Der Countdown

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Eine rachsüchtige Frau, die sich nach ihrem Platz im Paradies sehnt …Im Irak rettet eine Krankenschwester, die ihren Mann und Sohn bei einem brutalen Angriff verloren hat, einen amerikanischen LKW-Fahrer. Sie glaubt, dass er ihr helfen kann, den Tod an ihrer Familie zu rächen, und folgt ihm in die Vereinigten Staaten. Eine schmerzgeplagte Mutter auf der verzweifelten Suche nach ihrem Kind …In Kalifornien will eine Mutter ihr Kind von der Schule abholen und muss erfahren, dass ihr Ehemann mit dem Sohn spurlos verschwunden ist. Ein Detective, der sich rehabilitieren muss …In den Rocky Mountains rettet ein Polizist außer Dienst ein kleines Mädchen aus einem reißenden Fluss. Nur Minuten später flüstert sie ihre letzten Worte in seinen Armen und stirbt. Von diesem Ereignis verfolgt, beginnt er eine Untersuchung, die ihn zu einer Schule in Montana führt, wo bereits die Zeit läuft für ein Ereignis, das Geschichte schreiben wird ….


  • Erscheinungstag 04.07.2013
  • ISBN / Artikelnummer 9783955762384
  • Seitenanzahl 192
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Rick Mofina

Der Countdown

Roman

Übersetzung aus dem Amerikanischen von
Judith Heisig

Image

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch
in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Six Seconds

Copyright © 2009 by Rick Mofina

erschienen bei: MIRA Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Thorben Buttke

Titelabbildung: pecher und soiron, Köln

Autorenfoto: © by Michael Mofina

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN eBook: 978-3-95576-238-4

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

Werden Sie Fan von MIRA Taschenbuch auf Facebook!

PROLOG

Die Frau in dem Video trägt einen weißen schulterlangen Hidschab, der mit kostbaren Perlen bestickt ist. Der makellose Seidenschal umrahmt ihr Gesicht und betont ihre natürliche Schönheit. Sie nickt kurz in Richtung Kamera.

Man hört ein leises Signal, dann fängt sie an.

Ich heiße Samara. Ich bin keine Dschihad-Kämpferin. Ich bin Witwe und Mutter, getauft mit dem Blut meines Mannes und meines Kindes, als eure Regierungen sie ermordeten.”

Ihre kraftvolle, intelligent wirkende Stimme unterstreicht ihre Entschlossenheit, ihr leicht akzentgefärbtes Englisch spiegelt eine Mischung aus Mittlerem Osten und East London wider. Ihre Augen brennen sich in die Kamera, die langsam zurückfährt. Sie spricht direkt ein Publikum an, das sie bald auf jedem Fernseher dieser Welt verfolgen wird.

Es folgt ein Moment des Schweigens. Ihre verschlungenen Hände ruhen vor ihr auf einem einfachen Holztisch. An Daumen und Ringfinger ihrer linken Hand glitzern Ringe. Die Kamera fährt weiter zurück und gibt den Blick auf ein gerahmtes Familienfoto mit einem Mann, einem Jungen und der Frau frei. Sie alle lächeln. Die Augen der Frau leuchten vor Freude. Denn es ist ein Bild aus einer anderen Zeit. Aus einem anderen Leben. Es steht neben ihr als Grabstein ihres Glücks und Zeuge ihres Schicksals.

Um den Schmerz am Leben zu halten.

Für die Experten des FBI, die ihre Botschaft analysieren werden, gibt es keinen vorgefertigten Text. Keinen Granatwerfer vor ihr. Kein AK-47-Gewehr neben ihr.

Keine Vorträge aus dem heiligen Koran.

An der Wand hinter ihr hängen keine schwarz-goldenen Flaggen. Überhaupt keine Flaggen. Kein Teppich oder andere Vorhänge. Der Hintergrund besteht nur aus angewinkelt aufgehängten Spiegeln.

Nichts verrät den Aufenthaltsort der Frau oder deutet darauf hin, wo sie das Video hat aufnehmen lassen oder wer ihr dabei behilflich ist. Sie könnte sich in einem sicheren Haus im Westjordanland befinden. Oder in Athen. Vielleicht in Manila, Paris oder London. Oder auch Madrid oder Casablanca.

Oder in einem Vorort in den Vereinigten Staaten.

Eure Soldaten sind in mein Haus eingedrungen und haben meinen Mann und mein Kind gefoltert. Sie zwangen sie, mit anzusehen, wie mich einer nach dem anderen schändete. Dann töteten sie meinen Mann und mein Kind vor meinen Augen. Sie flohen, als eure Bomber den Tod in meine Stadt brachten. Ich trug meinen toten Sohn durch die Ruinen zum Ufer des Flusses Eden, wo ich erst ihn, dann meinen Mann und schließlich mein Leben begrub. Doch ich wurde wiedererweckt, um diese Verbrechen zu sühnen.

Und es sind diese Verbrechen, die meinen gerechten Zorn einer Witwe entfachen. Für diese Verbrechen werdet ihr den Tod spüren.

Zu sterben, das bedeutet für mich nicht den Tod. Zu sterben ist für mich wie ein heiliges Versprechen, das sich erfüllt. Weil ich die Zerstörung meiner Welt dadurch gerächt haben werde, dass ich den Tod in die eure brachte. Der Tod ist meine Belohnung, weil ich meinem Mann und meinem Kind ins Paradies folge. Um ihretwillen bin ich die Märtyrerin. Um ihretwillen bin ich die Rache.”

Buch eins

“Wo ist mein Sohn?”

1. KAPITEL

Blue Rose Creek, Kalifornien

Als Maggie Conlin das Haus verließ, glaubte sie an die Lüge.

Sie glaubte, dass das Leben wieder normal verlief. Sie glaubte, dass die Schwierigkeiten, die ihrer Familie zu schaffen machten, überwunden waren. Dass Logan, ihr neunjähriger Sohn, inzwischen zurecht kam mit dem Tribut, den der Irak von ihnen forderte.

Doch die bittere Wahrheit nagte an ihr, als sie zur Arbeit fuhr.

Ihre Narben – die unsichtbaren – waren nicht verheilt.

Als sie heute Morgen mit Logan auf den Schulbus gewartet hatte, war er unruhig gewesen.

“Du liebst Dad, oder, Mom?”

“Aber ja. Von ganzem Herzen.”

Logan hatte zu Boden gesehen und einen Kieselstein fortgekickt.

“Komm, sag schon, was ist los?”, fragte sie.

“Ich mache mir Sorgen, dass irgendetwas Schlimmes geschehen wird. Dass ihr euch vielleicht scheiden lasst.”

Maggie umfasste seine Schultern. “Niemand lässt sich scheiden. Es ist völlig in Ordnung, ein bisschen durcheinander zu sein. Es war nicht immer einfach in den letzten Monaten, seit Daddy nach Hause gekommen ist. Aber das Schlimmste ist jetzt vorüber, okay?”

Logan nickte.

“Daddy und ich werden immer für dich da sein, zusammen in diesem Haus. Immer. Okay?”

“Okay.”

“Denk daran, dass ich dich heute für das Schwimmtraining von der Schule abhole. Steig also nicht in den Bus ein.”

“Gut. Ich hab dich lieb, Mom.”

Logan hatte sie so fest umarmt, dass es wehgetan hatte. Dann war er zum Bus gerannt, hatte ihr durch das Fenster zugelächelt und gewinkt, bevor der Bus um die Ecke verschwunden war.

Während Maggie auf ihrem Weg zur Liberty Valley Promenade Mall durch Blue Rose Creek fuhr, eine Stadt mit etwa hunderttausend Einwohnern in der Nähe des Riverside County, dachte sie über Logans Sorgen nach. Sie parkte ihren Ford Focus und kam pünktlich bei Stobel & Chadwick an, wo sie als Buchhändlerin arbeitete.

Der Vormittag verging rasch, indem sie Kunden anrief und davon in Kenntnis setzte, dass ihre Bestellungen eingetroffen waren. Anderen half sie bei der Suche nach dem gewünschten Titel oder gab einen Geschenktipp. Zwischendurch füllte sie die Bestseller im Regal und den Displays auf. Doch so beschäftigt sie auch war, konnte sie der Realität doch nicht ganz entfliehen. Ihre Familie war durch Geschehnisse zerbrochen, die keiner von ihnen hatte kontrollieren können.

Ihr Ehemann Jake war ein Trucker. In den letzten Jahren hatte sein Sattelschlepper immer wieder Pannen gehabt, sodass sich die Rechnungen stapelten. Es war wie ein Fluch gewesen. Deshalb hatte er einen Job als Fahrer im Irak angenommen. Hochbezahlt, aber gefährlich. Maggie hatte nicht gewollt, dass er fortging. Doch sie hatten das Geld bitter nötig.

Als er vor einigen Monaten nach Hause zurückkehrte, hatte sie einen veränderten Mann vor sich. Er verfiel in lange, düstere Stimmungen, wurde misstrauisch, ja sogar paranoid, und hatte unerklärliche Wutausbrüche. Irgendetwas war im Irak mit ihm geschehen, aber er wollte keinesfalls darüber reden und lehnte jede Hilfe ab.

Lag das nun alles hinter ihnen?

Ihre Schulden waren bezahlt, und sie hatten etwas Geld auf dem Konto ansparen können. Jake fuhr wieder lukrative Langstrecken und schien endlich zur Ruhe gekommen zu sein; was Maggie glauben ließ, dass das Schlimmste vielleicht tatsächlich vorüber war.

“Maggie Conlin. Wie kann ich Ihnen helfen?”

“Ich bin’s.”

“Jake? Wo bist du?”

“Baltimore. Arbeitest du heute den ganzen Tag?”

“Ja. Wann kommst du nach Hause?”

“Am Wochenende bin ich wieder in Kalifornien. Wie geht es Logan?”

“Er vermisst dich.”

“Ich vermisse ihn auch. Sehr. Ich kümmere mich um alles, wenn ich wieder zu Hause bin.”

“Ich vermisse dich ebenfalls, Jake.”

“Du, ich muss los.”

“Ich liebe dich.”

Er antwortete nicht, und das sich ausbreitende Schweigen ließ Maggie befürchten, dass Jake noch immer glaubte, dass sie ihn während seiner Zeit im Irak betrogen hatte. Während sie dort am Infoschalter der kleinen Vorort-Buchhandlung stand, sehnte sie sich nach dem Mann, in den sie sich einst verliebt hatte. Sehnte sich nach ihrem gemeinsamen früheren Leben. “Ich liebe dich, und ich vermisse dich, Jake.”

“Ich muss los.”

Zweimal stahl sich Maggie an diesem Nachmittag zu den Toiletten, wo sie sich in eine der Kabinen setzte und ein Taschentuch an die Augen presste.

Nach der Arbeit schaffte Maggie es gerade rechtzeitig durch den dichten Verkehr zu Logans Schule. Die letzten Busse rumpelten gerade fort, als sie eintraf.

Sie meldete sich im Sekretariat und ging dann in das Klassenzimmer, in dem die Kinder auf ihre Eltern warteten. Eloise Pearce, die verantwortliche Lehrerin, hatte zwei Jungen und zwei Mädchen bei sich. Logan war nicht dabei. Vielleicht war er gerade auf der Toilette?

“Mrs. Conlin?” Eloise lächelte erstaunt. “Warum sind Sie hier? Logan ist schon fort.”

“Er ist fort? Was meinen Sie damit, er ist fort?!”

“Er wurde heute schon früher abgeholt.”

“Nein, das ist unmöglich!”

Eloise teilte ihr mit, dass Logans Abmeldung bereits heute Morgen im Sekretariat eingetragen worden wäre. Maggie lief dorthin zurück und schlug so fest auf die Glocke, dass eine Sekretärin und Vizedirektor Terry Martens herbeistürmten.

“Wo ist mein Sohn? Wo ist Logan Conlin?”

“Mrs. Conlin.” Der Vizedirektor schob Maggie die Tageseinträge mit den Abmeldungen zu. “Ihr Mann hat Logan heute Morgen abgeholt.”

“Aber Jake ist in Baltimore. Vor ein paar Stunden habe ich noch mit ihm telefoniert.”

Terry Martens und die Sekretärin tauschten untereinander Blicke aus.

“Er war heute Morgen hier, Mrs. Conlin”, sagte der Vizedirektor. “Er sagte, dass etwas Unvorhergesehenes dazwischengekommen sei und Sie es nicht zur Schule schaffen würden.”

“Das kann nicht sein.”

“Hoffentlich ist alles in Ordnung?”

Maggie keuchte, während sie zu ihrem Wagen rannte und dabei Jakes Handy anrief. Es klingelte einige Male, bis die Mailbox ansprang.

“Jake! Bitte ruf mich an und sag mir, was hier vor sich geht! Bitte!”

Während der Fahrt schien jede rote Ampelphase ewig zu dauern. Sie rief bei sich zu Hause an, wo der Anrufbeantworter ansprang, und hinterließ eine weitere Nachricht für Jake. Während sie durch ihr Viertel fuhr, dachte Maggie daran, die Polizei zu benachrichtigen.

Und was soll ich denen sagen?

Es war besser, erst mal nach Hause zu fahren. Über alles nachzudenken. Vielleicht hatte sie etwas missverstanden, und die beiden waren schon zu Hause? War Jake in Wirklichkeit in Blue Rose Creek? Aber warum sollte er dann vorgeben, in Baltimore zu sein? Warum sollte er lügen?

Als sie in ihre Straße einbog, erwartete Maggie, Jakes Sattelschlepper auf dem Platz neben dem Bungalow zu finden.

Er stand nicht dort.

Mit quietschenden Bremsen kam sie in der Auffahrt zum Stehen, rannte zur Tür und rammte den Schlüssel ins Schloss.

“Logan!”

Logans Schultasche stand nicht wie üblich im Flur neben der Tür. Maggie lief in sein Zimmer. Keine Spur von Logan oder seinen Sachen. Sie lief von Zimmer zu Zimmer, suchte vergebens nach irgendwelchen Hinweisen.

“Jake! Logan!”

Wieder versuchte sie es über Jakes Handy.

Danach rief sie erst Logans Lehrerin und dann seine Freunde an. Niemand wusste etwas oder hatte etwas gehört. Sie lief nach nebenan zu Mr. Miller, doch der pensionierte Klempner war heute nicht den ganzen Tag zu Hause gewesen. Sie rief Logans Schwimmlehrerin an und telefonierte mit der Werkstatt, in der Jake seinen Sattelschlepper warten ließ.

Niemand hatte etwas gesehen oder gehört.

Bin ich verrückt geworden? Man kann nicht an einem halben Tag von Baltimore nach Kalifornien fahren. Und Jake hatte doch gesagt, dass er in Baltimore ist.

Sie durchstöberte Jakes Schreibtisch, ohne zu wissen, wonach sie eigentlich suchte. Sie rief seinen Handy-Anbieter an, um zu erfahren, wo sich Jake zum Zeitpunkt seines Anrufs aufgehalten hatte. Sie benötigte all ihre Überredungskünste, um den Angestellten dazu zu bringen, ihr Auskunft zu geben, doch er konnte ihr nur sagen, dass Jake während der letzten zwei Tage anscheinend keinen Anruf von seinem Handy aus getätigt hatte.

Am frühen Abend benachrichtigte sie die Polizei.

Der Diensthabende versuchte Maggie zu beruhigen. “Ma’am, wir geben eine Beschreibung des Trucks und das Kennzeichen raus. Wir überprüfen sämtliche Verkehrsunfälle. Mehr können wir im Moment nicht tun.”

Als die Nacht hereinbrach, verlor Maggie jedes Zeitgefühl und auch die Übersicht über ihre Anrufe. Den Hörer des schnurlosen Telefons umklammert, sprang sie jedes Mal zum Fenster, wenn sie ein Auto auf der Straße hörte. In der Dunkelheit, die sie zu verschlucken drohte, spukten Logans Worte in ihrem Kopf herum.

Ich mache mir Sorgen, dass irgendetwas Schlimmes geschehen wird …”

2. KAPITEL

Fünf Monate später

Faust’s Fork, in der Nähe von Banff, Alberta, Kanada

Haruki Ito wanderte allein am Flussufer entlang, als er plötzlich wie angewurzelt stehen blieb.

Er hob seine Nikon ans Auge und stellte den Zoom ein, bis der Bär in der Ferne seinen Sucher ganz ausfüllte. Ein weiblicher Grizzly, der in den Rocky Mountains am Ufer des reißenden Faust River Forellen jagte.

Mit dem Foto des Grizzlys erfüllte sich ein Traum für Ito, der gerade ein paar Tage Urlaub genoss. Er arbeitete als Nachrichtenfotograf bei der Yomiuri Shimbun, einer der größten Tagezeitungen in Tokio. Jetzt aber betätigte er den Auslöser ganz privat und drehte gerade für ein weiteres Bild am Schärfering, als an der Peripherie seines Sichtfelds etwas verschwommen auftauchte.

Er zoomte es heran und knipste ein Bild – eine kleine Hand, die aus dem rasch dahintosenden Wasser ragte.

Ito lief am Ufer entlang und kämpfte sich durch dichtes Gebüsch und über glitschige Felsen, während er ab und zu einen Blick auf die Hand erhaschte, dann auf einen Arm und schließlich auf einen Kopf, als der Fluss sein Opfer in einen Strudel gespült hatte.

Er trat vorsichtig an die kleine Ausbuchtung mit dem wirbelnden Wasser heran. Dann legte er seine Kameraausrüstung ab, ging Schritt für Schritt in das hüfthohe Wasser und streckte sich angespannt nach dem Kinderkörper.

Ein weißer Junge. Etwa acht oder neun Jahre alt, schätzte Ito. Sweatshirt, Jeans und Turnschuhe.

Er war tot.

Traurigkeit stieg in Ito auf.

Als er den Jungen ans Ufer zog, ließ ihn ein plötzliches Krachen und Splittern zusammenzucken. Ein Kanu war in die Felsen neben ihm gerast. Es war leer.

Er blickte suchend über den Fluss und schauderte.

Gibt es noch mehr Opfer?

Ito lief zurück zum Wanderweg, wo es ihm gelang, zwei Frauen – deutsche Touristinnen auf Fahrradtour – anzuhalten. Binnen einer Stunde hatten die Parkaufseher eine Such- und Rettungsaktion organisiert.

Die Gegend war als Faust’s Fork bekannt, ein felsiges Gebiet mit Flüssen, Seen, Wäldern, Gletschern und Bergketten, das sich zwischen dem Banff National Park und Kananaskis County erstreckte. Es war durchsetzt mit Wanderpfaden und abgelegenen Zeltplätzen. Der Zugang war nur zu Fuß oder per Pferd erlaubt. Mit dem Fahrzeug erreichte man lediglich einige Ausflugsziele am Flussufer sowie ein paar Zeltplätze entlang des Flusses, die nur durch eine alte Holzfällerstraße miteinander verbunden waren.

Nachdem man den Tod des Jungen bestätigt und die Möglichkeit weiterer Opfer eingeräumt hatte, unterrichtete die Parkleitung nicht nur die Royal Canadian Mounted Police, sondern auch Gerichtsmediziner, Sanitäter, Feuerwehrmänner und die Park Ranger vor Ort. Naturschutzbeauftragte und andere Stellen wurden ebenfalls in Kenntnis gesetzt. Sie grenzten das zu durchsuchende Gebiet ein und teilten es in verschiedene Sektionen auf.

Rettungsboote wurden zum Fluss gebracht, konnten in dem Abschnitt, in dem man den Jungen gefunden hatte, jedoch nicht nach Überlebenden suchen. Die Strömung war zu stark. Man stellte Suchteams zusammen, die das Gebiet zu Fuß, zu Pferde und mit Geländewagen durchkämmten. Alle Helfer hatten Funkgeräte dabei, manche auch Suchhunde. Ein Hubschrauber und ein Flugzeug beteiligten sich an der Suche, ebenso wie viele Gruppen mit Freiwilligen, die noch weitere Camper in Faust’s Fork verständigten.

Etwas weiter flussaufwärts stand Daniel Graham in der Nähe eines entlegenen Zeltplatzes allein auf einem kleinen Anstieg, der einen weiten Blick auf den Fluss, die Berge und den Himmel eröffnete.

Er betrachtete die bronzene Urne in seiner Armbeuge und liebkoste die Blätter und Tauben, die in einem Schmuckband um die Mitte eingraviert waren. Nach einiger Zeit schraubte er den Deckel ab, schüttelte die Urne und übergab ihren Inhalt dem Wind. Feine, sandige Asche wirbelte und tanzte über die Wasseroberfläche, bis die Urne leer war.

Graham blickte zu den schneebedeckten Gipfeln, als ob sie die Antwort auf etwas bereithielten, das ihn sehr beschäftigte. Doch er bekam nicht die Zeit, darüber in Ruhe nachzudenken. Die Stille, die er gesucht hatte, wurde durch einen dröhnenden Hubschrauber gestört, der in weniger als dreißig Metern Höhe über den Fluss flog.

Kurz darauf kehrte er um und verschwand im Tiefflug in die entgegengesetzte Richtung.

Muss sich wohl um eine Suchaktion handeln, dachte Graham. Er stellte die Urne beiseite und suchte den Fluss prüfend nach einem Anzeichen für den Helikoptereinsatz ab. Nicht lange nach dessen Abdrehen hörte er das undeutliche Knistern und Knarzen von Funkgeräten, als zwei Männer in orangefarbenen Overalls seinen Zeltplatz betraten.

“Sir, wir sind vom Such- und Rettungsdienst”, sagte der erste. “Auf dem Fluss gab es einen Bootsunfall. Verschiedene Mannschaften suchen nach Überlebenden. Bitte geben Sie uns Bescheid, wenn Ihnen irgendetwas auffällt.”

“Wie ernst ist es?”

Die Männer musterten Graham, der in Jeans und T-Shirt vor ihnen stand. Er war in den späten Dreißigern, gut einen Meter achtzig groß und muskulös gebaut. Sein markantes Kinn schmückte ein dunkler Dreitagebart, der seine eindringlichen, tief liegenden Augen noch betonte.

Er zog eine lederne Brieftasche aus seiner Jackentasche und öffnete sie, damit die Männer das goldene Abzeichen sehen konnten – die Krone, umgeben von einem Kranz von Ahornblättern, mit den Worten “Royal Canadian Mounted Police” versehen. Daneben der Bisonkopf, der von dem Spruchband mit dem Motto Maintiens le Droit eingerahmt war. Der Ausweis identifizierte ihn als Daniel Graham, Corporal der RCMP, der Royal Canadian Mounted Police.

“Sie sind ein Mountie?”

“Beim Dezernat für Gewaltverbrechen in Calgary. Im Moment außer Dienst. Wie ernst ist der Unfall? Gab es Todesopfer?”

“Mindestens eines. Ein Junge. Wir haben noch keine weiteren gesicherten Informationen.”

“Sind schon irgendwelche Kollegen von mir eingetroffen? Können Sie Ihren Einsatzleiter fragen?”

Einer der Männer griff nach seinem Funkgerät, hielt kurz Rücksprache mit seinem Einsatzleiter und übergab dann an Graham. Von dem Einsatzleiter erfuhr er, dass Mounties von Banff und Canmore auf dem Weg waren. Weitere hatte man zur Unterstützung angefordert.

“Haben Sie einen Unglücksort und die Identität des Opfers?”, fragte Graham.

Ein Parkleiter informierte Graham, dass man die Leiche eines männlichen Kindes, etwa acht bis zehn Jahre alt, ungefähr einen Kilometer flussabwärts von Grahams Standort gefunden habe. Offenbar sei ein Kanu gekentert, die Parkaufsicht vermutete weitere Opfer.

“Es wird alles Menschenmögliche getan”, sagte der Einsatzleiter.

“Ich helfe bei der Suche und arbeite mich zum Fundort des Jungen vor. Geben Sie das bitte weiter”, sagte Graham.

Die beiden Männer gingen weiter flussaufwärts, während Graham seine paar Habseligkeiten einpackte und so rasch, wie es das unwegsame Gelände zuließ, auf den Fluss zusteuerte. Die Unterbrechung hatte ihn vom eigentlichen Grund seiner Anwesenheit abgelenkt. Graham schob seine persönlichen Probleme beiseite, um sich der Tragödie zu widmen, die sich ihm hier bot.

Er hielt inne, um mit dem Fernglas die zerklüfteten Ufer und das Wasser abzusuchen, konzentrierte sich besonders auf Felsen, die aus dem Wasser ragten. Sie erzeugten kräftige Wirbel und eine in allen Regenbogenfarben schimmernde Wassergischt, wenn die Strömung gegen sie schlug. Während er die Gegend absuchte, hörte Graham über sich das charakteristische Geräusch der Hubschrauberrotoren und das entfernte Surren des einmotorigen Flugzeugs.

Als er an eine gefährliche Stelle kam, rutschte er auf den feuchten Felsen aus und schlug sich das Knie an. Doch er ging weiter und bahnte sich seinen Weg zwischen den schroffen Steinformationen, die das Tor für einen Wasserfall bildeten. Er hörte donnerndes Rauschen.

Während er über das Gestein balancierte, glaubte Graham etwas Buntes zwischen einigen größeren Felsen zu erspähen, an denen sich das Wasser in der Mitte des Flusses schäumend brach. Er suchte nach einem sicheren Stand und setzte das Fernglas an. Die Gischt behinderte seine Sicht, doch er war überzeugt, dass er durch den sprudelnden Wasserwirbel etwas Pinkfarbenes an dem Felsen erblickte. Er verschaffte sich eine bessere Position, sodass er mehr Details erkennen konnte: einen kleinen Kopf, einen Arm, eine Hand.

Es ist ein Kind. Ein Mädchen. Das durch die Strömung gegen den Fels gepresst wird. Das um sein Leben kämpft.

Sie war knapp fünfzig Meter von ihm entfernt und wurde durch eine Haube aus Gischt verdeckt. Sie konnte jeden Moment von dem Felsen weggespült und in Richtung Wasserfall getrieben werden. Den Sturz würde sie nicht überleben.

Es gab keine Zeit zu verlieren. Er hatte weder Funkgerät noch Handy bei sich. Es waren auch keine anderen Rettungskräfte in Sicht. Er musste die Entscheidung allein treffen.

Während er an dem rauschenden Fluss stand und auf den winzigen pinkfarbenen Fleck starrte, fühlte Graham die Vibrationen des Wassers in seinem Brustkorb. Er wusste, wie gefährlich es war, hier und jetzt selbst ins Wasser zu gehen. Er hatte nur eine Chance, sie zu erreichen. Wenn er versagte, würde ihn die Strömung davontragen – und dann müsste er um sein Leben kämpfen, bevor sie ihn zum Wasserfall trieb und er auf die Felsen darunter stürzte.

Nach allem was geschehen war – was hatte er in seinem Leben zu verlieren?

Graham kannte das Risiko. Vermutlich musste er sterben. Doch das würde auch das Kind, wenn er nicht versuchte, es zu retten.

Er musste sie herausholen.

Er eilte ein Stück zurück flussaufwärts, streifte seine Stiefel ab, legte Marke, Fernglas und alles andere ab, was ihn behindern konnte, und ließ sich in das kalte Wasser gleiten.

Der Fluss drohte ihn mit sich zu reißen, und das Adrenalin schoss in seinen Körper, als er gegen die Strömung ankämpfte und sich einen Weg zwischen den Felsen bahnte. Weiße Blitze zuckten vor seinen Augen, als sein Bein gegen einen Stein prallte. Schmerz durchzog ihn, und er ging unter. Das Wasser rauschte in seinen Ohren, er schluckte Wasser.

Er drückte sich wieder an die Wasseroberfläche, keuchte und spuckte einen Schwall Flusswasser. Nach Luft schnappend versuchte er sich zu orientieren und das Mädchen auszumachen. Der pinkfarbene Fleck, sein wichtigster Anhaltspunkt, war verschwunden. Stromschnellen und Gischt verdeckten ihn, er konnte den Standort des Mädchens nur ahnen.

Er wurde gegen einen Felsen gedrückt, was ihm fast die Luft abschnürte. Er packte ihn, um sich daran hochzuziehen. Gerade als er ein Stück flussabwärts etwas Pinkfarbenes schimmern sah, zog ihn die Strömung unerbittlich weiter, wobei er sich die Hand an einer Felskante aufschnitt.

Graham wurde erneut nach unten gedrückt. In dem aufgewühlten Wasser sah er Beine, die sich um einen Fels vor ihm pressten. Mit letzter Kraft schaffte er es, dorthin zu schwimmen. Die Strömung drückte ihn gegen den Felsen.

Er war unter Wasser, konnte sich nicht bewegen, kam nicht an die Oberfläche.

In seinen Ohren klingelte es. Seine Lungen zerbarsten fast. Er würde es nicht schaffen.

Mach weiter, Daniel“, hörte er die Stimme seiner Frau. “Du musst weitermachen.”

Er mobilisierte seine letzten Kräfte, um sich gegen den Sog an die Oberfläche zu kämpfen. Keuchend holte er Luft und klammerte sich an den Felsbrocken. Einige Sekunden später war er wieder bei sich und arbeitet sich langsam um das Gestein herum. Er griff so weit wie möglich aus, bis er erst kleine Finger berührte, dann eine Hand und schließlich den Arm des Mädchens. Er schob sich weiter, bis er ihr ins Gesicht sehen konnte.

Ihre schreckgeweiteten Augen starrten ihn an.

Ihre Lippen waren blau.

Sie lebte, doch sie zitterte am ganzen Körper, stand unter Schock.

Sie war vielleicht fünf oder sechs Jahre alt.

Graham schob sich näher, schlang den Arm um sie und löste ihre Hände vom Felsen. Sie blutete aus einer Kopfwunde. Graham arbeitete sich mit ihr wieder um den Felsen herum, bis zu einem Punkt, an dem er die Position besser kontrollieren konnte. Er presste sich und das Mädchen gegen den Felsen und hoffte, dass alles nicht vergebens war.

Während er sie festhielt, sah sie ihn eindringlich an.

Er legte den Mund an ihr Ohr, um sie zu trösten.

“Alles wird wieder gut”, sagte er. “Ich helfe dir. Halt durch. Halt einfach nur durch.”

Sie starrte ihn an, und ihre Lippen bewegten sich.

Er legte sein Ohr an ihren Mund und bemühte sich, ihre Worte im Getöse der Stromschnellen zu verstehen, doch er war sich nicht ganz sicher, was sie sagte.

“…Daddy … nicht … weh …”

3. KAPITEL

Blue Rose Creek, Kalifornien

In diesem Moment stand Maggie Conlin etwa achtzehnhundert Meilen südlich des Faust River vor einem Verlagsgebäude einer Tageszeitung und ließ die fünf Monate Revue passieren, seit Jake mit Logan verschwunden war.

Am Tag danach hatte der Bezirk einen Deputy geschickt, um Maggies Haus nach Hinweisen auf ein Verbrechen zu durchsuchen, bevor er sie an Vic Thompson verwies, einen mürrischen, chronisch überlasteten Detective. Dieser teilte ihr mit, dass Jake, ab dem Tag, an dem Maggie Anzeige erstattet hatte, zehn Tage Zeit habe, um dem Bezirksstaatsanwalt eine Adresse sowie eine Telefonnummer zu übermitteln und ein Sorgerechtsverfahren einzuleiten. Falls das nicht geschehe, würde der Bezirk einen Haftbefehl gegen Jake wegen Kindesentführung ausstellen. Maggie übergab Thompson all ihre Bank-, Kreditkarten-, Telefon-, Computer-, Schul- und medizinischen Unterlagen.

Er riet ihr, sich einen Anwalt zu nehmen.

Trisha Helm, die günstigste Anwältin, die Maggie auftreiben konnte – “Ihr erster Besuch ist kostenlos” –, riet ihr, die Scheidung einzureichen und das Sorgerecht zu beantragen.

“Ich will keine Scheidung. Ich muss Jake finden und mit ihm reden.”

In diesem Fall, schlug Trisha vor, solle Maggie einen Privatdetektiv anheuern, und empfahl ihr Lyle Billings, einen Mitarbeiter von Farrow Investigations.

Maggie überreichte Billings die Kopien all ihrer persönlichen Unterlagen und einen Scheck über mehrere hundert Dollar. Zwei Wochen später berichtete er ihr, dass Jake weder in irgendeinem US-Staat noch auf kanadischem Boden seinen Führerschein neu habe registrieren lassen und dass Logan an keiner Schule eingeschrieben sei.

“Ich schätze, er hat sofort die Namen geändert”, sagte Billings. “Sich eine neue Identität zuzulegen ist einfacher, als die meisten Leute glauben. Es sieht so aus, als sei ihr Mann untergetaucht.”

Für weitere Recherchen benötigte die Detektei mehr Geld.

Das Maggie nicht aufbringen konnte.

Es waren gerade noch so viele Ersparnisse übrig, dass sie das Haus weitere drei, vielleicht auch vier Monate halten konnte. Dann würde sie es verkaufen müssen. Sie schränkte sich bereits ein. Zwar hatte sie noch den Job im Buchladen, aber ihre finanzielle Situation wurde immer verzweifelter.

Also lehnte Maggie es ab, der Detektei mehr Geld zu zahlen. Sie recherchierte auf eigene Faust und verbrachte die meisten Nächte vor dem Computer. Sie nahm Kontakt mit Fernfahrer-Verbänden auf und mit Organisationen, die nach vermissten Kindern suchten, schilderte ihren Fall in einschlägigen Newslettern und Blogs. Sie durchkämmte Nachrichtenseiten nach Meldungen von Unfällen, in die ein Truck und ein Junge in Logans Alter verwickelt waren.

Bei jeder neuen Tragödie krampfte sich Maggies Magen zusammen.

Sie schloss sich Selbsthilfegruppen an. Dort riet man ihr, die Presse auf ihren Fall aufmerksam zu machen, um Jake und Logan wiederzufinden. Alle paar Tage, dann jede Woche arbeitete sie die Liste ab: Los Angeles Times, Orange County Register, Riverside Press Enterprise und nahezu jede TV- und Radiostation hier im Süden.

“Oh ja, wir haben uns die Sache angesehen”, sagte ein apfelkauender Produzent zu Maggie, nachdem sie dreimal eine Nachricht hinterlassen hatte. “Nach unseren Quellen ist der Fall zwar als Kindesentziehung durch ein Elternteil klassifiziert, doch es scheint sich eher um eine häusliche Angelegenheit zu handeln. Tut mir leid.”

Abgesehen von Stacy Kurtz, der Kriminalreporterin vom Star Journal, beantwortete kein Journalist mehr ihre Anrufe.

“Ich glaube nicht, dass wir bereits eine Story haben, aber halten Sie mich auf dem Laufenden”, sagte Stacy jedes Mal, wenn Maggie anrief.

Zumindest hörte sie zu. Sie hatte Maggie nie persönlich kennengelernt, doch manchmal erschienen ihre Artikel mit einem Porträtbild von ihr. Stacy trug eine dunkel gerahmte Brille, große Ohrringe und hatte ein Lächeln, das im Laufe ihres Jobs allmählich bitterer wurde. Tägliche Berichte über die letzte Schießerei, Feuer, Ertrunkene, Autounfälle oder andere Tragödien laugten sie aus. An einigen Tagen sah sie älter aus, als sie war.

“Ich kann nicht garantieren, dass wir eine Story daraus machen, aber ich höre mir Ihren Fall gerne an, solange Sie mich über alle neuen Entwicklungen im Bilde halten.” Stacys direkte Art mochte rüde erscheinen, aber sie ersparte ihr kostbare Zeit in einem Beruf, der von Abgabeterminen diktiert wurde.

Auch Maggie hatte das Gefühl, dass ihr die Zeit zwischen den Fingern zerrann.

Was, wenn sie Logan niemals wiederfand? Ihn nie wiedersah?

Nun stand sie vor den Redaktionsräumen des Star Journal, einer Zeitung, die in einem eingeschossigen Gebäude an einem vierspurigen Boulevard residierte.

Es befand sich zwischen Sids-Bargeld-Service und Fillipos Menswear und wirkte wie das traurige Relikt einer abgewickelten 60er-Jahre-Einkaufsmeile. Von der ehemaligen Toplage war nichts mehr übrig geblieben.

Eine Palme ließ ihre Blätter müde über den Eingang hängen. Auf dem Dach wehte eine zerschlissene US-Fahne in der schwachen Brise, und aus einer knatternden Klimaanlage rann rostfarbenes Wasser über die Fassade nach unten.

Für die Einheimischen war das Gebäude des Star Journal ein Schandfleck, der abgerissen gehörte.

Für Maggie war es die letzte Chance, um Logan zu finden, denn von Tag zu Tag verblich ihre Hoffnung – wie die Flagge auf dem maroden Gebäude. Dennoch war sie heute Morgen hierhergekommen, mit nichts als einem Gebet bewaffnet.

“Kann ich Ihnen helfen?”, fragte eine korpulente Frau im geblümten Kleid von einem Schreibtisch aus, der dem Empfangstresen am nächsten stand. Ungefähr ein Dutzend weiterer Schreibtische waren nach der klassischen Redaktionsanordnung dicht an dicht aufgestellt. Die meisten waren nicht besetzt. An manchen saßen ernst dreinblickende Menschen, die auf ihren Monitor blickten oder in ein Telefongespräch vertieft waren.

Die weißen Wände waren über und über bedeckt mit Landkarten, Titelseiten, Fotografien und verschiedenen Titelzeilen. Aus der einen Ecke, in der auf drei TV-Geräten die Nachrichtensender liefen, krächzte der Polizeifunk. Am anderen Ende des Raums befand sich ein gläsernes Büro, in dem sich ein kahlköpfiger Mann mit gelockerter Krawatte mit einem jungen Mann stritt, der eine Kamera über der Schulter trug.

“Ich möchte zu Stacy Kurtz”, sagte Maggie.

“Haben Sie einen Termin?”

“Nein, aber …”

“Name?”

“Mein Name ist Maggie Conlin.”

“Maggie Conlin?”, wiederholte die Frau und blickte fragend zu ihrer Kollegin neben sich, die einen Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt hielt.

“Nein, das ist völlig falsch”, sagte die Frau ins Telefon, während sie gleichzeitig tippte, und blickte dann zu Maggie am Empfangstresen. Sie hob kurz den Zeigefinger, bevor sie sich wieder dem Telefongespräch widmete. “Nein, dies entspricht ganz und gar nicht dem, was mir Ihr Pressesprecher am Tatort sagte. Gut. Richten Sie Detective Wychesski aus, er möchte mich auf dem Handy anrufen. Das ist richtig. Stacy Kurtz vom Star Journal. Wenn er sich nicht meldet, nehme ich sein Schweigen als Bestätigung.”

Stacy Kurtz, die wenig Ähnlichkeit mit ihrem Porträt hatte, tippte noch kurz etwas in ihre Tastatur und ging dann zum Empfangstresen.

“Stacy, dies ist Maggie Conlin”, sagte die dicke Frau. “Sie hat keinen Termin, aber sie möchte mit dir sprechen.”

Stacy Kurtz streckte ihre Hand aus. “Tut mir leid, Ihr Name kommt mir bekannt vor, aber ich kann ihn gerade nicht unterbringen.”

“Mein Mann ist vor einigen Monaten mit meinem Sohn verschwunden.”

“Richtig. Ein merkwürdiger Fall von Kindesentziehung durch einen Elternteil, nicht wahr? Gibt es eine neue Entwicklung?”

“Nein. Mein Mann …” Maggie knetete die Henkel ihrer Handtasche. “Könnten wir unter vier Augen miteinander sprechen?”

Stacy taxierte Maggie, als wolle sie abschätzen, ob sie ihre Zeit wert war. Sie drehte sich zu dem Glaskasten um, wo der glatzköpfige Mann noch immer mit dem Jüngeren stritt. Sie biss sich auf die Unterlippe.

“Ich muss nur kurz mit Ihnen sprechen”, sagte Maggie. “Bitte.”

“Ich gebe Ihnen zwanzig Minuten.”

“Danke.”

“Della, sag Perry, dass ich draußen einen Kaffee trinken gegangen bin.”

“Hast du dein Handy?”

“Ja.”

“Ist es eingeschaltet?”

“Ja-ah.”

“Aufgeladen?”

“Bis später, Della.”

Wenig später saß Stacy Kurtz einen halben Block weiter auf einer Parkbank, nippte an ihrem Milchkaffee und klopfte sich mit einem Notizbuch auf den Oberschenkel. Während Maggie ihr ihre Angst offenbarte, kreischten über ihnen die Möwen.

“Dann gibt es also wirklich nichts Neues, Maggie, oder? Ich meine, seitdem das Ganze überhaupt geschah?”

“Nein, aber ich hoffte, dass Sie jetzt, nach all der Zeit, eine Geschichte darüber machen würden.”

“Das glaube ich nicht, Maggie.”

“Bitte. Sie könnten ihre Bilder veröffentlichen und sie an die Agenturen geben, sodass sie überall …”

“Maggie, es tut mir leid, aber wir werden keine Geschichte daraus machen können.”

“Ich flehe Sie an. Bitte. Sie sind meine letzte Hoffnung.”

Die ersten Takte von “Sweet Home Alabama” erklangen in Stacys Tasche, und sie holte ihr Handy heraus. “Entschuldigung. Ich muss rangehen. Hallo”, meldete sie sich. “Okay. Ich bin auf dem Weg und in zwei Minuten dort.”

“Aber Sie machen doch eine Geschichte? Bitte!” Maggie hielt Stacy einen Umschlag hin, während sie in Richtung Zeitungsgebäude eilten.

“Was ist das?”

“Bilder von Logan und Jake.”

“Verstehen Sie doch”, Stacy schob den Umschlag zurück, “es tut mir leid, aber ich habe Ihnen nie eine Geschichte versprochen.”

“Sprechen Sie mit Ihrem Chefredakteur.”

“Das habe ich, und um ehrlich zu sein, ist dies zu diesem Zeitpunkt keine Story für uns.”

Zu diesem Zeitpunkt? Was soll das heißen? Dass mein Sohn erst dann einen Nachrichtenwert für Sie hat, wenn ihm etwas Schreckliches zugestoßen ist? Wenn er verletzt ist oder tot?”

Stacy hielt abrupt inne.

Sie hatten den Star Journal erreicht. Sie warf ihren noch dreiviertelvollen Becher in den Mülleimer und starrte erst Maggie an, dann auf den vorbeiziehenden Verkehr. Jeden Tag mit verzweifelten Menschen zu sprechen war nie leicht, doch nach Stacys Erfahrung war es am besten, aufrichtig zu sein, auch wenn es schmerzte.

“Maggie, ich sprach mit Detectiv Vic Thompson. Er erwähnte etwas von einem Vorfall zwischen Ihrem Mann und einem Fußballtrainer. Und dass es dabei um Eheprobleme ging. Eine häusliche Angelegenheit also.”

“Ein Fußballtrainer? Nein, das ist nicht wahr.”

“Es tut mir leid.”

Die Gebäude, der Verkehr, der Bürgersteig, alles schien sich plötzlich zu drehen. Maggie fand ihr Gleichgewicht wieder, indem sie sich am Briefkasten des Star Journal abstützte. Im vergeblichen Versuch ihre Tränen wegzublinzeln, hob sie ihr Gesicht zum Himmel.

“Mein Sohn ist alles, was ich auf der Welt habe. Mein Mann kam von Übersee als ein anderer Mensch zurück. Das ist jetzt fünf Monate her, und niemand ist in der Lage, sie zu finden. Ich werde sie vielleicht nie wiedersehen.”

Stacys Handy klingelte. Sie sah aufs Display und klappte es zu.

“Ich muss los.”

“Was würden Sie an meiner Stelle tun?”, fragte Maggie. “Ich war bei der Polizei, einer Anwältin, einem Privatdetektiv. Alles vergeblich. Ich weiß nicht mehr, an wen ich mich noch wenden soll. Ich habe keine Familie, keine Freunde. Ich bin ganz allein. Sie waren meine einzige Hoffnung. Meine letzte Hoffnung.”

“Es tut mir wirklich leid. Ich bin sicher, dass sich die Dinge klären werden. Ich kann Ihre Verzweiflung nachvollziehen, aber ich muss jetzt wirklich gehen.” Und damit verschwand Stacy durch die Türen des Star Journal.

Maggie stand allein auf der Straße, das Flattern und Klirren am Fahnenmast klang wie ein Requiem zu ihrer Niederlage. Sie ging zurück zu ihrem Wagen. Im Rückspiegel blickte ihr eine Fremde entgegen. Sie betrachtete die Falten, die der Stress in ihr Gesicht gegraben hatte. Ihre Haare waren durcheinander. Sie hatte abgenommen und konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal gelächelt hatte.

Wie konnte es nur so weit kommen? Sie und Jake hatten sich doch geliebt. Sie hatten ein glückliches Leben geführt. Ein gutes Leben. Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und schluchzte, bis sie jemanden an die Scheibe klopfen hörte. Sie schaute auf und erblickte Stacy Kurtz.

Maggie ließ die Scheibe hinunter.

“Hören Sie.” Stacy blätterte in ihrem Notizbuch. “Es tut mir leid, dass das so enden muss.”

Maggie gewann ein wenig ihre Fassung zurück, während Stacy die Seiten durchging.

“Ich bin nicht sicher, ob Ihnen das hier weiterhelfen wird, aber man weiß nie.”

Stacy schrieb etwas auf eine leere Seite, die sie dann herausriss.

“Nur wenige Menschen wissen von dieser Frau. Sie will kein Geld, sie macht keine Werbung. Und als ich sie in der Zeitung vorstellen wollte, lehnte sie ab. Sie wünscht keine Öffentlichkeit.”

Maggie wischte sich die Tränen fort und musterte den Namen und die Telefonnummer auf dem Zettel.

“Wer ist diese Frau?”

“Ein befreundeter Detective schwört, dass diese Frau der Polizei von Los Angeles bei der Suche nach einem Mordverdächtigen nützlich war und dass sie auch dem FBI bei der Suche nach einem verschwundenen Teenager geholfen hat. Soweit ich weiß, war sie vor zehn Jahren auch an der Suche nach einem entführten Säugling in Europa beteiligt.”

“Ich verstehe nicht. Gehört sie zur Polizei?”

“Nein, sie hat das zweite Gesicht. Sie sieht und spürt … Dinge.”

“Also ist sie ein Medium?”

“So etwas in der Art. Entscheiden Sie selbst, ob Sie zu ihr gehen oder nicht. Ich muss mich entschuldigen, heute war ein schlimmer Tag in der Redaktion. Bitte halten Sie mich auf dem Laufenden. Alles Gute!.”

Lange nachdem Stacy bereits fort war, starrte Maggie noch immer auf den Namen, den ihr die Journalistin auf den Zettel geschrieben hatte.

“Madame Fatima.”

Sie umklammerte den Zettel mit ihrer Faust, als wäre er ein Rettungsanker.

4. KAPITEL

Faust’s Fork, in der Nähe von Banff, Alberta, Kanada

Graham umklammerte das Mädchen.

Wie lange schon? Eine halbe Stunde? Eine ganze? Er wusste es nicht.

Die Wucht des Wassers erschöpfte seine Kräfte, doch er ließ nicht los.

Wo ist der Hubschrauber? Sie müssen uns sehen. Kommt her!

Schreien war sinnlos. Die Strömung schlug auf ihn ein, der Schmerz zerriss ihn fast. Sein Körper wurde taub. Er drohte bewusstlos zu werden.

Er dachte an Nora, seine Frau. Ihre Augen. Ihr Lächeln.

Das gab ihm Kraft.

Der Fluss war gnadenlos, doch Graham weigerte sich, loszulassen. Seine Hände bluteten, doch er weigerte sich loszulassen. Stattdessen besann er sich auf all das, was er in der Ausbildungsakademie in Regina gelernt hatte.

Gib niemals auf, gib dich niemals geschlagen, kapituliere niemals.

Er hielt durch, bis er das rhythmische Hämmern über sich hörte.

Ein Hubschrauber.

Alles um ihn herum verschwamm in dem Wirbel, den die Rotorblätter auslösten: Ein Rettungssanitäter wurde über eine Winde in einem Korb abgeseilt. Graham half dabei, das Mädchen in den Korb zu befördern, und sah zu, wie sie in den Hubschrauber gezogen wurde. Dann kam der Retter wieder zu ihm herunter, schnallte ihm ein Geschirr um, und der Hubschrauber flog los. Die Berge kreisten um ihn, während sie über das Wasser zu einer Wiese schwebten, wo man sie beide absetzte und den Hubschrauber ein paar Meter weiter landete. Die Sanitäter zogen ihm die nasse Kleidung aus, hüllten ihn in Decken und platzierten ihn im Fond; dann flogen sie wieder mit ihm los.

Während die Sanitäter sich um das Mädchen kümmerten, raste der Hubschrauber über ein hügeliges bewaldetes Tal zwischen den Bergen. Binnen weniger Minuten erreichten sie eine Lichtung in der Nähe einer Wanderhütte, wo bereits mehrere Ambulanzen, und ein weiterer Hubschrauber der STARS-Luftambulanz aus Calgary warteten. Die hinteren Klapptüren der Maschine waren geöffnet, die Rotorblätter drehten sich.

“Sie reagiert nicht”, hörte Graham die Sanitäter den Ärzten zurufen.

Der Notarzt, der Rettungsassistent und die Krankenschwester arbeiteten noch in ihren Overalls und mit aufgesetzten Helmen. Sie starteten die Wiederbelebungsmaßnahmen, in dem sie einen intravenösen Zugang setzten, dem Mädchen eine Sauerstoffmaske anlegten und sie auf eine Trage betteten. Sie trugen sie in den Ambulanz-Hubschrauber, der in Richtung eines Unfallkrankenhauses in Calgary startete.

Graham blieb am Boden zurück. Er war barfuß und in Decken gehüllt, als die Sanitäter ihn wegen einer leichten Unterkühlung und Schnittwunden an Händen und Beinen behandelten. Andere Helfer sahen dabei zu und warteten ab.

“Wir bringen Sie ins Krankenhaus in Banff, um da einen genaueren Blick darauf zu werfen”, sagte einer der Sanitäter.

Graham schüttelte den Kopf und sah dabei dem roten Rettungshelikopter nach, der in Richtung Osten entschwand.

“Mir geht es gut. Ich möchte bei den Suchmannschaften bleiben.”

Einer der Parkaufseher ging zu seinem Pick-up und holte einen behördeneigenen orangefarbenen Overall heraus, wie ihn die Feuerwehrmänner bei Waldbränden trugen, dazu wollene Socken und Stiefel. Das alles warf er Graham zu.

“Sie sind trocken und sollten passen”, sagte der Aufseher und nickte in Richtung einer Umkleidekabine. “Wenn Sie fertig sind, fahre ich Sie zum Suchzentrum.” Er schüttelte Grahams Hand. “Bruce Dawson.”

Wenig später schaltete Dawson durch alle Gänge, während sein Jeep mit Graham auf dem Beifahrersitz eine unbefestigte Straße entlangrumpelte, die südwestlich durch die Pinienwälder verlief. Während der Fahrt bat er die Suchmannschaften über Funk, die Tasche des Mounties mit allem, was er sonst noch am Fluss gelassen hatte, zu bergen und zum Zentrum zu bringen.

“Wie ist die Lage?”, fragte Graham. “Diese Kinder sind hier doch nicht allein in diese Gegend gekommen.”

“Richtig, wir gehen auch von einer erwachsenen Begleitung aus. Wir haben den Suchradius flussabwärts ausgeweitet.” Dawson behielt den Blick auf der Straße und ließ einige Sekunden verstreichen, bevor er fortfuhr: “Ich hörte im Radio, dass man Sie mit dem Mädchen im Fluss entdeckt hatte. Das ist wirklich eine Wahnsinnstat.”

Graham sah zu den Bergen am Horizont und antwortete nicht.

Nach einer holprigen halben Stunde auf unbefestigtem Terrain erreichten sie die Aufseherstation für die Faust-Region. Sie stand auf einem kleinen Plateau in der Nähe eines Höhenpfads. In ihrem früheren Leben war die Station einmal eine Garküche gewesen, die eine Bergbaugesesellschaft 1909 aus handbehauenen Fichtenstämmen errichten ließ.

Nun diente sie in einem Notfall zugleich als Kommandozentrale. Die Wände waren bedeckt mit Landkarten. Der größte Sitzungsraum war vollgepackt mit Menschen, und auf einem massiven Holztisch türmten sich Computer, GPS-Peilgeräte und noch mehr Landkarten. Satellitentelefone und Festnetzanschlüsse klingelten inmitten der Gespräche und dem Knacken der Funkgeräte, während über allem ständig das Dröhnen der Suchhubschrauber ertönte.

Die Station war außerdem mit den notwendigsten Sanitäranlagen ausgestattet. Graham nahm eine heiße Dusche und zog sich Kleidung aus seiner mittlerweile eingetroffenen Tasche an. Als er sich zu den anderen gesellte, galt seine Hauptsorge dem Mädchen.

“Wie ist ihr Zustand?”

“Bislang keine Informationen.” Dawson bot ihm einen Becher Kaffee und ein Schinkensandwich an. Graham nahm den Kaffee, das Sandwich lehnte er ab. “Wir wissen, dass sie vor wenigen Augenblicken im Kinderkrankenhaus von Alberta gelandet sind. Während wir auf Neuigkeiten warten, bringe ich Sie auf den neuesten Stand, was unsere Notfallmaßnahmen angeht.”

Auf einer der Landkarten deutete Dawson mit der Spitze seines Bleistifts auf einen Punkt am Fluss.

“Hier wurde der Junge gefunden. Mounties aus Banff und Canmore sind am Unglücksort und der Gerichtsmediziner ist auch gerade eingetroffen.”

“Haben Sie eine Ahnung, um wen es sich bei dem Jungen handelt? Oder zu wem er gehört? Wurden Kinder als vermisst gemeldet?”

Dawson schüttelte den Kopf. “Noch nicht. Es gibt noch zu viele Möglichkeiten.” Mit dem Bleistift folgte er dem Fluss. “Wir haben überall in der Gegend Zeltplätze. Und jede Menge Tagesausflügler. Wir gehen jetzt die Registrierungen durch und schicken Zweierteams zu jedem Campingplatz und jedem Besucher. Aber die Leute sind mobil. Sie wandern oder halten sich in Banff oder Calgary oder wo auch immer auf. Das wird Zeit brauchen.”

Graham verstand.

“Wir haben das Gebiet in Planquadrate aufgeteilt. Wir haben Leute am Boden, zu Wasser, in der Luft … wir suchen –”

“Ist hier ein Corporal Graham?” Am anderen Ende des Raums hielt eine junge Frau einen schwarzen Telefonhörer hoch.

“Das bin ich”, meldete sich Graham.

“Anruf für Sie!”

Als Graham den Hörer nahm, hielt er sich das andere Ohr zu.

“Dan, wir haben gehört, was Sie da unten getan haben. Sind Sie in Ordnung?”

Es war sein Chef, Inspector Mike Stotter, Leiter der Abteilung für Gewaltverbrechen der RCMP im südlichen Distrikt von Calgary.

“Es geht mir gut.”

“Sie haben weit mehr als Ihre Pflicht getan.”

“Nein, habe ich nicht.”

“Dan, hören Sie, es tut mir leid, aber sie haben sie im Krankenhaus gerade für tot erklärt.”

“Was?”

“Man hat uns gerade benachrichtigt. Sie hat es nicht geschafft. Es tut mir leid.”

Ihr bebender Körper. Ihre Augen. Die letzten Worte, die sie in sein Ohr flüsterte.

Graham fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.

“Geben Sie mir diesen Fall, Mike.”

“Es ist zu früh für Sie.”

“Ich sollte diese Woche aus dem Urlaub zurückkommen.”

“Ich habe da noch ein paar alte Fälle für Sie. Diese Sache wird sich vermutlich sowieso als Unglücksfall in der Wildnis herausstellen. Wir müssen da nichts tun. Die grünen Jungs von Fornier in Banff können den Fall gerne haben.”

“Ich brauche diesen Fall, Mike.”

“Sie brauchen ihn?”

“Hat die Besatzung des Hubschraubers oder das Personal im Krankenhaus angedeutet, dass sie noch etwas gesagt hat? Oder ob sie noch versucht hat zu sprechen, bevor sie starb?”

“Bleiben Sie mal dran. Shane hat den Anruf entgegengenommen.”

Graham blickte hinüber zu den Bergen und fühlte, wie sich sein Magen zusammenkrampfte, bis Stotter wieder am Apparat war.

“Nein, Dan, warum?”

“Sie sprach mit mir, Mike.”

“Was hat sie gesagt?”

“Es war nicht ganz deutlich. Doch ich habe das Gefühl, dass dies hier kein Unfall war. Wir müssen dranbleiben. Ich will diesen Fall, Mike.”

Langes Schweigen.

“Okay. Ich werde Fornier Bescheid geben. Sie leiten die Ermittlungen. Vorläufig. Wenn es sich um ein Verbrechen handelt, gehört der Fall unserem Department. Wenn nicht, geben Sie den Fall an Forniers Leute ab. Ach ja, Prell ist wegen einer anderen Angelegenheit in Canmore; ich schicke ihn zu Ihnen rüber, um Ihnen zur Hand zu gehen.”

“Prell? Wer ist Prell?”

“Constable Owen Prell. Er kam gerade aus Medicine Hat zu uns.”

“Gut. Danke, Mike.”

“Und Sie sind sicher, dass Sie sich das antun wollen? Sie haben bereits zwei Todesopfer zu verzeichnen, und der Fluss wird vermutlich noch weitere fordern.”

“Ich bin mir sicher.”

“Dann machen Sie sich auf den Weg dahin, wo man den Jungen gefunden hat.”

5. KAPITEL

Faust’s Fork, in der Nähe von Banff, Alberta, Kanada

Das Gesicht des Jungen wirkte friedlich, im Tode geradezu erhaben.

Die Augen waren geschlossen. Die Haut war makellos. Er sah aus wie ein schlafender Engel, als eine Brise ein paar Strähnen seines Haares anhob, wie von einer Mutter berührt, die ihren Sohn zärtlich weckt.

Die Ähnlichkeit mit dem Mädchen war nicht zu übersehen. Er war älter, vermutlich ihr großer Bruder. Seine Jeans waren ausgeblichen, auf dem blauen Sweatshirt prangte das Logo der Kanadischen Rockies. Seine Sneaker stammten von einer populären Marke und sahen relativ neu aus. Er schien acht oder neun Jahre alt zu sein und wirkte winzig in dem offenen Leichensack.

Wer ist er? Was tat er am liebsten? Welche Träume hatte er? Und welchen letzten Gedanken? Diese Fragen gingen Graham durch den Kopf, während er sich mit Liz DeYoung vom gerichtsmedizinischen Institut in Calgary über den Jungen beugte.

“Was meinen Sie?”, Graham hob die Stimme, um das Tosen des Wassers zu übertönen. “Unfall oder etwas Verdächtiges?”

“Etwas zu früh, um das zu sagen.” DeYoung trug blaue Latexhandschuhe. Mit äußerster Sorgfalt fasste sie den Jungen an den schmalen Schultern, um ihn umzudrehen. Sein Hinterkopf war zerschmettert wie eine Eierschale, sodass Hirngewebe freilag. “Dies scheint die Hauptverletzung zu sein.”

“Von den Felsen?”

“Vermutlich. Wenn wir ihn und das Mädchen in Calgary obduziert haben, wissen wir mehr. Zu diesem Zeitpunkt ist Mutter Natur Ihre Hauptverdächtige.”

Graham blickte auf DeYoungs Armbanduhr und machte sich Notizen. Block, Stift und Klemmbrett hatte er sich von den Helfern aus Banff geliehen.

“Keine Schwimmwesten”, sagte Graham.

“Wie bitte?”

“Das Mädchen hatte keine. Und er auch nicht. Haben Sie irgendwo Schwimmwesten gesehen?”

“Nein. Aber würden Sie Ihren Verdacht bitte konkretisieren?”

“Es ist nur so ein Gefühl.”

“Ein Gefühl?”

“Vergessen Sie’s. Ich taue immer noch auf. Haben Sie einen Hinweis auf seine Identität gefunden? Etwas in seinen Taschen? Etiketten in der Kleidung?”

“Nein. Nichts außer einer kleinen Taschenlampe und einem Granola-Riegel. Sehen Sie, das ist Ihr Job. Bringen Sie uns einen Namen und einen Familienangehörigen, damit wir den Zahnstatus zur Bestätigung anfordern können. Sie wissen ja, wie das so läuft.”

Ja, er wusste, wie das so lief.

“Dann dürfen wir ihn abtransportieren?” DeYoung hatte noch viel Arbeit vor sich.

Graham antwortete nicht. Er starrte lediglich den Jungen an, sodass sie Graham mit einer gewissen Besorgnis musterte.

“Sind Sie in Ordnung?”

DeYoung wusste einiges über Grahams private Situation.

“Dan, Sie wissen, ich bin Nora nur letztes Jahr zu Weihnachten begegnet. Wir saßen alle beim Bankett des Justizministers. Wir hatten viel Spaß, erinnern Sie sich?”

Er erinnerte sich.

“Es tut mir so leid. Ich habe ihre Trauerfeier verpasst. Ich war auf einer Konferenz in Australien.”

“Das ist in Ordnung.”

“Wie kommen Sie zurecht? Ganz ehrlich?”

Er ließ seinen Blick von dem Jungen zum reißenden Fluss wandern, starrte in die Fluten, als ob sich dort draußen die Antwort auf alles befände.

Er erhob sich. “Sie können ihn jetzt mitnehmen.”

DeYoung schloss den Leichensack. Ihre Männer luden ihn auf eine Bahre, schnallten ihn fest und trugen ihn vorsichtig über die Uferböschung in ihren Wagen. Graham blickte dem Wagen nach, wie er den schmalen Pfad entlangholperte und mit quietschender Federung auf die Straße einbog. Dann war er verschwunden.

Einen Augenblick stand Graham ganz allein am Unglücksort.

Er war zu drei Seiten mit gelbem Band abgesperrt. Graham trug Latexhandschuhe und Überschuhe. Die Kollegen von der Kriminaltechnik wirkten vor den dunklen Felsen und dem grünen Fluss in ihren strahlend weißen Overalls geradezu surreal. Wortlos fotografierten sie die Szenerie, maßen Abstände aus und sammelten mögliche Beweisstücke.

Alles mit dem Wissen um einen fundamentalen Lehrsatz, den jeder Detective kannte.

Hinter einem Unglücksfall in der Wildnis kann sich ein perfekter Mord verbergen. Behandle den Fall grundsätzlich als verdächtig, denn du kennst die Wahrheit nicht, bevor du alle Fakten kennst.

Graham ging seine Notizen durch und blätterte in den Aussagen der Leute, die den Jungen gefunden hatten. Haruki Ito, vierundvierzig Jahre alt und Fotograf aus Tokio, war der Erste. Er hatte die Frauen mit den Fahrrädern angehalten. Ingrid Borland, einundfünfzig Jahre alt, eine Bibliothekarin aus Frankfurt, und Marlena Zimmer, dreiunddreißig Jahre alt, Programmiererin aus München. Sie schienen beide gewöhnliche Touristen zu sein.

An ihrem Verhalten war nicht Ungewöhnliches aufgefallen.

Der Fotograf aus Tokio war ein erfahrener Reporter, der schon furchtbare Dinge wie Krieg und Tsunamis miterlebt hatte. Er war ziemlich ruhig, fast philosophisch gewesen, dachte Graham. Anders als die beiden Frauen, die der vergebliche Versuch, den Jungen wiederzubeleben, tief erschüttert zurückgelassen hatte. “Das arme Kind. Das arme, arme Kind.”

Rauschen drang aus einem der Funkgeräte und lenkte Grahams Aufmerksamkeit auf einen Mann, der sich ihm näherte. Er kam aus Richtung der parkenden Einsatzwagen oben am Flussufer, wo die Kollegen von den Einheiten aus Banff und Canmore mit den Zeugen sprachen. Der Mann hielt vor der Absperrung. Eine gute Entscheidung.

“Corporal Graham?”

Graham trat näher an den Neuankömmling heran. Er war Mitte dreißig, gut eins achtzig groß, trug Jeans und ein kariertes Hemd unter einer schwarzen Bomberjacke aus Leder.

“Owen Prell. Inspector Stotter hat mich geschickt.”

“Dann haben Sie ja ziemlich schnell hergefunden.” Graham schüttelte ihm die Hand.

“Ich war bereits in Canmore.”

“Mike sagte, Sie kommen vom Organisierten Verbrechen in Medicine Hat.”

“Ich habe bislang bei der General Investigation Section gearbeitet. Im Büro haben sie mich direkt an den Schreibtisch neben Ihnen gesetzt. Ich freue mich darauf, mit Ihnen arbeiten zu können.”

Prell blickte zurück zu den Einsatzwagen und den Polizisten. “Die anderen möchten wissen, ob Sie fertig sind mit den Zeugen. Die Leute würden gerne gehen.”

“Wir sind fast fertig.” Graham durchblätterte seine Notizen. “Sammeln Sie Ihre Pässe ein, wir überprüfen sie durch Interpol. Sagen Sie einfach, dass das bei uns Routine ist und sie ihre Pässe bald zurückbekommen.”

“Mach ich.”

Als Prell sich umwandte, flog ein Hubschrauber über sie hinweg und peitschte das Wasser auf. Ein Helikopter der RCMP aus Edmonton. Kaum war er verschwunden, hörte Graham jemanden seinen Namen rufen.

Der Officer, der das Kanu untersuchte, winkte ihm zu, dass er sich etwas ansehen solle.

Etwas Wichtiges.

Zwischen den Felsen, an denen das Kanu zerschellt war, hatte sich eine kleine Metallplatte mit der Inschrift Wolf Ridge Outfitters verkeilt. Die Löcher für die Schrauben stimmten mit denen am Kanu überein. Es war dort ausgeliehen worden. Nummer 27.

Und die Bootsverleiher hatten garantiert Unterlagen über den Vorgang.

“Prell!”

Der Constable kehrte mit seinem Funkgerät zurück. Eine dringende Anfrage wurde ausgegeben, Wolf Ridge zu kontaktieren und die Mietunterlagen für Boot Nummer 27 mit denen der Parkbehörde abzugleichen.

Nach zwanzig Minuten bekamen sie die gewünschten Informationen.

Ein gewisser Ray Tarver aus Washington, D. C., hatte das Kanu angemietet.

Die Unterlagen der Parkbehörde wiesen Ray, Anita, Tommy und Emily Tarver als Besucher auf dem Autozeltplatz Nummer 131 aus.

6. KAPITEL

Faust’s Fork, bei Banff, Alberta, Kanada

Der Zeltplatz 131 lag flussaufwärts, tief im Hinterland und inmitten einer dichten Ansammlung von Fichten und Pinien. Der Platz eröffnete einen beeindruckenden Blick auf den Fluss und die zerklüfteten Felsen der Nine Bear Range, einer markanten Gebirgskette.

Als Graham mit den anderen eintraf, konnte er keinerlei Lebenszeichen ausmachen.

Ein modernes SUV parkte neben einem großen Kuppelzelt. Ein typischer Zeltplatz: Propangaskocher, Klappstühle und vier Schwimmwesten, die säuberlich aufgereiht an einer Fichte lehnten. Die Lebensmittel waren in sicherer Distanz zum Zelt untergebracht, und von einer zwischen zwei Pinien gespannten Wäscheleine hingen Hemden, Hosen und andere Dinge. Auf ihre Rufe nach den Tarvers hörten die Helfer nur das Rauschen des Flusses und das Wummern der Suchhubschrauber.

Der Ort war verlassen, absolut still.

Leblos.

Graham erklärte ihn zum zweiten Tatort, und während Prell und die anderen die Absperrungsbänder befestigten und per Funk das Kennzeichen des SUV überprüfen ließen, betrat er alleine das Zelt.

Innen empfing ihn der angenehme Geruch von Seife und Sonnencreme. Er hatte den Eindruck, dass hier etwas unterbrochen worden war, doch er konnte es nicht konkretisieren. Irgendwie war hier die Zeit stehen geblieben. An einer Seite lag ein Schlafsack, der groß genug war für zwei Erwachsene. Neben dem linken Kopfkissen lag ein Taschenbuch von Danielle Steel, neben dem rechten eine große Taschenlampe.

Gegenüber befanden sich zwei kleinere Schlafsäcke nebeneinander. Auf dem einen lag ein aufgeschlagenes SpongeBob-Heft, auf dem anderen saß ein rosafarbener Plüschhase mit ausgebreiteten Armen, so als erwarte er die Rückkehr seines Besitzers.

Graham nahm ihn hoch und blickte ihm in seine Knopfaugen.

Kinderkleidung in hellen Farben quoll aus kleinen Rucksäcken: Pullover, Hosen. Die größeren Taschen auf der gegenüberliegenden Seite waren ebenfalls offen, auch aus ihnen schaute Kleidung heraus, sie war aber nicht so zerknautscht.

Es war einigermaßen ordentlich.

Nach einer Brieftasche oder einem Portemonnaie suchte Graham vergeblich. Camper versteckten sie oft oder schlossen sie fort. Nachdem er sich Notizen gemacht hatte, trat er hinaus, wo Prell ihn auf den aktuellen Stand brachte.

“Das SUV wurde am Flughafen von Calgary gemietet. Kunde ist Raymond Tarver, dieselbe Adresse in Washington.”

“Irgendwas Interessantes im Fahrzeug gefunden?”

“Es ist verschlossen.”

“Die Autovermietung soll ihn so schnell wie möglich für uns öffnen. Sagen Sie denen, dass es ein polizeilicher Notfall ist. Dann soll die Spurensicherung sich den Wagen und diesen Zeltplatz vornehmen. Vorher trampelt keiner hier rum oder fasst irgendetwas an.”

Graham nickte in Richtung flussaufwärts.

“Was ist mit den Leuten auf den benachbarten Zeltplätzen?”

“Einige der Leute schreiben bereits ihre persönlichen Daten für uns auf.”

“Gut. Ich möchte Aussagen, Zeitabläufe und Personenrecherchen.”

“Mach ich. Corporal, was glauben Sie, was den Eltern zugestoßen ist?”

“Ich weiß es nicht.” Graham überflog erneut den Platz: die Schwimmwesten, die Kühlbox mit Lebensmitteln in sicherer Entfernung zum Zelt, ein Eimer Asche neben der Feuerstelle. Haben sie Hotdogs gemacht, Marshmallows gegrillt und sich unter den Sternen zusammengekuschelt? Sind sie zusammen gestorben? “Diese Leute befolgen die Regeln, sichern ihre Sache ab, gehen kein Risiko ein. Ich habe keine Ahnung, was passiert ist.”

Nachdem Prell später am Abend zurück nach Calgary gefahren war, beobachtete Graham, wie das Rettungsteam mit Taschenlampen und Scheinwerfern die Suche im dunklen Flusstal fortsetzten. Graham saß neben seinem eigenen Zelt allein am Feuer und lauschte den Gesprächen aus dem geborgten Funkgerät neben ihm.

Während die Suchmannschaften berichteten, dachte Graham über seinen Fall nach.

Nachdem ein Mechaniker von der Autovermietung das SUV geöffnet hatte, fand Prell diverse Gegenstände, darunter eine Brieftasche, ein Portemonnaie und US-Pässe, die den Tarvers gehörten. Die Fackel beleuchtete die Gesichter von Raymond, seiner Frau Anita, seinem Sohn Thomas und seiner Tochter Emily – jenem Mädchen, das in Grahams Armen ihren letzten Atemzug getan hatte.

Was war hier schiefgelaufen?

Graham wollte glauben, dass es sich um eine nette amerikanische Durchschnittsfamilie handelte. Doch wo waren Ray und Anita Tarver?

Hatten sie ihre Kinder ertränkt?

Oder waren sie mit ihnen ertrunken?

Was war geschehen?

Hatten sie einen herrlichen Urlaub in den Bergen verbracht, bevor sie einem entsetzlichen Unfall zum Opfer fielen? Oder war etwas anderes vor sich gegangen? Gab es Streit in der Familie? Was hatte sich vor der Tragödie im Leben der Tarvers ereignet?

Und wie sah es mit seinem eigenen Leben aus?

Der Lichtschein des Feuers beleuchtete auch die Urne, die durch das Fliegennetz vor seinem Zelt zu sehen war.

Graham fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.

Es war ein furchtbarer Tag gewesen. Er war hierhergekommen, um an einem von Noras Lieblingsplätzen ihre Asche zu verstreuen. Er war hierhergekommen, um seinen Job aufzugeben. Er konnte ohne sie nicht weitermachen wie bisher, weil ihm nichts geblieben war.

Nichts.

Weil es sein Fehler gewesen war.

Und dann geschah es. In seinem schwärzesten Moment, als er im Fluss sicher gewesen war, nun ebenfalls zu sterben, hatte er Noras Stimme gehört, die ihn aufforderte, er solle durchhalten.

Er solle weitermachen.

Und dann folgten Emily Tarvers letzte rätselhafte Worte.

Wie konnte er sich dem entziehen?

Er schuldete den Toten etwas.

Im Funkgerät knackte es.

“Wiederholen Sie, Sektor 17 …”

“Wir haben hier etwas!”

7. KAPITEL

Blue Rose Creek, Kalifornien

Es war fast halb zwei Uhr morgens.

In der Stille verlor Maggie die Hoffnung, dass sie jemals Madame Fatima begegnen würde. Während sie zu Bett ging, dachte sie an all die Nachrichten, die sie für sie hinterlassen hatte. Alle waren unbeantwortet geblieben.

Sie würde es morgen wieder versuchen.

Maggie zog die Decke über sich und erstarrte.

Was ist das?

Sie hatte etwas gehört. Unten im Erdgeschoss. In der Arbeitsecke des Wohnzimmers. Sie blickte sich um und lauschte für einen Augenblick.

Nichts.

Sie war erschöpft und entschied, dass sie sich geirrt hatte. Sie versuchte zu schlafen, doch ihre Ängste hielten sie wach.

Sind Jake und Logan tot?

Warum hatte sie nichts von ihnen gehört? Sie sehnte sich danach, Logan in den Armen zu halten und mit Jake zu sprechen.

Nimm einfach den verdammten Hörer ab, Jake, und ruf mich an. Gib mir Nachricht, dass es euch gut geht.

Warum tust du mir das an?

Warum?

Schon immer war Maggie eine Einzelgängerin gewesen. Doch heute Nacht wünschte sie sich dringend eine Freundin, jemanden, mit dem sie sprechen konnte. Als sie sechs Jahre alt war, hatte sich ihre Mutter umgebracht, nachdem ein betrunkener Autofahrer Maggies ältere Schwester April auf ihrem Fahrrad überfuhr. Maggies Vater hatte sie allein aufgezogen, bis sie Jake heiratete. Dann begann ihr Vater eine Beziehung mit einer jüngeren Frau, einer Drogenabhängigen, die er in der Entzugsklinik kennengelernt hatte.

Er zog nach Arizona, und Maggie hatte seit Jahren nicht mehr mit ihm gesprochen.

Nun hatte sie ihn angerufen, um zu erfahren, ob er etwas von Jake gehört hatte, doch das Gespräch war kurz gewesen.

Nein.

Jake hatte ebenfalls keine Familie. Seine Eltern hatten sich scheiden lassen, gleich nachdem er die Highschool beendete hatte. Fünf Jahre später starb sein Vater an Krebs. Seine Mutter dann vor drei Jahren.

Autor

Rick Mofina
Rick Mofina ist ein ehemaliger Kriminalreporter und heute der preisgekrönte Autor mehrerer Thiller. Er hat Mörder von Angesicht zu Angesicht in der Todeszelle interviewt und ist mit Polizisten des LAPD (Los Angeles Police Departments) auf Patrouille gefahren. Seine Artikel, in denen es um echte Straftaten ging, sind in der New...
Mehr erfahren