Die Herren der Unterwelt 14: Schwarze Sehnsucht

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Puck, der Unbesiegte, trägt den Dämon der Gleichgültigkeit in sich. Bei jedem tiefen Gefühl muss er unsägliche Schmerzen ertragen. Um dafür Vergeltung zu üben und um der neue Herrscher der Unterwelt zu werden, will er die schöne Gillian Sanders heiraten. Nur sie kann ihm helfen, so sagt es die Prophezeiung. Kurzerhand entführt er Gillian und schenkt ihr die Unsterblichkeit. Und bald fesseln heiß knisternde Erotik und ein unbezwingbares Verlangen sie aneinander. Nur leider irrt Puck. Um König zu werden, müsste er Gillian wieder freigeben.

»Eine der Besten, wenn es um paranormale Liebesromane geht. Gena Showalter erzählt eine absolut fesselnde Geschichte!«
Kresley Cole, SPIEGEL-Bestsellerautorin


  • Erscheinungstag 03.12.2018
  • Bandnummer 14
  • ISBN / Artikelnummer 9783955768881
  • Seitenanzahl 412
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für jeden, der je von einem anderen

Menschen misshandelt worden ist.

Für jeden, der je die Worte

»Du bist nicht gut genug« oder

»Du bist wertlos« hören musste.

Für jeden, dem je gesagt wurde:

»Deine Träume sind überzogen« oder

»Das schaffst du nie«.

Dich gibt es nur ein einziges Mal,

und die Welt braucht dich.

Ich stehe hinter dir. Ich leide mit dir.

Du bist unbezahlbar. Du schaffst das.

Prolog

Es war einmal im Wüstenreich Amaranthia, da wurden zwei unsterbliche Prinzen geboren. Púkinn (»Puck«) Neale Brion Connacht IV. und Taliesin (»Sin«) Anwell Kunsgnos Connacht. Brüder im Blute. Freunde, weil sie es so wollten. Legendäre Gestaltwandler, fähig, sich jederzeit in jedermann zu verwandeln.

Puck, der Ältere, wuchs zu einem unvergleichlichen Krieger heran, seine Spezialität war rohe Gewalt. Ganz egal, wie stark oder erfahren sein Gegner war, Puck blieb unbesiegt, und mit seiner Kraft auf dem Schlachtfeld konnte es nur noch seine Kunstfertigkeit im Bett aufnehmen.

Sin, der Jüngere, zog Bücher und Romantik den Schlachten und Kriegen vor, doch seine militärischen Fähigkeiten waren nicht weniger berühmt als die seines Bruders. Bei der Planung und in strategischem Denken übertraf er jeden anderen.

Die Prinzen liebten einander und gelobten, den jeweils anderen in allen Dingen an erste Stelle zu setzen. Doch schon vor langer Zeit hatten die Orakel von Amaranthia prophezeit, dass einer der Brüder eine liebende Königin heiraten und den anderen erschlagen würde, um anschließend endlich die einander bekriegenden Clans des Königreichs zu einen.

Die Orakel irrten nie.

Am Ende, ganz egal, was die Prinzen erhofften und planten, würde die Prophezeiung sich erfüllen …

Manche Märchen haben kein Happy End.

1. Kapitel

Töte einen Mann, eigne dir seine Magie an. Eine Erzählung, so alt wie die Zeit selbst.

Brüllend schwang Puck der Unbesiegte zwei Kurzschwerter gegen seinen jüngsten Gegner, den König des Walsh-Clans. Eine blutüberströmte Klinge durchschlug den metallenen Brustpanzer des Mannes und zwang ihn in die Knie, die andere durchtrennte ihm die Kehle von einer Seite bis zur anderen.

Kein Gegner für einen Connacht-Prinzen. Wer ist das schon?

Geschockt und schmerzerfüllt keuchte der König auf; als ein tiefroter Blutstrom sich aus seinen Mundwinkeln ergoss, gurgelte er. »W…warum?«

Durch reine Gedankenkraft nahm Puck wieder seine normale Gestalt an und ließ den König das wahre Antlitz seines Bezwingers erblicken.

»Mein Bruder lässt seine Grüße ausrichten.« Er riss die Schwerter herum. »Mögest du in Fetzen ruhen.«

Der König riss den Mund auf, röchelte ein letztes Mal und verstummte. Schlaff plumpste seine Leiche zu Boden und warf den Sand auf.

Im Krieg galt nur eine Regel: Hol dir den Sieg, koste es, was es wolle.

In schierer Panik traten die Walsh-Soldaten den Rückzug an.

Vom Leichnam des Königs stieg dunkler, schimmernder Nebel auf und driftete zu Puck. Mächtige Magie haftete den Runen an, die in seine Hände eingebrannt waren – verschnörkelte goldene Symbole, die sich von seinen Fingerspitzen bis zu den Handgelenken zogen. Pure Macht. Berauschend. Es gab nichts Besseres.

In seinem Kopf begann ein Summen, das Blut in seinen Adern kribbelte und brodelte. Wegen der Magie, aye, aber auch, weil ihn Triumph erfüllte. Innerhalb eines Wimpernschlags war der jüngste Krieg in einer Reihe von Kriegen beendet, und Connacht hatte gewonnen.

Puck behielt seine Position im Zentrum des blutgetränkten Schlachtfelds bei. Sanddünen erstreckten sich, so weit das Auge reichte, nur hier und da durchbrochen von einer Oase mit hoch aufragenden Bäumen und kristallklaren Seen. Die Zwillingssonnen des Reiches waren schon lange hinter dem Horizont verschwunden. Nacht herrschte und tauchte den Himmel in die Farbe von Maulbeeren, ein endloses Meer von tiefdunklem Rotviolett. Heute glitzerten keine Sterne am Firmament.

Er schloss die Lider und ließ den Sieg auf sich wirken. Das Kräfteverhältnis hatte denkbar ungünstig für sie gestanden, die gegnerische Armee war mehr als doppelt so stark gewesen wie seine eigene. Deshalb hatte sein Bruder Sin letzte Nacht vorgeschlagen, Puck solle sich ins gegnerische Lager schleichen, einen Walsh-Kommandanten töten, die Leiche zu Asche verbrennen – und dessen Platz einnehmen. Keine leichte Aufgabe, aber es war ihm gelungen.

In seiner neuen Gestalt hatte Puck seinen Soldaten befohlen, die Connachts zu »überfallen«, und damit letztlich die gesamte Armee in eine Falle geführt. Von da an war es ein Kinderspiel gewesen, zum König zu gelangen.

Sin machte mit einem einzigen Blick in jeder Situation – in jedem Mann – sämtliche verborgenen Schwächen aus.

Manchmal fragte Puck sich, welche Schwächen sein Bruder an ihm wahrnahm. Nicht, dass es eine Rolle gespielt hätte. Sin war einzig und allein an seinem Schutz gelegen und tat jederzeit alles in seiner Macht Stehende, um ihm in jeder Schlacht den Sieg zu sichern.

Gemeinsam würden sie die Prophezeiung Lügen strafen, die über sie ausgesprochen worden war, als sie noch klein gewesen waren. Ein Bruder sollte den anderen töten? Niemals! Er und Sin würden gemeinsam über die fünf Clans herrschen, und nichts würde je einen Keil zwischen sie treiben.

Eine so starke Verbindung wie ihre war unzertrennbar.

Ein kalter Windstoß trieb ihm Sand ins Gesicht, und Puck öffnete die Augen. Trotz der eisigen Außentemperaturen verströmte er Hitze, da noch immer Adrenalin durch seine Adern rauschte. Auf seinem nackten Oberkörper mischte sich Schweiß mit dem Blut der Besiegten und rann über jeden einzelnen Muskel.

Ein Stück entfernt hörte er jemanden rufen: »Der Sieg ist unser!«

Weitere Rufe folgten.

»Die Magie der Walshes gehört uns!«

»Wir haben gewonnen, wir haben gewonnen!«

Es erhob sich ein Jubelchor, ein vertrauter Klang. Mit diesen Männern – und für sie – hatte er trainiert, gelitten und geblutet. Für Puck war Loyalität weit wertvoller als Gold, Diamanten und selbst als Magie.

»Zurück ins Lager«, rief er. »Jetzt wird gefeiert.«

Wie ein Mann stürmten seine Soldaten in Richtung ihres Lagers dicht hinter dem nächsten Dünenkamm – eine Sub-Dimension innerhalb des Reichs, verborgen von Sins Magie.

Puck schob seine Schwerter in die Scheiden und ergriff die Waffe des Königs, die perfekte Trophäe. Mit stolz erhobenem Haupt folgte er seinen Männern vom Schlachtfeld. Seinen Weg säumten weitere Leichen und massenhaft abgetrennte Körperteile, in der Luft hing der kupfrige Geschmack von Blut und der Gestank entleerter Gedärme.

Ein solches Gemetzel bereitete ihm keine Freude. Es machte ihm allerdings auch nie etwas aus.

Vor Gewalt würde er niemals zurückschrecken. Wer sein Volk bedrohte, musste leiden. Der Tag, an dem er einem Feind Gnade schenkte, war der Tag, an dem er seinen Clan zu Sklaverei oder Tod verdammte.

Puck hielt sich im Schatten und schlüpfte durch ein unsichtbares Portal, das nur denjenigen Einlass gewährte, die mit Connacht-Runen gezeichnet waren. Für jeden anderen blieb es verschlossen; es kam oft vor, dass Männer, Frauen und Kinder vorüberspazierten, ohne auch nur zu ahnen, dass eine Armeslänge entfernt eine Sub-Dimension existierte.

Plötzlich war er umgeben von Zelten, lodernden Lagerfeuern, Soldaten und ihren Frauen. Der Gestank des Todes löste sich auf und wich den Aromen von bratendem Fleisch, harter Arbeit und süßem Parfum.

Eine Magd entdeckte Puck und kam zu ihm. In ihren Augen glomm unverkennbares Interesse.

»Hallo, Eure Hoheit. Sollte Euch an diesem schönen Abend an einer Bettgefährtin gelegen …«

»An dieser Stelle bremse ich dich mal. Ich hole mir niemals einen Nachschlag.« Er vergaß auch nie ein Gesicht und wusste noch sehr gut, dass er bereits letztes Jahr mit dieser Frau geschlafen hatte.

Bevor er mit einer Frau ins Bett ging, stellte er sicher, dass sie seine Einmal-und-nie-wieder-Philosophie begriffen hatte.

Auf ihren Zügen machte sich Enttäuschung breit. »Aber …«

Da er dazu nichts weiter zu sagen hatte, ließ er sie stehen und machte sich auf den Weg an den Rand des Lagers, wo Sin und er ihre Zelte aufgeschlagen hatten. Seine Reaktion mochte kaltherzig sein, doch es ging nicht anders.

Puck war nicht wie andere Blaublüter. Während die meisten Prinzen sich ein »Gestüt« hielten und ihre »Stuten« auf Reisen mitführten, selbst in Kriegszeiten, würde er mit keiner Frau zweimal das Bett teilen. Er konnte nicht das Risiko eingehen, zu irgendeinem weiblichen Wesen romantische Gefühle zu entwickeln. Romantische Gefühle würden die Hoffnung auf eine Heirat wecken. Keine Heirat bedeutete, dass es keine liebende Königin geben würde. Keine liebende Königin bedeutete, dass die Prophezeiung sich nicht erfüllen konnte.

Auch wenn er, wenn er ehrlich war, völlig vernarrt war in die »weibliche Zartheit«, die ihm beinahe sein Leben lang vorenthalten worden war. Er liebte die Küsse, die Berührungen und die zunehmende Erregung. Schweißbedeckte Körper, die sich aneinander rieben. Seufzen und Stöhnen und gehauchte Laute der Lust in seinen Ohren. Das herrliche Gefühl, sich schließlich tief in seiner Partnerin zu versenken.

Manchmal machten ein paar Stunden mit einer Unbekannten im Bett seinen Appetit nur noch größer …

Tief in seinem Innern hütete er den geheimen, beschämenden Wunsch, eine Frau ganz für sich allein zu haben, jedes noch so kleine Detail ihrer Vergangenheit kennenzulernen, all ihre Hoffnungen und Träume. Er träumte davon, sie – und nur sie allein – über Wochen, Monate, Jahre zu verwöhnen, sich in jede Faser ihres Seins einzubrennen.

Er verzehrte sich nach einer Frau, die ganz allein die Seine wäre.

Vielleicht könnte er eines Tages …

Nein. Niemals. Sin steht über jeder Frau, immer. Sin steht über allem.

Am heutigen Abend würden die Brüder die Erfolge und Misserfolge der Schlacht miteinander durchgehen. Sie würden trinken und lachen und ihren nächsten Schachzug planen, und in Pucks Welt hätte alles seine Richtigkeit.

Um sein Zelt wand sich schützend ein dorniges Rankengestrüpp, das niemand ohne seine Erlaubnis durchdringen konnte – weder in die eine noch in die andere Richtung. Er sandte einen tastenden Faden von Magie voraus, zwang die Ranken, sich vor ihm zu teilen, und trat ins Zelt.

Als er seinen Bruder erblickte, empfand er tiefe Zuneigung wie einen Schlag mitten vor die Brust. Zwar hatten sie die gleiche stark gebräunte Haut, die gleichen dunklen Augen und das gleiche noch dunklere Haar, die gleiche Adlernase und die gleichen grausam schmalen Lippen, doch Sins Gesicht hatte weichere Züge. Puck war schon oft gesagt worden, sein Gesicht sei »wie aus Stein gemeißelt«.

Sin tigerte auf und ab und schien von seiner Umgebung nichts mitzubekommen.

»Was beunruhigt dich?« Unwillkürlich schloss Puck die Finger fester um das Heft des Schwerts.

Früher war sein Bruder nie auf und ab getigert … Das tat er erst seit Kurzem. Vor einem Monat hatte er an Friedensverhandlungen mit einem benachbarten Reich teilgenommen und war … verändert zurückgekehrt. Statt ruhig war er jetzt paranoid, statt Gewissheit verströmte er Unsicherheit.

Sin hatte berichtet, dass er am letzten Morgen erwacht war und sein gesamtes Regiment niedergemetzelt vorgefunden hatte. Als einziger Überlebender hatte er mitten im Blutbad gelegen und keinerlei Erinnerung gehabt, was vorgefallen war. Seitdem konnte er nicht mehr schlafen, schreckte bei plötzlichen Bewegungen und Geräuschen zusammen und starrte in jeden Schatten, als würde sich jemand darin verbergen. Seinem Gestüt hatte er seither keinen einzigen Besuch abgestattet, und er weigerte sich, beim Training das Hemd abzulegen.

Puck hegte den Verdacht, dass neue Narben die Brust seines Bruders zeichneten. Glaubte er, man würde ihn für schwach halten, wenn jemand einen Blick darauf erhaschte?

Wer auch nur ein Wort gegen Sin sagte, würde sterben.

Doch wann immer Puck seine Besorgnis zum Ausdruck brachte, wechselte Sin das Thema.

Jetzt blieb er vor dem prasselnden Feuer stehen, Sins Blick traf seinen und huschte davon.

Nach und nach entspannte sein Bruder sich und lächelte sogar das vertraute Lächeln, das zu sehen nur Puck das Privileg hatte.

»Du hast dir ja mächtig Zeit gelassen mit deiner Rückkehr ins Lager. Macht das Alter dich etwa lahm?«

Puck schnaubte amüsiert. »Du bist auch bloß zwei Jahre jünger. Vielleicht sollten wir in der nächsten Schlacht mal die Rollen tauschen. Ich plane, du kämpfst.«

»Du vergisst, dass ich dich besser kenne als du dich selbst. Die Sorge um mein Wohlergehen würde dich geradewegs an meine Seite treiben.«

Damit hatte Sin durchaus nicht unrecht.

Sein Bruder wusste sich im Kampf zu behaupten, gleich mit welchen Waffen. Keiner außer Puck konnte es mit ihm aufnehmen, doch sollte ihm je etwas zustoßen …

Ich würde dieses Reich in Schutt und Asche legen.

Puck stapfte zum Wasserbecken, das auf seiner Waffentruhe bereitstand. Das Walsh-Schwert lehnte er an die Seite der Truhe, dann wusch er sich den Schmutz des Tages ab.

»Als wir noch klein waren, hast du dich um mich gesorgt«, nahm er das Gespräch wieder auf. »Was ist seitdem passiert?«

»Du hast gelernt, wie man mit einem Schwert umgeht.« Sin rieb sich die Schläfen, als verabscheue er die Gedanken, die ihm durch den Kopf schwirrten.

Er brauchte eine Ablenkung. »Sollen wir mit der Nachbesprechung beginnen?«

»Noch nicht. Ich habe Neuigkeiten.«

Mehrere Sekunden verstrichen, jede einzelne knisternd vor Spannung.

Puck versteifte sich. »Na los, raus damit.«

Mit düsterem Blick erklärte Sin: »Vater hat dein Verlöbnis mit Prinzessin Alannah von Daingean verkündet.«

Pucks erste Reaktion: Ich werde eine Frau haben. Sie wird ganz allein mein sein!

Dann verzog er unwirsch das Gesicht. Vorsichtig jetzt. Von jüngster Kindheit an hatte er die Welt um ihn herum durch einen alles überlagernden Filter betrachtet: MEIN Bruder, MEIN Clan, MEIN Reich.

Alannah war ihm nur ein einziges Mal begegnet, und auch wenn ihr Aussehen ihm durchaus zusagte, würde er sich nicht dazu herablassen, sie in sein Bett zu holen, geschweige denn, sie zu heiraten. Kein Jota durfte er der Versuchung nachgeben, nicht im kleinsten Ansatz.

Allerdings verstand er Sins Beunruhigung. Nicht durch Geburtsrecht, sondern durch den König selbst wurde dessen Nachfolger bestimmt. Es sei denn, verstand sich, der König träfe keine Wahl – in diesem Fall würde der stärkste Krieger sich die Krone holen. Doch mit dieser Ankündigung hatte König Púkinn III. seine Wahl getroffen.

»Da war Vater wohl etwas voreilig«, sagte Puck nun. »Ich heirate sicher niemanden, darauf hast du mein Wort.«

»Es ist ein politischer Schachzug, um die Allianz zwischen unseren Clans zu festigen, aber … die Prophezeiung …« Sins Stimme wurde merklich rauer. »Einer wird der König mit einer liebenden Königin an seiner Seite und erschlägt den anderen. Die Orakel irren nie.«

»Es gibt für alles ein erstes Mal.« Puck überbrückte die Distanz zu seinem Bruder und legte ihm die Hände an die Wangen. »Vertrau mir. Es wird nicht zu einer Hochzeit kommen.« Keiner von ihnen würde heiraten, und somit würde die Prophezeiung unerfüllt bleiben. »Ich entscheide mich für dich, Bruder. Ich werde mich immer für dich entscheiden.«

Sin blieb starr wie Stahl. »Wenn du sie verschmähst, beleidigst du die Daingeans. Dann bricht der nächste Krieg aus.«

»Es bricht doch ständig irgendwo der nächste Krieg aus.« Jeder Clan nahm die Magie der von ihm gemeuchelten Männer in sich auf, und alle rangen darum, mehr als die anderen zu besitzen.

Magie war Stärke – und Stärke war Magie.

Sin machte sich von ihm los und rieb mit zwei Fingern über die dunklen Stoppeln an seinem Kinn. »Wenn du Alannah heiratest, vereinst du die Clans, wie du es dir immer erträumt hast. Connacht, Daingean, Fiáin, Eadrom und Walsh.«

Wie konnte er sich seinem Bruder begreiflich machen? Ja, er träumte davon, die Clans zu einen. Endlich würde das Gemetzel ein Ende haben. Leben würden gerettet, es würde Frieden herrschen. Amaranthia würde wachsen und gedeihen, wenn das Land nicht länger wegen der ständigen Schlachten zertrampelt und besudelt würde.

Doch Einigkeit ohne Sin bedeutete weniger als nichts.

»Nichts hat mehr Bedeutung als du«, stieß Puck mit Nachdruck hervor. Vor einigen Jahrhunderten hatte es zwölf Clans gegeben. Jetzt, aufgrund der Gier nach Magie von Königen und Armeen, waren nur noch fünf verblieben. Wenn nicht bald etwas geschah, würde die gesamte Bevölkerung des Reichs aussterben. »Nicht für mich.«

»Du hörst mir nicht zu«, beharrte Sin. »Daingean ist inzwischen mit Fiáin verbündet. Durch deine Heirat mit Alannah wird Clan Connacht eine Allianz mit Clan Daingean eingehen, wodurch auch Fiáin gezwungen sein wird, sich auf unsere Seite zu schlagen. Wenn das geschieht, wird Eadrom, derzeit ebenfalls mit Fiáin alliiert, das Bündnis mit den Walshes zerschlagen müssen, um den Frieden mit uns zu wahren. Und das werden sie. Es gibt keine Familienbande zu den Walshes. Und jetzt, da der aktuelle – beziehungsweise ehemalige – König der Walshes tot ist, kann sein Nachfolger mit uns reinen Tisch machen und einen Neuanfang wagen.«

»Ist mir egal«, antwortete Puck kopfschüttelnd. »Der Preis ist zu hoch.«

Schweigend musterte Sin ihn, wie er oft seine geliebten Karten musterte. Traurigkeit verdunkelte seine Augen, bevor sie Entschlossenheit wich. Er nickte, als würde er eine monumentale Entscheidung treffen, und deutete zu einem Tisch in der Ecke. Darauf stand etwas, das wie ein kleines Schmuckkästchen aussah.

»Das ist heute Morgen eingetroffen«, erklärte Sin. »Kurz vor der Schlacht.«

»Ein Geschenk?«

»Eine Waffe.«

Eine Waffe? »Mach dir keine Sorgen, ich kümmere mich darum.« Puck würde alles tun – jeden umbringen –, um die Probleme seines Bruders zu lösen. Das war nur fair, schließlich löste Sin auch immer seine.

Er durchquerte das Zelt und blieb vor der kleinen Schatulle stehen. Perlmutt-Intarsien in einem unbekannten Metall. In den Ecken glitzerten Trauben von Diamanten. Als er die Hand danach ausstreckte, strich eine pulsierende Bösartigkeit über seine Haut. Keine Magie, sondern das pure, unverfälschte Böse. Das Blut in seinen Adern wurde eiskalt.

»Wer hat sie geschickt?« Und was für eine Waffe sollte das sein?

»Eine Frau namens Keeleycael, die den Titel ›die Rote Königin‹ trägt. Sie lässt ausrichten, sie hofft, wir genießen unseren Niedergang.«

Keeleycael. Nie von ihr gehört. »Herrscht sie in einem Nachbarreich?« Soweit Puck wusste, hatte noch nie eine Frau die Führung von … irgendwas übernommen. Jedenfalls nicht offen. Frauen unterstützten ihre Könige.

»Ich bin mir nicht sicher«, gestand Sin.

Die Antwort spielte wohl auch kaum eine Rolle. Niemand drohte seinem Bruder und überlebte das. Niedergang? Nicht, solange Puck noch lebte.

Sin hatte ihm nicht nur öfter das Leben gerettet, als er zählen konnte. Er hatte auch seine Seele gerettet.

Kurz vor Pucks siebtem Geburtstag war ihr Cousin in der Schlacht gefallen. Der König hatte einen neuen Kommandanten aus der königlichen Linie gebraucht und sich für Puck entschieden. Was bedeutete, dass der kleine Prinz so schnell wie möglich den Armen seiner Mutter entrissen worden war, damit er nicht länger unter dem Einfluss »weiblicher Verzärtelung« stand.

Ruiniere einen Jungen, und du ruinierst den Mann, der er einmal wird.

Das hatte sein Vater seiner Mutter entgegengeschleudert an dem Tag, als Puck ihr weggenommen worden war.

»Ich gehe mit«, hatte der fünfjährige Sin verkündet. »Wo du hingehst, will ich auch sein.«

Die Einzelheiten dieses schicksalhaften Tages hatten sich auf ewig in Pucks Gedächtnis gebrannt. Das Wehklagen ihrer Mutter, das durchs ganze Schloss zu hören gewesen war. Meine Kleinen. Bitte nimm mir nicht meine Kleinen weg. Die Tränen, die Sin übers Gesicht geströmt waren, als er Pucks Hand ergriffen und bereitwillig das einzige Zuhause zurückgelassen hatte, das er je gekannt hatte. Wie sehr ihn die unerschütterliche Entschlossenheit seines kleinen Bruders, bei ihm zu bleiben, getröstet hatte.

Über Jahre wurden sie beide von den härtesten Soldaten des Clans ausgebildet und jegliche sanfteren Emotionen aus ihnen herausgeprügelt, herausgepeitscht oder weggeschnitten.

Im Alter von zwölf und zehn hatte ihr Vater ihnen jeweils ein Schwert in die Hand gedrückt und sie inmitten der gefährlichsten Dünen ausgesetzt. Seine Abschiedsworte: Kehrt mit den Herzen unserer Feinde zurück – oder gar nicht.

Könnte Puck in der Zeit zurückreisen, hätte er verlangt, dass Sin bei ihrer Mutter bliebe, geliebt und behütet in ihren zärtlichen Armen. Jetzt waren seine Schuldgefühle ihm ein ständiger Begleiter. Bis er das Kämpfen erlernt und gemeistert hatte, war er nicht in der Lage gewesen, Sin vor tagtäglichen Misshandlungen zu beschützen. Schlimmer noch: Ihre Mutter war gestorben, bevor sie sie hatten besuchen können.

Kurz nach dem Weggang ihrer Söhne hatte sie eine Fehlgeburt gehabt und sich in ihrem Kummer selbst zu Asche verbrannt. Ein Krieger hätte die Flammen vielleicht überleben können, aber nicht eine Frau ohne Runen und Magie.

Puck rieb sich den Nacken und überlegte, wie er am besten vorgehen sollte. »Hast du die Schatulle geöffnet?«

»Nein. Ich habe auf dich gewartet«, antwortete Sin, und in seiner Stimme war ein leises Zittern der Furcht zu hören.

Furcht? Unmöglich. Sin fürchtete gar nichts, solange Puck ihm den Rücken freihielt.

»Ich hätte das verfluchte Ding nicht in dein Zelt bringen sollen.« Hastig trat sein Bruder an den Tisch. »Ich bringe es lieber …«

»Nein.« Mit ausgestrecktem Arm hielt Puck den Jüngeren zurück, bevor er die Schatulle berühren konnte. Ja, Sin hatte sie bereits in den Händen gehalten und keinerlei Konsequenzen davongetragen. Trotzdem. Es gab keinen Grund, weitere Risiken einzugehen. »Ich will wissen, was da drin ist.« Er wollte erfahren, was diese unbekannte Königin gegen seine Familie einzusetzen gedachte.

»Ich hole einen der Kommandanten. Lass den …«

»Nein. Das mache ich selbst.« Ein guter König stellte sein Leben nicht über das seiner Untertanen. »Lass mich allein. Ich gebe dir Bescheid, was ich in der Schatulle finde.«

»Wenn du bleibst, bleibe ich auch.«

Ein weiteres Scheit auf das Feuer seiner Schuldgefühle. Er knackte mit dem Kiefergelenk. »Ich will dich nicht in Gefahr sehen, Bruder.« Weder jetzt noch sonst irgendwann.

Einen einzigen Herzschlag lang schimmerten Tränen in Sins Augen. Rasch blinzelte er sie fort.

»Und trotzdem«, erwiderte er, »gedenke ich zu bleiben.«

Warum die Tränen? Plötzlich konnte Puck den Gedanken nicht ertragen, seinen Bruder irgendwo anders als an seiner Seite zu wissen. »Also gut. Tritt zurück.«

Während Sin an die Rückwand des Zelts zurückwich, zog Puck ein Kurzschwert und wappnete sich gegen das Schlimmste. Eine Explosion? Eine magische Falle? Dann tat er es – er klappte den Deckel auf.

Anfangs geschah gar nichts. Doch von einem Herzschlag zum nächsten erhob sich schwarzer Rauch aus dem Kästchen und erfüllte die Luft mit dickem Schwefelgestank, der ihm in der Nase brannte. Blinzelnd öffneten sich rot glühende Augen, richteten sich auf ihn und verengten sich.

Puck fuhr zurück und stieß zugleich mit dem Schwert zu. Wirkungslos glitt das Metall durch die Finsternis. Was, zum …

Im nächsten Augenblick erschien eine gehörnte Kreatur – der Besitzer dieser Augen. Schrill kreischend sauste sie herab. Ihr Ziel: Puck. Hastig versuchte er zur Seite zu springen. Zu spät. Die Kreatur …

Sengender Schmerz fuhr ihm in den Leib und drängte ein Brüllen aus seiner Kehle. Die Kreatur war in seinen Körper gefahren und zerfetzte ihm die Innereien. Beißend und klauenschlagend wütete das Ungeheuer, doch äußerlich waren keinerlei Verletzungen an Puck zu entdecken.

Fieberhaft ließ er das Schwert fallen und zerkratzte sich mit bloßen Händen die Brust, schlitzte Haut und Muskeln auf – ohne Erfolg. Die Kreatur blieb in ihm, eine finstere Präsenz, heulend, eine giftige Mischung aus Hass und Genuss.

Das Blut in Pucks Adern hätte genauso gut Brennstoff sein können, jede Zelle seines Körpers schien in Flammen aufzugehen und ihn von innen heraus zu schmelzen, während er … sich verwandelte? Aus seiner Schädeldecke drängten zwei Flammenringe, als wären Kreise in den Knochen gebrannt worden. Er hob die Hände und ertastete … Hörner?

Durch zusammengebissene Zähne keuchend, riss er an den braunen Fellbüscheln, die plötzlich aus seinen Beinen sprossen. Das Fell blieb. Als Nächstes wuchs eine harte Hülle um seine Füße – Hufe? – und ließ seine Lederstiefel an den Säumen bersten.

Verwandlungen waren für ihn nichts Neues, aber diese Transformation hatte ihn im Griff, nicht andersherum. Er konnte sie nicht aufhalten.

Gezackte schwarze Linien erschienen auf seiner Brust und breiteten sich sengend wie kleine Lavaströme aus. Es formte sich ein Bild. Ein Schmetterling mit Flügeln wie aus scharf zersplittertem Glas. Im Feuerschein schimmerte er in den verschiedensten Farben, eine nach der anderen, während eine Vielzahl von Empfindungen auf ihn einströmte.

Hauptsächlich erfasste ihn Panik und hielt ihn bei der Kehle gepackt, würgte ihn förmlich. War das eine Halluzination, die der Rauch hervorgerufen hatte?

Oder wurde er tatsächlich gerade zu einem Monster?

Seine Knie gaben unter ihm nach, waren nicht mehr in der Lage, sein Gewicht zu tragen. Keuchend ging er zu Boden, und als er so dalag, verebbte die Panik. Sein Blick fiel auf das Schwert des Walsh-Königs, und der Stolz, der ihn eben noch erfüllt hatte, verblasste und verschwand schließlich völlig. Die Hingabe, die er seinem Reich und seinem Volk entgegenbrachte … fort. Er fühlte nichts. Das Schwert war ein fein geschmiedetes Stück Metall, das Reich ein räumlich abgegrenztes Gebiet ohne Bedeutung, seine Bewohner waren unwichtig.

Puck suchte nach Emotionen, ganz gleich welchen, die sich irgendwo verborgen haben mussten. Da! Seine Liebe zu Sin, ein strahlendes Leuchtfeuer.

Er würde seinen kleinen Bruder beschützen vor diesem … was auch immer es war. Doch als er die Hand nach Sin ausstrecken wollte, erstarrten seine Muskeln und machten ihn bewegungsunfähig, Panik flackerte erneut auf.

»Sin!«

Sin wich seinem Blick aus.

Irgendwas stimmt hier nicht …

Zum zweiten Mal begann sich grauenvolles Nichts in Puck breitzumachen – diesmal auf seinen Bruder gerichtet. Kostbarer Sin. Geliebter Sin. Sein … Lebensinhalt. Eine unsichtbare Klinge schnitt in sein Herz, und die Zuneigung sickerte, troff, strömte heraus.

Trotzdem kämpfte er weiter. »Ich liebe dich«, stieß er heiser hervor. Ich darf Sin nicht verlieren. Ich kann nicht … Doch noch während er sprach, wurde sein Herz leer.

Eben loderte seine Liebe unauslöschlich, ob durch Krieg, Verfolgung oder Tragödie, im nächsten Moment war sie wie eine erloschene Fackel.

Puck schaute zu Sin auf und empfand … nichts. Weder hatte er ihre Vergangenheit vergessen noch die vielen Arten, auf die sein Bruder ihm über die Jahrhunderte geholfen hatte, oder was Sin ihm zuliebe alles aufgegeben hatte, doch es kümmerte ihn schlichtweg nicht mehr.

Sin ging vor ihm in die Hocke, und wieder verdunkelte Traurigkeit seinen Blick. »Es tut mir leid, Puck. Das tut es wirklich. Ich wusste, was in der Schatulle war. Keeleycael … Sie wusste von unserer Prophezeiung und hat behauptet, wir befänden uns bereits auf dem Weg in die Verdammnis, es würde tatsächlich einer von uns den anderen umbringen. Auf diese Weise können wir beide weiterleben. Ich … ich konnte dich einfach nicht töten, aber ich konnte auch nicht zulassen, dass du mich tötest. Dafür hättest du dich gehasst. Es tut mir leid«, sagte er noch einmal. »So unendlich leid.«

Sein Bruder hatte ihn verraten?

Unmöglich. Etwas so Grausames würde Sin niemals tun.

»Ich habe einen Handel mit einer Teufelin geschlossen«, fuhr Sin fort. »Das werde ich mir nie verzeihen, aber besser ich als du, aye? Verstehst du denn nicht? Weder die Krone noch die Clans werden dich von nun an interessieren. Du bist jetzt besessen vom Dämon der Gleichgültigkeit.« Er tippte Puck auf die Brust, sein Tonfall verhärtete sich: »Ihr zwei seid auf ewig miteinander verbunden.«

Plötzlich loderten Trauer, Entschlossenheit und Zorn – so übermächtiger Zorn – in Puck auf. Eine regelrechte Explosion! Sein Bruder hatte ihn verraten. Hatte aktiv seinen Niedergang betrieben. Doch genau wie alles andere verblassten auch die Trauer, die Entschlossenheit und der Zorn, bis nur noch kaltes Desinteresse zurückblieb.

Puck der Unbesiegte war soeben zu Puck dem Gearschten geworden.

Ich sollte verschwinden. Er mochte zwar keinerlei Ambitionen haben, seinen Bruder zu töten oder hierzubleiben oder auch nur zu gehen, doch der gesunde Menschenverstand sagte ihm: Bleib nicht bei dem Mann, der dir Schaden zugefügt hat.

Endlich lockerten sich seine Muskeln, und er konnte aufstehen.

»Ich habe das für uns getan«, beteuerte Sin, richtete sich ebenfalls auf und streckte eine Hand nach ihm aus. »Sag mir, dass du das verstehst. Sag mir, dass wir zusammenbleiben.«

Stumm wich Puck seinem Bruder aus und trat zurück. Er würde einen Spaziergang machen und darüber nachdenken, was geschehen war und wie es für ihn weitergehen sollte.

»Puck …«

Ohne einen Blick zurück marschierte er aus dem Zelt.

2. Kapitel

Jahrhunderte vergingen. Ihre genaue Zahl war Puck entfallen. Er hatte kein Bedürfnis, sie mitzuverfolgen.

Er kehrte nicht zu seinem Bruder und seinem Clan zurück, auch nicht, als Gerüchte von Sins Brutalität an seine Ohren drangen. Offenbar hatte sein Bruder sich zum blutrünstigsten Tyrannen in der Geschichte von Amaranthia entwickelt. Sin riss einen halben Wald ab – einen von nur zweien im gesamten Reich –, um eine Festung errichten zu lassen. Er machte Sklaven aus den Connachts und jeglichen anderen Clanmännern, die er gefangen nahm, und tötete jeden, der »seinen Niedergang plante«.

In Sins Vorstellung planten Tausende seinen Niedergang.

Puck dagegen kannte die Wahrheit. Sins schwarze Seele war endlich zum Spielen hervorgekommen.

Ziellos wanderte Puck durch Amaranthia, von einem Ende zum anderen. Wer ihm in den Weg kam, starb. Wenn er irgendetwas sah, das er zum Überleben brauchte, nahm er es sich. Nahrung. Waffen. Eine Unterkunft für die Nacht. Manchmal gestattete er einer Frau, sich zu ihm zu legen. Er konnte hart werden, und eine Frau konnte ihn reiten und ihre Befriedigung erlangen, doch ihre Lust war für ihn ohne Bedeutung – und seine eigene unerreichbar. Obwohl er ein körperliches Bedürfnis nach Erleichterung verspürte, verfügte niemand über die Macht, ihn zum Höhepunkt zu bringen. Nicht einmal er selbst.

Er wusste noch, wie er einmal insgeheim davon geträumt hatte, ein ums andere Mal mit derselben Frau zu schlafen. Als er es tatsächlich durchzog, empfand er die Erfahrung als eher dürftig.

Je mehr Puck sich an Gleichgültigkeit gewöhnte, desto mehr wurde ihm klar, dass der Dämon seine Emotionen nicht stahl oder sie auslöschte – es gar nicht konnte –, sondern sie nur begrub und verbarg, etwas, woran das Ungeheuer nach einer Weile die Lust verlor; inzwischen fand es Geschmack daran, ihn zu bestrafen, wann immer er zu lange zu viel empfand.

Das ist dir nie gleichgültig, was, du Unhold?

Auch jetzt schlich die Kreatur durch sein Bewusstsein, jeder Schritt wie der Schwung eines Vorschlaghammers, und lauerte auf einen Fehltritt von Puck.

Er hatte lernen müssen, seine Gefühle zu unterdrücken und zu verbergen und sie mit einer dicken Schicht mystischen Eises zu überziehen, erschaffen mithilfe von Magie, deren Vorräte er nie zur Neige gehen ließ. Die Art von Magie, die er jederzeit und überall wirken konnte. Das Eis brachte Empfindungslosigkeit mit sich, die Empfindungslosigkeit brachte Frieden.

Ein notwendiger Vorgang. In seinem Innern brodelte noch immer ein Quell von Zorn, Hass, Sorge und Hoffnung. Er war ein Pulverfass, und eines Tages würde er in die Luft gehen.

Wenn das geschah …

Würde Gleichgültigkeit ihn dann töten? Würde Puck den Tod willkommen heißen oder kämpfen?

Wenigstens warnte der Dämon ihn vor, wann immer Puck eine Emotion entwischte. Fauchen entsprach in etwa einem Klaps auf die Finger. Brüllen bedeutete, dass Puck sich auf dünnem Eis bewegte. Wenn er ein Schnurren hörte, wusste er, dass er zu lange zu viel empfunden hatte und dass jeden Moment die Hölle losbrechen würde – über ihn.

In solchen Fällen beraubte der Dämon ihn sämtlicher Kraft und machte ihn tagelang bewegungsunfähig. Praktisch komatös.

Um diese Bestrafung zu vermeiden, hatte Puck Regeln für sich aufgestellt, die er peinlich genau befolgte.

Traue niemandem. Denk daran: Jeder lügt.

Töte jeden, der dein Überleben gefährdet, und übe auch für die kleinste Herabsetzung Vergeltung.

Iss drei Mahlzeiten am Tag, und beschaffe dir Kleidung und Waffen, wann immer es möglich ist.

Lass Worten immer Taten folgen.

Irgendwann war ihm Prinzessin Alannah von Daingean über den Weg gelaufen. Sie hatte schreiend die Flucht ergriffen, entsetzt über das Monster, zu dem er geworden war. Nun ja.

Obwohl ihm nach wie vor pulsierende Magie innewohnte, hatte Puck seine Fähigkeit zum Gestaltwandel verloren. Die Hörner erhoben sich weiterhin über seinen Kopf, zwei elfenbeinerne Schandmale. Auch das Fell an seinen Beinen und die Hufe waren geblieben, egal, wie oft er sie sich abgehackt hatte, weil er gehofft hatte, sich möglicherweise – nur ganz vielleicht – von dem Dämon befreien zu können, wenn er seinen Körper von dessen abstoßenden Attributen befreite.

Im Lauf der Zeit griffen ihn verschiedene Männer an, die entschlossen waren, den in Ungnade gefallenen Connacht-Prinzen zu töten. Puck wurde erdolcht, gepfählt und gehängt, gerädert und gevierteilt und in Brand gesteckt. Wann immer er konnte, wehrte er sich. Und wenn er es wegen des Dämons nicht schaffte, sich zur Wehr zu setzen, wartete er, bis sein Körper sich erholte, und übte dann gnadenlos und ohne Skrupel Vergeltung, erfasst von einer Rage, die er nicht zu beherrschen vermochte.

Natürlich bestrafte Gleichgültigkeit ihn dafür jedes Mal.

Eines Morgens stapfte Puck über die Dünen, die er einst so geliebt hatte, und spürte seine Füße pochen. Beziehungsweise seine Hufe. Ein kurzer Blick nach unten informierte ihn, dass er zahlreiche Verletzungen erlitten hatte und eine Spur von Blut hinter sich herzog. Er musste sich ein Paar Schuhe stehlen und sie anpassen. Und Kleider. Er hatte vergessen, sich anzuziehen.

Zwei goldene Sonnen beschienen ein kleines Lager in der Ferne. Perfekt. An einem Seil zwischen den Zelten wehten verschiedene Kleidungsstücke im Wind, der den Geruch von Fleisch mit sich trug. Über dem Feuer briet ein Coinín.

Draußen war niemand zu sehen, doch aus einem der Zelte waren Stimmen zu hören, als er näher kam.

»… heute Morgen verkündet. Prinz Taliesin von Connacht hat seinen Vater im Schlaf ermordet.«

»Das heißt dann wohl, dass er jetzt König Taliesin ist«, lautete die gegrummelte Antwort. »Eigentlich sollte Prinz Neale die Nachfolge antreten, aber der ist tot, glaube ich.«

Puck blieb abrupt stehen. Sin hatte ihren Vater getötet?

Sie hatten den Mann beide verabscheut, aber kaltblütiger Mord? Während der Connacht schlief? Das war armselig.

Puck wartete auf den Faustschlag der Überraschung … des Ekels … des Zorns … irgendetwas. Keine Gefühlsregung sickerte durch das Eis in ihm. Als er sich in eine zu enge Schaflederhose zwängte, fragte er sich, was er empfinden sollte. Vielleicht alles zuvor Genannte? Definitiv ein Bedürfnis, seinen Bruder aufzuhalten.

»Und selbst wenn Prinz Neale nicht tot ist«, sagte jetzt einer der Männer im Zelt, »ein Tier ist er trotzdem noch.«

Neale – Puck.

»Und was wäre dir lieber, wer über deine Familie herrscht – Taliesin oder ein Tier?«, entgegnete der andere.

»Tier«, sagten beide zugleich.

Die Tatsache, dass irgendjemand lieber von ihm als von Sin regiert werden wollte … Die Connachts mussten verzweifelt sein.

Kann ich mich wirklich einfach abwenden und meinen Clan der Gefahr überlassen?

Und was, wenn Sin eine Frau heiratete, die ihn liebte, Puck tötete und dann die Clans unter sich vereinte? Daran würde Amaranthia mit Sicherheit zugrunde gehen.

Sin musste sterben.

Lass Worten immer Taten folgen.

Also gut, na dann. Puck würde die Connachts vor einem Wahnsinnigen retten und das gesamte Reich vor dem Untergang bewahren – und endlich an seinem Bruder Rache üben. Und tief in seinem Herzen wollte Puck Rache. Für die strahlende Zukunft, die er verloren hatte, und für die Liebe, die Sin so kaltherzig vernichtet hatte.

Er hatte es verdient, gegen den Mann zu wüten. Er hatte sich dieses Recht erarbeitet.

Gleichgültigkeit stieß ein warnendes Fauchen aus. Rasch rief Puck einen Hauch von Magie herbei und hüllte sein Herz und seine Gedanken in noch mehr Eis.

Als seine gletscherkalte Logik zurückkehrte, wurde ihm etwas klar: Wenn es dem Dämon gelänge, ihn seiner Kräfte zu berauben, würde Sin ihn besiegen.

Schon jetzt kennt er meine Schwächen

Unwillkürlich ballte Puck die Hände zu Fäusten. Er musste Sins Schwachpunkte finden.

Niemand vermochte bessere Ratschläge zu erteilen als die Orakel.

Puck aß das Coinín bis auf den letzten Bissen auf – Regeln sind Regeln –, spürte ein Paar Stiefel auf, passte sie mithilfe von Magie an seine Hufe an und marschierte dann Richtung Osten. Die Orakel hielten sich im gefährlichsten Teil von Amaranthia auf, wo kraftvolle Magie die Luft schwängerte und Risse im Raum-Zeit-Gefüge schuf, die in andere Reiche, in bodenlose Abgründe, das Herz eines Vulkans oder sogar auf den Grund des Ozeans führten. Nur die verzweifeltsten Bürger des Reichs wagten sich hierher vor. Jene, die sich selbst oder einen geliebten Menschen retten wollten, Könige, die einen Rat für die Wahl ihres Nachfolgers brauchten, oder solche wie Puck, die nichts zu verlieren hatten.

Die dreitägige Reise forderte ihren Tribut. Keine Lagerplätze, kein Essen, kein Wasser. Zumindest gelang es ihm, die Dimensionsrisse zu umgehen.

Endlich erreichte er die höchste Sandsteinsäule des Reiches. Auf dem Plateau an der Spitze lebten die Orakel, sie hatten einen Ausblick über … alles. Puck war zu schwach zum Klettern, und so erschuf er mit dem letzten Rest seiner Magie eine Treppe aus Sand.

Er musste sich mehr Magie verschaffen, was bedeutete, dass er jemanden würde töten müssen – und zwar bald.

Soll ich eins der Orakel niedermetzeln? Der Legende nach hatten die drei Amaranthia als sicheren Hafen für jeden mit magischen Fähigkeiten erschaffen. Ihre eigenen Magievorräte mussten grenzenlos sein, ja unerschöpflich.

Einst hätte ihn die Vorstellung, einer Frau ein Leid zuzufügen, angeekelt. Heute? Los geht’s. Eine Kraftquelle war eine Kraftquelle.

Doch vorher musste er sich um sein eigentliches Ziel kümmern. Als er das Plateau betrat, das weder durch Wände noch durch eine Brüstung abgesichert war, sah er drei Frauen beieinanderstehen, alle von der Brust bis zu den Oberschenkeln in farbenfrohe Tücher gehüllt. Feiner dunkler Nebel verhüllte ihre Gesichter.

Anstelle eines Grußes erklärte er: »Ihr wisst, warum ich hier bin.« Es musste so sein. »Wie erlange ich zurück, was mir gehört? Freiheit von diesem Dämon. Die Krone der Connachts. Einigkeit unter den Clans. Schutz für mein Reich. Sins schwarzes Herz auf dem Silbertablett. Prinzessin Alannah.«

Sie würde er sich als seinen gerechten Lohn nehmen.

Der kräftige Wind frischte noch mehr auf, und einstimmig fragten die Frauen ihn: »Wie lautet unser Credo, Puck der Unbesiegte?«

Jedes Kind von Amaranthia lernte dieses Credo von der Wiege an. Wer nicht gibt, der nicht gewinnt. Je persönlicher das Geschenk, desto detaillierter würde die Antwort ausfallen.

Was wäre persönlicher als sein eigenes schwarzes Herz?

Danach werde ich nicht mehr zum Töten in der Lage sein.

Das ist es wert.

Entschlossen zückte er einen Dolch aus einer Scheide an seiner Hüfte und rammte sich die Klinge zwischen die Rippen. Warmes Blut strömte ihm über die Brust. Schmerz zehrte an seinen Kräften, ebenso unerbittlich wie Gleichgültigkeit, und versengte jede Nervenzelle seines Körpers. Irgendwann gaben seine Knie unter ihm nach. Doch selbst während er zusammenbrach, hackte und säbelte er weiter durch Muskeln und Knochen. Endlich: Erfolg.

Als Unsterblicher würde er genesen … demnächst. Hier und jetzt würde er noch für eine, vielleicht zwei Minuten bei Bewusstsein bleiben. Mehr als genug Zeit für das, was er brauchte. Das hatte Sin ihn gelehrt: Von einem Atemzug zum nächsten konnte sich ein gesamter Lebensverlauf verändern.

Mit einer schwachen Bewegung aus dem Handgelenk rollte er sein noch schlagendes Herz zu den Orakeln. Es ertönten zwitschernde Laute der Zustimmung, gefolgt von Stimmen. Der Reihe nach richteten die Orakel das Wort an ihn.

»Du liebst unsere Heimat, unser Volk – trotz deiner … Einschränkung. Doch was einmal verkündet wurde, lässt sich nicht ungeschehen machen. Was geschehen wird, wird geschehen.«

»Eine Prophezeiung kann neben einer anderen wirken, und was war, kann gerichtet werden.«

»Um uns alle zu retten, heirate das Mädchen, das William aus der Dunkelheit gehört … Sie ist der Schlüssel …«

»Bring deine Angetraute in unsere Lande, und leite alsdann den Dunklen hierher. Nur der Mann, der für das Mädchen leben und sterben würde, besitzt die Macht, Sin den Umnachteten vom Thron zu stoßen.«

Wann hatte Sin sich denn den Beinamen »der Umnachtete« verdient?

»Erst dann wird dir alles zuteilwerden, was dein Herz begehrt.«

»Vergiss jedoch nicht die Schere der Ananke, denn sie ist unerlässlich …«

Gemeinsam raunten die Orakel: »Es gibt keinen anderen Weg.«

In der darauffolgenden Stille wirbelten Pucks Gedanken durcheinander. William aus der Dunkelheit. Weder von ihm noch von dem Mädchen, für das der Kerl »leben und sterben« würde, hatte er je gehört. Beide mussten nach Amaranthia gebracht werden, einer nach dem anderen. Nun gut.

Während dunkle Schwere an den Rändern seines Bewusstseins zupfte, ordnete er seine Gedanken und stellte seine Aufgaben auf.

Finde William aus der Dunkelheit. Heirate das Mädchen, das er liebt. Zieh in den Krieg gegen Sin.

Eine Prophezeiung würde die andere nicht ungeschehen machen. Vielmehr würden die beiden ineinandergreifen. Was bedeutete, dass William Sin nicht töten, sondern nur entthronen würde. Alles andere würde bei Puck liegen.

Nichts würde ihn davon abhalten, seine Aufgaben zu erfüllen. William. Heiraten. Krieg. Eines Tages würde Puck die Krone der Connachts tragen, sein Volk erretten und die Clans einen.

Schließlich hörte das Zupfen auf, und die Schwere verschlang ihn, bis er ganz und gar verschwand. Von da an wusste er nichts mehr.

3. Kapitel

Gillian Shaw, v. P. (vor Puck)
T minus 4 Tage und 32 Sekunden bis Geburtstag

Ich kann das. Ich kann es tun.

Sexy Reizwäsche? Check.

Betörendes Parfum? Check.

Zähne geputzt und zur Sicherheit gleich noch mal? Check, Check.

Gillian Shaw – ebenfalls bekannt als Gillian Bradshaw, Gilly Bradshaw und Jill Brads, je nachdem, welchen Ausweis sie gerade benutzte – marschierte von einem Ende des Raums ans andere und fühlte sich wie eine angeknackste Porzellanpuppe kurz vor dem Zerbrechen. Ich bin so gut wie achtzehn. Ich kann das.

Ihr Magen entgegnete: Das hättest du wohl gern.

Da sie nicht den Perserteppich besudeln wollte, stürzte sie ins Bad. Gerade noch rechtzeitig, um ihren Mageninhalt in die Toilette zu speien.

Ihr Freund – wem wollte sie eigentlich etwas vormachen? Er war nicht »ihr Freund«. Noch nicht. Er war ein unsterblicher Krieger von unvergleichlicher Schönheit und Macht, Trillionen Jahre alt und einer der neun Könige der Unterwelt. Oder zumindest gewesen. Unter Unsterblichen wechselten Titel genauso schnell wie der Besitz von Königreichen oder deren Verlust, und mittlerweile hatte sie den Überblick verloren. Was sie jedoch ohne jeden Zweifel wusste: William aus der Dunkelheit war eine gnadenlose Tötungsmaschine. Freunde wie Feinde fürchteten ihn, und doch – sobald er lächelte, fielen die Höschen.

Der Kerl kam herum. Bei jeder Menge Frauen. Keine konnte ihn länger halten … Abgesehen von Gillian, mit der er partout nicht ins Bett wollte.

Es wurde Zeit, ihn eines Besseren zu belehren.

Auch wenn er nie etwas bei ihr versucht hatte, war ihm das Zusammensein mit ihr immer angenehm gewesen. Unverkennbar! Mit ihr scherzte und lachte er wie mit niemandem sonst. Erst heute Morgen hatte er sie um ihre Meinung gebeten, welches T-Shirt er anziehen sollte. Eins mit der Aufschrift »Ich kann Bier verschwinden lassen« oder eins, das ihn als »weltmittelmäßigster Freund« auszeichnete.

War ihm überhaupt klar, was für eine Seltenheit er war? Was für ein Gewirr von Widersprüchen? Er war kompromisslos tapfer und verbreitete zugleich Entsetzen, war barbarisch, aber ehrenhaft, wenn auch mit einem verdrehten Moralkompass. Bereit, unaussprechlich böse Dinge zu tun, und doch gab es (einige wenige) Grenzen, die er niemals überschreiten würde.

Für Gillian war er die letzte Hoffnung.

Ich muss ihn umstimmen. Hatte sie sich mit ihrer ausgiebigen Internetrecherche ausreichend vorbereitet? Das richtige Outfit gewählt? Sich oft genug die Zähne geputzt? Puh. Vielleicht sollte sie lieber nach Hause gehen, bevor er zurückkehrte, sie halb nackt in seinem Schlafzimmer vorfand und den Verlauf ihrer Beziehung unwiderruflich veränderte.

Zu spät. Ist schon verändert.

Vor einer Weile war er nach einer besonders grausamen Schlacht ans Bett gefesselt gewesen. In seinem geschwächten Zustand hatte er niemand anderen als sie an sich herangelassen. Während sie seine Wunden pflegte, hatte er zugegeben, dass er ihre Gefühle für ihn spürte, und ihr gesagt, sie könnten nie mehr als Freunde sein. Dass sie zu jung sei, um mit einem Mann intim zu werden und zu verstehen, was das bedeutete.

Dank ihres Stiefvaters wusste sie allerdings bereits seit Jahren, was intim werden bedeutete. Der Mann hatte ihr kranke, widerwärtige Dinge angetan, an die sie nicht zurückdenken konnte, ohne sich den Tod zu wünschen. Zusätzlich hatte er auch noch seinen Söhnen beigebracht, ihr kranke, widerwärtige Dinge anzutun.

Trotzdem hatte sie Tag für Tag um ihr Leben gekämpft. Sie hasste ihre Stiefmonster zu sehr, um ihnen den Sieg zu überlassen.

Nach Williams Zurückweisung hatte sie versucht, ihn zu meiden. Er hatte dennoch ihre Nähe gesucht und so getan, als wäre nichts geschehen. Obwohl … nein. Hundertprozentig stimmte das nicht. Seit sie ihm das Schlimmste aus ihrer Vergangenheit anvertraut hatte, behandelte er sie, als bestünde sie aus Glas.

Jetzt gab es zwei Gillians – zwei einander bekriegende Wölfe. Die eine Gillian fürchtete sich vor ihren Gefühlen für William, die andere wollte nur noch mehr fühlen. Die eine sah ihn an und dachte: Er ist der Furcht einflößendste Mann auf Erden. Die andere sah ihn an und dachte: Er ist der heißeste Mann auf Erden.

So viel zum Thema gedankliches Schleudertrauma! Was spielte nun die größere Rolle? Furcht einflößend oder heiß?

Äh, wie wäre es mit keins von beidem? Er war nett, die einzige Eigenschaft, die zählte.

In letzter Zeit verbrachte er jedoch immer weniger Zeit mit ihr. Was, wenn er sie langsam satthatte? Was, wenn er sie fallen ließe?

Es gab nur einen Weg, das Interesse eines Mannes an einer Frau wachzuhalten …

Ihr drehte sich der Magen um. Du bestätigst nur, was er gesagt hat. Du bist noch nicht bereit. Was du hier tust, ist verkehrt.

Nein. Nein! Sich von ihrer Angst leiten lassen? Nie wieder. Heute Nacht würde sie die Kontrolle über ihr Schicksal ergreifen und beweisen, dass sie Liams sämtliche Bedürfnisse zu erfüllen vermochte.

Gillian spritzte sich Wasser ins Gesicht und betrachtete ihr Spiegelbild. Gequälte dunkle Augen blickten ihr entgegen, und sie zog ärgerlich eine Grimasse. Niemand auf dieser oder irgendeiner anderen Welt hatte jemals seine Augen so sehr gehasst wie sie ihre.

Du willst, dass ich aufhöre, dich anzufassen? Dann sag diesen schönen Augen, sie sollen aufhören, mich um mehr anzuflehen.

Kalter Schweiß trat ihr auf die Stirn, ihr Magen drohte ein zweites Mal zu rebellieren.

Okay. Also. Sie würde garantiert Panik kriegen heute Nacht.

»Du bist die Mühe wert«, murmelte sie sich zu. »Und Liam auch.«

Mit seiner Güte und Sanftheit hatte er sich ihr Vertrauen, ihre Loyalität und ihre Liebe erarbeitet. Und wie durch ein unerklärliches Wunder war ihr dasselbe bei ihm gelungen. Er musste ihr vertrauen und sie lieben – ungeachtet seiner Zurückweisung. Warum hätte er sonst gestern eine Überraschungs-Vorgeburtstags-Party für sie schmeißen und ihr ein neues Auto schenken sollen? Einen Mercedes-Benz S600 Guard, um genau zu sein.

Ihren neidischen Klassenkameraden zufolge war es das sicherste Fahrzeug, das man für Geld kaufen konnte, und es war imstande, Scharfschützenbeschuss, Granatwerfern und Hochgeschwindigkeitsprojektilen zu widerstehen. Oh, und es hatte sechshunderttausend Dollar gekostet, eine unverschämte Menge Geld. William war zu allem anderen auch ein gewiefter Geschäftsmann und konnte mit den Moneten nur so um sich werfen.

Was ihr jedoch um ein Vielfaches wertvoller war als der Mercedes? Das handgeschriebene Gutscheinbuch, das er ihr überreicht hatte. Darin befanden sich Gutscheine für nächtelange Videospiel-Duelle, mehrere Dinner überall auf der Welt und einen Shopping-Ausflug, bei dem er ihre Handtasche tragen würde.

Außerdem enthielt das Büchlein zwanzig Coupons für »den Kopf oder das Herz eines Feindes.«

Aber was noch besser war als all das? Sie hatte ein bisschen Klatsch und Tratsch aus ihrem gemeinsamen Freundeskreis aufgefangen. William betrachtete sie als seine vom Schicksal bestimmte Partnerin!

Das Problem war nur, dass er sich weiterhin mit anderen Frauen traf.

Ich muss ihn für mich gewinnen, bevor er sich in eine andere verliebt.

Ein wenig wacklig auf den Beinen, packte Gillian die Ersatzzahnbürste aus und putzte sich ein drittes und viertes Mal die Zähne. Er liebt mich. Er wird mich immer lieben. Bestimmt.

Vor nicht allzu langer Zeit war sie mit ein paar der Kids aus ihrer Schule ausgegangen. Auch wenn sie sich unwohl gefühlt hatte, war sie entschlossen gewesen, Spaß zu haben. Doch als sich irgendwann alle zu Pärchen zusammengetan hatten und sie sich mit einem der Jungs allein wiedergefunden hatte, war sie in Panik geraten. Was, wenn er etwas bei ihr versuchte? Gerade als sie geglaubt hatte, jeden Moment durchzudrehen, war William auf der Bildfläche erschienen.

»Du rührst sie nicht an. Niemals«, hatte er dem Jungen befohlen, in seiner Stimme hatte nackte Bedrohlichkeit gelegen. »Fass sie an, und du stirbst.«

Anders als ihr Stiefvater beschützte er sie. Er war ein strahlendes Licht in einem Leben in tiefster Dunkelheit.

Bei ihm fühlte sie sich beinahe normal.

Gillian brauchte das Gefühl, normal zu sein. So viele der Mädchen in ihrem Alter fanden es aufregend, die »Freuden« des Sex zu entdecken. Doch sie verabscheute den Akt schon jetzt. Die Gerüche, Geräusche und Empfindungen. Die Schmerzen, die Erniedrigung und die Hilflosigkeit.

Was, wenn William sie mit diesen Freuden bekannt machen konnte?

Ihr Handy vibrierte. Eine Nachricht von William? Hoffnungsvoll und zugleich voller Grauen schaute sie auf den Bildschirm. Keeley.

Kurze Frage. Es gibt keine falsche Antwort. Wenn du eine Königin wärst – wie ICH – und dir jemand ein Leid zufügen würde, um dich zu retten, würdest du demjenigen vergeben oder ihn töten?

Keeley, die Rote Königin, war eine Kuratorin, deren Aufgabe es war, für das Wohlergehen der Erde zu sorgen. Sie zog ihre Kraft aus der Natur und bezeichnete ihren Verstand als Pinnwand, weil sie schon so lange lebte und sich so viele Erinnerungen in ihrem Gehirn tummelten. Nicht bloß an die Vergangenheit, sondern auch an die Zukunft. Oder eine Zukunft, die sie einmal gesehen, seither aber vergessen hatte. Inzwischen kam die Erinnerung daran langsam zurück, und die Ehe mit Torin half ihr, geistige Klarheit zu gewinnen.

Aus irgendeinem Grund hatte sie beschlossen, Gillian unter ihre Fittiche zu nehmen und sie zu einer Königin auszubilden, und zwar mithilfe von Lektionen, die sie als »kurze Fragen« tarnte.

Gillian antwortete:

Das sind meine einzigen Optionen? Denjenigen töten oder ihm vergeben? Okay, ich spiele mal mit. Aber bevor ich mein Urteil fällen kann, brauche ich mehr Informationen. Wie hat diese Person mir Leid zugefügt?

Keeley: Wer weiß? Ich war nicht dabei.

Gillian: Ich brauche trotzdem mehr Infos.

Keeley: Falsche Antwort. Du musst mir verzeihen.

Keeley: Ich meine, ihm. IHM. Sonst wird die Verbitterung wuchern wie Unkraut und jegliche Freude ersticken. Okay, gut. Ich hoffe, du hattest Spaß an dieser Lektion zum Überleben in der wundervollen Welt der Unsterblichen von Professor Königin KeeKee.

Gillian: DIR verzeihen??? Was hast du angestellt, K.? Oder was wirst du anstellen? Raus damit!

Keeley: :) :) :) Hab dich lieb, mein süßes kleines Nichtmenschlein, du!

Nichtmenschlein? Manchmal war die Rote Königin beim besten Willen nicht zu verstehen.

Schnaubend steckte Gillian das Telefon weg und blieb dabei erneut an ihrem Spiegelbild hängen – diese Augen. Ihr fiel wieder ein, wieso sie in Williams Wohnung war, und Angst erstickte ihre Erheiterung.

Argumente dagegen, diese Aktion heute durchzuziehen: (1) Möglicherweise würde sie sich immer wieder übergeben. (2) Wenn sie scheiterte, würde sie womöglich nie wieder den Mut finden, es zu versuchen, und (3) es könnte sie Williams Freundschaft kosten.

Die Argumente dafür: (1) Sie hatte sich ihn aus freiem Willen selbst ausgesucht. (2) Sie hatte die Begegnung durchgeplant, und (3) sie würde alles kontrollieren, was immer auch geschah. Komme, was wolle, Sex mit ihm würde anders sein. Und anders bedeutete besser.

Und was wäre, wenn die Erinnerungen an William die Erinnerungen an ihren Stiefvater überstrahlten? Was, wenn William ihr helfen würde, all die Schuldgefühle, die Scham und den Selbsthass loszuwerden, die sich in ihr Herz gewühlt und dort Wurzeln geschlagen hatten?

Dann wäre sie nicht länger eine bloße Hülle ihrer selbst. Sie würde Selbstbewusstsein gewinnen. Der Hass in ihr würde versickern. Nie wieder würde sie sich fühlen, als würde das Leben sie zermalmen.

Ihr Handy summte. Ein kurzer Blick auf den Bildschirm, und sie stöhnte auf. Torin.

Wo steckst du?

Torin – ein weiterer unsterblicher Freund – war vor Kurzem mit Keeley zusammengekommen. Er war ein netter Kerl mit einer Vorliebe für Sarkasmus.

Gillian schrieb zurück:

Unterwegs. Wieso?

Torin: Was denkst du denn? Weil ich sichergehen will, dass es dir gut geht, Klugscheißer.

Ihre Finger flogen nur so über die Tastatur.

Gillian: Oder du hast William versprochen, auf mich aufzupassen, während er weg ist.

Torin: Das auch. Aber zurück zum Thema. Wo genau bist du?

Nie und nimmer würde sie ihn anlügen. »Lügen« war die einzige Sprache, die ihre Stiefmonster beherrscht hatten. Aber die nackte Wahrheit würde sie Torin auch ganz sicher nicht auf die Nase binden. Also tippte sie:

In meiner Wohnung, Dad. Danke der Nachfrage.

Sie hatte eine eigene Wohnung direkt neben der von William. Technisch gesehen gehörte ihre Wohnung ebenfalls ihm, weil er die Miete zahlte, aber was ihm gehörte, gehörte auch ihr – das hatte er selbst gesagt! Zweimal!

Torin: Als könnte ich nicht deine exakte Position nachverfolgen, Süße. Geh nach Hause. Was immer du auch vorhast, es ist eine ganz miese Idee. Furchtbar. Grauenhaft. Die schlechteste Idee aller Zeiten!

Was? Er wusste Bescheid? Noch heftiger zitternd als zuvor schaltete sie ihr Handy aus. Es war eine super Idee. Vielleicht die beste, die sie je gehabt hatte.

Atmen. Einfach weiteratmen. Es würde alles gut werden. William hatte Erfahrung. Eine Menge Erfahrung. Seine Freunde nannten ihn nicht umsonst William den Lustmolch und Free Willy. Er würde dafür Sorge tragen, dass sie es genoss, soweit sie eben dazu in der Lage war. Oder?

Verflixt. Wo steckte er? Was machte er?

Sie erinnerte sich noch an ihre erste Begegnung.

Um endlich ihren Stiefmonstern zu entfliehen, hatte sie Geld gestohlen und sich ein Busticket von New York nach L. A. gekauft. Dort hatte sie einen Job im einzigen Laden angenommen, in dem man bereit gewesen war, sie ohne Papiere einzustellen. Ein abgeranztes Diner, in dem Männer wie ihre Stiefmonster regelmäßig ein »Menü mit Happy End« bei ihr zu ordern versucht hatten.

Dann war Danika Ford aufgetaucht, eine gewiefte Kämpferin, die die übernatürliche Fähigkeit besaß, in den Himmel und in die Hölle zu blicken. Danika war auf der Flucht gewesen vor einer Gruppe dämonenbesessener Unsterblicher, die als Herren der Unterwelt bekannt waren, einer Furcht einflößender als der andere. Da war Paris, Hüter des Dämons Promiskuität. Sabin, Hüter des Zweifels. Amun, Geheimnisse. Aeron, Zorn. Reyes, Schmerz. Cameo, Elend. Strider, Niederlage. Kane, Katastrophe. Torin, Krankheit. Maddox, Gewalt. Lucien, Tod. Gideon, Lüge.

Gegen jede Wahrscheinlichkeit hatte Danika sich in Mr. Schmerz verliebt. Das glückliche Paar hatte Gillian eingeladen, mit ihnen nach Budapest zu ziehen. Da ihr Hausmeister in L. A. ein Widerling gewesen war, dessentwegen sie sich jede Nacht mit einem Baseballschläger in der Hand gegen die Wohnungstür gedrückt hatte, hatte sie gedacht: Warum, zum Teufel, nicht? In Europa würden ihre Stiefmonster sie niemals aufspüren können.

Bloß dass sie vom Moment ihrer Ankunft an das Gefühl gehabt hatte, vom Regen in die Traufe geraten zu sein. Ihre Angst vor ihren Mitbewohnern war so groß gewesen, dass sie nicht einmal hatte schlafen können und sich stattdessen im Unterhaltungszimmer verschanzt hatte – einem zentral gelegenen Ort mit zahlreichen Fluchtwegen.

Eines Tages hatte William sich neben ihr auf die Couch fallen lassen und gebrummt: »Bitte sag mir, dass du’s draufhast mit Spielekonsolen. Anya ist grottig, und ich brauche endlich mal eine Herausforderung.«

Monatelang hatten sie Videospiele gespielt, zu jeder Tages- und Nachtzeit, und zum ersten Mal seit einer Ewigkeit hatte sie sich wieder wie ein Kind gefühlt. Ihr Hass auf sämtliche Männer wandelte sich langsam, aber sicher in tiefe Zuneigung zu einem einzigen, während eine unerwartete Freundschaft erblühte. Schnell wurde William zum wichtigsten, kostbarsten und wundervollsten Fixpunkt in ihrem Leben. Der Mensch (beziehungsweise Unsterbliche), auf den sie sich mehr verließ als auf jeden anderen.

Auf leise quietschenden Angeln öffnete und schloss sich die Wohnungstür.

William war wieder da!

Ihr Herz hämmerte, und sie stürzte ins Schlafzimmer. Aus dem Flur ertönten Schritte. Obwohl ihre Beine wie Pudding waren, ihr der Atem durch zusammengebissene Zähne zischte und sie auf ihren hohen Absätzen Gleichgewichtsprobleme hatte, warf sie sich in Pose: eine Hand am Bettpfosten und die andere auf der Hüfte.

William kam in den Raum geschritten – mit einer anderen Frau an der Hand.

Demütigung gefror ihr das Blut in den Adern und hätte sie beinahe zu Boden gehen lassen. Die Fremde war atemberaubend schön, so dunkel, wie Gillian hell war, und vermutlich durch und durch unsterblich.

Als der Krieger Gillian entdeckte, blieb er abrupt stehen. Je länger sein Blick bei ihrem Outfit verweilte, desto mehr verengten sich seine Augen, und sie musste den Drang niederkämpfen, zu Boden zu schauen und ihre Augen zu verbergen.

»Du solltest nicht hier sein«, erklärte er mit kalter, harter Stimme und einer entsetzlichen Ruhe. Es war ein Tonfall, wie ihn ihrer Einschätzung nach Mörder benutzten. »Den Schlüssel habe ich dir nur für den Notfall gegeben, Püppchen. Nicht für … so was.«

»Von einem Dreier war nie die Rede, Will.« Die andere Frau lächelte strahlend. »Aber ich bin absolut dabei. Legen wir los!«

Kann mich bitte auf der Stelle jemand töten?

William zeigte auf Gillian und blaffte: »Rühr dich nicht vom Fleck.« Dann zerrte er die Schönheit aus dem Zimmer, ohne sich um ihre überrumpelten Proteste zu scheren.

Gillian drückte die Hände auf ihr galoppierendes Herz. Sollte sie die Flucht ergreifen?

Nein. Auf gar keinen Fall. Nur Mädchen rannten davon – Frauen kämpften um das, was sie wollten.

Ein dumpfer Knall hallte vom Flur herein. Erneut erklangen Schritte. Als William – allein – an der Tür erschien, hatte Gillian es aufgegeben, stehen bleiben zu wollen, und sich auf die Bettkante sinken lassen.

Stumm marschierte William in sein Ankleidezimmer. Als er wieder herauskam, legte er ihr einen Morgenmantel aus rosa Seide um die Schultern und schob ruppig ihre Arme in die Ärmel.

Zutiefst verletzlich beobachtete Gillian ihn durch den dichten Schirm ihrer Wimpern. Er war so wunderschön mit seinem rabenschwarzen Haar, der gebräunten Haut und Augen von der Farbe des Morgenhimmels. Er war der größte Mann, den sie kannte, und auch der stärkste.

»Was geht hier vor sich, Püppchen?« Die muskelbepackten Arme verschränkt, stand er vor ihr. Wenigstens klang er nicht mehr, als würde er gleich jemanden ermorden. »Warum hier? Warum jetzt?«

»Weil … darum eben!«

»Nicht gut genug.«

»Weil …« Sag’s einfach. Raus damit. »Weil Männer nun mal Sex brauchen und es keine bessere Methode gibt, einen bei der Stange zu halten. Außerdem will ich dich.« Vielleicht. Bestimmt. »Willst du mich auch?«

Er strich sich mit der Zunge über die Zähne. »Für diese Wahrheit bist du noch nicht bereit.«

»Doch, bin ich.« Sie sprang auf und krallte die Finger in seinen Kragen. »Bitte.«

»Deine Familie hat dir etwas Kostbares geraubt«, entgegnete er und löste ihren Griff, bestimmt, aber nicht gewaltsam. »Das werde ich nicht wiederholen.«

»Wirst du auch nicht. Wenn du mit mir schläfst, hilfst du mir, es zu vergessen.« Bettle ich ihn jetzt etwa an? Erneut stieg ihr Schamesröte ins Gesicht. »Wir sind vom Schicksal füreinander bestimmt, oder etwa nicht?«

Dieser Blick, mit dem er sie bedachte … So sanft, so zärtlich, dass er sie vernichtete.

»Ich will keine vom Schicksal für mich bestimmte Partnerin. Ich bin verflucht, schon vergessen?«

Nein. Sobald William sich verliebte, würde sich bei seiner Angebeteten angeblich ein Schalter umlegen, und sie würde alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihn zu ermorden.

In seinem Besitz befand sich ein Buch, in dem der Fluch in all seinen Einzelheiten beschrieben war, und möglicherweise auch der Schlüssel dazu, ihn zu brechen. Das Problem war nur: Diese Infos waren chiffriert, in seltsamen Schriftzeichen und Rätseln niedergeschrieben. Bisher hatte niemand irgendetwas davon entschlüsseln können. Doch das würde schon noch kommen.

»Du hast das Buch. Es gibt Hoffnung.« Wir haben eine Zukunft.

»Bei meinem Herzen gehe ich kein Risiko ein, weder physisch noch emotional.« Ohne ihren Blick loszulassen, spielte er mit einer Strähne ihres Haars. »Aber eines Tages werden wir miteinander schlafen. Und zwar bald. In vier Tagen, um genau zu sein. Dann werde ich absolut sicherstellen, dass du bereit bist.«

Die Erkenntnis: Er wollte mit ihr schlafen, wie er es mit so vielen anderen ebenfalls tat. Wenn ihre Beziehung danach ihren Glanz verlor – womit er offensichtlich rechnete –, würden sie … was tun? Wieder bloß Freunde sein, als wäre nichts geschehen?

Wenigstens habe ich ihn dann in meinem Leben.

Ich bin erbärmlich. »Ich … du … Ach, egal. Ich geh nach Hause.«

Er legte ihr die großen Hände an die Wangen und hielt sie fest. Angst kroch ihr übers Rückgrat. Die Art von Angst, mit der sie in New York rund um die Uhr gelebt hatte.

Du lässt deine Hände schön da, wo ich sie hingelegt hab, Mädchen, sonst breche ich sie dir.

Ihr schnürte sich die Brust zusammen, bis sie nicht mehr atmen konnte.

»Schon gut, Püppchen. Beruhig dich.« William kämmte ihr mit den Fingern durchs Haar. »Einmal tief Luft holen. Für mich.«

Mach den Mund auf. Für mich.

Gillian explodierte, panisch schlug sie auf William ein. »Lass mich los. Du musst loslassen.« Während unter ihren Fäusten seine Nase zu bluten begann und seine Unterlippe aufplatzte, kannte sie keinen Stolz. Kein Ziel außer Flucht. »Fass mich nicht an! Du musst aufhören, mich anzufassen!«

»Schhh. Schhh. Ich bin ja da.« Er riss sie an seinen harten Körper und schloss sie in die Arme, hielt sie gefangen. »Ich lass nicht zu, dass dir was passiert, versprochen.«

Unermüdlich kämpfte sie weiter. William hielt sie nur noch fester.

Schließlich versiegten ihre Kräfte, und sie sackte gegen ihn. Tiefe Schluchzer schüttelten ihren Körper.

»Ich werde dir helfen, das zu überwinden«, sagte er, »aber nicht heute. Bei uns wird Sex nicht einfach ein Pflaster sein, um eine Wunde zu verdecken.«

Sie versteifte sich, machte den Mund auf, ließ ihn wieder zuschnappen. Warum begriff er es nicht? Sie brauchte ein Pflaster. Aus dieser Wunde sickerte Gift. Nicht mehr lange, und es würde sie umbringen.

Aber in einer Sache hatte er recht. Sie war noch nicht bereit für Sex.

Streichen wir das. Möglicherweise würde sie niemals bereit für Sex sein. Ihre Stiefmonster hatten sie ruiniert. Denn wenn sie nicht einmal bei William Ruhe bewahren konnte, bei dem Mann, dem sie mehr als jedem anderen vertraute, dann würde es ihr bei keinem gelingen.

Gillian tat das Einzige, was ihr übrig blieb, und setzte Sex auf ihre Niemals-niemals-Liste. Niemals erwähnen, niemals erwägen.

Keine Hoffnung. Ihr entwich ein raues, gebrochenes Schluchzen. Ein Laut wie von einem verletzten Tier kurz vor dem Tod.

»Eines Tages, mein kleines Gilly-Gummibärchen, werden wir auf diesen Abend zurückblicken und darüber lachen«, versicherte ihr William, immer noch so sanft und zärtlich. »Wirst schon sehen.«

»Vielleicht hast du recht.« Sie betete, dass er damit recht hatte.

»Ich bin der weiseste Mann, der je das Antlitz dieser Erde betreten hat«, entgegnete er und zwinkerte ihr zu. »Ich weiß alles.«

Nein, alles nicht. Ihm fehlte zum Beispiel der Schlüssel, um seinen Fluch zu brechen.

»Eines Tages ist aber nicht jetzt«, krächzte sie. Als sie sich diesmal gegen seine Umarmung wehrte, ließ er sie los. »Ich möchte nach Hause.«

»Du musst dich nicht schämen«, sagte er. »Nicht vor mir. Wir tun einfach so, als wäre das hier nie passiert. Ist schon aus meinem Gedächtnis gelöscht. Wir machen weiter wie bisher.« Er nahm ihre Hand, wie er es bei der anderen Frau getan hatte, und ein weiteres Stück von Gillians Herz verdorrte. »Lass uns die Konsole anschmeißen und ein paar Zombies abschlachten.«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf, dass ihr die Haarsträhnen um die Wangen fegten. »Mach dir um mich keine Gedanken, okay? Wir sind Freunde. Das werden wir immer sein. Ich … ich brauche bloß gerade ein bisschen Zeit für mich.«

»Püppchen …«

»Bitte, Liam.«

Der Blick, mit dem er sie ansah, brach ihr das ohnehin schon gebrochene Herz.

Morgen würde es weitergehen wie immer, und sie würde weiterhin ein halbes Leben leben, voller Angst vor Männern und Sex und vielleicht sogar vor dem Glück selbst. Heute Nacht würde sie weinen.

4. Kapitel

Drei Tage später

So. Das ist also die Frau, für die William aus der Dunkelheit leben und sterben würde.

Puck hockte wie ein Wasserspeier auf dem Geländer eines Balkons im achtzehnten Stock und spähte in ein geräumiges Apartment, in dem sich nur zwei Personen befanden. William aus der Dunkelheit und Gillian Shaw.

William. Heiraten. Krieg.

Jetzt, da er William gefunden hatte, verschoben sich Pucks Aufgaben. Das Mädchen heiraten, sie nach Amaranthia schaffen, wieder herkommen und den Mann holen. Heiraten. Wegschaffen. Wiederkommen.

Vielleicht sollte er erst mal damit aufhören, die Frau anzustarren.

Unmöglich.

Während der Dämon missfallend grollte, sog Puck den Anblick von Gillians welliger dunkler Seidenmähne und ihrer whiskeybraunen Augen in sich auf. Verführerische Augen, in deren Blick Zunder lag. Eines Tages würde ein Mann ihre Leidenschaft entzünden, dann würde sie für ihn – und nur für ihn – brennen.

Makellose goldene Haut und blutrote Lippen vergrößerten ihre Anziehungskraft nur noch und machten sie zur Verkörperung einer Märchenprinzessin.

Meine Prinzessin.

Puck biss sich auf die Zunge. Eigentlich hätte er Blut schmecken sollen, doch dank Gleichgültigkeit schmeckte er gar nichts. Es war nicht zu leugnen. Die Nähe der Frau, die er zu heiraten gedachte, brachte eine unerwartete Komplikation mit sich. Gleichgültig? Kaum. Sie weckte seine ureigensten Besitzansprüche.

Bald würde sie ihm gehören. Sie würde die erste und einzige »Seine« werden – ohne wirklich die Seine zu sein.

Ich muss meine Gedanken über sie zügeln, sonst ruiniere ich alles.

Es kam ihm vor, als würde er Gillian bereits seit Tagen, ja Wochen beobachten. Als würde er sie kennen, und doch erfüllte ihn jedes neue Detail, das er erfuhr, mit Staunen. Schockierenderweise war sie ein Mensch mit einem sanften Wesen und einer Aura von Güte. Ihr bezauberndes Lächeln war ansteckend, so selten sie es auch zeigte.

Die meiste Zeit über beobachtete sie die Menschen und die Welt um sich herum aufmerksam und doch zugleich irgendwie abwesend, während sie tief verwurzelte Traurigkeit verströmte.

Es waren zu viele Jahrhunderte vergangen, seit Puck so starke Emotionen miterlebt hatte. Bevor der Dämon in ihn gefahren war, hätte er vielleicht Mitgefühl empfunden – was auch immer sie bedrücken mochte – und versucht, ihre Situation zu verbessern. Jetzt? Würde er sie ohne jeden Skrupel benutzen. Das musste er.

Krieg geht über Frauen.

»Ich werde anderswo gebraucht«, erklärte William und küsste sie auf die Wange.

Puck musterte seinen Konkurrenten um die Zuneigung der jungen Frau: eins fünfundneunzig groß, solide gebaut, schwarzes Haar, blaue Augen, gut aussehend – wenn man auf Perfektion stand – und in naher Zukunft gesichtszerschmettert, wenn der Kerl es noch einmal wagte, Pucks Zukünftige zu küssen.

Innerliche Ohrfeige. Um sein Ziel zu erreichen, brauchte Puck sowohl Gillians Kooperation als auch die des Kriegers.

»Hades bedarf meiner Expertise zur Auslöschung von Luzifers neuestem Palast«, fuhr William fort.

Luzifer. Der ältere Bruder des Mannes.

Gillian blickte finster drein. Bald würde sie lächeln. In Williams Gegenwart war ihre Stimmung blitzschnellen Schwankungen unterworfen, als wollte sie etwas Bestimmtes fühlen, wohingegen das Handeln des Mannes völlig andere Emotionen bei ihr auslöste.

»Nein, du bleibst hier.« Selbst mit dieser Spur von Zorn war ihre Stimme noch verführerisch.

Kein Wunder, dass William ihr und keiner anderen so verfallen war.

Tatsächlich hatte Puck den Mann schon vor Jahrhunderten aufgespürt, nicht lange nach dem Schicksalsspruch der Orakel. Damals hatte William niemanden als sich selbst geliebt, weshalb Puck gezwungen gewesen war, sich der Beschaffung der Schere der Ananke zuzuwenden.

Ananke war die Göttin der Bünde, und Gerüchten zufolge konnte ihr Werkzeug jegliche spirituelle, emotionale und körperliche Verbindung ohne Konsequenzen trennen. Natürlich besagten die Gerüchte auch, dass das Artefakt mehr trennte, als sein Benutzer beabsichtigte.

Was entsprach der Wahrheit? Was war Lüge?

Anfangs hatte Puck in Erwägung gezogen, mithilfe der Schere seine Verbindung mit dem Dämon zu kappen. Die Kreatur war zu einem Teil von ihm geworden, einem zweiten Herzschlag, den er zum Überleben brauchte. Das Ungeheuer ohne Folgen loszuwerden … Konnte es etwas Besseres geben?

Weshalb sonst hätten die Orakel ihm raten sollen, sich die Schere zu beschaffen?

Doch wenn ihr Einsatz gegen Gleichgültigkeit die Lösung für Pucks Dilemma wäre, warum hätten sie ihn dann anweisen sollen, Gillian zu heiraten und William zu rekrutieren?

Was, wenn die Schere außer seiner Verbindung zu dem Dämon auch seine Emotionen kappte? Dann wäre er schlimmer dran als vorher. Was, wenn er die Schere benutzte und daran stürbe? Nach der Logik des Artefakts wäre der Tod womöglich ein Segen, keine Konsequenz.

Zu viele Risiken.

Am Ende hatte Puck sich entschieden, sich an den ursprünglichen Plan zu halten und mit William zusammenzuarbeiten.

Hilf mir, meinen Bruder zu besiegen. Im Gegenzug werde ich mich von deiner Frau trennen und sie dir zurückgeben.

Pucks Blick kehrte zur dunkelhaarigen Gillian zurück. Ihr Busen war so üppig, ihr Bauch flach, ihre Hüften waren gerundet. Lange Beine wie dafür gemacht, sich um die Taille eines Mannes zu schlingen – meine Taille.

Frische Entschlossenheit pochte in seinem Herzen, als wäre das Organ wieder zum Leben erwacht, obgleich es nie gestorben war. Als würde es sagen: Auf sie habe ich gewartet.

Ihm klingelten die Ohren, und er spürte sein Blut in Wallung geraten. Alles in ihm prickelte, gierte und verzehrte sich, und plötzlich war er so steinhart, dass seine Erektion gegen den Stoff seiner Hose drängte.

Ich will ihre Haut berühren. Würde sie ihn bei lebendigem Leibe verbrennen? Was für ein Abschied.

Ich will diese vollen roten Lippen küssen. Würde sie so zuckersüß schmecken, wie er vermutete? Ich muss es wissen.

Besaß sie die Macht, ihn zum Höhepunkt zu bringen? Ich muss es herausfinden.

Er knirschte mit den Zähnen. Die Antworten auf diese Fragen spielten keine Rolle. Er musste seine berüchtigte Beherrschung walten lassen.

Zu spät. Schon wühlte Gleichgültigkeit sich durch seine Gedanken, sodass Puck sich fühlte, als würde er innerlich ausbluten.

Zeit für das Eis. Puck zögerte … dann rief er es herbei.

Mittlerweile zögerte er fast jedes Mal, seine Gedanken und Gefühle mithilfe von Magie wortwörtlich einzufrieren. Nicht weil es zusätzliche Energie kostete, außerhalb von Amaranthia Magie einzusetzen – auch wenn es das tat –, sondern weil er in diesem Zustand zu einem barbarischen Mörder ohne Gnade und Reue wurde.

Und das warst du vorher nicht?

Erst wenn das Eis brach oder taute, wurde er wieder weicher, und auf diesen Prozess hatte er keinen Einfluss. Nein, er musste auf einen äußeren Anstoß warten, der eine Emotion auslöste, die stark genug war, das Eis zu sprengen – oder heiß genug, um es zu verbrennen.

Wenn das Eis blieb, bestand die Möglichkeit, dass er das Interesse an seinen Zielen verlor.

Das ist das Risiko wert. Genauso wenig konnte er seine Ziele erreichen, wenn Gleichgültigkeit ihn schwächte.

Das magische Eis betäubte ihn wie erwartet, doch nicht so schnell und undurchdringlich wie gewohnt. Die Schichten waren zu dünn, seine Gefühle zu glühend, um sich unterdrücken zu lassen.

So glühend, dass er einen emotionalen Kater bekam, inklusive Kopfschmerzen und Übelkeit.

Also rief er mehr Eis herbei. Noch mehr.

So. Besser. Selbst der Kater verschwand.

Dann fand er die Frau eben faszinierend, na und? Sie war ein Mittel zum Zweck, mehr nicht.

Wenn Sin erst einmal entthront war, würde Puck eine andere heiraten, und mit seiner liebenden Königin an seiner Seite würde er endlich seinen Bruder zur Strecke bringen und somit beide Prophezeiungen erfüllen.

Gillian stemmte die Hände in die Hüften, sodass ihr T-Shirt sich über ihren Brüsten spannte. Unter seinen Eisschichten löste sie bei Puck keinerlei Reaktion aus. Hervorragend.

»Was auch immer ihr jetzt wieder für einen tollen neuen Krieg vom Zaun brechen wollt, das kann warten«, beschied sie William.

Der Mann stieß ein aufgesetztes Knurren aus. »Du hast mir gar nichts zu befehlen.«

»Das sehe ich anders.« Hoch erhobenen Hauptes fischte sie ein zerknittertes Stück Papier aus der Tasche ihrer Jeans. »Hiermit löse ich einen meiner Gutscheine ein. Das Recht auf – Moment … Darauf, dich für volle vierundzwanzig Stunden herumzukommandieren.«

William zog die Schultern ein und seufzte besiegt auf. »Schenk ihr ein Gutscheinbuch, haben sie gesagt. Das ist lustig und kreativ, haben sie gesagt.«

Sie lachte ein bezauberndes Lachen, das Pucks Verdacht bestätigte – und mir nichts, dir nichts sein hart erkämpftes Eis zersplittern ließ.

Sie mag zwar ein Mensch sein, aber zugleich ist sie eine Zauberin – und gefährlicher als jeder Feind, dem ich mich je gegenübergesehen habe.

Normalerweise mied er Ablenkung, doch jetzt brauchte er eine und ließ die Gedanken schweifen …

Was würden seine Freunde von Gillian halten?

Auf seiner Suche nach der Schere hatte er ein ebenfalls besessenes Geschwisterpaar kennengelernt. Cameron, den Hüter der Obsession, und Winter, Hüterin der Selbstsucht. Sie hatten Verständnis für seine Notlage gehabt und ihm Hilfe angeboten. Mit anderen Worten: Für Cameron war Pucks Mission zu seiner neuesten Obsession geworden, während Winter entschieden hatte, dass sie die Situation zu ihrem Vorteil nutzen konnte.

Alle Entbehrungen, die sie erduldet hatten, würden sich bald auszahlen.

Ein Klingeln an der Tür holte Puck zurück in die Gegenwart.

Mit einer berauschenden Aura von Unschuld und Verruchtheit zugleich schaute Gillian unter langen schwarzen Wimpern hervor zu William.

»Sei doch so lieb und bitte unsere Gäste herein.«

Etwas Unverständliches murrend, marschierte der Lustmolch zur Wohnungstür und öffnete sie. Weitere Unsterbliche strömten in das Apartment, unter ihnen Harpyien, eine Himmelsgesandte, eine Göttin und zwölf dämonenbesessene Krieger wie Puck. Alle umarmten Gilly und überreichten ihr Geschenke.

Eine Geburtstagsfeier?

»Nein, nein, nein«, sagte eine zierliche Blondine, als sie hereinschwebte. »Noch nicht. Das hier ist nur eine Vorgeburtstagsfeier. Oder ist es eine Nach-Vorgeburtstagsfeier, nachdem William schon eine Vorgeburtstagsfeier geschmissen hat? Egal! Die richtige Fete steigt morgen. Vielleicht. Aber wahrscheinlich definitiv nicht.«

»Keeleycael«, grüßte William sie nickend. »Kannst du mir einen Gefallen tun und den Irrsinn heute mal beiseitelassen?«

Sie warf ihm einen Luftkuss zu. »Aber ich rede doch mit deiner Konkurrenz. Spoiler-Warnung: Er gewinnt!«

»Ich wäre ja sauer auf dich, dass du es wagst, mich anzulügen«, entgegnete William gelassen, »wenn ich denn Konkurrenz hätte

Puck runzelte die Stirn. Keeleycael, die Rote Königin? Argwohn regte sich in seinem Kopf, und Anspannung verhärtete seine Muskeln – aufs Neue splitterte das Eis.

Während Gleichgültigkeit fauchte, ignorierte Puck sein übliches Widerstreben und rief eine weitere Schicht kalten Desinteresses herbei. Dann war sie eben dieselbe Keeleycael, die Sin das kleine juwelenbesetzte Kästchen gegeben hatte, na und? Was interessierte das Puck?

Keeleycael biss einen Krieger – Torin, den Hüter der Krankheit – ins Ohr, bevor sie William etwas zuflüsterte.

Nur ein paar Worte davon konnte Puck aufschnappen. »Gefahr … wartet … hat vor … eliminieren …«

Auf Williams Gesicht trat ein finsterer Ausdruck, sein Körper versteifte sich. »Bist du dir sicher?«

Die Blondine nickte felsenfest überzeugt. »Deine Feinde haben vor, sie zu töten.«

Sie – Gillian?

In Wellen ging Zorn von William aus, als er zu dem Mädchen marschierte und es mit sich in eine Nische zog. »Es hat sich was Bedrohliches ergeben. Ich muss für ein, vielleicht zwei Stunden weg. Lass mich trotz des Gutscheins ohne Proteste gehen, ohne Einzelheiten zu verlangen, und ich mach’s wieder gut. Ich schwöre.«

Enttäuschung flackerte in ihren dunklen Augen auf, aber sie nickte. »Natürlich. Tu, was du tun musst.«

»Danke.« Er zwickte sie in die Nasenspitze, bevor er sich wegbeamte – sich durch reine Gedankenkraft von einem Ort an einen anderen versetzte.

Wohin war er verschwunden?

Puck blieb, wo er war, und beobachtete weiter Gillian. Die zwei Stunden, die sie William zugestanden hatte, gingen ins Land, doch der Krieger tauchte nicht wieder auf. Schließlich verabschiedeten die anderen sich und verließen nach und nach das Apartment, bis nur noch Keeleycael da war.

Sollte Puck die Wohnung betreten? Wer wusste, wann er die nächste Gelegenheit bekäme, in Williams Abwesenheit mit Gillian zu sprechen. Doch was wollte er überhaupt sagen?

Vor Jahrhunderten wurde mir offenbart, du seist der Schlüssel, um meinen Bruder vom Thron zu stoßen. Willst du meine Frau werden?

»Kurze Frage«, wandte Keeleycael sich an Gillian.

»Keeley«, antwortete das Mädchen aufstöhnend. »Muss das jetzt sein?«

Keeley. Ein Spitzname.

»Ja, muss es«, sagte die hellhaarige Frau. »Was ist dein größter Wunsch?«

»Abgesehen von einer von Frauen dominierten Gesellschaft, in der Männer Haustiere sind?«

»Abgesehen davon.« Gedankenverloren tippte die Blondine sich mit einem ihrer messerscharfen Fingernägel ans Kinn. »Diesen speziellen Wunsch hebe ich mir für deinen achthundertsten Geburtstag auf.«

Gillian schnaubte. »Achthundert? Bitte. Aber weißt du, was ich mir wirklich wünsche? Mehr so wie du zu sein. So stark. So tapfer. So … frei.«

Jeden dieser Wünsche speicherte Puck in einer mentalen Datei mit dem Titel »Ehefrau«. Mittel, sie für sich zu gewinnen? Dafür sorgen, dass sie sich stark, tapfer und frei fühlte.

»Ding, ding, ding. Absolut richtige Antwort, deshalb betrachte mich gern als deine gute Fee.« Damit riss Keeley eine kleine Phiole mit einer klaren Flüssigkeit von einem Lederband um ihren Hals. »Hier, trink das. Danken kannst du mir später.«

Gillian runzelte die Stirn. »Was ist das?«

»Weniger reden, mehr trinken. Hoch die Tassen. Und herzlichen Glückwunsch zum Achtzehnten, Kleines. Das hier wird all deine Träume wahr machen … Träume, von denen du noch nicht mal weißt, dass du sie hast. Aus tiefstem Herzen gern geschehen.« Damit führte die Frau Gillians Hand zu ihrem Mund und half ihr, das Fläschchen zu kippen, sodass der Inhalt in ihre Kehle floss. »Du hast dich nicht geweigert zu trinken, also wirst du nicht sterben und damit wiederum William in den Tod treiben. Oder ist William schon gestorben? Moment. Jetzt bin ich verwirrt.«

»William stirbt?«, krächzte Gillian.

»Hast du nicht zugehört? Nein. Jedenfalls nicht jetzt. In fünfhundert Jahren oder so äußere ich mich dazu vielleicht anders.«

Puck schnupperte und runzelte die Stirn. Er roch einen machtvollen Zaubertrank, der dazu gemacht war, einen Menschen in einen Unsterblichen zu verwandeln. Einen raren Zaubertrank, den es eigentlich gar nicht mehr geben sollte.

Während Keeley weiter Nonsens plapperte, wurde Gillian still. Ihr wich die Farbe aus den Wangen. Schweiß trat auf ihre Stirn, und sie hielt sich den Bauch. »Keeley, was hast du mir da …« Ihre Augen wurden groß, und sie schnappte nach Luft.

Wimmernd rannte sie aus dem Wohnzimmer. Puck sprang hinüber aufs nächste Fenstersims, nicht bereit, sie auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Dahinter befand sich das Bad, wo Gilly sich jetzt übergab.

Zu schwach zum Aufstehen, sackte sie zu Boden. Stöhnend schloss sie die Augen und krümmte sich.

Keeley folgte ihr und erklärte: »Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass ich dir mit dreiundneunzigprozentiger Sicherheit die korrekte Dosis gegeben habe. Hmmm. Deine Symptome sind … Nun ja, gut ist das nicht. Vielleicht sollten wir zu Plan B übergehen?«

Puck packte der unbändige Drang, das Fenster zu zertrümmern und in die Wohnung zu stürzen. Er würde das Mädchen auf seine Arme nehmen und … was? Wie wollte er ihr denn helfen? Wie pflegte man eine kranke Sterbliche-fast-Unsterbliche?

Soldaten in Amaranthia hatten sich mithilfe von Magie selbst um ihre Gebrechen und Verletzungen zu kümmern. Wer nicht stark genug war, sich ohne Hilfe zu erholen, hatte es nicht verdient zu leben.

Egal. Er musste ihr gar nicht helfen. Keeley teleportierte sich in derselben Sekunde weg, als William ins Bad gepoltert kam.

Als er Gillian sah, war seine Besorgnis beinahe greifbar. »Was ist passiert?«

Puck fuhr sich mit der Zunge über die Zähne, während sein Schmetterlingstattoo zu wandern begann, sich wie eine Schlange ein neues Versteck suchte. Von seiner Brust auf seinen Rücken auf einen seiner Oberschenkel. So, wie Puck ohne Ziel durch Amaranthia gewandert war, wanderte der Dämon über die Konturen seines Körpers, wann immer Puck lebensverändernde Gefühle empfand.

Was für lebensverändernde Emotionen fühlte er jetzt?

Ein rascher Blick unter das Eis enthüllte … Mitgefühl und Neid?

Wer nichts will, braucht auch nichts.

Davon abgesehen konnte William es mit Puck in keinerlei Hinsicht aufnehmen. Trotz seines Handicaps war Puck immer noch stärker, schneller und weit fähiger.

So war es nun einmal.

»Mir ist … schlecht«, brachte Gillian mit brechender Stimme heraus. »Schmerzen.«

»Keine Sorge«, sagte William. »Ich kümmere mich um dich. Ich bringe das alles in Ordnung.« Er streckte eine plötzlich vor Macht glühende Hand aus.

Puck musste zweimal hinsehen. William besaß Runen. Goldene Schnörkel zogen sich von seinen Fingerspitzen bis zu den Handgelenken und kanalisierten, welche Magie auch immer ihm innewohnte.

Mit einer knappen Handbewegung zerteilte er die Luft und öffnete ein Portal in ein anderes Reich. Auf der anderen Seite sah Puck … eine Steinmauer?

»Ich bringe das wieder in Ordnung«, wiederholte William, »darauf hast du mein Wort.« Behutsam, so unheimlich behutsam, hob der Krieger die dunkelhaarige Schönheit auf seine Arme und trug sie durch das Portal.

Kurz bevor es sich hinter ihnen schloss, barst Puck durch das Fenster und stürzte in einem Scherbenregen auf den Durchgang in eine andere Dimension zu.

5. Kapitel

Puck rollte sich ab und erhob sich, um seine neue Umgebung zu mustern. Eine von mächtigen Bannzeichen gesäumte Höhle – eine Art von Magie, die auf Symbolen basierte. Diese speziellen Bannzeichen waren darauf ausgerichtet, auf die Absichten eines jeden Eindringlings zu reagieren. Wer sich heimlich in das Reich schleichen wollte, würde seine Augen verlieren. Wer Vergewaltigung im Sinn hatte, würde seinen Penis verlieren. Wer bereit zum Mord war, konnte sich von seinem Kopf verabschieden.

Es gab auch ein Bannzeichen, das William vom Eintreffen jeglicher Neuankömmlinge in Kenntnis setzen sollte. Zum ersten Mal überhaupt war Gleichgültigkeit Puck nützlich; die Bannzeichen reagierten auf ihn wie auf ein Tier und ignorierten ihn schlicht.

Außerhalb der Höhle erwartete ihn ein Südseeparadies. Gelbe Palmen, an denen schwere Früchte hingen. Ein weißer Himmel. Meilenweit rosafarbenes Wasser, das an einen weiß und lila glitzernden Strand spülte. Eine sanfte Brise trug den Geruch von Salz und Kokos mit sich.

Er folgte Williams Spuren zu einer weitläufigen Villa, die von großen Vögeln mit metallenen Schnäbeln und Krallen bewacht wurde. Auch hier wurde er nicht als Bedrohung erachtet und ignoriert.

Der auf Gillian fixierte William hatte keinen Schimmer, dass ihm jemand gefolgt war.

Siehst du, Gillian? Ich bin der bessere Krieger.

Puck suchte sich eine schattige Nische auf einem Balkon und beobachtete durch ein Fenster, wie William die Brünette auf einem riesigen Bett ablegte und ihr sanft mit einem Lappen die Stirn abwischte.

»So wollte ich deine Geburtstagswoche eigentlich nicht mit dir verbringen, Püppchen. Du musst wieder gesund werden.« Aus der Stimme des Mannes klang tiefes Bedauern. »Morgen sollte doch eigentlich der Anfang … Na ja, spielt jetzt keine Rolle.« Mit den Fingerknöcheln strich er ihr über die Kinnlinie und versprach: »Ich komme wieder.«

Gillian konnte nur einen matten Protestlaut hervorbringen, da hatte er sich schon fortteleportiert.

Es verging eine Minute, dann noch eine. Vom Fieber geschüttelt warf Gillian sich unruhig hin und her. Puck hielt sich zurück, auch wenn ihn Sehnsucht überflutete … und Mitgefühl?

Fluchend richtete er seinen Fokus auf sein Inneres, um das Eis um sein Herz zu verstärken. Langsam hatte er genug von diesen Emotionen, hatte genug von Gleichgültigkeit.

Wie konnte das Mädchen überhaupt so schnell eine so heftige Wirkung auf ihn ausüben? Und warum war sie krank? Der Trank hätte sie stärken sollen bei ihrem Übergang vom …

Die Antwort traf ihn wie ein Schlag vor die Stirn, und ihm zog sich die Lunge zusammen. Morte ad vitam. Sie konnte den Übergang nicht vollziehen. Ihr kleiner Körper wollte sich weiterentwickeln, versuchte es unablässig, war jedoch nicht stark genug, um das zu vollbringen. Mit jeder verstreichenden Stunde würde sie schwächer werden.

Sie würde dahinsiechen, bis sie starb.

Unter einer Woge von Zorn und Angst brach das Eis in ihm auf. Während Pucks Klauen sich in seine Handflächen gruben und in seiner Kehle ein Protestschrei prickelte, stieß Gleichgültigkeit ein erbostes Knurren aus.

Vorsicht. Mehr Eis. Sofort!

Puck wurde ruhiger, auch wenn er die jüngste Entwicklung für inakzeptabel befand. Gillian war es nicht gestattet zu sterben. Sie mussten heiraten, er musste sie dazu benutzen, Williams Unterstützung zu gewinnen.

Er würde einfach unter der Annahme weitermachen müssen, dass sie überlebte – denn das würde sie! Wenn es William nicht gelang, sie zu retten, würde Puck es eben tun.

Er wägte seine Optionen ab. Sollte er jetzt zu ihr gehen und das Gespräch suchen? Aber wie sollte er anfangen?

Du weißt ja, wie man sagt – ein richtiger Mann ist ein Tier im Bett.

Nein, völlig falsch. Er musste ihr das Gefühl geben, stark, tapfer und frei zu sein.

Sei die Meine, und du wirst nie wieder Schwäche erfahren.

Womöglich würde sie nur einen Blick auf ihn werfen und vor Angst sterben.

Nie war das Ergebnis einer ersten Begegnung von größerer Bedeutung gewesen. Er musste sich von seiner besten – nicht-dämonischen – Seite zeigen, musste sie bezaubern und verführen.

Er dachte zurück an die Zeiten vor dem Dämon. Die Frauen hatten ihn, den Unbesiegten, gefürchtet, doch viele hatten ihn trotzdem ermutigt. Was immer er damals jedoch an Charisma besessen hatte, war längst verloren. Und seine äußere Erscheinung …

Nun ja, die war nicht immer so hinderlich gewesen, wie er es erwartet hatte. Ein bestimmter Typ Frau mochte seine tierischen Attribute. Hörner waren in, besonders in Liebesromanen machten sie unglaublich Furore.

Er wusste das, weil er Winter auf ihr Verlangen hin manchmal vorlas. Offenbar klangen Ausdrücke wie »ihre prallen Brustspitzen« und »bebendes Verlangen« in seinem monotonen Tonfall erheiternd. Wie dem auch sein mochte – in jeder dieser Geschichten hatte Puck sich am ehesten mit dem Bösewicht identifiziert, aber die Rolle des Helden wusste er definitiv auch zu spielen. Er würde auftreten wie ein Ritter in strahlender Rüstung, zumindest eine Weile lang, und seiner Jungfrau in Nöten die Rettung versprechen.

Die Wahrheit würde sie erst erfahren, wenn es längst zu spät wäre.

Mit diesem Plan im Kopf trat er einen Schritt vor.

Im Zimmer materialisierte sich William in Begleitung eines weiteren Unsterblichen, und Puck erstarrte.

»Dieser Mann ist Arzt«, erklärte William. »Er wird dich jetzt untersuchen.«

Gillians einzige Reaktion war ein schmerzerfülltes Stöhnen.

Der Arzt verbrachte fast eine Stunde mit allerlei Untersuchungen. Als er William die Diagnose zuflüsterte und behauptete, es gebe nichts, was er tun könne, schlug der Krieger ihn so heftig, dass er an die gegenüberliegende Wand geschleudert wurde.

»W…was hat er gesagt?«, wollte Gillian wissen.

»Spielt keine Rolle, der Kerl ist ein Quacksalber«, verkündete William. »Ich suche dir einen anderen Arzt. Einen besseren.«

Damit verschwand er, doch Puck verharrte draußen, in der Erwartung, ihn jede Sekunde zurückkehren …

Und schon erschien William mit einem weiteren Arzt. Dann mit einem dritten und vierten. Jeder von ihnen überprüfte Gillians Vitalparameter, während sie mal mehr, mal weniger bei Bewusstsein war. Sie alle bebten unter Williams barschen Befehlen und Drohungen. Gillian wurde Blut abgenommen, Tests wurden durchgeführt, doch die Diagnose blieb dieselbe.

Sie würde sterben, und zwar eher früher als später.

»Geht ins Wohnzimmer«, wies William das Ärzterudel an. »Baut ein Labor auf. Macht mehr Tests. Findet einen Weg, sie zu retten, oder ihr sterbt selbst. Und wenn ihr glaubt, ihr könntet euch davonmachen, seid gewiss, dass ich euch finde. Ihr werdet leiden. Ihr werdet den Tag herbeisehnen, an dem ich euch endlich töte.«

Während die Ärzte hastig gehorchten, setzte er sich an Gillians Bett, seine Miene wurde weicher. »Ist schon gut, Püppchen.« Erneut wischte er ihr mit einem Lappen über die Stirn. »Du wirst wieder gesund. Das ist ein Befehl.«

»Was stimmt nicht mit mir?«, brachte sie heiser hervor. »Was hat Keeley mir da gegeben?«

»Was Übernatürliches, aber keine Sorge, ich hab die besten unsterblichen Ärzte darauf angesetzt, ein Heilmittel zu finden.«

Puck schürzte die Lippen. Warum verschwieg der Mann ihr die Wahrheit?

Als Gillian in einen unruhigen Dämmerzustand versank, hielt William ihre Hand, als wolle er seine eigene Stärke in ihren zerbrechlichen Körper zwingen.

Autor

Gena Showalter
Die SPIEGEL-Bestsellerautorin Gena Showalter gilt als Star am romantischen Bücherhimmel des Übersinnlichen. Ihre Romane erobern nach Erscheinen die Herzen von Kritikern und Lesern gleichermaßen im Sturm. Mit der beliebten Serie »Herren der Unterwelt« feierte sie ihren internationalen Durchbruch. Mit ihrer Familie und zahlreichen Hunden lebt Showalter in Oklahoma City.
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