Die Herren der Unterwelt 5: Schwarze Leidenschaft

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Sie trug keine Schuhe, und als sie mit nackten Füßen über einen Stein stolperte und hinfiel, ergoss sich das dunkle Haar über ihr Gesicht. Ihre Hände zitterten, als sie sich eine Strähne aus der Stirn strich.

Schon seit längerem fühlt sich Aeron von einer unsichtbaren Macht beobachtet. Der unsterbliche Krieger und Hüter des Zorn-Dämons fürchtet, es könnte sich um einen gefallenen Engel handeln - gesandt, um ihn zu töten. Umso verwirrter ist Aeron, als plötzlich eine wunderschöne Frau aus Fleisch und Blut vor ihm steht. Olivia offenbart ihm, dass sie dem Himmel entsagt und das Leben einer Sterblichen gewählt hat, weil sie nicht ihn umbringen, sondern sein Herz für sich gewinnen möchte.


  • Erscheinungstag 10.08.2011
  • Bandnummer 5
  • ISBN / Artikelnummer 9783862780921
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Anscheinend macht es ihnen nichts aus, dass sie sterben.“ Aeron, ein unsterblicher, vom Dämon Zorn besessener Krieger, saß auf den Dächern der Bübäjos-Appartements im Zentrum von Budapest und starrte auf die Menschen hinunter, die so unbedarft den Abend verlebten. Einige kauften ein, andere redeten und lachten oder aßen im Gehen einen kleinen Snack. Aber niemand fiel auf die Knie und flehte die Götter um mehr Zeit in diesen schwachen Körpern an. Genauso wenig schluchzte einer von ihnen darüber, dass er diese Zeit nicht bekommen würde.

Statt auf die Menschen konzentrierte sich Aeron nun auf deren Umgebung. Fahles Mondlicht schien herab und mischte sich in den bernsteinfarbenen Glanz der Straßenlaternen, die ihre Schatten auf das Kopfsteinpflaster warfen. Überall standen Häuser. Einige der höher gelegenen hatten helle Vordächer – der perfekte Kontrast zu den smaragdgrünen Bäumen, die sich neben den Gebäuden erhoben.

Hübsch, sofern man das von Särgen sagen konnte.

Die Menschen wussten, dass sie vergänglich waren. Zur Hölle, sie wuchsen in dem Bewusstsein auf, dass sie alles und jeden verlassen mussten, den sie liebten, und trotzdem – das hatte er schon häufig beobachtet – baten sie nicht um mehr Zeit. Und das ... faszinierte ihn. Wenn Aeron erführe, dass er schon bald von seinen Freunden, den anderen dämonbesessenen Kriegern, mit denen er die letzten Jahrtausende verbracht hatte, getrennt werden würde, täte er alles – ja, sogar betteln –, um sein Schicksal zu ändern.

Warum also taten die Menschen das nicht? Was wussten sie, das er nicht wusste?

„Sie sterben nicht“, sagte sein Freund Paris, der neben ihm saß. „Sie leben, solange sie die Chance dazu haben.“

Aeron stieß einen verächtlichen Laut aus. Das war nicht die Antwort, nach der er suchte. Wie sollten sie leben, solange sie die Chance dazu hatten, wenn ihre „Chance“ kaum mehr bedeutete als ein Augenzwinkern? „Sie sind schwach. Leicht zu vernichten, wie dir ja bekannt ist.“ Wie grausam von ihm, das zu sagen. Immerhin war Paris’ ... Freundin? Geliebte? Auserwählte Frau? Was immer sie war, sie war erst vor Kurzem vor Paris’ Augen erschossen worden. Dennoch bereute Aeron seine Worte nicht.

Paris war der Hüter von Promiskuität und gezwungen, jeden Tag mit einem anderen Menschen ins Bett zu gehen. Wenn er es nicht tat, wurde er immer schwächer und würde sich dadurch letztlich selbst töten. Er konnte sich eigentlich nicht leisten, den Tod einer speziellen Geliebten zu betrauern. Vor allem nicht den einer feindlichen Geliebten, denn genau das war diese kleine Sienna gewesen.

Aeron gestand es sich zwar nicht gern ein, aber in gewisser Hinsicht war er sogar froh, dass die Frau tot war. Sie hätte Paris’ Bedürfnisse nur gegen ihn eingesetzt und ihn letzten Endes zerstört.

Ich hingegen werde bis in alle Ewigkeit für seine Sicherheit sorgen. Das war ein Schwur. Der Götterkönig hatte Paris vor die Wahl gestellt. Paris hatte entweder die Seele seiner Frau zurückholen oder Aeron von dem entsetzlichen Blutdurst befreien können, der unentwegt Mordgedanken in ihm hervorgerufen hatte. Gedanken, die Aeron – wie er schamvoll zugeben musste – in die Tat umgesetzt hatte. Immer und immer wieder.

Wegen jenes Fluchs hatte Reyes, Hüter des Dämons Schmerz, beinah seine über alles geliebte Danika verloren. Aeron war kurz davor gewesen, ihr den Todesstoß zu versetzen. Er hatte das gewetzte Messer schon hoch erhoben ... und gerade als er über ihren hübschen Hals herfallen wollte, hatte Paris sich für Aeron entschieden. Augenblicklich war der Wahnsinn von ihm abgefallen, und allein das hatte Danika das Leben gerettet.

Tief in sich fühlte Aeron sich wegen dessen, was um ein Haar geschehen wäre, immer noch schuldig. Ganz zu schweigen von seiner Verantwortung für die Konsequenzen, die diese Entscheidung für Paris bedeutete. Das Schuldgefühl brannte wie Säure in Aerons Knochen und fraß ihn immer weiter auf. Paris musste leiden, während er seine Freiheit genießen konnte. Doch das hieß noch lange nicht, dass er in dieser Sache Gnade walten ließ. Dafür liebte er seinen Freund viel zu sehr. Mehr noch: Aeron war ihm etwas schuldig. Und er beglich seine Schulden immer.

Deshalb saßen sie jetzt auch auf diesem Dach.

Doch für Paris zu sorgen war keine leichte Aufgabe. Die vergangenen sechs Nächte hatte Aeron seinen Freund trotz lautstarken Protests hierher geschleppt. Paris brauchte sich nur eine Frau auszusuchen, dann brachte Aeron sie zu ihm und sorgte dafür, dass die beiden ungestört Sex haben konnten. Allerdings traf Paris seine Wahl jede Nacht später. Immer später.

Aeron hatte das Gefühl, dass er und Paris diesmal bis zum Morgengrauen hier sitzen würden.

Hätte Paris es ihm gleichgetan und die schwachen Menschen gemieden, würde er sich jetzt nicht so verzweifelt nach etwas sehnen, das er nicht haben konnte. Er würde sich nicht nach etwas verzehren, das ihm für alle Ewigkeit verwehrt bleiben würde.

Aeron seufzte. „Paris“, begann er. Dann hielt er inne. Wie sollte er weitermachen? „Deine Trauer muss endlich ein Ende haben.“ Gut. Direkt zum Punkt kommen, so wie er es am liebsten hatte. „Sie schwächt dich.“

Paris fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. „Als ob ausgerechnet du mir etwas über Schwäche beibringen könntest! Wie oft bist du Zorn schon erlegen? Unzählige Male. Und für wie viele dieser unzähligen Momente kannst du den Göttern die Schuld geben? Für exakt einen. Wenn der Dämon von dir Besitz ergreift, verlierst du die Kontrolle über dein Handeln. Also sorg dafür, dass du nicht auch noch Heuchelei auf die Liste deiner Sünden setzen musst, okay?“

Er widersprach nicht. Traurigerweise war Paris’ Behauptung unwiderlegbar richtig. Manchmal übernahm der Dämon die Kontrolle über Aerons Körper, flog mit ihm durch die Stadt, fiel jeden an, der in Reichweite war, und weidete sich an dem Schrecken seiner Opfer. Währenddessen wusste Aeron jedes Mal genau, was er tat, jedoch ohne in der Lage zu sein, das Massaker zu beenden.

Nicht, dass er das Massaker immer beenden wollte. Einige verdienten auch, was sie bekamen.

Aber er verabscheute es, die Kontrolle über seinen Körper zu verlieren und sich zu fühlen, als wäre er nur noch eine Marionette. Oder ein Bär, der auf Befehl tanzte. Wenn er auf dieses Stadium reduziert wurde, hasste er seinen Dämon – allerdings nicht so sehr wie sich selbst. Denn neben Hass verspürte er auch Stolz. Auf Zorn. Aeron die Kontrolle zu entreißen erforderte Macht, und jegliche Macht verdiente Anerkennung.

Dennoch. Diese Hassliebe belastete ihn.

„Es war vielleicht nicht deine Absicht, aber du hast meinen Standpunkt gerade bestätigt“, sagte er und nahm die Unterhaltung wieder auf. „Aus Schwäche resultiert Zerstörung. Ausnahmslos.“ In Paris’ Fall war Trauer nur ein anderer Ausdruck für Ablenkung. Und Ablenkung konnte tödlich enden.

„Was hat das mit mir zu tun? Was hat das mit den Menschen da unten zu tun?“, wollte Paris wissen.

Zeit für den Blick aufs Ganze. „Diese Menschen. Sie altern und verfallen in Windeseile.“

„Und?“

„Lass mich ausreden. Wenn du dich in eine von ihnen verliebst, hast du sie vielleicht für den Großteil eines Jahrhunderts. Aber auch nur, wenn sie von Krankheiten oder Unfällen verschont bleibt. Doch in diesem Jahrhundert wirst du ihr beim Altern und schließlich beim Sterben zusehen. Und währenddessen weißt du immer, dass eine Ewigkeit ohne sie auf dich wartet.“

„Alter Pessimist.“ Das war nicht die Reaktion, mit der Aeron gerechnet hatte. „Für dich ist es ein Jahrhundert, das man damit verbringt, etwas zu verlieren, das man nicht beschützen kann. Ich betrachte es als ein Jahrhundert, in dem man mit einem großen Geschenk gesegnet wird. Mit einem Geschenk, das dir in der Ewigkeit helfen wird.“

Helfen? Absurd. Wenn man etwas Kostbares verlor, wurde das Gedenken daran zu einer quälenden Erinnerung an das, was man nie wieder haben konnte. Zusammen mit den Problemen, die man ohnehin schon hatte, würde dieses Gedenken einen ablenken – im Gegensatz zu Paris beschönigte er es nicht – und eben nicht stärken.

Der Beweis lag für Aeron auf der Hand. Denn genauso erging es ihm mit Baden, der der Hüter von Misstrauen und einst sein bester Freund gewesen war. Vor langer Zeit hatte er den Mann verloren, den er mehr geliebt hatte, als er einen Blutsbruder hätte lieben können. Und wenn er jetzt allein war, musste Aeron jedes Mal an Baden denken und fragte sich, was wäre, wenn.

Das wollte er Paris ersparen.

Vergiss den Blick aufs Ganze. Zeit für noch etwas mehr Gnadenlosigkeit. „Wenn du so gut darin bist, Verluste zu verkraften, warum trauerst du Sienna dann immer noch nach?“

Ein Mondstrahl fiel auf Paris’ Gesicht, und Aeron sah, dass seine Augen glasig waren. Offenbar hatte er getrunken. Mal wieder. „Ich wurde meines Jahrhunderts mit ihr beraubt. Wir hatten nur ein paar Tage zusammen.“ Monotoner Tonfall.

Hör jetzt nicht auf. „Und wenn du vor ihrem Tod hundert Jahre mit ihr gehabt hättest, könntest du jetzt deinen Frieden damit schließen?“

Schweigen.

Das hatte er auch nicht gedacht.

„Schluss jetzt!“ Paris rammte seine Faust auf das Dach, und das gesamte Gebäude bebte. „Ich will nicht mehr darüber sprechen.“

Zu schade. „Verlust ist Verlust. Schwäche ist Schwäche. Wenn wir uns nicht gestatten, uns an die Menschen zu binden, ist uns auch egal, wenn sie von uns gehen. Wenn wir unsere Herzen stählen, werden wir uns nicht nach dem sehnen, was wir nicht haben können. Das haben unsere Dämonen uns doch sehr anschaulich vorgemacht.“

Aerons und Paris’ Dämonen hatten einst in der Hölle gelebt und sich nach Freiheit gesehnt, weshalb sie sich ihren Weg nach draußen erkämpft hatten. Nur hatten sie damit am Ende ein Gefängnis gegen ein anderes eingetauscht, und das zweite war weitaus schlimmer gewesen als das erste.

Statt Schwefel und Flammen ertragen zu müssen, waren sie tausend Jahre lang in der Büchse der Pandora gefangen gewesen. Tausend Jahre der Dunkelheit, der Trostlosigkeit und des Schmerzes. Man hatte ihnen weder Eigenständigkeit gewährt noch Hoffnung auf Besserung geschenkt.

Wären diese Dämonen stärker gewesen und hätten sie sich nicht nach dem Verbotenen gesehnt, dann wären sie auch nicht eingefangen worden.

Hätte Aeron einen stärkeren Willen gehabt, hätte er später nicht dabei geholfen, die Büchse zu öffnen. Dann wäre er nicht dazu verflucht worden, das Böse, das er befreit hatte, in seinem Körper zu beherbergen. Dann wäre er nicht aus dem Himmel verbannt worden, aus dem einzigen Zuhause, das er je gekannt hatte, um den Rest der Ewigkeit in dieser chaotischen Welt zu verbringen, in der rein gar nichts blieb, wie es war.

Dann hätte er Baden nicht im Krieg gegen die Jäger verloren – verachtenswerte Sterbliche, die die Herren hassten und für alles Übel der Welt verantwortlich machten. Ein Freund war vor Kurzem an Krebs verstorben? Daran waren natürlich die Herren schuld. Ein junges Mädchen hatte gerade erfahren, dass es schwanger war? Da hatten eindeutig die Herren wieder zugeschlagen.

Wäre Aeron stärker gewesen, hätte er sich nicht noch einmal in diesen Krieg gestürzt, in dem er kämpfen und töten musste. Immerzu töten.

„Hast du dich je nach einer Sterblichen gesehnt?“, fragte Paris und riss ihn damit aus seinen düsteren Gedanken. „Sexuell, meine ich?“

Aeron entfuhr ein leises Lachen. „Du meinst, ob ich an einem Tag eine Frau in mein Leben gelassen habe, um sie am nächsten wieder zu verlieren? Nein.“ So dumm war er nicht.

„Wer sagt, dass du sie verlieren musst?“ Paris zog eine Flasche aus der Innentasche seiner Lederjacke und trank einen großen Schluck.

Schon wieder Alkohol? Offensichtlich hatten seine aufmunternden Worte seinem Freund kein bisschen gutgetan.

Paris schluckte und fügte hinzu: „Maddox hat Ashlyn, Luden hat Anya, Reyes hat Danika, und jetzt hat Sabin Gwen. Sogar Gwens Schwester, Bianka die Schreckliche, hat einen Lover. Einen Engel, mit dem ich Öl-Catchen musste, aber egal. Das ist eine andere Geschichte.“

Öl-Catchen? Ja. Lieber nicht ins Detail gehen. „Ja, sie haben einander, aber jede der Frauen verfügt über eine Fähigkeit, die sie von den anderen ihrer Art abhebt. Sie sind mehr als nur Menschen.“ Doch das hieß nicht, dass sie ewig lebten. Sogar Unsterbliche konnten getötet werden. Aeron wusste das mit Gewissheit. Denn er war derjenige gewesen, der Badens Kopf aufgesammelt hatte – ohne den Körper des Kriegers. Er war derjenige gewesen, der als Erster seinen auf ewig erstarrten Ausdruck des Schreckens gesehen hatte.

„Wie heißt also die Lösung? Finde eine Frau mit einer Fähigkeit, durch die sie sich von den anderen abhebt“, erwiderte Paris trocken.

Als ob das so einfach wäre. Außerdem ... „Ich habe Legion, und mehr kann ich im Augenblick auch gar nicht bewältigen.“ Er rief sich die kleine Dämonin ins Gedächtnis, die wie eine Tochter für ihn war, und lächelte. Wenn er stand, reichte sie ihm nur bis zur Taille. Sie hatte grüne Schuppen, zwei winzige Hörner, die mitten auf ihrem Kopf emporragten, und scharfe Giftzähne. Diademe waren ihr Lieblings-Accessoire, und Lebendfleisch war ihre Leibspeise.

Ersteres gönnte er ihr von Herzen, und an Letzterem arbeiteten sie gerade.

Aeron war ihr in der Hölle begegnet. Na ja, zumindest so dicht an der brodelnden Grube, wie ein Mann herankam, ohne in den Flammen zu vergehen. Er war gewissermaßen nebenan angekettet gewesen, trunken vor Blutlust und entschlossen, selbst seine Freunde abzuschlachten, als Legion sich ihren Weg zu ihm gebahnt und ihre Gegenwart irgendwie seinen Verstand geklärt hatte. Sie hatte ihm die Stärke verliehen, die er so schätzte. Sie hatte ihm geholfen zu fliehen, und seitdem waren sie zusammen.

Außer jetzt. Sein geliebtes kleines Mädchen war in die Hölle zurückgekehrt, an einen Ort, den sie verachtete. Und das alles, weil irgend so ein unsichtbarer Engel, der sich im Schatten versteckt hielt und auf irgendetwas wartete, Aeron beobachtete. Worauf er wartete, wusste Aeron nicht. Er war jedoch sicher, dass der intensive Blick in diesem Moment zwar nicht auf ihm ruhte, wohl aber wiederkommen würde. Das tat er immer. Und Legion konnte es nicht leiden.

Er lehnte sich zurück und blickte in den Nachthimmel. Die Sterne waren heute so klar wie Diamanten auf schwarzem Satin. Manchmal, wenn er sich nach der Illusion von Einsamkeit sehnte, flog er so hoch, wie seine Flügel ihn trugen, um sich dann schnell und sicher fallen zu lassen und sich erst Sekunden vor dem Aufprall wieder zu fangen.

Als Paris noch einen Schluck aus seiner Flasche trank, stieg sanft und süß wie der Atem eines Babys der Duft von Ambrosia in die Luft. Aeron schüttelte den Kopf. Ambrosia war die Lieblingsdroge seines Freundes, das Einzige, was den Kopf und den Körper von Männern wie ihnen betäuben konnte. Doch allmählich geriet Paris’ Konsum außer Kontrolle, was den einst wilden Krieger nachlässig machte.

Da Galen, der Anführer der Jäger und ebenfalls ein dämonbesessener Krieger, durch die Straßen zog, musste sein Freund unbedingt bei klarem Verstand sein. Kalkulierte man dann noch den unsichtbaren Engel mit ein, hieß das sogar, dass Paris in Bestform sein musste. Denn wie Aeron kürzlich erfahren hatte, waren Engel Dämonenmörder.

Ob sein Engel ihn auch töten wollte? Er war sich nicht sicher, und Biankas Gemahl Lysander wollte es ihm nicht verraten. Aber wahrscheinlich spielte es keine Rolle. Aeron hatte vor, den Feigling – egal ob männlich oder weiblich – auseinanderzunehmen, sobald dieser endlich die Eier hatte, sich zu erkennen zu geben.

Niemand trennte ihn ungestraft von Legion. Genau in diesem Moment erlitt sie womöglich Schmerzen – seelische oder körperliche. Bei dem Gedanken daran verkrampften sich Aerons Hände so stark, dass beinah seine Knochen brachen. Die Brüder seines kleinen Lieblings hatten es sich zum Hobby gemacht, Legion wegen ihrer Freundlichkeit und ihres Mitgefühls zu verspotten. Außerdem machte es ihnen Spaß, sie zu jagen. Und nur die Götter wussten, was sie ihr antun würden, wenn sie sie tatsächlich erwischten.

„Sosehr du Legion auch liebst“, begann Paris, und wieder riss er Aeron aus dem tiefen Sumpf seiner Gedanken. Paris warf einen Stein auf das gegenüberliegende Gebäude, bevor er die Flasche ansetzte und den letzten Schluck trank. „Sie kann nicht all deine Bedürfnisse erfüllen.“

Er meinte Sex. Konnten sie dieses Thema nicht endlich und ein für alle Mal ausklammern? Aeron seufzte. Er war seit Jahren nicht mehr mit einer Frau im Bett gewesen, vielleicht sogar seit Jahrhunderten. Sie waren die Anstrengung einfach nicht wert. Wegen Zorn war sein Verlangen, ihnen wehzutun, schnell stärker als sein Verlangen, sie glücklich zu machen. Mehr noch: So tätowiert und kriegerisch, wie Aeron war, musste er für jedes bisschen Zuneigung, das er bekam, hart arbeiten. Frauen hatten Angst vor ihm – und das zu Recht. Sie für ihn zu öffnen erforderte Zeit und Geduld, beides fehlte ihm. Außerdem gab es Tausende andere, wichtigere Dinge, die er tun konnte. Zum Beispiel trainieren, sein Heim bewachen, seine Freunde beschützen. Und sich in Nachsicht für Legions Marotten üben.

„Solche Bedürfnisse habe ich nicht.“ Das stimmte größtenteils sogar. Er war so diszipliniert, dass er sich der Lust kaum hingab. Und wenn doch, dann nur allein. „Ich habe alles, was ich mir wünsche. Aber sag mal: Sind wir eigentlich hergekommen, um über unsere Gefühle zu quatschen oder um eine Frau für dich zu suchen?“

Mit einem wütenden Schrei warf Paris die leere Flasche in demselben Bogen wie vor wenigen Augenblicken den Stein hinüber. Sie zerschellte an der Außenfassade des Gebäudes, Staubwolken und kleine Steinbrocken wirbelten durch die Luft. „Eines Tages wird dich jemand faszinieren, dich anziehen und verführen, und du wirst dich mit jeder Faser deines Körpers nach ihr sehnen. Ich hoffe, sie macht dich wahnsinnig. Ich hoffe, dass sie dich – zumindest eine Zeit lang – zurückweist und du um sie kämpfen musst. Vielleicht verstehst du dann ansatzweise meinen Schmerz.“

„Wenn ich mich damit für das revanchieren kann, was du für mich getan hast, werde ich so ein Schicksal liebend gern erdulden. Ich werde die Götter auf Knien darum bitten.“ Aeron konnte sich nicht vorstellen, jemals eine Frau – unsterblich oder Mensch – so sehr zu begehren, dass es sein Leben zerstörte. Er war anders als die anderen Krieger, die permanent nach Gesellschaft suchten. Er war einfach am glücklichsten, wenn er allein war. Oder vielmehr, wenn er mit Legion allein war. Außerdem war er viel zu stolz, als dass er jemandem nachlaufen würde, der seine Gefühle nicht erwiderte.

Aber er hatte gemeint, was er gesagt hatte. Für Paris würde er alles ertragen. „Hast du das gehört, Cronus?“, rief er in den Himmel. „Schick mir eine Frau! Eine, die mich quälen wird. Eine, die mich zurückweisen wird!“

„Alter Angeber.“ Paris lachte in sich hinein. „Was, wenn er dir wirklich diese unerreichbare Frau schickt?“

Götter! Wie sehr er sich über das Lachen freute! Endlich schimmerte der alte Paris wieder durch. „Das bezweifle ich.“

Cronus wollte, dass sich die Krieger darauf konzentrierten, Galen zu besiegen. Davon war er regelrecht besessen, seit Danika vorausgesagt hatte, dass der Götterkönig durch Galens Hand sterben würde.

Als Allsehendes Auge machte Danika stets korrekte Vorhersagen. Auch wenn sie unerfreulich waren. Doch es gab einen Silberstreif am Horizont: Mithilfe dieser Vorhersagen konnte man das Schicksal abwenden. Zumindest theoretisch.

„Aber was wäre, wenn?“, fragte Paris noch einmal, als Aeron zu lange schwieg.

„Wenn Cronus auf meine Bitte reagiert, werde ich die wilde Fahrt genießen“, erwiderte Aeron grinsend. „Aber jetzt genug von mir. Lass uns tun, wofür wir hergekommen sind.“ Er setzte sich auf, blickte auf die Straße hinab und musterte die sich immer stärker lichtende Menschenmenge.

Um weder die alten Straßen noch die Fahrzeuge zu beschädigen, war es in diesem Stadtteil verboten, mit dem Auto zu fahren. Alle mussten zu Fuß gehen. Und genau aus diesem Grund hatte Aeron diesen Ort ausgewählt. Denn eine Frau aus einem fahrenden Wagen zu zerren gehörte nicht gerade zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. So brauchte Paris nur seine Wahl zu treffen, und schon würde Aeron seine Flügel ausbreiten und den Krieger hinunterfliegen. Einen Blick ins Gesicht des wunderschönen Kriegers mit den blauen Augen, und die Frau seiner Wahl würden stehen bleiben und nach Atem ringen. Manchmal brauchte es nur ein Lächeln, um sie dazu zu bringen, sich auf der Stelle auszuziehen – mitten in der Gasse, wo alle, die dort herumlungerten, zusehen konnten.

„Du wirst keine finden“, meinte Paris. „Ich habe sie mir schon angesehen.“

„Was ist denn mit ... der da?“ Er zeigte auf eine spärlich bekleidete Blondine.

„Nein.“ Kein Zögern. „Zu ... gewollt.“

Jetzt geht das wieder los, dachte er genervt, zeigte aber einfach auf eine andere. „Und die?“ Diese Frau war groß, hatte perfekte Kurven und kurzes rotes Haar. Außerdem war sie konservativ gekleidet.

„Nein. Zu unweiblich.“

„Was soll das denn heißen, zum Teufel?“

„Dass ich sie nicht will. Nächste bitte.“

In der folgenden Stunde zeigte Aeron auf unzählige potenzielle Betthäschen, und Paris lehnte sie aus diversen – lächerlichen – Gründen ab. Zu unverdorben, zu verbraucht, zu braun, zu blass. Die einzige Begründung, die tatsächlich zählte, war: „Die hatte ich schon mal“. Und angesichts der Anzahl Frauen, mit denen Paris schon geschlafen hatte, hörte Aeron diesen Satz recht häufig.

„Irgendwann musst du dir eine aussuchen. Warum ersparst du uns beiden dieses Theater nicht einfach, schließt die Augen und zeigst in die Menge? Wen auch immer du auswählst, sie wird unsere Siegerin sein.“

„Das Spiel habe ich schon mal gespielt. Das Ende vom Lied war ...“ Paris erschauerte. „Egal. Den Gedanken sollte ich am besten erst gar nicht zu Ende denken. Also nein. Einfach nur nein.“

„Was ist mit ...“ Er konnte den Satz nicht beenden, als die Frau, die er ins Auge gefasst hatte, plötzlich im Schatten verschwand. Sie war nicht einfach aus seinem Blickfeld verschwunden, so wie es natürlich war. Normal. Sie hatte sich einfach aufgelöst! Eben noch da, jetzt verschwunden! Und die Schatten zerrten irgendwie an ihr, wie mühsam im Zaum gehalten.

Aeron sprang auf, seine Flügel fuhren sofort aus den Schlitzen auf seinem Rücken und entfalteten sich. „Wir haben ein Problem.“

„Was ist los?“ Auch Paris sprang auf. Obwohl er wegen der Ambrosia leicht taumelte, war er immer noch ein Krieger. Er zog seinen Dolch.

„Die dunkelhaarige Frau. Hast du sie gesehen?“

„Welche?“

Das beantwortete Aerons Frage: Paris hatte sie nicht gesehen. Sonst hätte er nicht nachzufragen brauchen.

„Komm.“ Aeron schlang die Arme um die Taille seines Freundes und sprang von dem Dach. Der Wind stob durch Paris’ mehrfarbige Locken und trieb ihm einige Strähnen ins Gesicht, während sie dem Boden näher kamen ... immer näher ... „Halt nach einer Frau mit schulterlangem schwarzen Haar Ausschau, dünn, ungefähr eins sechzig groß, Anfang zwanzig, schwarze Kleidung. Höchstwahrscheinlich ist sie mehr als ein Mensch.“

„Töten?“

„Einfangen. Ich will ihr ein paar Fragen stellen.“ Zum Beispiel wollte er wissen, wie sie einfach so verschwinden konnte. Er würde sie fragen, warum sie hier war. Und für wen sie arbeitete.

Unsterbliche hatten immer einen Auftrag.

Kurz bevor sie auf dem Beton aufschlugen, tat Aeron einen Flügelschlag. Er verlangsamte das Tempo gerade so, dass es nur eine sanfte Erschütterung gab und er aufrecht landen konnte. Er ließ seinen Passagier frei, und sogleich liefen sie in verschiedene Richtungen los. Nach vielen Tausend Jahren des gemeinsamen Kampfes wussten sie, auch ohne es vorher zu besprechen, wie sie taktisch vorgehen mussten.

Als Aeron die Gasse zu seiner Linken hinunterspurtete, in dieselbe Richtung, in die auch die Frau gegangen war, versteckte er seine Flügel wieder. Er sah mehrere Leute – ein Händchen haltendes Paar, einen obdachlosen Mann, der eine Flasche Whiskey leerte, einen Mann, der mit seinem Hund spazieren ging –, aber keine dunkelhaarige Frau. Dann erreichte er eine Steinmauer und wirbelte herum. Verdammt. War sie wie Lucien? Konnte sie sich allein durch die Kraft ihrer Gedanken an einen anderen Ort bewegen?

Mit finsterem Blick setzte er sich wieder in Bewegung. Falls nötig, würde er jede Gasse in der Gegend absuchen. Nur dass die Schatten um ihn herum in der Mitte dieser Gasse plötzlich dunkler waren, sie zehrten regelrecht von ihm, erstickten den goldenen Glanz der Straßenlampen. Es war, als sickerten Abertausende stumme Schreie aus der Finsternis. Angsterfüllte Schreie. Gequälte Schreie.

Er blieb stehen, damit er nicht in irgendetwas – oder irgendjemanden – hineinlief, und zog zwei Messer. Was, zum Teufel, war ...

Eine Frau – die Frau – trat nur wenige Meter vor ihm aus den Schatten. Sie war das einzige Licht in der tiefen Dunkelheit, die sich so plötzlich gesenkt hatte. Ihre Augen waren genauso schwarz wie die Düsternis um sie herum, ihre Lippen rot und feucht wie Blut. Sie war auf eine barbarische Weise hübsch.

Zorn fauchte in seinem Kopf.

Einen Moment lang fürchtete Aeron, Cronus hätte ihn tatsächlich gehört und ihm eine Frau geschickt, die ihn quälen sollte. Doch als er sie ansah, spürte er weder Hitze in seinen Adern, noch begann sein Herz zu hämmern, so wie es angeblich bei den anderen Herren der Fall gewesen war, als sie ihre Frau gefunden hatten; die Frau, die sie einfach hatten haben müssen. Diese Frau war für Aeron wie jede andere: leicht zu vergessen.

„Sieh an, sieh an. Ich bin ja vielleicht ein Glückspilz. Du bist einer von ihnen, einer der Herren der Unterwelt. Und du bist zu mir gekommen“, sagte sie mit rauchiger Stimme. „Ich brauchte dich nicht einmal darum zu bitten.“

„Ich bin ein Herr, ja.“ Es gab keinen Grund, das zu leugnen. Die Stadtbewohner erkannten ihn und die anderen auf den ersten Blick. Einige hielten sie sogar für Engel. Auch die Jäger erkannten sie auf den ersten Blick, bezeichneten sie allerdings viel zu schnell als Dämonen. So oder so – diese Information konnte wohl kaum gegen ihn verwendet werden. „Und ich bin gekommen, um dich zu suchen.“

Auf seine unumwundene Bestätigung reagierte sie mit einem überraschten Gesichtsausdruck. „Das ist natürlich eine große Ehre. Warum hast du mich denn gesucht?“

„Ich möchte wissen, wer du bist.“ Die bessere Frage wäre wohl gewesen, was sie war.

„Vielleicht bin ich doch nicht so ein Glückspilz, wie ich dachte.“ Sie verzog die vollen roten Lippen zu einem Schmollmund und tat, als müsste sie sich eine Träne von der Wange wischen. „Wenn mich nicht einmal mein eigener Bruder erkennt.“

Okay, immerhin hatte er jetzt schon mal einen Teil der Antwort: Sie war eine Lügnerin. „Ich habe keine Schwester.“

Sie zog eine schwarze Augenbraue hoch. „Bist du dir da ganz sicher?“

„Ja.“ Er hatte weder Mutter noch Vater. Zeus, der König der griechischen Götter, hatte ihn einfach mit Worten zum Leben erweckt. Genauso wie die anderen Herren.

„Sturkopf. Tz.“ Ihr Tz-Laut erinnerte ihn an Paris. „Ich hätte wissen müssen, dass wir uns so ähnlich sind. Egal. Es ist so schön, endlich mal einen von euch allein zu erwischen. Wen habe ich denn erwischt? Raserei? Narzissmus? Ich habe recht, nicht wahr? Gib’s zu, du bist Narzissmusl Deshalb hast du dir auch von Kopf bis Fuß dein eigenes Gesicht eintätowieren lassen. Hübsch. Darf ich dich Narzisschen nennen?“

Raserei? Narzissmus? Keiner seiner Brüder trug diese Dämonen in sich. Zweifel, Krankheit, Elend und noch viele andere, ja, aber diese nicht. Er schüttelte den Kopf. Doch dann fiel ihm ein, dass sich irgendwo da draußen in der Tat noch andere dämonenbesessene Unsterbliche herumtrieben. Unsterbliche, denen er nie begegnet war. Unsterbliche, die er finden sollte.

Da er und seine Freunde diejenigen waren, die die Büchse der Pandora geöffnet hatten, hatten sie immer angenommen, dass nur sie dazu verflucht worden waren, einen bösen Geist in sich zu tragen. Doch vor Kurzem hatte Cronus diese Annahme korrigiert und den Herren zwei Schriftrollen überreicht, auf denen die Namen anderer standen, die ihr Schicksal teilten. Offenbar hatte es mehr Dämonen gegeben als Krieger, und als die Griechen – die Götter, die damals an der Macht gewesen waren – die Büchse nirgendwo finden konnten, hatten sie die verbliebenen Dämonen in die unsterblichen Gefangenen im Tartarus verbannt.

Diese Entdeckung verhieß nicht gerade Gutes für die Herren. Als ehemalige Elitekrieger von Zeus hatten sie viele dieser Gefangenen eingesperrt – und Kriminelle lebten oft nur um der Rache willen. Das hatte Zorn ihn gründlich gelehrt.

„Hallo?“, fragte die Frau drängend. „Jemand zu Hause?“

Er blinzelte sie an und fluchte im Stillen. Er hatte sich in der Gegenwart eines möglichen Feindes ablenken lassen. Idiot. „Wer ich bin, hat dich nicht zu interessieren.“ Das war eine Information, die man gegen ihn verwenden konnte. Vor allem, da Zorn sich in letzter Zeit so leicht provozieren ließ, dass die harmlosesten Aussagen ihn – und somit auch Aeron – in jene mörderische Laune versetzten, die eine große Gefahr für diese Stadt und ihre Bewohner war.

Die Schuld dafür gab er dem Stalker-Engel.

Nur konnte er dem Engel natürlich nicht die Schuld dafür geben, wenn Zorn vor lauter Ungeduld, endlich jemanden verletzen zu dürfen, in seinem Kopf zu knurren anfing und von innen gegen seinen Schädel schlug. Die außergewöhnlichste Fähigkeit des Dämons bestand seit jeher darin, die Sünden eines jeden zu spüren, der in seiner Nähe war. Und wie er feststellen musste, waren die Sünden dieser Frau gewaltig.

„Ich werte deinen finsteren Gesichtsausdruck mal als Nein. Du bist nicht mein Narzisschen, und es ist auch niemand zu Hause.“

„Hör auf ... zu reden ...“ Er fasste sich an die Schläfen, und die Klingen in seiner Hand drückten sich kühl gegen seine Haut, als er versuchte, den bevorstehenden mentalen Beschuss abzuwehren. Es wäre nur eine weitere nutzlose Ablenkung, die er sich nicht leisten konnte. Und dennoch zogen Bilder von ihren unzähligen Sünden durch seinen Kopf, so wie Hunderte Filme, die alle gleichzeitig abliefen. Erst kürzlich hatte sie einen Mann gefoltert, hatte ihn an einen Stuhl gekettet und angezündet. Vorher hatte sie eine Frau ausgeweidet. Sie hatte betrogen und gestohlen. Ein Kind aus seinem Zuhause entführt. Hatte einen Mann in ihr Bett gelockt und ihm die Kehle durchgeschnitten. Gewalt ... so viel Gewalt ... so viel Schrecken und Schmerz und Dunkelheit. Er konnte die Schreie ihrer Opfer hören, konnte verbranntes Fleisch riechen und Blut schmecken.

Vielleicht hatte sie gute Gründe für ihre Verbrechen gehabt. Vielleicht auch nicht. So oder so, Zorn wollte sie bestrafen, indem er sie die eigenen Gräueltaten spüren ließ. Zuerst würde er sie anketten, dann ausweiden, ihr dann die Kehle durchschneiden und sie zuletzt anzünden.

So funktionierte Aerons Dämon. Er schlug Schläger, ermordete Mörder und alles, was dazwischen lag. Auf Zorns Drängen hin hatte Aeron all diese Dinge getan. Und zwar schon häufig. Jetzt spannte er jeden Muskel in seinem Körper an, um an Ort und Stelle zu bleiben. Ruhig. Verlier nicht die Kontrolle. Und auch nicht den Verstand. Aber Götter – der Drang zu bestrafen war so stark ... ein Verlangen, das er mehr genoss, als gut für ihn war. Wie immer.

„Warum bist du hier in Budapest, Frau?“ Gut. Das war gut. Langsam ließ er die Arme sinken.

„Wow“, erwiderte sie, ohne auf seine Frage einzugehen. „Das war ja mal eine beeindruckende Darstellung von Selbstbeherrschung.“

Hatte sie gewusst, dass sein Dämon sie verletzen wollte?

„Lass mich raten.“ Sie tippte sich mit dem Fingernagel gegen das Kinn. „Narzissmus bist du nicht, also musst du ... Chauvinismus sein. Wieder richtig, stimmt’s? Du denkst, ein hübsches kleines Ding wie ich kann nicht mit der Wahrheit umgehen. Falsch. Aber egal. Behalt deine Geheimnisse ruhig für dich! Du wirst noch früh genug sehen, was du davon hast.“

„Drohst du mir etwa, Frau?“

Wieder ignorierte sie ihn. „Man erzählt sich, dass Cronus euch Schriftrollen gegeben hat und dass ihr vorhabt, uns mit ihrer Hilfe zu finden. Um uns zu benutzen. Vielleicht sogar, um uns zu töten.“

Aeron drehte sich der Magen um. Erstens wusste sie von den Schriftrollen, während er und seine Freunde eben erst von ihrer Existenz erfahren hatten. Zweitens wusste sie, dass sie auf dieser Liste stand. Was bedeutete, dass diese Frau tatsächlich eine Unsterbliche war – und eine Kriminelle. Und wenn man ihr glauben konnte, war sie auch von einem Dämon besessen.

Aeron kannte sie nicht, was hieß, dass er und seine Freunde sie nicht eingesperrt hatten. Also stammte sie von vor ihrer Zeit im Himmel. Und das wiederum hieß, dass sie eine Titanin war und somit eine noch größere Bedrohung darstellte, denn die Titanen waren weitaus grausamer als alle anderen.

Schlimmer noch: Die jetzt freien Titanen trugen momentan die Verantwortung. Womöglich hatte sie also göttliche Hilfe.

„Welchen Dämon trägst du in dir?“, wollte er wissen.

Sie schenkte ihm ein böses Grinsen. Augenscheinlich amüsierte sein schroffer Ton sie. „Du hast mir diese Information verweigert. Warum also sollte ich irgendetwas von mir verraten?“

Nervtötendes Weib. „Du hast uns gesagt.“ Er schaute über ihre Schulter und rechnete schon fast damit, dass jemand einen Satz nach vorn machte und ihn angriff. Alles, was er sah, war Dunkelheit – und alles, was er hörte, waren noch mehr dieser stummen Schreie. „Wo sind diese anderen?“

„Hölle, wenn ich das nur wüsste!“ Sie breitete die Arme aus und zeigte ihm ihre leeren Hände, als wäre sie davon überzeugt, dass er keine Waffe einsetzen würde. „Ich bin allein, so wie immer, und genauso mag ich es.“

Vermutlich noch eine Lüge. Welche Frau würde sich schon ohne Rückendeckung einem furchterregenden Herrn der Unterwelt nähern? Er blieb wachsam, als er ihr in die Augen sah. „Falls du hier bist, um einen Krieg gegen uns anzuzetteln, solltest du wissen, dass ...“

„Krieg?“ Sie lachte. „Wenn ich euch genauso gut umbringen könnte, während ihr schlaft? Nein, ich bin nur hier, um euch eine Warnung zu überbringen. Pfeift eure Hunde zurück, oder ich fege euch von dieser Welt! Denn wenn irgendjemand dazu in der Lage ist, dann ich.“

Nach allem, was er in Gedanken gesehen hatte, glaubte er ihr aufs Wort. Sie war ein Phantom, das ohne Vorwarnung in der Dunkelheit angriff. Ohne Zweifel gab es kein Verbrechen, das ihr zu widerwärtig war. Was jedoch nicht bedeutete, dass er ihre Forderungen erfüllen würde. „Du hältst dich vielleicht für mächtig, aber du kannst uns nicht alle besiegen. Deshalb werden wir dir mit einem Krieg antworten, wenn du weiterhin solche Warnungen aussprichst.“

„Wie du meinst, Krieger. Ich habe gesagt, was ich sagen wollte. Bete lieber, dass du mich heute zum letzten Mal gesehen hast.“ Wieder verdichteten sich die Schatten, umschlossen und verschluckten sie, ohne die kleinste Spur zu hinterlassen.

Dann hörte Aeron plötzlich ihre Stimme direkt an seinem Ohr: „Ach ja, eine Sache noch: Das war mein Höflichkeitsbesuch. Beim nächsten Mal werde ich nicht so nett sein.“

Im nächsten Moment nahm er schlagartig wieder die Umgebung wahr: die Häuser links und rechts, die Mülltüten, die den Betonboden übersäten, den betrunkenen Mann, der jetzt bewusstlos war. Endlich beruhigte Zorn sich.

Aeron blieb in Alarmbereitschaft. Mit Blicken suchte er die Umgebung ab, sein Körper war bereit zum Angriff. Aeron lauschte, hörte jedoch nur seine eigenen Atemzüge, die entfernten Schritte von Menschen und das Lied der Nachtvögel.

Wieder einmal breitete er seine Flügel aus und schoss gen Himmel. Er wollte nur noch Paris finden und dann so schnell wie möglich mit ihm in die Burg zurückfliegen. Er musste die anderen Herren benachrichtigen. Wer auch immer diese blutdurstige Frau war und was auch immer sie sonst noch tun konnte, sie mussten sich um sie kümmern. Und zwar schnell.

2. KAPITEL

Aeron! Aeron!“

Aerons gestiefelte Füße landeten gerade auf dem Balkon, der in sein Schlafzimmer führte. Erschrocken von der unbekannten Frauenstimme, ließ er Paris los.

„Aeron!“

Als sich der verzweifelte Schrei zum dritten Mal in ihre Ohren bohrte, wirbelten er und Paris herum und starrten auf den unter ihnen liegenden Hügel. Üppige Bäume ragten in den Himmel und behinderten die Sicht, doch dort, inmitten des scheckigen Grüns und Brauns, erahnte Aeron eine in Weiß gehüllte Gestalt.

Eine Gestalt, die sich eilig ihrer Burg näherte.

„Das Schattenmädchen?“, fragte Paris. „Wie, zum Teufel, ist es so schnell an unserem Tor vorbeigekommen? Und das auch noch zu Fuß?“

Aeron hatte ihm auf dem Weg erzählt, was mit der Frau in der Gasse geschehen war. „Das ist sie nicht.“ Diese Stimme war höher, voller und weit weniger selbstsicher. „Das mit dem Tor ... Keine Ahnung.“

Vor Wochen, nachdem er und Paris sich von den Verletzungen erholt hatten, die ihnen von den Jägern zugefügt worden waren, hatten sie rings um die Burg einen Eisenzaun errichtet. Das Gebilde war viereinhalb Meter hoch, mit Stacheldraht umwickelt und hatte Spitzen, die so scharf waren, dass sie schon bei der leisesten Berührung bis auf den Knochen schnitten. Außerdem floss genug Strom durch seine Streben, dass ein Mensch bei Kontakt sofort einen Herzstillstand erlitt. Niemand, der versuchte, darüberzusteigen, würde lange genug leben, um die andere Seite zu erreichen.

„Glaubst du, sie ist ein Köder?“ Paris neigte den Kopf und sah die Gestalt intensiver an. „Vielleicht ist sie aus einem Hubschrauber hier abgesetzt worden.“

Die Jäger waren bekannt dafür, hübsche Menschenfrauen zu benutzen, um die Herren anzulocken, abzulenken und sie dann gefangen zu nehmen und zu foltern. Diese schien ihren Kriterien genau zu entsprechen. Sie hatte langes schokoladenbraunes, wallendes Haar, wolkenblasse Haut und einen wohlgeformten, himmlischen Körper. Aeron konnte ihre Gesichtszüge zwar noch nicht erkennen, doch er war sicher, dass sie wunderschön war.

Seine Flügel sprangen aus ihren Schlitzen, als er antwortete: „Möglich.“ Diese verfluchten Jäger und ihr perfektes Timing. Die Hälfte seiner Freunde war nicht zu Hause. Sie waren nach Rom gereist, um dort nach dem Tempel der Unaussprechlichen zu suchen – Ruinen, die sich erst vor Kurzem aus dem Meer erhoben hatten. Sie hofften, irgendetwas zu finden, das sie zu den fehlenden göttlichen Artefakten führte. Vier Artefakte, die – denjenigen, die sie alle hatten – den Weg zur Büchse der Pandora weisen würden.

Die Jäger hofften, die Dämonen wieder in die Büchse sperren und damit die Herren vernichten zu können, da diese ohne ihre Dämonen sterben würden. Die Herren hingegen wollten die Büchse einfach nur zerstören.

„Da draußen wimmelt es nur so von Stolperdrähten.“ Je mehr Paris sagte, desto deutlicher fiel Aeron das Zittern in seiner Stimme auf. Wegen des Schattenmädchens, wie Paris sie getauft hatte, war nicht mehr genügend Zeit für Sex gewesen, und seine Kräfte verließen ihn allmählich. „Wenn sie nicht aufpasst ... Selbst wenn sie ein Köder ist, verdient sie es nicht, so zu sterben.“

„Aeron!“

Paris umklammerte das Balkongeländer und beugte sich vor, um besser sehen zu können. „Warum ruft sie dich?“

Und warum benutzte sie seinen Namen derart vertraut? „Wenn sie ein Köder ist, liegen die Jäger da draußen vermutlich auf der Lauer und warten auf mich. Ich versuche, ihr zu helfen, und sie greifen mich an.“

Paris richtete sich auf, und plötzlich tauchte der Mond sein Gesicht in ein helles Licht. Unter seinen Augen hatten sich dunkle Ringe gebildet. „Ich hole die anderen, und dann kümmern wir uns um sie. Um sie alle.“ Ehe Aeron irgendetwas erwidern konnte, eilte sein Freund auch schon durchs Schlafzimmer in Richtung Flur, wobei seine Schritte durch die schweren Stiefel auf dem Holzfußboden laut polterten.

Aeron konzentrierte sich wieder auf das Mädchen. Während es den Hügel weiter hinauflief und immer näher kam, erkannte er, dass das weiße Stück Stoff, das das Mädchen einhüllte, eine Robe war. Die Rückseite, die er bislang nicht hatte sehen können, war tiefrot.

Sie trug keine Schuhe, und als sie mit dem nackten Fuß gegen einen Felsen stieß, stürzte sie zu Boden, und das dichte schokoladenbraune Haar fiel ihr ins Gesicht. In ihre Locken waren Blüten gewoben, die zerrupft aussahen. Er konnte auch Zweige erkennen, wenn er auch nicht davon ausging, dass sie sie absichtlich dort platziert hatte. Zittrig strich sie sich die Strähnen aus dem Gesicht.

Endlich sah er ihre Gesichtszüge, und jeder Muskel in seinem Körper verkrampfte. Sie war wunderschön, genau wie er vermutet hatte. Und das, obwohl sie schmutzig und ihr Gesicht vom Weinen geschwollen war. Sie hatte große himmelblaue Augen, eine perfekte gerade Nase, vollkommene Wangen und einen zierlichen Kiefer – beide nur sanft gerundet – und perfekte Lippen, die einen herzförmigen Mund bildeten.

Er hatte sie noch nie gesehen, daran hätte er sich erinnert, doch auf einmal hatte sie etwas beinahe ... Vertrautes.

Sie rappelte sich auf, verzog unter Stöhnen das Gesicht und setzte sich wieder in Bewegung. Dann stürzte sie erneut. Ein schmerzvolles Schluchzen entfuhr ihr, aber trotzdem gab sie nicht auf, sondern stand wieder auf und schleppte sich weiter auf die Burg zu. Köder oder nicht – eine derartige Entschlossenheit war bewundernswert.

Irgendwie gelang es ihr, sämtlichen Fallen auszuweichen, als wüsste sie genau, wo sie lagen. Aber als sie gegen den nächsten Felsen stieß und zum dritten Mal hinfiel, blieb sie zitternd und weinend liegen.

Seine Augen wurden größer, als er sich ihren Rücken genauer ansah. Das Rote ... War das ... Blut? Frisches, noch feuchtes Blut? Der metallische Geruch stieg in den Wind auf, erreichte Aerons Nase und bestätigte seinen Verdacht. Tatsächlich Blut.

Ihres? Oder das eines anderen?

„Aeron.“ Es war kein Schreien mehr, sondern ein herzergreifendes Wimmern. „Hilf mir!“

Seine Flügel breiteten sich aus, noch ehe er nachdenken konnte. Ja, die Jäger würden ihre Köder absichtlich verletzen, ehe sie sie in die Höhle des Löwen schickten, in der Hoffnung, bei ihrem Zielobjekt Mitleid zu erregen. Und ja, vermutlich würde er mit Pfeilen und Kugeln im Rücken enden – mal wieder –, aber er würde sie nicht verletzt und dem Tode nah da draußen liegen lassen. Er würde nicht zulassen, dass seine Freunde ihr Leben riskierten, um seine kleine Besucherin zu retten – oder zu vernichten.

Warum ich, fragte er sich, als er sich vom Balkon abstieß. Steil flog er nach oben, bevor er sich in ihre Richtung fallen ließ. Er bewegte sich im Zickzack, um kein allzu leichtes Ziel abzugeben, doch es zischten weder Pfeile vorbei, noch knallten Schüsse. Dennoch landete er nicht neben ihr, sondern erhöhte seine Geschwindigkeit, streckte die Arme aus und packte sie, ohne auch nur eine Sekunde lang langsamer zu werden.

Vielleicht hatte sie Höhenangst, und das war der Grund, warum sie sich urplötzlich verkrampfte. Oder vielleicht hatte sie erwartet, dass er getötet wurde, ehe er sie erreichen konnte, und war, als er sie nun tatsächlich fest in den Armen hielt, starr vor Schreck. Wie dem auch war, es kümmerte ihn nicht. Er hatte erledigt, wofür er aufgebrochen war. Er hatte sie.

Sie begann sich schwach zu winden, um sich aus seinem festen Griff zu befreien, und stöhnte dabei vor Angst und Schmerzen. „Fass mich nicht an! Lass mich los! Lass mich gehen, oder ich verspreche dir, dass ich ...“

„Sei ruhig, sonst lasse ich dich wirklich fallen, das schwöre ich bei den Göttern.“ Einen Arm hatte er um ihren Bauch geschlungen, sodass ihr Gesicht dem Boden zugewandt war. Sie konnte genau sehen, wie tief sie fallen würde.

„Aeron?“ Sie verrenkte sich den Hals, um ihn ansehen zu können, und in dem Moment, als sich ihre Blicke trafen, entspannte sie sich. Lächelte sogar langsam. „Aeron“, wiederholte sie und seufzte glücklich. „Ich hatte schon Angst, du würdest nicht kommen.“

Diese Freude, die so rein und frei von jeglicher Boshaftigkeit war, überraschte – und verwirrte – ihn. Frauen sahen ihn nie so an. „Du hast dich vor den falschen Dingen gefürchtet. Du hättest Angst haben sollen, dass ich komme.“

Ihr Lächeln verblasste.

Schon besser. Das Einzige, das ihn nun noch verstörte, war die absolute Funkstille seines Dämons. Wie zuvor beim Schattenmädchen hätten jetzt eigentlich Bilder und die Gier nach Rache auf ihn einprasseln müssen. Denk später darüber nach.

Aeron setzte seinen Zickzackflug fort und flog direkt in sein Schlafzimmer, ohne – wie gewöhnlich – auf dem Balkon anzuhalten. Er musste so schnell wie möglich in Deckung gehen. Nur für alle Fälle. Nur leider gelang es ihm nicht, seine Flügel schnell genug einzuziehen, sodass sie gegen den Türrahmen knallten und bis in die Spitzen wie Feuer brannten.

Aeron ignorierte den Schmerz und konzentrierte sich darauf, die Füße sicher aufzusetzen. Nachdem er sich aufgerichtet hatte, schritt er zum Bett und legte seine Fracht sanft mit dem Gesicht nach unten auf der Matratze ab. Mit dem Finger fuhr er an ihrer Wirbelsäule entlang. Sofort öffnete sie den herzförmigen Mund und stöhnte gequält auf. Er hatte gehofft, ihre Kleidung wäre mit dem Blut eines anderen getränkt, aber nein. Ihre Verletzungen waren echt.

Doch dieses Wissen würde ihn nicht erweichen. Wahrscheinlich hatte sie sich selbst verletzt – oder den Jägern erlaubt, es zu tun –, nur um Mitleid zu wecken. Kein Mitleid von mir. Nur Wut. Als er auf seinen Kleiderschrank zuging, zog er seine Flügel ein, doch mitgenommen, wie sie nun waren, passten sie nicht mehr richtig unter ihre Klappen. Das verstärkte seine Wut auf sie nur noch.

Da er kein Seil hatte und nicht den Raum verlassen wollte, um eins zu holen, schnappte er sich zwei der Krawatten, die Ashlyn ihm gegeben hatte – für den Fall, dass er sich mal „aufbrezeln“ wollte. Dann ging er zum Bett zurück.

Die Frau drückte die Wange auf die Matratze, während ihr Blick jeder seiner Bewegungen folgte, als könnte sie nicht anders, als ihn anzustarren – aber sie wirkte nicht angewidert, im Gegensatz zu den meisten Frauen. Sie sah ihn beinahe sehnsüchtig an.

Das war sicher nur gespielt.

Aber ... diese Sehnsucht ... kam ihm irgendwie vertraut vor. Irgendwie beunruhigend. Das ist es, was mir vorhin aufgefallen ist, dachte er. Als sie seinen Namen gerufen hatte, hatte dieselbe Sehnsucht in ihrer Stimme gelegen, und tief in sich hatte er gewusst, dass er diesem Gefühl schon einmal begegnet war. Aber wann? Und wo?

Bei ihr?

Er starrte weiterhin auf sie hinab, und Zorn ... schwieg immer noch, wie er feststellte. Das hier war (vermutlich) das erste Mal, dass er sich in Gegenwart dieser Frau befand, und trotzdem überflutete der Dämon sein Bewusstsein nicht mit Bildern ihrer Sünden. Das war seltsam. Und es war ihm erst ein einziges Mal passiert. Bei Legion. Warum, das hatte er nie herausgefunden. Denn, bei den Göttern, sein Baby hatte gesündigt, und das nicht gerade selten.

Warum also geschah es jetzt wieder? Und dazu noch mit einem möglichen Köder?

Diese Frau, hatte sie noch keine einzige Sünde begangen? Hatte sie noch nie ein unfreundliches Wort zu einem anderen gesagt? Noch niemandem einen Streich gespielt oder so etwas Harmloses getan wie ein Bonbon geklaut? Diese himmelblauen Augen waren die reine Unschuld. Oder hatte sie, wie Legion, sehr wohl gesündigt und flog bloß unterhalb von Zorns Radar?

„Wer bist du?“ Er schlang die Finger um eines ihrer zierlichen Handgelenke – mmh, warme, weiche Haut – und fesselte es mit der Krawatte an einen Bettpfosten. Anschließend band er ihre andere Hand ebenfalls fest.

„Mein Name ist Olivia.“

Olivia. Ein hübscher Name. Passend. Filigran. Im Grunde war das einzig Nichtfiligrane an ihr ihre Stimme. Sie troff geradezu vor ... ja, vor was eigentlich? Das einzige Wort, mit dem er es beschreiben konnte, war „Wahrheit“, und sie strahlte so viel davon aus, dass es für ihn wie ein Stoß vor die Brust war.

Er hätte gewettet, dass diese Stimme noch nie die Unwahrheit gesagt hatte. Aber das war doch unmöglich.

„Was machst du hier, Olivia?“

„Ich bin ... Ich bin deinetwegen hier.“

Diese Wahrheit ... strömte mit einer Energie in seine Ohren und durch seinen Körper, dass es ihn schier umwarf. Es blieb kein Raum für Zweifel. Für keinen einzigen. Er musste ihr einfach glauben.

Sabin, der Hüter des Dämons Zweifel, hätte sie geliebt. Nichts machte den Dämon des Kriegers glücklicher, als das Selbstvertrauen eines anderen zu zerstören.

„Bist du ein Köder?“

„Nein.“

Wieder glaubte er ihr; er hatte keine Wahl. „Bist du hier? Um mich zu töten?“ Er richtete sich auf und verschränkte die Arme vor der Brust, während er sie unumwunden ansah und wartete.

Er wusste, wie wild er aussah, doch auch in diesem Moment reagierte sie nicht so, wie er es von Frauen gewohnt war: zittern, sich zusammenkauern, weinen. Sie sah ihn unter dem flatternden Schleier ihrer dunklen Wimpern hervor an und war offensichtlich verletzt, weil er ihren Charakter infrage stellte.

„Nein, natürlich nicht.“ Sie machte eine kleine Pause. „Na ja, nicht mehr jedenfalls.“

Nicht mehr? „Ach so. Es gab also mal eine Zeit, da wolltest du mich umbringen?“

„Ich bin geschickt worden, um das zu tun, ja.“

Diese Aufrichtigkeit ... „Wer?“

„Zuerst hat mich die eine wahre Gottheit geschickt, weil er wollte, dass ich dich beobachte. Es war nicht meine Absicht, deine kleine Freundin zu verscheuchen. Ich habe nur versucht, meinen Job zu machen.“ Frische Tränen stiegen ihr in die Augen und verwandelten diese wunderschönen blauen Iris in Seen der Reue.

Nicht weich werden. „Wer ist die eine wahre Gottheit?“

Die reine Liebe erhellte ihre Miene und verjagte augenblicklich den Schimmer des Schmerzes. „Deine und meine Gottheit. Weit mächtiger als deine Götter, aber meist zufrieden damit, im Hintergrund zu bleiben, und ach so selten anerkannt. Vater der Menschen. Vater der ... Engel. Wie mir.“

Engel. Wie mir. Als die Worte in seinem Kopf widerhallten, weitete Aeron die Augen. Kein Wunder, dass sein Dämon nichts Böses in ihr spüren konnte. Kein Wunder, dass ihm ihr Blick vertraut vorkam. Sie war ein Engel. Der Engel. Der Engel, der – ihren Angaben zufolge – geschickt worden war, um ihn zu töten. Auch wenn sie „nicht mehr“ vorhatte, seinem Leben ein Ende zu setzen. Warum eigentlich nicht?

Und spielte es überhaupt eine Rolle? Dieses zauberhafte Geschöpf war eine ganze Zeit lang der Henker gewesen, der ihn hatte richten sollen.

Auf einmal verspürte er den Drang zu lachen. Als hätte sie ihn bezwingen können!

Du konntest sie nicht sehen. Hättest du sie wirklich aufhalten können, wenn sie auf dich losgegangen wäre?

Der Gedanke ernüchterte ihn sofort. Sie war diejenige gewesen, die ihn all die Wochen beobachtet hatte. Sie war diejenige gewesen, die ihm ungesehen gefolgt war und eine gepeinigte Legion vertrieben hatte.

Was unweigerlich zu der Frage führte, warum Zorn nicht genauso reagierte wie Legion. Mit Angst und sogar mit körperlichen Qualen. Vielleicht kontrolliert der Engel, welche Dämonen ihn spüren, dachte er. Das wäre auf jeden Fall eine praktische Fähigkeit, mit der sie dafür sorgen könnte, dass ihre Opfer absolut keine Ahnung hatten, dass sie anwesend war, noch, was sie vorhatte.

Er wartete darauf, dass eine überirdische Wut von ihm Besitz ergriff. Eine Wut, die er sich immer wieder geschworen hatte, an dieser Kreatur auszulassen, sollte sie sich jemals offenbaren. Als die Wut ausblieb, wartete er auf Entschlossenheit. Um jeden Preis musste er seine Freunde beschützen.

Doch auch die Entschlossenheit blieb völlig aus. Was er stattdessen spürte? Verwirrung.

„Du bist ...“

„Der Engel, der dich beobachtet hat, ja“, bestätigte sie seinen Verdacht. „Oder besser: Ich war ein Engel.“ Sie schloss die Augen, und in ihren Wimpern verfingen sich Tränen. Ihr Kinn zitterte. „Jetzt bin ich nichts.“

Obwohl er ihr glaubte – wie hätte er ihr nicht glauben können? Diese Stimme ... Aeron bemühte sich ernsthaft, ihre Worte anzuzweifeln, doch er schaffte es nicht. Ihm zitterte die Hand, als er sie nach dem Engel ausstreckte. Was bist du? Ein Kind? Benimm dich gefälligst wie ein Mann!

Bei diesem offensichtlichen Zeichen seiner Schwäche verfinsterte sich sein Blick, und er zwang sich, seine Hand ruhig zu halten. Er strich ihr das Haar zurück, wobei er sorgfältig darauf achtete, ihre Verletzungen nicht zu berühren. Er griff nach dem runden Halsausschnitt ihrer Robe und zog vorsichtig daran. Ohne großen Widerstand riss der weiche Stoff auf, sodass ihr Rücken entblößt war.

Von Neuem wurden seine Augen größer. Zwischen ihren Schulterblättern, dort, wo eigentlich die Flügel hätten hervorragen sollen, prangten zwei lange, tiefe Wunden, in denen zerrissene Sehnen und Muskeln zu sehen waren. An einigen Stellen schimmerten sogar die Knochen durch. Diese Wunden sahen grausam und unbarmherzig aus, und noch immer sickerte Blut aus ihnen heraus. Ihm waren selbst einmal gewaltsam die Flügel entfernt worden, und das war die schmerzhafteste Verletzung seines langen Lebens gewesen.

„Was ist passiert?“ Dass er so heiser war, irritierte ihn.

„Ich bin gefallen“, erwiderte sie mit kehliger Stimme, die vor Scham troff. Sie barg das Gesicht im Kissen. „Ich bin kein Engel mehr.“

„Aber warum?“ Da er noch nie einem Engel begegnet war – abgesehen von Lysander, aber der Bastard zählte nicht, weil er sich weigerte, mit den Herren über relevante Themen zu sprechen –, wusste Aeron nicht viel über ihre Spezies. Er wusste nur so viel, wie Legion ihm erzählt hatte, und die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Hass auf diese Wesen ihre Berichte verzerrte, war ziemlich hoch. Keine ihrer Darstellungen passte zu der Frau auf seinem Bett.

Engel, hatte Legion gesagt, seien gefühllose, seelenlose Kreaturen mit nur einem Ziel: ihre dunklen Pendants, die Dämonen, zu vernichten. Sie hatte außerdem behauptet, dass dann und wann ein Engel der Fleischeslust erläge – fasziniert von genau den Wesen, die er – oder sie – eigentlich hassen sollte. Dieser Engel würde umgehend in der Hölle landen, wo die Dämonen, die er einst besiegt hatte, endlich ein wenig Rache üben könnten.

War das dieser Engelsfrau passiert, fragte Aeron sich. Ein Trip in die Hölle, wo die Dämonen sie gefoltert hatten? Möglich.

Sollte er sie losbinden? Ihre Augen wirkten so ... arglos und unschuldig. Als sagten sie: Hilf mir. Und: Rette mich.

Aber vor allem sagte ihr Blick: Halt mich fest, und lass mich nie mehr los!

Auf so eine Unschuldsnummer bin ich schon einmal hereingefallen, dachte er und hielt sich gerade noch rechtzeitig zurück. Auch Baden war von einer Frau in die Falle gelockt worden – und gestorben.

Ein kluger Mann bringt zunächst mehr über eine Frau in Erfahrung, beschloss er.

„Wer hat dir die Flügel genommen?“ Die Frage entfuhr ihm wie ein grantiges Bellen, und er nickte zufrieden.

Sie schluckte, erschauderte. „Als ich hinabgeworfen wurde ...“

„Aeron, du Vollidiot“, ertönte eine Männerstimme, die sie zum Schweigen brachte. „Sag mir, dass du nicht ...“ Paris stob in sein Schlafzimmer, blieb jedoch abrupt stehen, als er Olivia sah. Er kniff die Augen zusammen und fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. „Aha. Dann stimmt es also. Du bist wirklich rausgeflogen und hast sie geholt.“

Olivia rührte sich nicht und hielt ihr Gesicht weiterhin abgewandt. Ihre Schultern zuckten, als ob sie weinte. Hatte sie schließlich doch Angst? Jetzt?

Warum? Frauen verehrten Paris.

Konzentrier dich. Aeron brauchte nicht zu fragen, woher Paris wusste, was er getan hatte. Torin, Hüter der Krankheit, überwachte die Burg samt dem Hügel, auf dem sie thronte, achtundzwanzig Stunden am Tag, neun Tage die Woche (so wirkte es zumindest). „Ich dachte, du wolltest die anderen holen.“

„Torin hat mir eine Nachricht aufs Handy geschickt, und ich bin zuerst zu ihm gegangen.“

„Und was hat er dir über sie erzählt?“

„Flur“, sagte sein Freund und wies mit einer knappen Kopfbewegung in Richtung Tür.

Aeron schüttelte den Kopf. „Wir können hier über sie reden. Sie ist kein Köder.“

Erneut fuhr Paris sich mit der Zunge über die ebenmäßigen weißen Zähne. „Und ich dachte immer, ich wäre dämlich, wenn es um Frauen geht. Woher weißt du, was sie ist? Weil sie es dir gesagt hat und du ihr einfach glauben musstest?“ Sein Ton war spöttisch.

„Sie ist ein Engel, du Tyrann! Der Engel, der mich beobachtet hat.“

Diese Worte wischten den Hohn von Paris’ Gesicht. „Ein richtiger Engel? Aus dem Himmel?“

„Ja.“

„Wie Lysander?“

„Ja.“

Ganz langsam musterte Paris sie von Kopf bis Fuß. Als Frauenkenner, der er war – zumindest früher einmal –, wusste er vermutlich alles über ihren Körper, als er fertig war. Die Größe ihrer Brüste, die Rundung ihrer Hüfte, die genaue Länge ihrer Beine. Das störte Aeron überhaupt nicht. Sie bedeutete ihm nichts. Nichts als Ärger.

„Was auch immer sie ist“, sagte Paris und klang weit weniger verärgert als zuvor, „es heißt nicht, dass sie nicht mit unserem Feind unter einer Decke steckt. Muss ich dich wirklich daran erinnern, dass Galen, der größte Schwachkopf aller Zeiten, auch behauptet, ein Engel zu sein?“

„Stimmt, aber er lügt.“

„Und sie könnte das nicht?“

Aeron rieb sich über sein plötzlich müdes Gesicht. „Olivia. Arbeitest du mit Galen zusammen, um uns zu schaden?“

„Nein“, murmelte sie, und Paris stolperte genauso zurück wie Aeron vor wenigen Augenblicken. Er griff sich an die Brust. „Bei den Göttern“, stammelte er. „Diese Stimme ...“

„Ich weiß.“

„Sie ist weder ein Köder, noch hilft sie Galen.“ Eine unumstößliche Feststellung, die nun von Paris kam.

„Ich weiß“, wiederholte Aeron.

Paris schüttelte den Kopf, wie um seine Gedanken zu sortieren. „Trotzdem. Lucien will den Hügel nach Jägern absuchen. Nur zur Sicherheit.“

Einer der vielen Gründe, aus denen Aeron Lucien immer gefolgt war. Der Krieger war klug und umsichtig. „Wenn er fertig ist, ruf bitte alle, die noch hier sind, zu einem Treffen zusammen, und berichte ihnen von der anderen Frau. Die aus der Gasse.“

Paris nickte, und auf einmal trat ein Glänzen in seine blauen Augen. „War bis jetzt ja ein ziemlich aufregender Abend für dich, hm? Bin schon gespannt, wen du heute noch so alles triffst.“

„Mögen die Götter mir helfen, wenn noch jemand auf mich wartet“, murmelte er.

„Du hättest Cronus nicht herausfordern sollen, mein Freund.“

Aerons Magen zog sich zusammen, als sein Blick zurück zu dem Engel wanderte. Hatte der Götterkönig seine Herausforderung tatsächlich angenommen? War Olivia diejenige, der er vergebens nachjagen sollte? Wie er feststellen musste, raste sein Herz in der Tat, und sein Blut erhitzte sich.

Er biss die Zähne zusammen. Es spielte keine Rolle, ob sie es war oder nicht. Sollte sie sich doch bemühen, ihn in Versuchung zu führen, aber selbst sie mit ihrer schokoladenbraunen Mähne, ihren babyblauen Augen und ihrem herzförmigen Mund würde es nicht schaffen.

„Ich bereue nicht, was ich gesagt habe.“ Wahrheit oder Lüge, er wusste es nicht. Eigentlich hatte er immer geglaubt, Cronus könnte keine Macht über die Engel ausüben. Wie also hätte der Götterkönig sie herschicken sollen? Oder war er dafür gar nicht verantwortlich? Vielleicht lag Aeron mit seinem Verdacht ja falsch, und Cronus hatte nichts mit der Sache zu tun.

Aber auch das spielte keine Rolle. Die Engelsfrau würde nicht nur bei dem Versuch scheitern, ihn zu verführen. Er würde auch dafür sorgen, dass sie ging, bevor sie Zeit hätte, seine Entschlossenheit auch nur für einen einzigen Moment ins Wanken zu bringen.

„Nur zu deiner Information“, begann Paris, „Torin hat diese Frau über seine versteckten Kameras auf dem Hügel gesehen. Er meinte, sie habe sich aus dem Boden gewühlt.“

Aus dem Boden. Hieß das, sie war tatsächlich in die Hölle gestoßen worden und hatte sich den Weg in die Freiheit eigenhändig graben müssen? Er konnte sich nicht vorstellen, dass diese zerbrechlich aussehende Frau so etwas tat – und es auch noch überlebte. Doch dann rief er sich ins Gedächtnis, welche Entschlossenheit sie an den Tag gelegt hatte, als sie auf die Burg zugelaufen war.

„Ist das wahr?“ Er betrachtete sie mit neuen Augen. Gewiss, unter ihren Fingernägeln war Dreck, und auch ihre Arme waren schmutzig. Doch ihre Robe war, abgesehen von dem Blut, vollkommen sauber.

Während er sie ansah, geschah etwas Außergewöhnliches. Dort, wo er die Robe zerrissen hatte, wob sich der Stoff ganz von alleine wieder zusammen. Genau wie seine Haut, wenn sie verletzt war. Ein Stück Stoff mit Selbstheilungskräften. Hörten die Wunder denn niemals auf?

„Olivia. Antworte jetzt!“

Sie nickte, ohne aufzublicken. Er hörte ein Schniefen. Sie schluchzte.

Ein heftiger Schmerz erfüllte seine Brust, doch er ignorierte ihn. Es spielt keine Rolle, wer sie ist oder was sie ertragen musste. Du wirst nicht weich werden, verdammt noch mal! Sie verängstigt und verletzt Legion und muss gehen.

„Ein echter, lebendiger Engel“, sagte Paris offensichtlich eingeschüchtert. „Ich nehme sie mit in mein Zimmer, wenn es dir recht ist, und ...“

„Ihre Verletzungen sind zu schwer für Matratzensport“, unterbrach Aeron ihn bissig.

Paris warf ihm einen kurzen, seltsamen Blick zu, dann grinste er und schüttelte den Kopf. „Ich hatte nicht vor, mit ihr ins Bett zu steigen, also spar dir deine Eifersucht.“

Die Bemerkung war so lächerlich, dass sie keinerlei Beachtung verdiente. Er hatte noch nie Eifersucht verspürt und würde mit Sicherheit nicht ausgerechnet jetzt damit anfangen. „Und warum hast du dann angeboten, sie mit in dein Zimmer zu nehmen?“

„Damit ich ihre Wunden versorgen kann. Und, wer von uns ist jetzt der Tyrann?“

„Ich kümmere mich um sie.“ Vielleicht. Vertrugen Engel die Medizin der Menschen überhaupt? Oder schadete sie ihnen? Er wusste nur zu gut, welche Gefahren es barg, einer Spezies ein Mittelchen zu verabreichen, das für eine andere entwickelt worden war. Ashlyn wäre fast gestorben, als sie Wein getrunken hatte, der für Unsterbliche bestimmt war.

Er hätte gern Lysander geholt, doch der Elite-Kriegerengel lebte momentan mit Bianka im Himmel, und falls es eine Möglichkeit gab, ihn zu erreichen, hatte niemand Aeron verraten, wie diese aussah. Außerdem mochte Lysander ihn nicht, und er war auch nicht der Typ, der bereitwillig Informationen über seine Art preisgab.

„Du willst der Verantwortliche sein, na schön. Aber gib es wenigstens zu.“ Paris schenkte ihm noch ein Grinsen. „Du erhebst offiziell Anspruch auf sie.“

„Nein. Tue ich nicht.“ Danach verspürte er nicht das geringste Verlangen. Es war nur so, dass sie verletzt war, nicht alleine zurechtkam und deshalb nicht in der Lage war, jemandes Betthäschen zu sein. Und Paris wollte sie für nichts anderes als für Sex. Ganz gleich, was er behauptete.

Außerdem hatte sie ihn gerufen. Sie hatte seinen Namen geschrien.

Unbeirrt fuhr Paris fort: „Technisch gesehen ist ein Engel kein Mensch. Ein Engel ist mehr.“

Aeron knackte mit dem Kiefergelenk. Musste der Mann sich ausgerechnet an diesen Teil ihrer Unterhaltung erinnern? „Ich habe doch gesagt, ich erhebe keinen Anspruch auf sie.“

Paris lachte. „Wie du meinst, Kumpel. Viel Spaß mit deiner Frau.“

Aeron fand das Gelächter seines Freundes mehr als unangebracht und ballte die Fäuste. „Geh, und erzähl Lucien, worüber wir gesprochen haben! Aber sag den Frauen auf keinen Fall, dass wir einen verletzten Engel hier haben! Die fallen sonst nur in mein Zimmer ein, um ihn zu sehen, und dafür ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.“

„Warum nicht? Willst du mit dem Engel rummachen?“

Er biss die Zähne so fest aufeinander, dass er Angst hatte, sie wären bald nicht mehr als eine schöne Erinnerung. „Ich will ihn verhören.“

„Aha. So nennt man das heute also. Tja dann, viel Spaß!“ Mit diesen Worten schritt Paris, immer noch grinsend, aus dem Raum.

Als Aeron wieder mit seiner Beute allein war, blickte er auf sie hinab. Ihr leises Schluchzen versiegte, endlich, und sie sah ihn wieder an.

„Was machst du hier, Olivia?“ Eigentlich hätte es ihn nicht berühren dürfen, ihren Namen auszusprechen – schließlich hatte er ihn vorher auch schon ausgesprochen –, aber das tat es. Sein Blut erhitzte sich um ein weiteres Grad. Das musste an ihrem Blick liegen ... der ihn durchbohrte ...

Zittrig atmete sie aus. „Ich war mir der Konsequenzen bewusst. Ich wusste, ich müsste meine Flügel, meine Fähigkeiten und meine Unsterblichkeit opfern, aber ich habe es trotzdem getan. Es ist nur ... Mein Job hat sich verändert. Ich durfte nicht mehr Freude bringen. Sondern nur noch den Tod. Und ich habe gehasst, was sie von mir verlangten. Ich konnte es nicht, Aeron. Ich konnte es einfach nicht.“

Als sie seinen Namen mit derartiger Vertrautheit aussprach, berührte ihn das ebenfalls, und er atmete tief ein. Was war nur mit ihm los? Sei stark. Sei der kalte, harte Krieger, der du immer bist!

„Ich habe dich beobachtet“, fuhr sie fort, „und auch deine Freunde, und ich ... bekam Sehnsucht. Ich wollte dich, und ich wollte das, was sie hatten – Freiheit und Liebe und Spaß. Ich wollte küssen und berühren. Ich wollte meine eigene Freude.“ Ihr niedergeschlagener, gebrochener Blick kreuzte seinen. „Am Ende hatte ich die Wahl. Fallen ... oder dich töten. Ich entschied mich fürs Fallen. Und da bin ich. Nur für dich.“

3. KAPITEL

Nur für dich. Das hätte sie nicht sagen sollen.

Olivia war starr vor Schreck, als nur noch ein einziger Gedanke ihren Kopf beherrschte: Soeben hatte sie alles kaputt gemacht.

Sie hätte Aeron die Wahrheit schonend beibringen müssen. Immerhin hatte er ihr jedes Mal, wenn sie sich ihm in den vergangenen Wochen genähert hatte, mit Folter und Tod gedroht. Dass sie unsichtbar war, hatte keine Rolle gespielt. Er hatte gewusst, dass sie in seiner Nähe war. Woher, musste sie noch herausfinden. Eigentlich hätte sie nicht wahrnehmbar sein sollen, körperlos wie ein Phantom der Nacht. Und jetzt, da sie in Fleisch und Blut vor ihm lag und ihre Geheimnisse ausplauderte, sah er vermutlich eine noch größere Bedrohung in ihr. Wahrscheinlich betrachtete er sie als Feindin.

Wahrscheinlich? Sie lachte trocken. Natürlich! Seine Fragen hatten sich wie Peitschenhiebe angefühlt und tiefe Wunden in ihre Seele gerissen. Oh ja. Sie hatte es vermasselt. Jetzt würde er nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen. Na ja, außer ihr die angekündigte Folter und den versprochenen Tod zu gewähren.

Du hast dich doch nicht mit letzter Kraft aus den Tiefen der Hölle gekämpft, um in dieser Burg umgebracht zu werden. Sie hatte sich mit letzter Kraft aus der Hölle gekämpft, um die Chance zu bekommen, mit Aeron zusammen zu sein. Ungeachtet der Möglichkeit zu scheitern.

Du kannst es schaffen. Nach Wochen intensiver Beobachtung hatte sie das Gefühl, Aeron ziemlich gut zu kennen. Er war diszipliniert, distanziert und brutal ehrlich. Er vertraute niemandem außer seinen Freunden. Schwäche war ein Wesenszug, den er nicht tolerierte. Und dennoch ging er mit denen, die er liebte, freundlich, fürsorglich und achtsam um. Ihr Wohlergehen stand für ihn über allem anderen. Ich will auch so geliebt werden.

Wenn er sie doch nur hätte sehen können, bevor sie aus dem einzigen Zuhause ausgestoßen worden war, das sie je gehabt hatte. Wenn er sie doch nur gesehen hätte, bevor ihr die Fähigkeit zu fliegen genommen worden war. Bevor ihre neu entdeckte Gabe, flammende Waffen aus Luft zu formen, ausgelöscht worden war. Bevor ihre Kraft, sich vor dem Bösen dieser Welt abzuschirmen, vernichtet worden war.

Jetzt ...

War sie schwächer als ein Mensch. Da sie sich Zeit ihres jahrhundertelangen Lebens eher auf ihre Flügel als auf ihre Beine verlassen hatte, konnte sie nicht einmal anständig gehen. Was, wenn sie es nicht schaffte?

Ihr entfuhr ein Schluchzen. Sie hatte ihr Zuhause und ihre Freunde aufgegeben – für Schmerz, Erniedrigung und Hilflosigkeit. Wenn Aeron sie nun auch verstieße, wüsste sie nicht, wohin sie gehen sollte.

„Weine nicht“, sagte Aeron mit angespannter Stimme.

„Ich ... kann nicht ... anders“, brachte sie unter heftigem Schluchzen hervor. Sie hatte erst ein Mal Tränen vergossen – und auch damals war Aeron der Grund gewesen. Damals, als sie erkannt hatte, dass ihre Gefühle für ihn ihren Selbsterhaltungstrieb komplett aushebelten.

Jetzt hallte das Ausmaß ihrer folgenschweren Entscheidung brüllend durch ihren Kopf. Sie war allein. Gefangen in einem zerbrechlichen Körper, den sie nicht verstand, und abhängig von der Gnade eines Mannes, der einer nichts ahnenden Öffentlichkeit von Zeit zu Zeit verheerenden Schaden zufügte. Einer Öffentlichkeit, die glücklich zu machen einst ihre Aufgabe gewesen war; die Aufgabe einer Glücksbotin.

„Versuch es, verdammt noch mal.“

„Kannst du mich ... vielleicht ... ich weiß nicht ... festhalten?“, fragte sie, immer wieder unterbrochen von Schluchzern.

„Nein.“ Er klang, als entsetzte ihn allein der Gedanke daran. „Du wirst einfach augenblicklich aufhören.“

Doch sie weinte nur noch mehr. Wäre sie zu Hause gewesen, hätte ihr Mentor Lysander sie in den Arm genommen und ihr beruhigende Worte ins Ohr gesäuselt, bis sie sich wieder gefangen hätte. Zumindest glaubte sie, dass er das getan hätte – in der Praxis hatte sie diese Theorie nie getestet.

Der arme, liebe Lysander. Wusste er, dass sie fort war? Dass sie nie zurückkehren könnte? Er hatte gewusst, dass sie von Aeron fasziniert war. Jede freie Minute hatte sie in der Burg verbracht und ihn heimlich beobachtet, unfähig, die schreckliche Aufgabe zu erledigen, die man ihr auferlegt hatte. Aber Lysander hatte nie damit gerechnet, dass sie alles für diesen Mann aufgäbe.

Und ehrlich gesagt hatte auch sie das nicht getan. Nicht so richtig jedenfalls.

Möglicherweise hätte sie damit rechnen sollen, denn ihre Schwierigkeiten hatten schon begonnen, bevor sie Aeron überhaupt zum ersten Mal gesehen hatte.

Vor einigen Monaten hatte sie goldene Daunen in ihren Flügeln entdeckt. Doch Gold war die Farbe der Krieger, und sie hatte nie ein Kriegerengel sein wollen – auch wenn sie dadurch in eine höhere Position aufgestiegen wäre.

Beim Gedanken an ihre Traurigkeit seufzte sie. Bei den Engeln gab es drei Kasten. Die Elite der Sieben, zu denen Lysander gehörte, stand direkt mit der einen wahren Gottheit in Kontakt. Sie waren zu Anbeginn der Zeiten auserwählt worden und zauderten niemals bei der Ausübung ihrer Pflichten, der Ausbildung anderer Engel und der Überwachung böser Ereignisse. Als Nächstes gab es die Kriegerengel. Ihre Aufgabe war es, Dämonen, denen es gelungen war, aus ihrem flammenden Gefängnis zu entkommen, zu zerstören. Ganz unten standen die Gücksboten, zu denen einst auch Olivia gehört hatte.

Als die ersten goldenen Federn gewachsen waren, hatten viele ihrer Brüder und Schwestern augenblicklich Flügelneid verspürt – natürlich nicht von boshafter Natur –, doch zum ersten Mal in ihrem Leben war sie sich ihres Weges nicht sicher gewesen. Warum hatte man ausgerechnet sie für eine solche Aufgabe auserwählt?

Sie hatte ihre Arbeit geliebt. Hatte es geliebt, den Menschen bestätigende Worte ins Ohr zu flüstern, die ihnen Selbstvertrauen und Freude gaben. Der Gedanke jedoch, einem anderen Lebewesen etwas zuleide zu tun, selbst wenn es die Bestrafung verdiente ... Sie erschauderte.

Das war der Zeitpunkt, als sie zum ersten Mal darüber nachgedacht hatte, zu fallen und ein neues Leben anzufangen. Allerdings war es anfangs nicht mehr als eine naive Gedankenspielerei gewesen. Was wäre, wenn ... Erst als sie Aeron ausspioniert hatte, waren diese Gedanken konkreter und ernsthafter geworden. Was, wenn sie zusammen sein könnten? Vielleicht könnten sie bis in alle Ewigkeit miteinander glücklich sein.

Wie wäre es, menschlich zu sein?

Der himmlische hohe Rat war ein Respekt einflößendes Gremium, das sich aus Engeln aus allen drei Kasten zusammensetzte. Als man sie schließlich in seinen Gerichtssaal gerufen hatte, war sie davon ausgegangen, dafür bestraft zu werden, dass sie Aeron nicht vernichtet hatte. Stattdessen hatte der Rat ihr ein Ultimatum gestellt.

Sie hatte in der Mitte eines weitläufigen weißen Raumes gestanden, dessen Decken gewölbt waren und dessen Wände einen perfekten Kreis formten. Säulen erhoben sich ringsherum, und sogar der Efeu, der an ihnen emporrankte, war von einem reinen, unberührten Weiß. Zwischen den Säulen standen Throne, und auf jedem einzelnen saß eine majestätische Gestalt.

Weißt du, weshalb du hier bist, Olivia?, fragte eine volle Stimme.

Ja. Obwohl sie am ganzen Körper zitterte, stockten ihre Flügel nicht in ihrem anmutigen Schlag. Sie waren lang und majestätisch, und ihre weißen Federn waren jetzt mit einem mondhellen Gold durchsetzt. Um über Aeron aus der Unterwelt zu sprechen.

Wir haben uns wochenlang in Geduld geübt, Olivia. Die ausdruckslose Stimme dröhnte wie eine Kriegstrommel in ihrem Kopf. Wir haben dir unzählige Gelegenheiten gegeben, dich zu beweisen. Aber du hast jedes Mal versagt.

Ich bin nicht für diese Arbeit bestimmt, erwiderte sie mit zitternder Stimme.

Doch, das warst du. Das bist du. Es gibt keinen besseren Weg, Freude zu verbreiten, als Menschen vor dem Bösen zu beschützen. Und genau das wirst du tun, wenn du deine Aufgabe erfüllst. Dies ist deine letzte Chance. Entweder du beendest Aerons Leben, oder wir beenden deines.

Die Drohung des Ratsmitglieds war nicht grausam gemeint, das wusste sie. So funktionierte der Himmel eben. Ein einziger Tropfen Gift konnte einen ganzen Ozean verseuchen, und deshalb musste jeder ätzende Tropfen ausgelöscht werden, bevor er mit den Wellen in Berührung kam. Aber sie protestierte trotzdem.

Ihr könnt mich nicht ohne den Segen der wahren Gottheit töten. Und er würde seinen Segen nicht geben. Er war durch und durch zärtlich und freundlich. Ihm lagen seine Diener am Herzen, jeder einzelne. Selbst eigensinnige Engel. Kurz gesagt: Er war die Liebe.

Aber wir können dich fortschicken und dein Leben, wie du es kennst, beenden. Jetzt sprach eine Frau, doch ihre Stimme klang genauso hohl wie die ihres Vorredners.

Einen Moment lang hatte Olivia Schwierigkeiten zu atmen, und grelle Punkte tanzten vor ihren Augen. Ihr Zuhause verlieren? Das Leben in ihrer wundervollen Wolke? Die gemeinsame Arbeit mit ihren Freunden und Kollegen? Doch trotzdem gab sie Widerworte. Aeron ist nicht böse. Er verdient es nicht, zu sterben.

Das zu entscheiden steht dir nicht zu. Er hat ein uraltes Gesetz ignoriert und muss dafür bestraft werden. Bevor andere auf den Gedanken kommen, sie könnten das Gleiche tun, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen.

Ich bezweifle, dass er überhaupt weiß, was er getan hat. Flehentlich breitete sie ihre Arme aus. Wenn ihr ihm doch nur gestatten würdet, mich zu sehen und meine Stimme zu hören – dann könnte ich mit ihm sprechen und ihm erklären ...

Dann würden wir ein uraltes Gesetz ignorieren.

Das stimmte. Glaube fußte nun einmal auf dem Prinzip, an etwas zu glauben, das man nicht sehen konnte. Nur der Elite der Sieben war es gestattet, sich auf der Ebene der Sterblichen zu zeigen, da ihre Mitglieder manchmal mit der Aufgabe betraut waren, Menschen für ihren Glauben zu belohnen.

Es tut mir leid, sagte sie mit gesenktem Kopf. Ich hätte euch nicht um so etwas bitten sollen.

Es sei dir vergeben, Kind, erwiderte der Rat einstimmig.

Vergebung wurde hier immer so einfach erteilt. Außer wenn jemand einen Befehl ignorierte. Armer Aeron, hatte sie gedacht, während sie Danke gesagt hatte.

Es war nur ... sie fand Aeron anziehend. Obwohl jeder Zentimeter seiner tätowierten Haut den Dämon erkennen ließ, der er war, hatte der erste Anblick seines Körpers Sehnsüchte in ihr geweckt, die zu stark gewesen waren, um sie ignorieren zu können. Wie es wohl wäre, ihn zu berühren? Wie es wohl wäre, von ihm berührt zu werden? Ob sie endlich das Glück erfahren würde, das sie anderen schenkte?

Zuerst hatten diese Gedanken sie beschämt. Doch je besser sie Aeron kennengelernt hatte, umso stärker war das Verlangen geworden – bis sie an nichts anderes mehr hatte denken können, als zu fallen und bei ihm zu sein.

Am Ende hatte sie sich gesagt, dass ihre starken Gefühle für ihn gerechtfertigt waren, weil er – entgegen seiner äußeren Erscheinung und entgegen der Ansichten des Rates – aufrichtig und gut war. Und wenn er aufrichtig und gut war, konnte sie die gleichen Dinge tun, die er tat, und dabei auch aufrichtig und gut sein. Mehr noch: Es war in Ordnung, weil er, durch und durch Beschützer, für ihre Sicherheit sorgen würde. Er würde sie vor anderen und vor sich selbst schützen.

Wenn er jedoch ums Leben käme, würde sie den Rest ihres ewigen Daseins damit verbringen, über die unbeantwortete Frage zu grübeln, wie ... herrlich es hätte sein können, alles an ihm zu entdecken. Sie würde es bereuen. Sie würde es betrauern.

Andererseits – ihn eigenhändig zu retten hieße, alles aufzugeben, was sie kannte; so hatte der Rat es verkündet. Sie würde nicht nur ihr Zuhause und ihre Flügel verlieren, sondern wäre zudem gefangen in einer Welt, in der Vergebung nicht immer gewährt wurde, in der Geduld Mangelware war und Unhöflichkeit zum Alltag gehörte.

Er ist dein erstes Ziel, und deshalb verstehen wir dein Zögern, Olivia. Aber du kannst nicht zulassen, dass dein Zögern dich ruiniert. Du musst es überwinden, sonst wirst du für immer und ewig dafür bezahlen. Wie entscheidest du dich?

Das war der letzte verzweifelte Versuch des Rates gewesen, sie zu retten. Dennoch hatte sie das Kinn gehoben und die Worte ausgesprochen, die seit all den Wochen in ihr brannten – die Worte, die sie hierher geführt hatten. Sie sprach, ehe sie aus Angst ihre Meinung ändern konnte.

Ich entscheide mich für Aeron.

„Frau?“

Die harte Stimme riss Olivia aus der Vergangenheit; sie war tiefer und voller als jede andere Stimme, die sie kannte, und ... sie brauchte diese Stimme so sehr. Olivia blinzelte, und allmählich nahm sie ihre Umgebung wahr. Ein Schlafzimmer, das sie in- und auswendig kannte. Geräumig, mit silbrigen Steinwänden, an denen Bilder über Bilder von Blumen und Sternen hingen. Der Boden war aus dunkel glänzendem Holz, auf dem ein flauschiger rosafarbener Teppich lag. Es gab eine Kommode, einen Waschtisch und ein Kleinmädchen-Sofa.

Viele hätten bei der Feststellung, dass dieser starke, stolze Krieger in einem derart femininen Zimmer wohnte, eine spöttische Bemerkung fallen lassen, doch nicht Olivia. Die Einrichtung bewies nur, wie sehr Aeron seine Legion liebte.

War in seinem Herzen überhaupt Platz für noch jemanden?

Ihr Blick blieb an ihm haften. Er stand immer noch neben dem Bett, auf dem sie lag, und sah mit ... kein bisschen Zuneigung in den Augen auf sie hinab, wie sie enttäuscht feststellte. Doch wer konnte ihm das schon übel nehmen? Sie bot mit Sicherheit einen erbärmlichen Anblick. Die Tränen waren auf ihren Wangen getrocknet, wodurch ihre Haut spannte. Ihre Haare waren zerzaust und ihre Arme schmutzverschmiert.

Er hingegen sah umwerfend aus. Er war groß und so muskulös, dass einem das Wasser im Mund zusammenlief. Seine faszinierend violetten Augen wurden von langen schwarzen Wimpern eingerahmt. Seine dunklen Haare waren raspelkurz abrasiert, und sie fragte sich, ob die Stoppeln wohl an ihrer Handfläche kitzeln würden, wenn sie über seinen Kopf strich.

Nicht, dass er ihr erlauben würde, ihn zu streicheln.

Er war überall tätowiert, sogar in seinem perfekt geformten Gesicht. Jede Tätowierung zeigte eine grauenvolle Tat. Erstechen, Erwürgen, Verbrennen, Blut – so viel Blut. Und jedes der Knochengesichter war vor Schmerz verzerrt. Doch inmitten all der Gewalt leuchteten zwei saphirblaue Schmetterlinge. Einer zierte seine Rippen, und der andere streckte die Flügel über seinen Rücken aus.

Ihr war aufgefallen, dass die anderen Herren alle nur ein Schmetterlingstattoo hatten, als Zeichen für ihre Besessenheit, und sie hatte sich oft gefragt, warum Aeron diese Zugabe bekommen hatte. Es machte nicht den Anschein, als wäre sein Körper von zwei Dämonen besessen.

Außerdem verachtete er Schwäche. Erinnerten die Schmetterlinge ihn nicht ständig an seine Torheit? Und erinnerten die anderen, die grausamen Tätowierungen ihn nicht immerzu an die schrecklichen Taten, zu denen sein Dämon ihn gezwungen hatte?

Und was Olivia anging: Warum stieß dieser Mann sie nicht ab, so wie er jeden anderen Engel angewidert hätte? Und weshalb faszinierte er sie nach wie vor?

„Frau“, wiederholte er nun ungeduldig.

„Ja?“, krächzte sie.

„Du hast mir nicht zugehört.“

„Entschuldige.“

„Wer wollte mich tot sehen? Und warum?“

Statt zu antworten, bat sie schüchtern: „Bitte setz dich doch. Es ist so anstrengend für meinen Nacken, so zu dir hochzuschauen.“

Zuerst dachte sie, er würde ihre Bitte ignorieren. Aber dann hockte er sich überraschenderweise hin, und seine Gesichtszüge wurden weicher. Endlich befanden sie sich auf Augenhöhe, und sie konnte sehen, dass sich seine Pupillen weiteten. Seltsam. Das geschah normalerweise, wenn Menschen glücklich waren. Oder wütend? Er war weder das eine noch das andere.

„Besser?“, fragte er.

„Ja. Danke.“

„Gut. Und jetzt antworte mir.“

Was für ein Befehlston. Doch das machte ihr nichts. Die Belohnung war zu schön. Jetzt konnte sie sich an seinem unanständig köstlichen Anblick berauschen, während sie mit ihm sprach, wie sie es sich all die Wochen erträumt hatte. „Der himmlische hohe Rat will dich tot sehen, weil du einem Dämon geholfen hast, aus der Hölle zu fliehen.“

Er runzelte die Stirn. „Meiner Legion?“

Seiner Legion? Olivia nickte, während sich ihr Innerstes zusammenzog. Schmerz war etwas, das ihr bislang noch nicht widerfahren war – weder seelisch noch körperlich –, und sie wusste nicht, wie sie es schaffte, ihn zu ertragen.

Oder vielleicht wusste sie es doch. Menschen produzierten Adrenalin und andere Hormone, die sie ein Stück weit betäubten. Vielleicht produzierte sie jetzt auch so etwas – nun, da sie ein Mensch war. Mehr und mehr begann sie, zu ihrem neuen Körper und seinen unbekannten Schmerzen und Gefühlen eine angenehme Distanz zu verspüren.

„Ich verstehe nicht ganz. Als ich Legion begegnet bin, hatte sie sich doch schon längst befreit. Ich habe nichts getan, womit ich mir den ... Zorn eines anderen hätte zuziehen können.“ Bei dem Wort „Zorn“ wurde sein Mund schmal.

„Doch, das hast du. Ohne dich wäre sie nicht in der Lage gewesen, die Oberfläche zu erreichen, weil sie immer noch an die Unterwelt gebunden war.“

„Ich verstehe immer noch nicht.“

Olivias Augenlider, die sich auf einmal anfühlten wie schweres Sandpapier, fielen wie von alleine zu – bitte, lass uns von etwas anderem sprechen –, doch sie zwang sich, sie wieder zu öffnen. „In der Regel sind Dämonen nur in der Lage, die Hölle zu verlassen, wenn man sie auf die Erde ruft. Von diesem kleinen Hintertürchen haben wir allerdings erst erfahren, als es schon zu spät war, um noch etwas zu ändern. Aber egal. Wenn sie gerufen werden, reißt ihr Band zur Hölle, und stattdessen werden sie an denjenigen gebunden, der sie gerufen hat.“

„Noch mal: Ich habe Legion nicht gerufen. Sie ist zu mir gekommen.“

„Vielleicht hast du sie nicht bewusst gerufen, aber in dem Moment, als du sie akzeptiert hast – dass sie zu dir gehört –, war es, als hättest du es getan.“

Er ballte die Hände zu Fäusten und entspannte sie wieder. Sie kannte diese Geste und wusste, dass er so die Kontrolle zu behalten versuchte. Vielleicht war er tatsächlich wütend. „Sie hat jedes Recht, auf dieser Erde zu wandeln. Ich bin auch ein Dämon, und ich tue seit Jahrtausenden dasselbe, ohne dafür bestraft zu werden.“

Richtig. „Aber dein Dämon ist in dir gefangen. Folglich bist du seine Hölle. Legion ist jetzt frei und kann kommen und gehen, wie und wann es ihr gefällt. Was bedeutet, dass sie keine Hölle mehr hat, und das widerspricht sämtlichen himmlischen Gesetzen.“

Sie sah, wie er ansetzen wollte, mit ihr zu streiten. Vielleicht wäre es hilfreich, ihm die Ursprünge der Hölle zu erklären.

„Die mächtigeren unter den Dämonen waren früher einmal Engel. Aber dann sind sie gefallen. Sie waren die ersten, die fielen, und ihre Herzen wurden schwarz, alles Gute war aus ihnen fortgewischt. Statt ihnen also ihre Flügel und überirdischen Fähigkeiten zu nehmen, wurden sie damit bestraft, für immer und ewig zu leiden. Das gilt auch für ihre Nachkommen. Es darf keine Ausnahmen geben. Dämonen müssen an irgendeine Form der Hölle gebunden sein. Wer dieses Band zerreißt, wird getötet.“

Seine Iris wurden rot und begannen bedrohlich zu glühen. „Willst du damit sagen, dass Legion sterben muss, weil sie keine Hölle hat?“

„Ja.“

„Bedeutet das, dass sie ein Engel war?“

„Nein. Als die Dämonen in der Hölle lebten, lernten sie, sich fortzupflanzen. So ist auch Legion entstanden.“

„Und obwohl sie niemandem geschadet hat, willst du sie trotzdem bestrafen?“

„Ich persönlich nicht, aber ja: trotzdem.“

„Damit wir uns richtig verstehen: Ich werde nicht zulassen, dass man ihr etwas antut.“ Er sprach ruhig, aber dennoch mit einem drohenden Unterton.

Olivia schwieg. Sie würde ihn nicht anlügen und ihm sagen, was er hören wollte. Dass er und Legion jetzt in Sicherheit wären. Dass die Verantwortlichen im Himmel ihre Verbrechen vergessen hätten. Irgendwann käme jemand und würde das vollenden, was Olivia nicht fertiggebracht hatte.

„Sie hatte es nicht verdient, dort zu sein“, knurrte er.

Autor

Gena Showalter
Die SPIEGEL-Bestsellerautorin Gena Showalter gilt als Star am romantischen Bücherhimmel des Übersinnlichen. Ihre Romane erobern nach Erscheinen die Herzen von Kritikern und Lesern gleichermaßen im Sturm. Mit der beliebten Serie »Herren der Unterwelt« feierte sie ihren internationalen Durchbruch. Mit ihrer Familie und zahlreichen Hunden lebt Showalter in Oklahoma City.
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