampshire liegt nicht fern der Zivilisation, Mylord.«

»Aber hätten Sie etwas dagegen?«

»Ja. Ich will Theos Andenken nicht entehren.«

»Um Gottes willen, er wird es nicht erfahren! Es hilft niemandem, auch nicht meinem verblichenen Cousin, wenn der gesamte Haushalt bedrückt umherschleicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er das gewollt hätte.«

»Sie kannten ihn nicht gut genug, um beurteilen zu können, was er gewünscht hätte«, gab Kathleen kurz angebunden zurück. »Doch wie auch immer, ich kann die Regeln nicht außer Kraft setzen.«

»Was, wenn die Regeln unsinnig sind? Was, wenn sie mehr Schaden anrichten als nützen?«

»Dass Sie etwas nicht verstehen oder damit nicht einverstanden sind, heißt nicht, dass es wertlos ist.«

»Richtig. Aber Sie stimmen mir sicher zu, dass manche Traditionen von Hohlköpfen erfunden worden sein müssen.«

»Ich wünsche das Thema nicht weiter zu diskutieren.« Kathleen ging schneller.

Devon hielt ohne Anstrengung Schritt mit ihr. »Duelle zum Beispiel. Menschenopfer. Vielweiberei – dass wir ausgerechnet diese Tradition aufgegeben haben, bedauern Sie sicher sehr.«

»Ich nehme an, Sie hätten zehn Frauen, wenn es gestattet wäre.«

»Mir würde eine reichen, um unglücklich zu sein. Die restlichen neun wären überflüssig.«

Sie warf ihm einen ungläubigen Blick zu. »Mylord, ich bin Witwe. Fällt Ihnen kein passenderes Thema ein für eine Unterhaltung mit einer Frau in meiner Situation?«

Anscheinend nicht, seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen.

»Was beredet man mit einer Witwe?«

»Nichts, was traurig, schockierend oder unangemessen erheiternd ist.«

»Dann habe ich nichts mehr zu sagen.«

»Gott sei Dank!«

Es klang so inbrünstig, dass Devon grinsen musste. Er schob die Hände in die Hosentaschen und ließ den Blick betont über die Umgebung schweifen. »Wie groß ist der Park?«

»Fast acht Hektar.«

»Und die Gewächshäuser? Was enthalten sie?«

»Die Orangerie, eine Abteilung für Weinreben, eine für Pfirsiche, Palmen, Farne und Blumen … und dieses hier beherbergt die Orchideen.« Sie machte die Tür des ersten Gewächshauses auf, und Devon folgte ihr ins Innere.

Düfte von Vanille und Zitrus erfüllten die Luft. Theos Mutter Jane war ihrer Leidenschaft für exotische Blüten nachgegangen, indem sie seltene Orchideen aus aller Welt gezüchtet hatte. Die ganzjährig herrschenden Hochsommertemperaturen im Orchideenhaus wurden im angrenzenden Kesselhaus erzeugt.

Als sie eintraten, erhaschte Kathleen einen Blick auf Helens schlanke Gestalt in einem der Gänge. Nachdem ihre Mutter, die Countess, gestorben war, hatte Helen es auf sich genommen, sich um die zweihundert Orchideengewächse in ihren Töpfen zu kümmern. Es war eine Wissenschaft für sich, zu bestimmen, was jede der anspruchsvollen Pflanzen brauchte, und nur einigen wenigen Leuten aus dem Stab der Gärtner war es gestattet, ihr zu helfen.

Als sie der Besucher ansichtig wurde, griff Helen nach dem Schleier, den sie über den Kopf zurückgeschlagen hatte, und wollte ihn sich vors Gesicht ziehen.

»Spar dir die Mühe«, sagte Kathleen trocken. »Lord Trenear hat nichts übrig für Trauerschleier.«

Wie stets aufmerksam für die Erwartungen anderer, hielt Helen inne. Sie stellte die kleine Gießkanne, die sie in der anderen Hand hielt, auf den Arbeitstisch und trat zu den Besuchern. Obwohl sie nicht den robusten sonnengeküssten Liebreiz ihrer jüngeren Schwestern hatte, war Helen auf ihre eigene Art anziehend. Mit ihrer außergewöhnlich hellen Haut und dem beinahe weißblonden Haar besaß sie eine kühle Schönheit, die silbrigem Mondlicht glich.

Kathleen war es immer bemerkenswert erschienen, dass Lord und Lady Trenear ihre vier Kinder zwar alle nach Figuren der griechischen Mythologie benannt hatten, dass Helen jedoch die Einzige war, die den Namen einer Sterblichen trug.

»Es tut mir leid, dass wir Sie bei der Erledigung Ihrer Aufgaben stören«, entschuldigte Devon sich höflich, nachdem Kathleen sie einander vorgestellt hatte.

Ein zögerliches Lächeln erschien auf Helens Zügen. »Nicht doch, Mylord. Ich habe mich nur vergewissert, dass es den Orchideen an nichts fehlt.«

»Woran erkennen Sie, wenn ihnen etwas fehlt?«, fragte Devon neugierig.

»An der Farbe und dem Zustand von Blättern und Blütenblättern. Ich suche die Pflanzen nach Blattläusen und anderen Schädlingen ab und versuche mich zu erinnern, welche Sorten feuchte Erde und welche trockene Böden brauchen.«

»Würden Sie sie mir zeigen?«

Helen nickte. Sie ging ihm durch einen der Gänge voraus und wies ihn auf die verschiedenen Arten hin. »Die Sammlung war die große Leidenschaft meiner Mutter. Ihre Lieblingsorchidee war die Peristeria elata

Sie zeigte ihm eine Pflanze mit marmorweißen Blüten. »Der innere Teil der Blüte erinnert an eine winzige Taube, sehen Sie? Und diese hier ist die Dendrobium aemulum. Federorchidee heißt sie wegen der Blütenblätter.«

Ein schalkhaftes Lächeln huschte über ihr Gesicht, und ihr Blick ging zu Kathleen. »Meine Schwägerin mag Orchideen nicht sonderlich.«

»Ich hasse sie.« Kathleen kräuselte die Nase. »Anspruchsvolle Blumen, die sich zieren und ewig brauchen, bis sie einmal blühen. Und einige riechen wie alte Schuhe oder verdorbenes Fleisch.«

»Es sind auch nicht meine Lieblinge«, räumte Helen ein. »Aber ich hoffe, sie eines Tages mögen zu können. Manchmal muss man etwas lieben, damit es liebenswert wird.«

»Ich weiß nicht …« Kathleen sah sie zweifelnd an. »Egal, wie sehr du dich bemühst, die mit den bauchigen Blüten in der Ecke da hinten zu lieben …«

»Die Dressleria«, unterbrach Helen sie hilfreich.

»Genau. Selbst wenn du sie irgendwann wahnsinnig liebst, riecht sie trotzdem immer noch wie ungewaschene Füße.«

Helen lächelte und führte Devon weiter den Gang entlang, während sie ihm gleichzeitig erklärte, wie das feuchtwarme Klima im Gewächshaus durch den Kesselraum und einen Regenwassertank erzeugt wurde.

Kathleen stellten sich die Nackenhaare auf, als sie zufällig den forschenden Blick bemerkte, mit dem Devon ihre Schwägerin musterte. Er und sein Bruder Weston schienen genau die Sorte unmoralischer Lebemänner zu sein, die in den altmodischen Adelsromanen vorkamen. Charmante Fassade, doch im Innern hinterhältig und gemein. Je eher sie die drei Ravenel-Schwestern von dem Anwesen fortbringen konnte, desto besser.

Sie hatte sich entschlossen, ihre jährliche Rente aus dem Witwenanteil dafür zu verwenden. Es war keine große Summe, aber sie würde reichen, wenn sie sie durch Einkünfte aus angemessenen Tätigkeiten wie Näharbeiten aufstockten. Sie würde ein kleines Cottage suchen, wo sie wohnen konnten, oder vielleicht eine Mietwohnung in einem Privathaus.

Denn gleichgültig, mit welchen Problemen sie sich herumschlagen mussten – alles war besser, als die drei hilflosen Mädchen Devon Ravenels Gnade zu überlassen.

3. Kapitel

Ein paar Stunden später saß Devon mit seinem Bruder im ehemals prächtigen Speisesaal von Eversby Priory beim Dinner. Das Essen war von weit besserer Qualität, als sie erwartet hatten, und bestand aus kalter Gurkensuppe, Fasanenbraten mit Orangensauce und einem Pudding mit gerösteten Semmelbröseln.

»Ich befahl dem Hausverwalter, den Weinkeller aufzuschließen, damit ich mir einen Überblick über die Bestände verschaffen kann«, sagte Weston zwischen zwei Bissen. »Er ist hervorragend bestückt. Unter anderem mit mindestens zehn Sorten französischem Champagner, zwanzig Sorten Cabernet, mindestens ebenso vielen Sorten Bordeaux und einem bewunderungswürdigen Vorrat an Cognac.«

»Wenn ich genug davon trinke«, erwiderte Devon sarkastisch, »höre ich vielleicht nicht, wie das Haus um uns herum zusammenbricht.«

»Es gibt keinerlei Schwachstellen in den Grundmauern, keine Wände, die sich neigen, und in den Außenmauern habe ich bis jetzt keine Risse entdeckt.«

Devon musterte seinen Bruder einigermaßen überrascht. »Dafür, dass du so selten nüchtern bist, fällt dir eine Menge auf.«

»Findest du?« Weston wirkte verstört. »Entschuldige – ich scheine zufällig klar gewesen zu sein.« Er griff nach seinem Weinglas. »Eversby Priory verfügt über eines der besten Jagdgebiete Englands. Warum schießen wir morgen nicht ein paar Rebhühner?«

»Ja, warum nicht?«, spöttelte Devon. »Ich wäre begeistert, den Tag damit zu beginnen, irgendetwas umzubringen.«

»Anschließend treffen wir uns mit dem Anwalt und dem Liegenschaftsverwalter und finden heraus, was wir mit dem Anwesen anfangen können.« Weston sah seinen Bruder erwartungsvoll an. »Du hast mir noch gar nicht erzählt, was heute Nachmittag geschehen ist, als du mit Lady Trenear draußen warst.«

Gereizt zuckte Devon die Schultern. »Gar nichts ist passiert.«

Nachdem sie ihm Helen vorgestellt hatte, war Kathleen plötzlich kühl und abweisend geworden und es für den Rest der Tour durch die Gewächshäuser geblieben. Als sie sich getrennt hatten, war ein Ausdruck von Erleichterung über ihre Züge geglitten wie bei jemandem, der eine unangenehme Pflicht hinter sich gebracht hatte.

»Trug sie den Schleier die ganze Zeit?«, fragte Weston in seine Gedanken hinein.

»Nein.«

»Wie sieht sie aus?«

Devon warf ihm einen abfälligen Blick zu. »Weshalb willst du das wissen?«

»Ich bin neugierig. Theo liebte schöne Frauen. Er hätte keine hässliche geheiratet.«

Devon wandte seine Aufmerksamkeit seinem Weinglas zu, schwenkte den erlesenen Tropfen, bis er glänzte wie dunkler Rubin. Er wusste nicht, wie er Kathleen beschreiben sollte. Sicher, er konnte sagen, dass sie rotbraunes Haar hatte und ihre Augen bernsteinfarben und schräg gestellt waren wie bei einer Katze. Er konnte ihren hellen Teint und den rosigen Unterton anführen, der an die Oberfläche stieg wie ein Sonnenaufgang im Winter. Oder die Art, wie sie sich bewegte, ihre geschmeidige, gewandte Anmut, die von Spitze und Fischbein und wer weiß wie vielen Lagen Stoff gebändigt wurde. Doch nichts davon erklärte die Faszination, die sie auf ihn ausübte, jenes Gefühl, dass sie die Macht hatte, eine völlig unbekannte Empfindung in ihm auszulösen, wenn sie es nur wollte.

»Wenn man nur nach dem Erscheinungsbild ginge, wäre sie sicher eine unverbindliche Affäre wert. Aber sie hat das Temperament eines in die Enge getriebenen Raubtiers. Ich werde sie so schnell wie möglich vor die Tür setzen.«

»Was ist mit Theos Schwestern? Was soll aus ihnen werden?«

»Lady Helen wäre als Gouvernante geeignet, denke ich. Nur würde keine verheiratete Frau, die im Vollbesitz ihrer fünf Sinne ist, je eine so hübsche junge Frau einstellen.«

»Sie ist hübsch?«

Devon warf ihm einen warnenden Blick zu. »Halt dich von ihr fern, Weston! Mach einen großen Bogen um sie. Tritt nicht an sie heran, sprich nicht mit ihr, schenk ihr nicht einmal einen Blick. Das Gleiche gilt für die Zwillinge.«

»Wieso?«

»Es sind unschuldige junge Mädchen.«

Weston musterte ihn spöttisch. »Sind sie so zartbesaitet, dass sie ein paar Minuten in meiner Gesellschaft nicht aushalten würden?«

»Zartbesaitet ist nicht das passende Wort. Die beiden haben kaum Erziehung genossen und sind jahrelang über das Gelände gestreift wie junge Füchse. Sie sind unzivilisiert und ziemlich ungezähmt. Der Himmel weiß, was mit ihnen geschehen soll.«

»Schlimm für sie, wenn sie ohne männlichen Schutz in die Welt hinausgeschickt werden.«

»Das ist nicht meine Sache.« Devon griff nach der Weinkaraffe. Er schenkte sich nach und versuchte, nicht daran zu denken, was aus den beiden werden würde. Die Welt übte keine Nachsicht mit unschuldigen jungen Frauen. »Theo war für sie verantwortlich. Ich habe nichts damit zu tun.«

»Ich glaube, das ist die Stelle, wo der edle Held ins Spiel kommt«, sinnierte Weston grinsend, »und den Tag rettet – und natürlich auch die Jungfern in ihren Nöten – und die Welt wieder in Ordnung bringt.«

Devon rieb sich die Schläfen mit Daumen und Zeigefinger. »Weston, ich könnte weder dieses verdammte Anwesen retten noch die Jungfern in ihren Nöten. Nicht einmal, wenn ich es wollte. Ich war nie ein Held, und ich habe nicht den Wunsch, einer zu sein.«

»… in Anbetracht der Tatsache, dass der Earl keinen legitimen männlichen Erben hinterlässt, wie es die Gesetze bei Familienfideikommiss unabdingbar vorsehen«, verkündete der Rechtsanwalt der Familie am nächsten Vormittag dröhnend, »sind die Beschränkungen in Bezug auf die Unveräußerbarkeit des Familienvermögens wegen juristischer Unanwendbarkeit hinfällig.«

Eine erwartungsvolle Stille breitete sich in der Bibliothek aus. Devon sah von dem Stapel Pachtverträge, Urkunden und Kontobücher hoch, der sich vor ihm auf dem Schreibtisch türmte, und blickte zwischen Mr. Totthill, dem Liegenschaftsverwalter, und Mr. Fogg, dem Familienanwalt, die beide wirkten wie keinen Tag jünger als neunzig, hin und her.

»Was bedeutet das?«, fragte er angespannt.

»Das Anwesen gehört vollumfänglich Ihnen, Mylord, und Sie können damit tun und lassen, was Sie wollen.« Fogg rückte seinen Kneifer zurecht und sah ihn an wie ein alter Uhu. »Sie sind keiner der Einschränkungen unterworfen, die die Regelungen zum Fideikommiss vorsehen.«

Devons Blick schoss zu Weston, der in einem Sessel in der Ecke lümmelte. In den Augen seines Bruders spiegelte sich die gleiche Erleichterung, die er selbst verspürte. Gott sei Dank! Er konnte das Anwesen in Teilen oder als Ganzes verkaufen, die Schulden bezahlen und seiner Wege gehen ohne weitere Verpflichtungen.

»Es wäre mir natürlich eine Ehre, die zukünftige geschlossene Erhaltung des Familienvermögens durch erneute Einrichtung des Fideikommisses zu gewährleisten, Mylord.« Fogg deutete eine Verbeugung an.

»Das wird nicht nötig sein.«

Der Anwalt wirkte verstört, der Liegenschaftsverwalter nicht minder.

»Mylord«, meldete Totthill sich schließlich zu Wort. »Ich darf Sie Mr. Foggs uneingeschränkter Kompetenz in diesen Dingen versichern. Er hat bereits zweimal bei der Gründung des Fideikommisses der Familie Ravenel mitgewirkt.«

»Ich zweifle nicht an seiner Kompetenz.« Devon lehnte sich bequem in seinem Sessel zurück und legte die Füße auf den Schreibtisch. »Aber ich möchte nicht durch Unveräußerlichkeitsbestimmungen gebunden sein. Ich beabsichtige, das Anwesen zu verkaufen.«

Stille senkte sich über den Raum.

»Welchen Teil davon?«, wagte Totthill schließlich schockiert zu fragen.

»Alles, das Haus eingeschlossen.«

Die beiden alten Herren überschlugen sich in ihrer Fassungslosigkeit förmlich mit ihren Protesten … Eversby Priory sei ein historisches Erbe, entstanden durch den Dienst und die Opfer seiner Ahnen … Devon würde keine respektable gesellschaftliche Position einnehmen können ohne zumindest einen Teil des Anwesens … Sicher wolle er doch seine zukünftigen Nachkommen nicht blamieren, indem er ihnen einen Titel ohne Land hinterließ.

Verärgert bedeutete Devon den Gentlemen schließlich, zu schweigen. »Der Versuch, Eversby Priory zu erhalten, wäre mit einer ungleich größeren Anstrengung verbunden, als die Sache es wert ist«, versetzte er nüchtern. »Kein vernünftig denkender Mensch würde sich darauf einlassen. Und was meine zukünftigen Nachkommen angeht – es wird keine geben, da ich nicht die Absicht habe, zu heiraten.«

Der Liegenschaftsverwalter warf Weston einen Hilfe suchenden Blick zu. »Mr. Ravenel, Sie können Ihren Bruder doch unmöglich unterstützen bei dieser Torheit!«

Weston streckte die Hände aus, als wären sie Waagschalen, und wog unsichtbare Argumente gegeneinander ab. »Auf der einen Seite hat er lebenslängliche Verantwortung, einen Berg Schulden und eine endlose Plackerei. Auf der anderen winken Freiheit und Vergnügen. Was gibt es da zu überlegen?«

Ehe die beiden älteren Herren reagieren konnten, schaltete Devon sich ein. »Die Weichen sind gestellt«, verkündete er entschieden. »Als Erstes will ich einen Überblick über das vorhandene Kapital, die Pachtverträge und Zinseinnahmen, außerdem eine Ausstattungsliste der Londoner Stadtresidenz und des Herrensitzes. Das heißt Gemälde, Gobelins, Teppiche, Möbel, Bronze- und Marmorstatuen, Tafelbesteck zuzüglich des Inventars der Gewächshäuser, Ställe und Remisen.«

»Werden Sie auch eine Schätzung der Nutzviehbestände brauchen, Sir?«, fragte Totthill bedrückt.

»Selbstverständlich.«

»Mein Pferd ausgenommen.« Als die Frauenstimme plötzlich ertönte, flogen die Blicke aller vier Männer zur Tür. Kathleen stand auf der Schwelle, gerade aufgerichtet wie eine Schwertklinge. Sie musterte Devon mit unverhüllter Verachtung. »Der Araberhengst gehört mir.«

Die Gentlemen erhoben sich, nur Devon blieb sitzen. »Betreten Sie jemals einen Raum, wie es die guten Manieren gebieten?«, fragte er knapp. »Oder gehört es unausrottbar zu Ihren Gewohnheiten, sich über die Schwelle zu schleichen und aus dem Boden zu schießen wie ein Springteufel?«

»Ich will nur sicherstellen, dass mein Hengst nicht auf der Liste steht, wenn Sie Ihr Raubgut nachzählen.«

»Lady Trenear«, schaltete Mr. Fogg sich ein, »ich bedaure, Sie daran erinnern zu müssen, dass alle Rechte an Ihrer beweglichen Habe am Tag Ihrer Hochzeit an Ihren Gatten übergingen.«

Kathleens Augen wurden schmal. »Mein Witwenerbe und die Besitztümer, die ich mit in die Ehe gebracht habe, gehören mir.«

»Ihr Witwenerbe, ja«, bestätigte Totthill ernst, »aber nicht Ihre bewegliche Habe. Ich versichere Ihnen, dass kein Gericht in England eine Ehefrau als eine eigenständige juristische Person betrachten wird. Das Pferd gehörte Ihrem Gatten, und jetzt ist es Eigentum von Lord Trenear.«

Kathleens Gesichtsfarbe wechselte von Kalkweiß zu flammender Röte. »Lord Trenear weidet das Anwesen aus wie ein Schakal ein verwesendes Aas. Mit welchem Recht darf er sich auch noch an einem Pferd vergreifen, das mein Vater mir geschenkt hat?«

Kathleens Mangel an Ehrerbietung ihm gegenüber, noch dazu vor Publikum, erzürnte Devon über die Maßen. Er sprang von seinem Sessel auf und war mit ein paar wenigen Schritten bei ihr. Obwohl er sie um Etliches überragte, wich sie weder zurück noch zog sie den Kopf ein. »Zum Teufel mit Ihnen!«, fuhr er sie an. »Nichts von alledem hier geht auf mein Konto.«

»Und ob! Ihnen wäre jede Ausflucht recht, Eversby Priory zu verkaufen, bloß weil Sie keine Lust haben, sich der Herausforderung zu stellen.«

»Von einer Herausforderung könnte man bestenfalls dann sprechen, wenn es eine minimale Hoffnung auf Erfolg gäbe. Aber hier liegt ein Debakel vor. Die Liste der Gläubiger ist länger als mein Arm, die Schatullen sind leer und die jährlichen Pachteinnahmen um die Hälfte gesunken.«

»Ich glaube Ihnen nicht. Sie wollen das Anwesen verkaufen, um Ihre Schulden zu begleichen. Private Schulden, die nichts zu tun haben mit Eversby Priory.«

In dem wütenden Drang, irgendetwas zu zerschlagen, ballte er seine Hände zu Fäusten. Devon wusste, dass im nächsten Moment nur noch das Geräusch zerberstender Gegenstände seine wachsende Mordlust würde befriedigen können. Nie zuvor hatte er eine Situation wie diese bewältigen müssen. Es gab niemanden, bei dem er sich verlässlichen Rat holen konnte, er hatte keine familiären Verbindungen zur Aristokratie, keine nennenswerten Freundschaften zu Adligen, und dann kam diese Frau daher und machte ihm Vorwürfe und beleidigte ihn!

»Ich hatte keine Schulden«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, »bis ich dieses Fiasko erbte. Meine Güte, hat Ihr beschränkter Ehemann Ihnen nie erklärt, wie es um das Anwesen steht? Wussten Sie, als Sie ihn heirateten, nicht Bescheid, wie ernst die Situation war? Aber egal – irgendjemand muss der Realität ins Auge sehen, und bedauerlicherweise scheine ich das zu sein.« Er wandte sich um und kehrte zum Schreibtisch zurück. »Ihre Gegenwart ist unerwünscht«, stieß er hervor, ohne sich umzudrehen. »Gehen Sie! Augenblicklich!«

»Eversby Priory gibt es seit vierhundert Jahren, der Besitz hat Kriege und Revolutionen überlebt«, hörte er Kathleen verächtlich erwidern, »und jetzt braucht es nicht mehr als einen egoistischen Schurken, um das Anwesen ein für alle Mal zu vernichten.«

Als wäre er für die Misere verantwortlich! Er ließ sich in den Sessel fallen. Als wäre er schuld am Niedergang von Eversby Priory. Sollte sie doch zur Hölle fahren!

Es kostete Devon unbeschreibliche Mühe, seine Empörung hinunterzuschlucken. Äußerlich gelassen, streckte er seine Beine aus und warf seinem Bruder einen Blick zu. »Weston, können wir wirklich davon ausgehen, dass Cousin Theo durch einen Sturz vom Pferd ums Leben kam?«, fragte er kühl. »Mir kommt es eher so vor, als wäre er im Ehebett erfroren.«

Stets zu haben für eine boshafte Bemerkung lachte Weston in sich hinein.

Totthill und Fogg hielten die Blicke gesenkt.

Kathleen fegte aus dem Raum. Mit einem Krachen, bei dem alle vier Männer zusammenfuhren, landete die Tür im Schloss.

»Das war unter deiner Würde, Bruderherz«, schalt Weston gespielt.

»Nichts ist unter meiner Würde«, erwiderte Devon mit ausdrucksloser Miene. »Das müsstest du eigentlich wissen.«

Noch lange nachdem Fogg und Totthill sich verabschiedet hatten, saß Devon brütend am Schreibtisch. Er schlug eines der Rechnungsbücher auf, blätterte es durch, ohne wirklich etwas zu sehen. Selbst als Weston unter Gähnen und Grummeln den Raum verließ, bemerkte er es kaum. Irgendwann wurde ihm seine Kragenbinde so eng, dass er sich förmlich erdrosselt fühlte, und mit ein paar ungeduldigen Handgriffen lockerte er sie und knöpfte den obersten Hemdknopf auf.

Allmächtiger, wie sehr er wünschte, er befände sich in seinem gepflegten, modernen Stadthaus in seiner vertrauten Londoner Umgebung! Wie sehr er wünschte, Theo wäre noch der Earl und er nur das schwarze Schaf von einem Cousin! Dann hätte er heute Morgen einen Ausritt im Hyde Park gemacht, anschließend ein ordentliches Frühstück in seinem Club eingenommen und sich dann mit Freunden bei einem Boxkampf oder beim Pferderennen getroffen. Am Abend vielleicht ein Theaterbesuch und danach ein bisschen Spaß mit ein paar käuflichen Frauenzimmern. Keine Verantwortung, nichts, über das er sich Sorgen machen musste.

Nichts zu verlieren.

Draußen grollte leise ein Donner, wie um seine verdrießliche Stimmung zu unterstreichen. Devon warf einen ungnädigen Blick aus dem Fenster. Dicke Regenwolken ballten sich über den Downs, verdunkelten den Himmel, sodass er fast schwarz wirkte. Ein schweres Unwetter war im Anzug.

»Mylord.« Ein leises Klopfen am Türpfosten veranlasste ihn, aufzublicken.

Als er sah, dass es Helen war, die auf der Schwelle stand, erhob er sich und setzte ein freundliches Gesicht auf. »Lady Helen.«

»Entschuldigen Sie die Störung, Sir.«

»Kommen Sie herein.«

Vorsichtig trat Helen näher. Ihr Blick glitt durch den Raum, heftete sich auf ihn. »Danke, Mylord. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich gern einen Lakaien nach Kathleen ausschicken würde, weil das Unwetter so schnell heranzieht.«

Devon runzelte die Stirn. Es war ihm nicht aufgefallen, dass Kathleen das Haus verlassen hatte. »Wo ist sie?«

Autor

Lisa Kleypas
Lisa Kleypas ist die Autorin von 16 historischen Liebesromanen, die in 12 verschiedenen Sprachen veröffentlicht wurden. Nachdem sie ihren Abschluss in Politikwissenschaften auf dem Wellesley College in der Tasche hatte, veröffentlichte sie ihren ersten Roman im Alter von 21 Jahren. Ihre Bücher tauchten seitdem auf zahlreichen Bestsellerlisten auf – unter...
Mehr erfahren

Entdecken Sie weitere Bände der Serie

Die Ravenels