Der zehnte Fall

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Es ist der Prozess des Jahres: Die ehemalige Prostituierte Samara Moss ist des Mordes an ihrem Ehemann angeklagt. Mit einem gezielten Stich ins Herz soll sie den billionenschweren Industriellen niedergestreckt haben. Auf den ersten Blick scheint das Urteil bereits festzustehen: alles spricht gegen die Angeklagte. Bis Samara in letzter Minute den unkonventionellen Anwalt Jaywalker engagiert. Der würde alles tun, um seine Mandantin vor einer Verurteilung zu retten, denn auch für ihn steht mit diesem Fall alles auf dem Spiel. Doch ihm bleiben nur wenige Tage Zeit, um das Gericht zu überzeugen …


  • Erscheinungstag 10.12.2012
  • ISBN / Artikelnummer 9783955762827
  • Seitenanzahl 192
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Joseph Teller

Der zehnte Fall

Roman

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MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

The Tenth Case

Copyright © 2008 by Joseph Teller

erschienen bei: MIRA Books, Toronto

Übersetzt von Tanja Henkel

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Titelabbildung: pecher und soiron, Köln

Autorenfoto: © Michel Arnaud

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN eBook 978-3-95576-282-7

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

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1. KAPITEL

Ein spontaner Akt der Dankbarkeit

“Wenden wir uns nun der Frage zu, was eine angemessene Strafe für Ihre verschiedenen Vergehen ist”, sagte der Richter in der Mitte mit den grauen Haaren, dessen Namen Jaywalker sich nie merken konnte. “Natürlich ist uns ein Berufsverbot in den Sinn gekommen, und es wäre auch vertretbar, wären da nicht Ihre langjährige Tätigkeit für die Anwaltschaft, Ihre offensichtliche Hingabe an Ihre Mandanten sowie Ihre herausragenden juristischen Fähigkeiten. Die sich ja auch in der aktuellen Reihe von, was sagten Sie noch, zehn Freisprüchen in Folge widerspiegeln?”

“Elf, um genau zu sein”, sagte Jaywalker.

“Elf. Sehr beeindruckend. Nichtsdestoweniger ist in Ihrem Fall eine Suspendierung von beträchtlicher Dauer angebracht. Von sehr beträchtlicher Dauer. Ihre Übertretungen sind einfach zu zahlreich und zu ernst für eine geringere Strafe. Den Doppelgänger eines Angeklagten aufzurufen, um den Zeugen zu verwirren, zum Beispiel. Sich für einen Richter auszugeben, um einen Polizisten dazu zu bringen, seine Notizen herauszugeben. In die Aservatenkammer einzubrechen, damit Ihr eigener Chemiker einige Betäubungsmittel analysieren kann. Einen Richter in aller Öffentlichkeit als einen – und ich werde es etwas frei formulieren – kleinen Haufen Exkremente zu bezeichnen. Und zu guter Letzt auch noch eine ‘sexuelle Gefälligkeit’ von einer Mandantin im Treppenhaus des Gerichtsgebäudes entgegenzunehmen …”

“Das war keine sexuelle Gefälligkeit, Euer Ehren.”

“Bitte unterbrechen Sie mich nicht.”

“Entschuldigen Sie, Sir.”

“Und Sie können es leugnen, so viel Sie wollen, doch meine Kollegen und ich waren leider gezwungen, uns das Videoband der Überwachungskameras mehrfach anzusehen – inklusive der Stelle, wo es scheint, als ob Sie stöhnen. Nun, ich habe keine Ahnung, wie Sie diese Situation bezeichnen würden, aber …”

“Es handelte sich nur um einen spontanen Akt der Dankbarkeit, Euer Ehren, von einer übermäßig erfreuten Mandantin. Sie war gerade von dem völlig aus der Luft gegriffenen Vorwurf der Prostitution freigesprochen worden. Und wenn es auch eine Tonspur bei der Videoaufnahme gegeben hätte, dann wüssten Sie, dass ich in keiner Weise gestöhnt habe. Ich sagte: Nein! Nein! Nein!”

Tatsächlich war das nicht ganz unwahr.

“Sind Sie verheiratet, Mr. Jaywalker?”

“Verwitwet, Sir. Ich war wirklich sehr durcheinander wegen des Todes meiner Frau.”

“Ich verstehe.” Der Richter zögerte, wenn auch nur kurz. “Wann ist sie gestorben?”

“Es war an einem Donnerstag. Ich glaube, am neunten Juni.”

“Dieses Jahr?”

“Äh, nein, Sir.”

“Letztes Jahr?”

“Nein.”

Ein unbehagliches Schweigen breitete sich aus.

“Dieses Jahrtausend?”

“Nicht direkt.”

“Ich verstehe”, sagte der Richter.

Sternbridge, so hieß er. Das sollte doch leicht genug zu merken sein.

“Das Gericht”, fuhr Sternbridge jetzt fort, “suspendiert Sie hiermit für eine Dauer von drei Jahren. Danach werden Sie sich erneut bei dem Komitee der Anwaltskammer vorstellen müssen.” Er hob seinen Hammer. Doch Jaywalker, der mit seiner verstorbenen Frau im vergangenen Jahrtausend ein- oder zweimal eine Auktion besucht hatte, kam ihm gerade noch rechtzeitig zuvor.

“Mit Zustimmung des Gerichts …?”

Sternbridge blickte ihn über den Rand seiner Lesebrille an, einen Moment entwaffnet von der Tatsache, dass Jaywalker sich ausnahmsweise einmal der Juristensprache bediente.

Jaywalker verstand diesen Blick als Aufforderung, fortzufahren.

“Obwohl ich wusste, dass dieser Tag der Abrechnung kommen würde, Euer Ehren, habe ich trotz allem noch eine Reihe von anhängigen Fällen. Viele davon betreffen Mandanten in extrem prekärer Lage. Es sind Menschen, die ihr Leben in meine Hände gelegt haben. Ich bin vollkommen bereit, die Strafe des Gerichts anzunehmen, jedoch bitte ich Sie darum, diese Fälle noch abschließen zu dürfen. Bitte, bitte tragen Sie Ihre Unzufriedenheit mit mir nicht auf dem Rücken dieser hilflosen Leute aus. Fügen Sie ein weiteres Jahr zu meiner Suspendierung hinzu, wenn Sie mögen. Oder zwei. Aber bitte lassen Sie mich diesen Menschen noch helfen.”

Die drei Richter flüsterten miteinander, dann drehten sie sich auf ihren Stühlen um und steckten, die schwarz berobten Rücken dem Gerichtssaal zugewandt, die Köpfe zusammen. Als sie eine Minute später wieder herumschwangen, war es die Richterin ganz rechts, eine Frau namens Ellerbee, die zu Jaywalker sprach.

“Es ist Ihnen erlaubt, fünf Fälle zum Abschluss zu bringen”, sagte sie. “Reichen Sie eine Liste der Fälle, die Sie auswählen, bis morgen bei uns ein, vollständig mit den Nummern der Anklageschriften, dem Namen des Richters, der den Fall verhandeln wird, und den bereits angesetzten Prozesstagen. Die restlichen Mandanten werden einem anderen Anwalt übergeben. Was die fünf Fälle betrifft, die Sie behalten können, werden Sie jeden ersten Freitag im Monat vor uns erscheinen und uns einen detaillierten Bericht über den Fortgang der Abfertigung geben.”

Abfertigung. Bergriff sie nicht, dass es sich hier nicht um Windeln oder Toilettenpapier oder Plastikrasierer handelte? Sondern um Menschen?

“Verstanden?”, fragte Richterin Ellerbee.

“Verstanden”, antwortete Jaywalker. “Und …”

Was?”

“Danke.”

An diesem Abend tat Jaywalker in seinem vollgestopften, spärlich beleuchteten Büro sein Möglichstes, um die Liste zu kürzen. Aber es fühlte sich an, als müsse er entscheiden, wen er aus dem Rettungsboot werfen sollte. Wie konnte er sich gegen einen vierzehnjährigen Jungen entscheiden, der ihm genug vertraut hatte, um sich bei einem einjährigen Drogenprogramm anzumelden? Oder gegen einen illegalen Einwanderer, der in den Sudan abgeschoben werden sollte, weil er das unverzeihliche Verbrechen begangen hatte, Handtaschen zu verkaufen, obwohl sein Gewerbeschein abgelaufen war? Was war mit der obdachlosen Frau, die dafür kämpfte, ihre beiden kleinen Kinder einmal im Monat im Heim besuchen zu dürfen? Wie erklärt man einem ehemaligen Gang-Mitglied, dass der Anwalt, zu dem er nach zwei Jahren endlich genug Vertrauen gefasst hat, um sich zu öffnen, auf einmal von jemandem ersetzt werden sollte, der willkürlich aus einer Computerliste ausgewählt wird? Wie schreibt man einem unschuldig zu fünfzehn Jahren Haft verurteilten Mann, dass er ab kommenden Samstag keine Besuche mehr von seinem Anwalt erhalten würde? Oder einem geistig behinderten Hausmeister, dass sein nächster Anwalt womöglich nicht gewillt sein würde, vor Gericht seine Hand zu halten, damit der arme Mann nicht unkontrolliert zu zittern beginnen und sich vor lachenden Fremden in die Hose machen würde?

Schließlich gelang es Jaywalker mit höchster Anstrengung, die Liste auf siebzehn Namen zu kürzen. Er druckte sie aus und reichte sie am folgenden Nachmittag bei Gericht ein, zusammen mit einer ausführlichen Erklärung, dass er sein Bestes gegeben habe, und der inbrünstigen Bitte um Verständnis. Eine Woche später erreichte ihn ein Brief, der ihn darüber informierte, dass das Gericht die Liste auf zehn Namen gekürzt hätte, und ihn davor warnte, die Fälle unnötig lange hinauszuziehen.

2. KAPITEL

Jaywalker

Sein Name war natürlich nicht wirklich Jaywalker. Früher einmal hatte er Harrison J. Walker geheißen. Aber er hasste Harrison, ein Name, der ihm übermäßig prätentiös und elitär vorkam, seit er begonnen hatte, sich solcher Dinge bewusst zu werden. Und er hasste die Abkürzung “Harry” sogar noch mehr, die er mit Glatze, Bierbauch und dem Stummel einer alten Zigarre im Mundwinkel in Verbindung brachte. Deswegen hatte er sich vor langer Zeit selbst Jay Walker genannt, und irgendwann hatte irgendjemand Jaywalker daraus gemacht, was die englische Bezeichnung für einen unachtsamen Fußgänger war. Das fand er passend, weil er tatsächlich nie die Geduld hatte, am Straßenrand zu warten, bis die Fußgängerampel grün wurde, schließlich besaß er selbst zwei Augen, die ihm sagen konnten, ob es ungefährlich war, die Straße zu überqueren, oder nicht. Er meldete sich am Bürotelefon (seinem bald ehemaligen Bürotelefon) mit “Jaywalker”, reagierte ohne zu zögern auf “Mr. Jaywalker”, und wenn er auf einem Formular gebeten wurde, seinen surname oder given name einzutragen (bis heute war es ihm nicht gelungen, herauszufinden, was davon was war), schrieb er in beide Felder Jaywalker. Was dazu führte, dass er eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Briefen adressiert an Mr. Jaywalker Jaywalker erhielt. Das war ein bisschen so, wie Major Major zu heißen oder Woolly Woolly, fand er. Inzwischen war er zu dem Schluss gekommen, dass Namen völlig überschätzt wurden.

Sein Büro war eigentlich überhaupt kein Büro, sondern einer von mehreren Räumen, die um einen zentralen Flur herum angelegt waren, der wiederum abwechselnd als Konferenzzimmer, Bibliothek und Pausenraum genutzt wurde. Diese “Suite” genannte Einteilung wiederholte sich im gesamten Gebäude sowie in den Häusern der näheren Nachbarschaft und erlaubte es selbstständig arbeitenden Menschen wie ihm, auch mit knappen Mitteln einen offiziellen Eindruck zu erwecken. Für fünfhundert Dollar – fällig jeweils zum Monatsanfang – hatte er einen Raum, in den er einen Tisch und ein paar Stühle stellen konnte, eine Secondhand-Couch, einen Garderobenständer und ein paar Kartons, die er als tragbare Aktenschränke bezeichnete. Auf seinem Tisch standen das Telefon, der Anrufbeantworter, sein Computer und ein verblichenes Foto seiner verstorbenen Frau und seiner ihm nicht besonders nahestehenden Tochter. In den Kosten inbegriffen waren der genannte Konferenz-/Bibliotheks-/Pausenraum, außerdem ein bescheidenes Wartezimmer, eine Empfangsdame, Kopierer und Faxgerät, alles ungefähr Baujahr 1995, außer der Empfangsdame, die war beträchtlich älter.

Die einzigen Toiletten befanden sich im Flur neben den Aufzügen. In den Nächten, in denen Jaywalker auf dem Sofa schlief – und nachdem niemand in seiner Wohnung auf ihn wartete, war das beinahe die Regel, vor allem wenn er sich mitten in einem Fall befand –, war die Männertoilette sein persönliches Badezimmer; hier putzte er sich die Zähne und wusch und rasierte sich. Lediglich die Abwesenheit einer Dusche veranlasste ihn dazu, zwischendurch auch mal wieder nach Hause zu gehen.

Jaywalkers Suite-Kollegen waren zwei auf P. I. spezialisierte Anwälte (die Abkürzung “P. I.” stand für personal injury, Körperverletzung, eine wesentlich höflichere Abkürzung als das ebenso gebräuchliche “A. C.” für ambulance chaser, also die Anwälte, die den Leuten bereits am Krankenwagen auflauerten); ein Einwanderungsfachmann namens Herman Greenberg, der in einem genialen Marketingeinfall seine Visitenkarte auf dem für Greencards verwendeten Papier hatte drucken lassen, woraufhin er auch gerne Herman Greencard genannt wurde; ein Konkursverwalter, der intern als “Fuck-the-Creditors”-Feinblatt bekannt war; der ältere Mann tat nichts anderes, als ununterbrochen zu rauchen und zu husten, das Anwaltsblatt zu lesen und Unterschriftstermine für Grundstücksgeschäfte abzuwickeln; und eine Frau, die immerzu darauf zu warten schien, dass ihr nächster großer Fall durch die Tür marschierte, nachdem ihr letzter großer Fall vor fünfzehn Jahren sich durch ebendiese Tür verabschiedet hatte.

Jaywalker war der einzige Strafverteidiger in der Bürogemeinschaft. Aus dem einen oder anderen Grund arbeiteten Strafverteidiger fast immer allein, und jeder, der einmal versucht hatte, ein Netzwerk zu organisieren oder mehrere Strafverteidiger auch nur ein einziges Mal unter demselben Dach zu versammeln, wusste, dass es leichter war, einen Pudding an die Wand zu nageln.

Alleine zu arbeiten gefiel Jaywalker. Er war zwei Jahre bei der Legal Aid Society angestellt gewesen, einer staatlichen Einrichtung, die unvermögenden Menschen eine Rechtsberatung gewährleistete. Dort hatte er genug Kollegen und beinahe genug Bettgefährtinnen gehabt, dass es für den Rest seines Lebens reichte. Und er hatte dort gelernt, wie man einen Fall verhandelte – oder besser gesagt, wie man es nicht tun sollte.

Nachdem er gekündigt und sich selbstständig gemacht hatte, verfeinerte Jaywalker sein Wissen immer weiter. In den folgenden zwanzig Jahren erarbeitete er sich den Ruf eines Abtrünnigen unter Abtrünnigen. Es schien beinahe so, als wollte er dem Ausdruck “unorthodox” eine ganz neue Bedeutung verleihen. Er brach jede Regel, trotzte allen Grundsätzen, die je über die richtige Verhandlung von Fällen aufgestellt worden waren, und schaffte es im Laufe der Zeit, eine Menge Staatsanwälte und normalerweise unerschütterliche Richter gegen sich aufzubringen. Doch er stellte auch eine Erfolgsbilanz auf, die außerhalb von Hollywoodfilmen ungesehen war. In einer Branche, in der die Bezirksstaatsanwälte sich mit einer Verurteilungsrate von fünfundsechzig bis fünfundneunzig Prozent brüsteten und viele Verteidiger die Worte “nicht schuldig” höchstens bei der Verlesung der Anklageschrift hörten, erreichte Jaywalker eine Freispruchrate von über neunzig Prozent.

Wie machte er das?

Hätte man ihn gefragt, hätte er es nicht ansatzweise so gut erklären können, wie er es umsetzte. Aber jedem, der ihn regelmäßig bei der Arbeit beobachtete – und die Gruppe derer, die das tat, wurde immer größer –, fiel ein spezielles Phänomen auf: Wenn die Jury sich zurückzog, um über den Fall zu beraten, hatten sie alle verstanden, wirklich verstanden, dass es nicht ihre Aufgabe war, herauszufinden, ob der Angeklagte das Verbrechen begangen hatte oder nicht. Sondern dass ihre Aufgabe darin bestand, herauszufinden, ob es der Staatsanwaltschaft gelungen war, aufgrund der Beweise oder der fehlenden Beweise glaubwürdig darzulegen, dass der Angeklagte das Verbrechen begangen hatte – und zwar ohne jeden Zweifel.

Und dieser Unterschied erwies sich als erstaunlich.

Zu dem Zeitpunkt, als Jaywalker vor den drei Richtern stand, die über seine Bestrafung zu urteilen hatten, war er bereits so etwas wie eine Legende seiner Zeit in der 100 Centre Street. Für diesen Erfolg hatte er allerdings auch teuer bezahlt. Zum einen war er sich selbst gegenüber gnadenlos. Er verlangte von sich nicht nur, besser vorbereitet zu sein als sein Gegenspieler, sondern zehnmal so gut, fünfzigmal so gut vorbereitet zu sein. Während eines Verfahrens schlief er so gut wie gar nicht, und wenn doch, dann immer mit Papier und Bleistift in Reichweite, damit er jeden noch so beiläufigen Gedanken in der Dunkelheit niederschreiben konnte, um ihn am nächsten Morgen mühsam zu entziffern. Er versuchte auf jede Eventualität vorbereitet zu sein, quälte sich mit jedem Detail und organisierte alles mit der Besessenheit des Zwangsgestörten, der er war. Wenn er nach einem weiteren Freispruch das Gerichtsgebäude verließ, schaute er hinauf in den Himmel und dankte einem Gott, an den er nicht glaubte, und betete, dass er so eine Tortur nie wieder durchmachen müsse.

Aber natürlich gab es immer ein nächstes Mal.

Sein bemerkenswerter Erfolg brachte ihm nicht nur die Bewunderung seiner Kollegen ein, sondern stellte für diese auch ein Problem dar; ungefähr so wie der Freispruch eines ehemaligen Footballstars ein Jahrzehnt zuvor ein Problem für sie gewesen war. “Wenn er das hinbekommt”, wollten ihre Mandanten wissen, “warum dann Sie nicht?” Insofern war es nicht überraschend, dass viele der Anwälte, die seiner Anhörung beigewohnt hatten – und die ihn in professioneller Hinsicht ausnahmslos bewunderten, persönlich sehr mochten und ihm von ganzem Herzen nur das Beste wünschten –, sich doch insgeheim darüber freuten, ihn wenigstens eine Zeit lang los zu sein.

Doch selbst die Erleichtertsten von ihnen fanden eine dreijährige Suspendierung eine übermäßig harte Strafe dafür, dass er einige Regeln übertreten und sich der oralen Dankbarkeit einer Mandantin nicht erwehrt hatte.

Dies alles war im September geschehen.

Jaywalker hatte bis zum darauffolgenden Juni gebraucht, um bei seinem neunten Erscheinen vor dem Disziplinarausschuss verkünden zu können, dass er fast alle seine Mandanten abgefertigt hatte.

Der Vierzehnjährige in dem Drogenprogramm war inzwischen fünfzehn, drogenfrei und in der Nachbetreuung. Der sudanesische Handtaschenverkäufer hatte dank der Hilfe von Herman Greencard inzwischen eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung. Die obdachlose Frau hatte eine Wohnung, einen Job und das Sorgerecht für ihre beiden Kinder zurück. Das ehemalige Gang-Mitglied war auf Kaution freigekommen, nach Südkalifornien abgehauen und schickte Jaywalker regelmäßig Postkarten mit knapp (oder gar nicht) bekleideten Sonnenanbetern. Die Revision des unschuldig im Gefängnis sitzenden Mannes war zugelassen worden, eine Entscheidung würde bald fallen. Der Fall des Hosennässers war abgewiesen worden. Ein wegen Trunkenheit am Steuer angeklagter Mann hatte sein Delikt zugegeben. Ein kleiner Drogendealer hatte einer Haftstrafe auf Bewährung zugestimmt. Und ein Hütchenspieler war freigesprochen worden, nachdem Jaywalker die Jury davon überzeugt hatte, dass das Talent des Mannes, seine Opfer zu verwirren, einzigartig war und es sich somit um kein “Glücksspiel” im eigentlichen Sinne handelte.

Neun Monate, neun Fälle, neun Mandanten, neun ziemlich gute Ergebnisse.

Blieb noch genau ein Fall übrig.

Der Fall Samara Moss.

3. KAPITEL

Samara

Ihr Name war Samara Moss, und sie war eine Goldgräberin. Zumindest hatten die Boulevardzeitungen sich in dem Moment auf diese Bezeichnung geeinigt, in dem sie ein Auge auf Barrington Tannenbaum geworfen hatte. Das war neun Jahre her, damals war Tannenbaum einundsechzig Jahre alt gewesen. Er hatte mit Gas- und Ölrechten ein Vermögen gemacht und es dann in der Schiffsbranche vervielfacht. Unter anderem hatte er Waffen, kugelsichere Westen und Kampfflugzeuge verschifft. Die Liste seiner Kunden war klein, allerdings trugen die meisten Titel wie “Sultan” oder “Seine Exzellenz” vor ihren Namen. Tannenbaums Eigenkapital war vor einiger Zeit auf eine Summe zwischen zehn und zwanzig Milliarden Dollar geschätzt worden.

Samaras Eigenkapital zur Zeit ihrer Hochzeit mit Tannenbaum belief sich auf zehn bis zwanzig Dollar. Sie war in einer drittklassigen Wohnwagensiedlung in Indiana aufgewachsen, wo sie das Wort “Trailer-Abschaum” so oft zu hören bekommen hatte, dass sie es nicht mehr als eine Beleidigung empfand, genauso wie schwarze Gettokinder kein Problem damit hatten, sich gegenseitig “Nigger” zu nennen. Sie wurde von einer Mutter großgezogen, die nachts abwechselnd bediente oder Striptease tanzte und in dieser Zeit Sam – wie man sie nannte, seit sie sich erinnern konnte – in der Obhut ihrer wechselnden Freunde ließ. Manche dieser Freunde ignorierten sie, andere zeigten ihr, wie man Bier trank, fluchte oder Drogen nahm. Mit zehn konnte Sam einen perfekten Joint drehen, egal ob mit gummiertem oder ungummiertem Papier. Mit zwölf rauchte sie die Joints, die sie gedreht hatte. So wie Sam erzählte, hatten verschiedene dieser Freunde sie auch sexuell belästigt, wobei der Umfang der Belästigungen sowie die Wahrheit dieser Behauptung bis heute ungeklärt waren. Zwei Dinge standen jedoch fest: Sie war hübsch genug, um mit zwölf in den Cheerleader-Kader der Junior High School aufgenommen zu werden (keine geringe Leistung), und undiszipliniert genug, um zwei Monate später wieder hinausgeworfen zu werden.

Am Tag nach ihrem vierzehnten Geburtstag lief sie davon, landete in Ely, Nevada, kurz darauf in Reno und schließlich in Las Vegas, im Gepäck den Traum, erst ein Showgirl und dann ein Hollywoodstar zu werden. Stattdessen wurde sie Cocktailkellnerin und Teilzeitprostituierte, wobei sie die letztere Beschreibung immer weit von sich wies und darauf bestand, dass sie nur mit netten Männern ins Bett gegangen sei, die ihr gefallen hatten. Wer war sie denn, sich darüber zu beschweren, wenn einige der Männer ihre Wertschätzung durch Geschenke und finanzielle Zuwendungen ausdrücken wollten?

Dort in Las Vegas entdeckte Barrington Tannenbaum sie in der Cocktaillounge des Caesars Palace, sonntagmorgens um drei. Barry war zu dieser Zeit gerade frisch geschieden, ein dreifacher Verlierer der Liebe. Obwohl er schon beinahe absurd reich war, war er auch einsam und gelangweilt. Er brauchte genauso dringend eine neue Aufgabe wie Samara einen Sugar Daddy. Worin sich sowohl seine Geschäftspartner als auch seine bitteren Rivalen – und die meisten zählten sich zu beiden – einig waren, war, dass Barry Tannenbaum sich niemals halbherzig auf eine Aufgabe einließ. Von der ersten Sekunde an war er so fest entschlossen, Sam zu retten, wie sie entschlossen war, ihn sich zu angeln. Und auch wenn es sicher kein im Himmel geschlossener Bund war, so hatte ihre Verbindung doch einen Beigeschmack, der nicht von dieser Welt war.

Es heißt, dass wir dazu verdammt sind, unsere Fehler zu wiederholen, und die jüngste Geschichte hatte bewiesen, dass Barry Tannenbaum der Heiratstyp war. Denn in Wahrheit war Barry trotz seines ganzen Geldes eher altmodisch, aufgewachsen in einer Zeit, als man das Mädchen, das man liebte, auch heiratete, gemeinsam Kinder bekam und für immer glücklich wurde – auch wenn für immer sich als dehnbarer Begriff herausstellte. Deswegen war es nicht überraschend, dass Barry trotz seiner bedrückenden Erfahrungen das Bedürfnis verspürte, eine ehrbare Frau aus Sam zu machen. Acht Monate nachdem er sie zum ersten Mal im Neonlicht des Caesars Palace gesehen hatte, heiratete er sie. Zu diesem Zeitpunkt war er zweiundsechzig.

Samara war noch immer nicht ganz neunzehn.

Die Boulevardzeitungen waren nicht die einzigen, die sich mit Begeisterung auf die zweiundvierzig Jahre und fünfzehn Milliarden Dollar, die die beiden voneinander trennten, stürzten. Wie es scheint, wecken Goldgräber in den meisten von uns ambivalente Gefühle. Der von Julia Roberts in Pretty Woman dargestellten Prostituierten jubeln wir uneingeschränkt zu, wenn sie sich endlich den reichen Held angelt, aber auch nur, weil das Drehbuch es verstanden hat, uns klarzumachen, dass sie es nicht von Anfang an darauf angelegt hat. Anna Nicole Smith hingegen, Playmate des Jahres und selbst ernanntes “blondes Gift”, wurde von der Öffentlichkeit nicht stürmisch gefeiert, als sie mit sechsundzwanzig einen neunundachtzigjährigen texanischen Milliardär heiratete. Und doch meldete sich der eine oder andere zu ihren Gunsten zu Wort, als ihr Stiefsohn – der selbst alt genug war, um ihr Großvater zu sein – versuchte, sie aus dem Testament seines Vaters streichen zu lassen. In einer Umfrage während der Verhandlung des Falles vor dem obersten Gerichtshof (und Umfragen waren zum Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts sehr beliebt) waren fast vierzig Prozent der befragten Amerikaner der Meinung, dass Smith alles oder zumindest einen Großteil des 474-Millionen-Dollar-Vermögens verdient hätte, das sie einklagte, nachdem ihr Ehemann nur ein Jahr nach der Hochzeit starb.

Wahrscheinlich wäre es Samara bei einer ähnlichen Umfrage nicht so gut ergangen. Zum einen wegen der Tatsache, dass sie mit Tannenbaum nur in dem ersten ihrer acht Ehejahre zusammengelebt hatte. Danach war sie in ein Stadthaus direkt an der Park Avenue gezogen, das Barry für sie kaufte, weil sie noch nie ein eigenes Zuhause besessen hatte. Die 4,5 Millionen Dollar dafür waren für Tannenbaum nur Kleingeld, und doch wirkte das Ganze vielleicht ein bisschen unziemlich.

Zum anderen wegen der Affären, die Samara hatte, manche diskret, andere wiederum mit einer Offenheit, die schon an Kaltschnäuzigkeit grenzte. Nicht eine einzige Ausgabe des National Enquirer kam ohne einen Bericht über Sams aktuellstes Liebesabenteuer an die Kioske, meist mit einem Foto des betrügenden Paars, wie es gerade einen angesagten Club betrat oder verließ, wobei Sam meist zu viel Bein oder Dekolleté zeigte.

Und zu guter Letzt gab es da noch das winzige, aber nicht zu übersehende Detail, dass Samara ein zwanzig Zentimeter langes Steakmesser in die Brust ihres Ehemannes gestoßen und dabei “die linke Herzkammer durchbohrt und seinen Tod verursacht” hatte, wie es der New-York-County-Bezirksstaatsanwalt ausgedrückt hatte, woraufhin von einer Grand Jury umgehend Anklage wegen Mordes erhoben worden war.

Und genau in diesem Moment war Jaywalker ins Spiel gekommen.

4. KAPITEL

Eine kleine Fehleinschätzung

Nicht dass Samara Moss eine vollkommen Fremde für Jaywalker gewesen wäre. Sie hatten sich vor sechs Jahren kennengelernt, als sie in seinem Büro aufgetaucht war, abgesetzt von ihrem Chauffeur. Oder Tannenbaums Chauffeur, um genau zu sein. Denn damals war Samara selber nirgendwo mehr hingefahren. Zwei Wochen zuvor hatte sie sich eines von Barrys Lieblingsspielzeugen ausgeliehen, einen vierhunderttausend Dollar teuren Lamborghini. Und “ausgeliehen” traf es womöglich auch nicht ganz, wenn man bedachte, dass sie eines Abends die Autoschlüssel fand, in die für zwölf Autos ausgerichtete Garage unter Barrys Anwesen in Scarsdale ging und mit dem Lamborghini Richtung Manhattan aufbrach. An der Park Avenue, Ecke 66th Street bemerkte sie, dass sie zu weit in Richtung Downtown gefahren war, und versuchte eine Kehrtwendung. Jeder normale Mensch hätte ein solches Manöver zwischen den erhöhten Verkehrsinseln durchgeführt, die die beiden Fahrspuren voneinander trennten. Samara hingegen versuchte es mitten auf einer solchen Insel, was sich als eine kleine Fehleinschätzung erwies. Das Resultat waren ein Totalschaden und die Festnahme wegen Fahrens unter Alkoholeinfluss, Verkehrsgefährdung, Weigerung, einen Blutalkoholtest zu machen, Fahren ohne Führerschein und Verstoß gegen eine wenig bekannte und selten benutzte Verwaltungsvorschrift, die da heißt “Beschädigung öffentlichen Eigentums”.

Barry war mächtig wütend gewesen, um es dezent auszudrücken. Er hinterlegte eine Kaution für Samara, dann beauftragte er seinen Chauffeur, für sie einen Anwalt zu finden, der gut genug war, sie aus dem Todestrakt herauszuhalten, aber nicht so gut, dass sie ungestraft davonkam. Der Chauffeur verbrachte einige Tage damit, sich umzuhören, und der Name, den er immer wieder hörte, war Jaywalker.

Sie unterhielten sich eineinhalb Stunden, in denen Jaywalker im wahrsten Sinne des Wortes unfähig war, den Blick von ihr zu wenden. Damals war er bereits verwitwet gewesen, und im Laufe seines Lebens hatte er ein Dutzend hübschere Frauen aus ebensolcher Nähe gesehen und mit der Hälfte davon geschlafen (nicht dass er es bei der anderen Hälfte nicht versucht hätte). Aber Samara hatte etwas Besonderes an sich, etwas – so entschied er später – absolut Fesselndes. Sie war klein, nicht nur in Bezug auf Größe und Körperbau, sondern auch ihr Gesicht. Sie hatte dunkles, glattes Haar, ob von Natur aus oder nicht, konnte er nicht sagen. Nur ihre Unterlippe war von normaler Größe, also deutlich zu groß für den Rest ihres Gesichts, was den Eindruck vermittelte, als würde sie unablässig schmollen. Doch es waren ihre Augen, die ihn am meisten faszinierten. Sie waren so dunkel, dass man sie tatsächlich schwarz nennen musste. Sie wirkten leicht glasig, als ob sie zu lange Kontaktlinsen getragen hätte oder jeden Moment zu weinen beginnen würde. Sie schienen vollkommen undurchdringlich, nahmen alles auf, ohne irgendetwas preiszugeben.

Was sie sagte, ergab wenig oder gar keinen Sinn. Sie hatte das Auto einfach so genommen, aus einer Laune heraus. Zuvor hatte sie ein großes Glas Scotch getrunken, weil die Gangschaltung des Lamborghinis sie etwas nervös machte. Nein, sie hatte keinen Führerschein, hatte nie einen gehabt. Sie hatte in die 72nd Street einbiegen wollen, war aber aus Versehen daran vorbeigefahren. Sie hatte versucht, herunterzuschalten und links abzubiegen, als die Verkehrsinsel sich plötzlich vor ihr erhoben und sie frontal getroffen hatte. Das mit dem Unfall tat ihr leid, aber nicht sehr. “Barry hat jede Menge Autos”, erklärte sie.

Jaywalker sagte ihr, dass er sie wahrscheinlich vor einem Gefängnisaufenthalt bewahren konnte, weil sie keine Vorstrafen hatte. Was er ihr nicht sagte, war, dass kein Richter mit Augen im Kopf sie jemals nach Rikers Island schicken würde. Kein männlicher Richter jedenfalls. Allerdings würde das Bußgeld sicher hoch ausfallen. Das wäre okay, sagte sie. “Barry hat auch jede Menge Geld.”

“Übernehmen Sie also meinen Fall?”, fragte sie.

“Ja”, antwortete er.

Sie stand auf, um zu gehen. Sie war kaum größer als einen Meter sechzig, schätzte er, und trug sehr hohe Absätze.

“Wir müssen noch über mein Honorar sprechen”, sagte Jaywalker.

“Sprechen Sie mit Robert.” Sie deutete vage Richtung Wartezimmer. “Ich darf mich in Gelddinge nicht einmischen.”

Robert wurde gerufen. Er trug tatsächlich eine Uniform und eine Chauffeursmütze. Er erinnerte Jaywalker an diese Limousinenfahrer, die mit Namensschildern in der Hand Gäste am Flughafen abholten. Robert zog einen Scheck aus seiner Jackentasche, dann setzte er sich Jaywalker gegenüber auf den Stuhl, den Samara gerade freigegeben hatte. Jaywalker konnte sehen, dass der Scheck unterschrieben, aber kein Geldbetrag eingetragen war. Robert nahm sich einen Stift vom Tisch – auf dem ein halbes Dutzend verstreut lag, nur die wenigsten davon funktionierten – und sah Jaywalker erwartungsvoll an.

“Ich benötige einen Vorschuss, bevor ich beginne …”

Robert hob eine Hand. “Wenn es recht ist”, sagte er, “möchte Mr. Tannenbaum lieber den vollen Betrag im Voraus bezahlen.”

Jaywalker zuckte mit den Schultern. Wenn man als Anwalt meist für Kriminelle arbeitete, versuchte man üblicherweise, die Hälfte oder zumindest ein Drittel des Honorars vorab zu erhalten, wohl wissend, dass an den Rest zu kommen ungefähr so kompliziert war wie eine Wurzelbehandlung. Mit etwas Glück bekam man zwanzig Prozent. Den ganzen Betrag im Voraus hingegen niemals.

Jaywalker strich sich wie in tiefe Konzentration versunken übers Kinn. In Wahrheit war er dabei, sich von dem Schock zu erholen, jetzt gleich eine angemessene Summe nennen zu müssen. Was geradezu unmöglich war.

“Wenn es zu keinem Prozess kommt …”, begann er, um Zeit zu gewinnen.

“Ohne Wenn und Aber”, sagte Robert. “Nennen Sie mir eine Summe. Ich möchte nicht das nächste Mal und das übernächst Mal erneut diskutieren.”

“Na gut.” Jaywalker begann erneut, über sein Kinn zu streichen. Seine übliche Gebühr für Alkohol am Steuer belief sich auf zweitausendfünfhundert Dollar sowie weitere zweitausendfünfhundert Dollar, wenn der Fall sich nicht durch ein Schuldgeständnis erledigt hatte, sondern vor Gericht kam. Manchmal verlangte er etwas mehr, wenn der Mandant beispielsweise nicht in der Stadt wohnte und somit Fahrtkosten auf ihn zukamen.

Aber da waren schließlich noch der Lamborghini-Faktor, der Chauffeur und der Kommentar, der noch immer in seinen Ohren nachhallte. “Barry hat jede Menge Geld.”

Scheiß drauf, entschied er. Warum versuchst du’s nicht?

“Der Gesamtbetrag”, sagte er mit fester Stimme, “wird sich auf zehntausend Dollar belaufen.”

“Auf keinen Fall”, sagte Robert.

“Wie bitte?” Jaywalker täuschte Überraschung vor, wusste aber sofort, dass er es verpatzt hatte. Das hatte man davon, zu gierig zu sein.

“Mr. Tannenbaum wird das niemals akzeptieren”, hörte er Robert sagen. “Nicht in einer Million Jahre. Alles unter fünfunddreißig Riesen wird ihn glauben machen, dass er einen zweitklassigen Anwalt engagiert hat.” Er begann eine Zahl auf den Scheck zu schreiben.

Zwei Stunden nachdem sie gegangen waren, zog Jaywalker noch immer alle fünfzehn Minuten den Scheck aus der Jackentasche und starrte ihn an, zählte die Nullen eine nach der anderen, um sich zu vergewissern, dass wirklich darauf stand, was er dachte.

Fünfunddreißigtausend Dollar.

Er hatte schon weniger für Mordfälle bekommen.

Viel weniger.

Die Angelegenheit endete mit einem gemischten Ergebnis, wie Jaywalker es bezeichnete. Samara bekannte sich schuldig, unter Alkoholeinfluss und ohne Führerschein gefahren zu sein, und zwar bei ihrem dritten Erscheinen vor Gericht. Jaywalker hatte vorher zwei Vertagungen beantragt, und zwar einzig und allein aus dem Grund, dass er befürchtete, bis an sein Lebensende die Berufserlaubnis entzogen zu bekommen, wenn er für einen Stundenlohn von etwa siebzehntausendfünfhundert Dollar arbeitete.

Das war schlimmstmöglicher Wucher, wie immer man es auch betrachtete.

Samara zahlte – besser gesagt, Robert zahlte in ihrem Namen – ein Bußgeld von dreihundert Dollar und um die hundert Dollar Gerichtskosten. Sie wurde verpflichtet, ein eintägiges Sicherheitsfahrtraining zu absolvieren, ein dreistündiges Seminar zum Thema Suchtmittelmissbrauch zu besuchen, und sie durfte sich innerhalb der nächsten achtzehn Monate bei keiner Fahrschule anmelden.

Das waren die guten Nachrichten.

Die schlechte, zumindest was Jaywalker betraf, war, dass seine Beziehung zu Samara niemals über das Stadium des Anstarrens hinausging. Robert war immer in der Nähe. Aber Jaywalker musste sich eingestehen, dass sich auch ohne Robert nichts geändert hätte. Samara schien sich nicht im Geringsten für ihn zu interessieren. Als der Fall erledigt war und er sie umarmen wollte (etwas, das er bei Männern und Frauen, bei Mördern und Vergewaltigern tat, wie er sich einredete), drehte sie den Kopf in der letzten Sekunde zur Seite, sodass sein Kuss auf ihrer Wange landete.

“Halten Sie sich von Problemen fern”, sagte er.

“Das werde ich”, versprach sie.

5. KAPITEL

Rikers Island

Es liegt in der Natur der Sache, dass manche Versprechen nicht eingehalten werden.

Sechs Jahre später überflog Jaywalker den Lokalteil der New York Times, als er auf der unteren Hälfte eine Nachricht entdeckte. Offensichtlich war die Sache der Times eine Veröffentlichung wert, aber nur so gerade eben. Ehefrau wegen Mordes an reichem Finanzier verhaftet, stand da.

Er hätte womöglich nicht weitergelesen, weil er kein besonderes Mitgefühl für Finanziers empfand, schon gar nicht für reiche Finanziers. Er überlegte sogar, ob “reich” in diesem Zusammenhang überhaupt erwähnt werden musste, während sein Blick nach unten wanderte und dort verharrte. Es war genauso wie vor sechs Jahren, als sie vor seinem Schreibtisch gesessen hatte und er einfach nicht hatte wegschauen können. Und jetzt konnte er seinen Blick nicht von ihrem Namen losreißen.

Er zwang sich, zu blinzeln, einmal, zweimal, nur um kurz wegzusehen. Dann sank er auf seinen Stuhl – denselben Stuhl, auf dem er sechs Jahre zuvor gesessen hatte, hinter demselben Tisch –, faltete die Zeitung halb zusammen und begann zu lesen.

Eine sechsundzwanzig Jahre alte Frau wurde heute Morgen in Zusammenhang mit dem Tod ihres Mannes festgenommen, einem Finanzier, dessen Vermögen sich laut Forbes-Magazin auf mehr als zehn Milliarden Dollar belaufen soll.

Laut einer den Ermittlerkreisen nahestehenden Quelle, die anonym bleiben möchte, weil sie nicht autorisiert ist, öffentlich für das Police Department zu sprechen, wird Samara Moss Tannenbaum verdächtigt, ihren Mann, Barrington Tannenbaum, 70, mit einem Stich in die Brust getötet zu haben. Die Wunde war so tief, dass das Herz perforiert wurde und das Opfer an seinem starken Blutverlust starb. (Weiter auf Seite 36)

Jaywalker faltete die Zeitung auseinander und blätterte, bis er Seite 36 gefunden hatte. Er breitete sie vor sich auf dem Schreibtisch aus, gewillt, den Rest des Artikels zu lesen. Doch es sollten Stunden vergehen, bis er es wirklich tat. Was ihn davon abhielt, waren die beiden Fotos, typische schwarz-weiße Zeitungsporträts, die nebeneinanderstanden. Das linke zeigte einen Mann mit schütterem Haar in Anzug und Krawatte, der, wie Jaywalker wusste, das Opfer war. Doch er kam nicht einmal dazu, die Bildunterschrift zu lesen. Es war das andere Foto, das ihn in seinen Bann zog und aus dem ihn Samara Tannenbaum direkt anstarrte, die Augen eng zusammenstehend und schwarz wie Kohle, die Unterlippe zu einem Schmollen oder etwas, was dafür gehalten werden konnte, verzogen. Jaywalker würde für eine Zeit, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, auf dieses Bild schauen, genauso unfähig, den Blick abzuwenden, wie damals, als sie das erste Mal in sein Büro gekommen war.

Zwei volle Tage lang dachte er an nichts und niemanden anderes mehr. Er dachte an sie, wenn er nachts im Bett lag. Er träumte von ihr. Er erwachte mit dem Gedanken an sie. Er musste bei Gericht um die Vertagung eines seit langer Zeit angesetzten Verhandlungstermins bitten, indem er eine Bindehautentzündung vortäuschte, wobei das eigentliche Problem seine mangelnde Konzentrationsfähigkeit war. Er aß wenig, schlief noch weniger und nahm sechs Pfund ab.

Kurz vor vierzehn Uhr am dritten Tag, als er sich gerade fertig machte, um zur Urteilssprechung in einem Marihuanafall ins Gericht zu gehen, klingelte das Telefon. Jaywalker wollte schon den Anrufbeantworter rangehen lassen, überlegte es sich im letzten Moment aber noch einmal und nahm den Hörer ab.

“Jaywalker”, meldete er sich.

“Samara”, sagte eine aufgezeichnete Stimme, gefolgt von einer Männerstimme, “hat ein R-Gespräch aus der Justizvollzugsanstalt angemeldet. Wenn Sie die Gebühren akzeptieren, drücken Sie bitte die Eins.”

Jaywalker drückte die Eins.

Er traf sich am nächsten Tag mit ihr in der Frauenjustizvollzugsanstalt auf Rikers Island. “Treffen” war etwas übertrieben, denn sie führten ihr Gespräch durch ein zehn Zentimeter großes Loch in der Mitte einer drahtverstärkten, schusssicheren Glasscheibe.

“Sie sehen schrecklich aus”, sagte er.

“Danke.”

Es stimmte, sie sah schrecklich aus, aber auf eine Weise, wie Natalie Wood nach vier Tagen im Gefängnis schrecklich ausgesehen hätte oder die junge Elizabeth Taylor. Ihr Haar war wirr und zerzaust (so viel zum Thema von Natur aus glatt), ihre Augen waren verschwollen und blutunterlaufen, und ihre Haut hatte einen unnatürlichen, fluoreszierenden Schimmer. Sie trug einen orangefarbenen Overall, der ihr mindestens drei Nummern zu groß war. Und doch war es Jaywalker auch jetzt nicht möglich, den Blick von ihr loszureißen.

“Ich war es nicht”, sagte sie.

Er nickte. Früher am Morgen hatte er mit dem Anwalt gesprochen, der ihr für ihr erstes Auftreten vor Gericht zugeteilt worden war. Sie hatten sich ein paar Minuten unterhalten, lang genug, um herauszufinden, dass Samara des Mordes verdächtigt wurde, dass die Polizei bei der Durchsuchung von Samaras Stadthaus jede Menge Beweise gefunden hatte, darunter ein Messer mit Spuren von etwas, das aussah wie getrocknetes Blut, und dass Samara bisher jede Schuld abstritt.

Das war in Ordnung. Viele von Jaywalkers Mandanten behaupteten zu Anfang, unschuldig zu sein. Erst wenn sie ihn eine Weile kannten, wagten sie es, ihm die Wahrheit zu sagen. Was er verstehen konnte. Er wusste, dass es zu seinem Beruf gehörte, ihr Vertrauen zu gewinnen. Das war ein Prozess, der nicht immer leicht war und manchmal auch gar nicht passierte. Wenn das geschah, suchte Jaywalker allerdings den Fehler bei sich, nicht bei dem Mandanten.

In Samaras Fall würde er die Wahrheit schon noch herausfinden, dessen war er sicher. Aber nicht jetzt, nicht hier. Nicht durch dieses schusssichere Glas hindurch mit einem Justizvollzugsbeamten, der nur wenige Meter entfernt saß, und einem irgendwo noch näher dran verborgenen Mikrofon, wie Jaywalker annahm. Deswegen wechselte er jedes Mal sofort das Thema, wenn Samara den Fall ansprach, und versicherte ihr, dass sie noch ausreichend Zeit hätte, ihre Geschichte zu erzählen.

Tatsächlich war Jaywalker im Moment nicht hier, um den Fall zu gewinnen, sondern um ihn überhaupt erst mal zu übernehmen. In dieser Hinsicht, das war ihm klar, war er nicht besser als die P.-I.-Anwälte in seiner Bürogemeinschaft, die Krankenwagenjäger. Die machten Besuche in Krankenhäusern oder Privatwohnungen, um neue Mandanten zu gewinnen, bevor ein anderer sie ihnen wegschnappte. Und er tat jetzt dasselbe. Der einzige Unterschied war, dass er nicht an einem Krankenbett saß. Und dass seine Mandantin nicht mit dem Krankenwagen, sondern in Handschellen in einem Bus der Gefängnisbehörde hierher gebracht worden war.

“Werden Sie meinen Fall übernehmen?”

Das war genau die gleiche Frage, die sie ihm vor sechs Jahren gestellt hatte. Ihm fiel auf, dass er in all der Zeit kaum etwas von ihr vergessen hatte. Er gab ihr dieselbe Antwort wie damals.

“Ja.”

Sie lächelte.

“Was das Honorar betrifft …”, sagte er.

Er hasste diesen Teil. Aber schließlich verdiente er auf diese Weise sein Geld, bezahlte seine Rechnungen. Und er hatte bereits Ärger mit dem Disziplinarausschuss, und über ihm schwebte wie ein Damoklesschwert die nur zu reale Möglichkeit, bald für eine längere Zeit suspendiert zu werden. Jaywalker war ehrenamtliche Arbeit nicht fremd, er hatte über die Jahre immer wieder sogenannte Pro-Bono-Fälle übernommen. Doch nachdem er nun mit seiner baldigen Arbeitslosigkeit rechnen musste, konnte er sich so etwas nicht länger leisten. Zumindest nicht in einem Mordfall, und schon gar nicht, wenn die Angeklagte behauptete, unschuldig zu sein, und mit Sicherheit darauf bestehen würde, vor Gericht zu gehen.

“Ich bin zig Millionen Dollar schwer”, sagte Samara, “sobald Barrys Vermögen aufgeteilt wird.”

Er machte sich nicht die Mühe, sie zu korrigieren. Aber er wusste, es konnte Monate, wenn nicht Jahre dauern, bevor das Erbe ausbezahlt werden würde. Und wenn sie wegen Mordes an ihrem Mann verurteilt würde, bekäme sie keinen Cent. Das sagte er ihr natürlich auch nicht. Stattdessen fragte er nur: “Und bis dahin?”

Sie zuckte mit den Schultern wie ein kleines Mädchen.

“Soll ich Robert kontaktieren?”, fragte Jaywalker.

“Robert ist weg”, sagte sie. “Barry hat herausgefunden, dass er ihn bestohlen hat.”

“Gibt es einen neuen Robert?”

“Es gibt einen neuen Chauffeur, allerdings …” Sie brach ab. “Aber”, ihr Gesicht hellte sich mit einem Mal auf, “ich habe jetzt ein eigenes Bankkonto, gewissermaßen.”

Das “gewissermaßen” erschien Jaywalker merkwürdig, aber es zeugte doch von einem gewissen Fortschritt. Er erinnerte sich noch zu gut an die gerade einmal Zwanzigjährige, der es nicht erlaubt war, irgendwelche finanziellen Entscheidungen zu treffen. “Wie viel ist auf dem Konto?”

Ein erneutes Schulterzucken. “Ich weiß nicht. Ein paar Hundert…”

“Das ist alles?”

“…tausend.”

“Oh.”

Er ließ sich den Namen der Bank nennen und erklärte, dass er ihr beim nächsten Mal eine Vollmacht zur Unterschrift mitbringen würde, damit er genug Geld für einen Vorschuss abheben konnte. Dann beschrieb er ihr, was in den nächsten ein, zwei Wochen geschehen würde. Nachdem die Beweise gegen sie einer Grand Jury vorgelegt worden wären, würde man sie mit ziemlicher Sicherheit anklagen. Er sagte, dass sie das Recht habe, vor der Grand Jury auszusagen, was aber in ihrem Fall keine gute Idee wäre.

“Warum nicht?”

“Momentan weiß der Staatsanwalt viel mehr über die Fakten als wir”, erklärte er. “Sie werden so oder so angeklagt, aber wenn Sie aussagen, kann Ihre Aussage im Prozess gegen Sie verwendet werden.” Als sie ihn zweifelnd betrachtete, fügte er hinzu: “Vertrauen Sie mir.”

“Okay”, sagte sie.

Dafür war er dankbar. Was er ihr nämlich jetzt nicht sagen wollte, war, dass sie später nicht mehr auf Selbstverteidigung oder Unzurechnungsfähigkeit plädieren konnte, wenn sie einmal vor der Grand Jury jeden Zusammenhang mit Barrys Tod geleugnet hatte. Und diese Verteidigungsstrategien wollte sich Jaywalker zumindest teilweise offenhalten, nein, er musste sie sich offenhalten.

Schließlich rückte er mit dem wichtigsten Teil heraus. “Halten Sie den Mund. Hier wimmelt es nur so von Spitzeln. Und Ihr Fall steht in den Zeitungen. Das bedeutet, dass jede Frau in diesem Gefängnis weiß, warum Sie hier sind. Alles, was Sie einer von ihnen erzählen, könnte deren Fahrschein in die Freiheit sein. Verstehen Sie?”

“Jawohl.”

“Also versprechen Sie mir, den Mund zu halten?”

“Ich verspreche es”, sagte sie und machte eine übertriebene Geste, als würde sie ihren Mund mit einem Reißverschluss verschließen.

“Gut”, sagte Jaywalker.

Erst als er schon wieder draußen war und zum Bus eilte, der ihn zurück nach Manhattan bringen sollte, fiel ihm wieder ein, dass Samara ihre Versprechen nicht immer einhielt.

Zurück in Manhattan, war es bereits zu spät, um Samaras Bank aufzusuchen und herauszufinden, was zu tun war, um Geld von ihrem Konto abheben zu können. Natürlich hätte er anrufen und nach dem Filialleiter oder jemandem aus der Rechtsabteilung fragen können, doch hatte er durch Erfahrung gelernt, dass solche Anliegen besser persönlich vorgetragen wurden. Ihm war so oft versichert worden, dass er ein ehrliches Gesicht und eine entwaffnende Art hatte, dass er inzwischen glaubte, es müsse etwas an diesen Behauptungen dran sein. Geschworene glaubten ihm; Richter vertrauten ihm; selbst verbohrte Staatsanwälte neigten dazu, sich ihm gegenüber zu öffnen. Er sah sich selbst ein bisschen als einen Schwindler. “Zeigt mir einen guten Strafverteidiger”, sagte er immer zu seinen Freunden, “und ich zeige euch einen Meister der Manipulation.” Dann fing er stets hastig an, diese Fähigkeit zu verteidigen, indem er darauf hinwies, dass es in seinem Beruf nicht nur von Vorteil war, glaubwürdig und zuverlässig zu wirken, sondern darin oft genug die einzige Chance bestand, einen Unschuldigen freigesprochen zu bekommen.

Über die Schuldigen, die ebenfalls freigesprochen wurden, sprach er seltener, aber sie bereiteten ihm keine schlaflosen Nächte. Er war ein leidenschaftlicher Befürworter dieses Systems, das einem Angeklagten – jedem Angeklagten, egal wie verabscheuungswürdig er vielleicht war, wie schrecklich das Verbrechen, wie überwältigend die Beweise gegen ihn – einen Menschen zur Seite stellte, der mit allen Mitteln für ihn kämpfte. Die dreißigtausend Polizisten, zweitausend Staatsanwälte und fünfhundert Richter der Stadt (von denen die meisten ehemalige Staatsanwälte, beinharte Politiker oder beides waren) sollten seiner Ansicht nach ebenso hart dafür kämpfen, dass derjenige für immer hinter Gitter kam. Das war nur fair, und wenn Jaywalker sie bezwang – wie es ihm in letzter Zeit sehr regelmäßig gelungen war –, dann hatte er nicht das Bedürfnis, sich dafür zu entschuldigen. Er hatte schon vor langer Zeit festgestellt, dass es eine ganz einfache Entscheidung war: Entweder man kämpfte wie ein Verrückter, gab alles, um zu gewinnen – ja, zu gewinnen –, oder man betrachtete das Ganze als einen Job und tat nur das Nötigste. Jaywalker kannte eine Menge Anwälte, die genau das machten. Wenn sie verloren – und sie verloren genauso oft, wie Jaywalker gewann –, schüttelten sie es einfach ab und sagten so etwas wie: “Der Dreckskerl war schuldig”, “Der Idiot hat sich im Zeugenstand selbst alles vermasselt” oder “Die Gerechtigkeit hat gesiegt.” Jaywalker hatte eine Bezeichnung für sie. Er nannte sie Nutten.

Toleranz war nie seine Stärke gewesen.

Er wählte die Nummer von Tom Burke, dem stellvertretenden Staatsanwalt, der die Anklage gegen Samara Tannenbaum erhoben hatte. Er hatte Burkes Namen in einem Times-Artikel zu dem Fall gelesen und sich bei Samaras vom Gericht bestellten Anwalt noch einmal rückversichert, dass Burke wirklich mit dem Fall betraut war.

“Burke”, meldete sich eine tiefe Stimme.

“Warum ärgern Sie nicht jemanden, der so groß ist wie Sie?”, fragte Jaywalker.

“Wer spricht da?”

“Was ist denn los, spendiert der Staat Ihnen keine Anruferkennung?”

“Soll das ein Scherz sein?”

“Ich mache keine Scherze.”

“Jaywalker?”

“Sehr gut.”

Jaywalker mochte Burke. In der Vergangenheit hatten sie gelegentlich miteinander zu tun gehabt, wobei keiner ihrer Fälle vor Gericht gelandet war. Burke war kein kleinkarierter Rechtsgelehrter, sondern ein hart arbeitender, geradliniger und oft genug aus dem Bauch heraus agierender Staatsanwalt.

“Wie zum Teufel geht’s dir?”, fragte er.

“Nicht schlecht”, sagte Jaywalker.

“Lass mich raten. Samara Tannenbaum?”

“Bingo.”

“Warum überrascht mich das nicht?” Dann: “Oh, klar. Du hast sie damals bei diesem Unfall verteidigt.”

“Wie ich sehe, hast du deine Hausaufgaben gemacht.”

“Wurdest du vom Gericht bestellt?”, fragte Burke.

“Nein”, antwortete Jaywalker. “Ich habe mich schon vor einiger Zeit von der staatlichen Mutterbrust entwöhnt, rechtzeitig genug, um die seit Langem fällige Tariferhöhung gerade zu verpassen.” Das stimmte. Am Anfang seiner Selbstständigkeit hatte er jeden einzelnen Pflichtfall gerne übernommen, auch wenn es nur fünfundzwanzig Dollar die Stunde für die Arbeit außerhalb des Gerichts und vierzig Dollar für die Stunden vor Gericht gab. Schließlich finanzierte er zu dieser Zeit seiner Tochter ein Jurastudium und konnte jeden Cent gebrauchen. Kaum hatte sie ihr Studium abgeschlossen und Arbeit gefunden, hatte er solche Aufträge nur noch angenommen, wenn er einem Richter einen persönlichen Gefallen tun wollte oder als New York für kurze Zeit die Todesstrafe wieder einführte. Vor ein paar Jahren wurden nach einer Klage die Tarife auf fünfundsiebzig Dollar die Stunde erhöht, egal ob innerhalb oder außerhalb des Gerichtsgebäudes gearbeitet wurde. Doch das konnte Jaywalker nicht mehr locken. Er hatte zu dieser Zeit ausreichend Arbeit, um sich nicht zu langweilen, und seine Ausgaben waren gering genug, um auf das zusätzliche Geld verzichten zu können. Reich zu werden war ihm nie sonderlich wichtig gewesen.

“Falls ich fragen darf”, sagte Burke, “wer hat dich engagiert?”

“Samara. Oder zumindest ist sie gerade dabei.”

“Daraus wird nichts.”

“Oh?”

“Ich habe den Auftrag, Barry Tannenbaums gesamtes Vermögen einzufrieren”, sagte Burke. “Einschließlich eines Bankkontos auf Samaras Namen.”

“Scheiße” war alles, was Jaywalker daraufhin einfiel.

Tom Burke hatte natürlich nur seinen Job gemacht. Er hatte das Guthaben auf Samaras Konto aufgespürt und einem Richter beweisen können, dass jeder einzelne Dollar – und es waren beinahe zweihunderttausend – von ihrem Ehemann stammte. Falls Samara wegen Mordes verurteilt würde, verlöre sie jeglichen Anspruch auf das Geld und alle anderen Besitztümer ihres Ehemannes. Als Nächstes hatte Burke die Richterin darüber informiert, dass er den Fall bereits einer Grand Jury vorgestellt hatte, die der Ansicht war, dass genügend Beweise vorlagen, um ein Gerichtsverfahren gegen Samara zu eröffnen. Daraufhin hatte die Richterin, eine recht vernünftige Frau namens Carolyn Berman, keine andere Wahl gehabt, als Barry Tannenbaums Vermögen einfrieren zu lassen, Samaras Konto eingeschlossen.

Aber auch wenn Burke und Berman nur ihre Arbeit gemacht hatten, so bereitete das Ergebnis Jaywalker trotzdem schweres Kopfzerbrechen. Die gute Nachricht war, dass er jetzt nicht mehr zur Bank gehen musste, doch das tröstete ihn wenig angesichts der Tatsache, dass er sich nun zwei Tage damit herumschlagen würde, die nötigen Papiere aufzusetzen, um sich dann mit Burke vor der Richterin darüber zu streiten, ob das Einfrieren der Konten gerechtfertigt war.

Das taten sie an einem Freitagnachmittag im zwölften Stockwerk in der 100 Centre Street, dem Strafgerichtsgebäude, Jaywalkers Hausgericht, wie er es in Gedanken nannte.

“Die Angeklagte hat das verfassungsmäßige Recht, von einem Anwalt ihrer Wahl vertreten zu werden”, erklärte er.

“Das stimmt”, räumte Burke ein. “Aber es handelt sich um ein eingeschränktes Recht. Wenn die Angeklagte mittellos ist und sich keinen Anwalt leisten kann, wird vom Gericht ein Pflichtverteidiger gestellt. Und den kann man sich nicht aussuchen.”

“Aber sie ist nicht mittellos, und sie kann sich einen Anwalt leisten”, betonte Jaywalker. “Zumindest konnte sie es, bevor Sie beschlossen haben, dass die Steuerzahler für ihre Verteidigung aufkommen sollen und nicht sie selbst.”

Das war ein recht schäbiges Argument, das wusste er, aber ein halbes Dutzend Reporter machte sich gerade in der ersten Reihe des Gerichtsraums Notizen, und Jaywalker wusste, dass die Richterin nicht am nächsten Tag aufwachen wollte, um Schlagzeilen zu lesen wie: Richterin beschließt: Steuerzahler müssen für die Verteidigung einer Milliardenerbin aufkommen!

Schließlich arbeitete Richterin Berman einen Kompromiss aus, so wie es Richter im Allgemeinen immer versuchen. Sie bewilligte eine bestimmte Summe für die Anwaltskosten und sonstige für die Verteidigung notwendige Ausgaben. Doch sie setzte Jaywalkers Honorar auf dieselben fünfundsiebzig Dollar die Stunde fest, die er als Pflichtverteidiger für Samara bekommen hätte.

Toll, dachte Jaywalker. Da habe ich für einen harmlosen Unfall fünfunddreißigtausend Dollar bekommen, und jetzt soll ich für einen Hungerlohn ihre Unschuld in einem Mordfall beweisen.

“Danke”, wandte er sich an Richterin Berman.

Damit lief er hinüber zum Gerichtsbeamten und unterzeichnete das Dokument, das bestätigte, dass er von nun an der neue Anwalt von Samara Moss Tannenbaum war. Tom Burke überreichte ihm einen zwanzig Kilo schweren Karton, in dem sich Kopien der Beweisstücke gegen seine Mandantin befanden. So weit, so gut.

Es ging doch nichts über ein Wochenende mit guter Lektüre.

6. KAPITEL

Kleine Lektüre fürs Wochenende

Die stellte sich als Horrorgeschichte heraus.

Jaywalker begann noch am selben Abend im Bett zu lesen. Der Karton, den Burke ihm gegeben hatte, beinhaltete Polizeiberichte, Zeichnungen und Fotografien des Tatorts, den Durchsuchungsbefehl für Samaras Stadthaus, eine Liste der beschlagnahmten Dinge, eine maschinengeschriebene Zusammenfassung der ersten Aussage Samaras gegenüber der Polizei, Anforderungen von wissenschaftlichen Tests für verschiedenste Beweisspuren und einen ganzen Haufen weiteren Papierkram.

Es handelte sich um deutlich mehr, als die Staatsanwaltschaft zu diesem frühen Zeitpunkt hätte liefern müssen. Viele Staatsanwälte hätten sofort abgeblockt, darauf gewartet, dass die Verteidigung einen schriftlich Antrag auf Aushändigung der Unterlagen stellte, dem mit weiteren Gegenanträgen begegnet würde, bis schließlich ein Richter den entsprechenden Bescheid erließ. Tom Burke aber trieb keine solchen Spielchen, eine Tatsache, für die Jaywalker äußerst dankbar war.

Zumindest bis er zu lesen begann.

Den Polizeiberichten entnahm er, dass Barry Tannenbaums Sekretärin den Notruf gewählt hatte, nachdem er eines Morgens nicht ins Büro gekommen war und sie ihn weder in seinem Haus in Scarsdale noch in seinem Penthouse am Central Park South hatte erreichen können. Die Polizei in Scarsdale hatte die Tür aufgebrochen und das Haus durchsucht, aber niemanden gefunden. Das New York City Police Department, NYPD, hatte in dieser Hinsicht mehr Glück gehabt, wenn man es so sehen wollte. Im Penthouse fanden sie Barry mit dem Gesicht nach unten auf seinem Küchenboden liegend, in einer “Lache aus getrocknetem Blut”, wie es der Gerichtsmediziner ausgedrückt hatte. Auch wenn die Terminologie ein wenig widersprüchlich anmutete, war die Bedeutung doch glasklar.

Am Tatort war keine Waffe gefunden worden, auch nicht im Müll, auf dem Dach oder in der Umgebung des Gebäudes. Polizisten hatten sogar die Mülltonnen in der Nachbarschaft und die Gullys durchsucht, doch mit “negativem Ergebnis”, wie es in der Polizeisprache so schön hieß.

Es gab keine Anzeichen für ein gewaltsames Eindringen, und auch das für das Gebäude zuständige Sicherheitsunternehmen hatte keine Alarmmeldung aus der Wohnung erhalten. Das Apartment wurde auf Fingerabdrücke untersucht, von denen einige sichergestellt oder fotografiert wurden. Blut, Haare und Fasern wurden eingesammelt.

Die Gerichtsmedizin wurde informiert, und der Chef höchstpersönlich – der möglichen Publicity des Falles gegenüber nicht abgeneigt – kam vorbei. Bei der ersten oberflächlichen Untersuchung der Leiche fand er eine einzelne, tiefe Stichwunde in der Brust, knapp links von der Mitte in der Herzgegend. Es schien keine anderen Wunden zu geben und auch keine Anzeichen eines Kampfes. Er maß die rektale Temperatur der Leiche. Anhand der gesunkenen Temperatur, dem Fortschritt der Leichenflecken und der Leichenstarre schätzte er den Todeszeitpunkt zwischen achtzehn Uhr und Mitternacht des Vorabends.

Die Nachbarn wurden gefragt, ob sie in der Nacht etwas Ungewöhnliches bemerkt hatten. Nur eine Person meldete, dass sie kurz nach der Sendung Wheel of Fortune einen lauten Streit zwischen einer Frau und einem Mann gehört hätte. Sie war Ende siebzig oder Anfang achtzig und lebte allein in dem angrenzenden Penthouse. Sie hatte beide Stimmen erkannt. Die eine Stimme gehörte Barry Tannenbaum, den sie gut kannte. Die andere, da war sie genauso sicher, gehörte seiner Frau Sam.

Laut TV Guide hatte Wheel of Fortune um neunzehn Uhr dreißig Eastern Standard Time begonnen und um zwanzig Uhr geendet.

Der Pförtner, der am Vorabend Dienst hatte, wurde ausfindig gemacht und befragt. Er erinnerte sich sehr gut daran, dass Barry Tannenbaum einen Gast zum Abendessen gehabt hatte. Wie immer hatte er den Namen des Gastes sowohl bei der Ankunft als auch beim Verlassen des Gebäudes in das Logbuch eingetragen. Wobei er diesen Gast ausnahmsweise nicht aufgefordert hatte, zu unterschreiben. Der Grund war, wie er aussagte, dass er sie persönlich kannte.

Ihr Name war Samara Tannenbaum.

An dieser Stelle wurden zwei Detectives zu Samaras Stadthaus geschickt. Sie mussten eine volle Viertelstunde klingeln und gleichzeitig bei ihr anrufen, bis sie endlich die Tür öffnete, die Sicherheitskette noch vorgelegt. Sie baten, hereinkommen und ihr einige Fragen stellen zu dürfen.

“Worum geht es?”, fragte sie.

“Um Ihren Mann.”

“Warum fragen Sie ihn dann nicht selbst?”

Die beiden Detectives wechselten einen Blick. Dann sagte einer von ihnen: “Bitte, es wird nicht lange dauern.”

Daraufhin hatte Samara die Sicherheitskette geöffnet und “ihnen bewusst und freiwillig gestattet, sich Zutritt zu ihrer Wohnung zu verschaffen”. Jaywalker würde sich bis an sein Lebensende darüber wundern, wie Polizisten die Sprache verschandelten. Als ob sie erst dann ihre Waffen und Polizeimarken bekommen würden, wenn sie aufhörten, sich ordentlich auszudrücken, richtig zu buchstabieren und sich nach den grundlegenden Regeln der Grammatik zu richten. Oder auch nur im Entferntesten etwas zu schreiben, was einem einfachen Satz glich.

Samara wirkte nervös, wie sie später in ihrem Bericht festhielten. Ihr Haar war “ungekämmt”, ihre Kleidung “unordentlich”, und sie “fuhr fort, Zigaretten anzuzünden, zu rauchen und auszudrücken”.

Sie fragten, wann Samara ihren Mann zum letzten Mal gesehen hatte.

“Ungefähr vor einer Woche”, antwortete sie.

“Sind Sie sicher?”

“Ob ich mir sicher bin, dass ich ihn vor einer Woche gesehen habe?”

“Nein, Ma’am. Sind Sie sicher, dass Sie ihn seither nicht mehr gesehen haben?”

“Warum?”, fragte sie. Jaywalker konnte sich vorstellen, wie sie nervös eine Zigarette angezündet, geraucht und ausgedrückt hatte. “Worum geht es überhaupt?”

“Reine Routine”, versicherten die Polizisten. “Wir haben nur ein paar Fragen.”

“Nun, wenn Sie mir nicht verraten wollen, worum es geht”, erklärte Samara, “können Sie sich routiniert wieder davonmachen.”

Wieder tauschten die Detectives einen Blick. “Es gibt Zeugen, die aussagen, dass Sie gestern Abend in der Wohnung Ihres Mannes waren.”

“Na und?”

“Wir würden nur gern wissen, ob das stimmt.”

“Und wenn?”

“Stimmt es?”

Samara schien einen Moment lang zu überlegen. Dann sagte sie: “Ja, klar. Wir haben zusammen zu Abend gegessen.”

“In einem Restaurant oder in der Wohnung Ihres Mannes?”

“In seiner Wohnung.”

“Hat er gekocht?”

“Barry? Gekocht?” Sie lachte. “Der Mann könnte nicht mal Wasser zum Kochen bringen. Als er das Penthouse kaufte, hat er als Erstes den Herd herausreißen lassen, um Platz für einen größeren Tisch zu schaffen.”

“Was haben Sie gegessen?”

“Chinesisch.”

Tatsächlich waren halb volle Schachteln mit chinesischem Fast Food auf der Küchentheke und im Abfall gefunden worden.

“War’s das?”, fragte sie. “Oder wollen Sie vielleicht noch wissen, wie viele Wan Tans ich gegessen habe?”

“Hatten Sie einen Streit?”, fragten sie.

“Nein.”

“Es gibt Zeugen, die aussagten, dass Sie gestritten haben.”

“Na und? Ist doch keine große Sache. Wir streiten immer.”

“Wer hat wen zuerst geschlagen?”

“Niemand hat niemanden geschlagen.”

Jaywalker überlegte, ob Samara mit ihrer Grammatik nicht eine ziemlich gute Polizistin abgegeben hätte.

Autor

Joseph Teller
Bevor er sich dem Schreiben widmete, hat Joseph Teller sich jahrelang mit dem Gesetz und Verbrechen beschäftigt. Nach seinem Jura-Studium an der University of Michigan Law School kehrte er nach New York zurück, wurde als Undercover-Agent beim Federal Bureau of Narcotics tätig und sagte den Drogen den Kampf an. Schließlich...
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