Die Sterne Mithras

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Wer die Sterne von Mithra besitzt, dem schenken sie Unsterblichkeit - so heißt es in einer alten Legende. Den drei besten Freundinnen, die versuchen, die blauen, unermesslich wertvollen Diamanten vor dem Zugriff eines besessenen Schmucksammlers zu bewahren, werden sie zum Schicksal. Denn jede von ihnen gerät durch einen der Sterne, den sie verbirgt, in Lebensgefahr. Nur der Mann, mit dem sie das Glück der Leidenschaft von der strahlendsten Seite erlebt, kann sie aus der Gefahr befreien. Drei Freundinnen, drei Männer, drei Diamanten - und drei atemberaubend aufregende Abenteuer um die große Liebe.


  • Erscheinungstag 24.06.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783745751024
  • Seitenanzahl 768
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Nora Roberts

Die Sterne Mithras

1. KAPITEL

Cade Parris hatte nicht gerade seinen besten Tag, als seine Traumfrau in sein Büro spaziert kam. Keine vierundzwanzig Stunden zuvor hatte seine Sekretärin gekündigt. Die Dame war zwar nicht sonderlich tüchtig gewesen und hatte sich mehr für ihre Fingernägel als für das klingelnde Telefon interessiert, aber sie hatte zumindest Ordnung in sein Chaos gebracht. Selbst die Gehaltserhöhung, die er ihr aus blanker Verzweiflung angeboten hatte, hatte sie nicht dazu bewogen, ihren Entschluss, Countrysängerin zu werden, noch einmal zu überdenken.

Die treulose Seele war jetzt also in einem gebrauchten Pick-up auf dem Weg nach Nashville, während Cades Büro den schlaglöchrigen Straßenverhältnissen ähnelte, mit denen sie sich hoffentlich herumschlagen musste. In den letzten ein bis zwei Monaten hatte sie sich offenbar überhaupt nicht mehr um ihre Arbeit gekümmert. Das wurde ihm spätestens klar, als er ein altes Wurst-Sandwich aus dem Aktenschrank fischte. Zumindest vermutete er, dass es sich bei dem fettigen Klecks in der Papiertüte um Wurst handelte. Er entdeckte die Tüte unter dem Buchstaben L einsortiert – L für Lunch?

Er fluchte nicht einmal, und er nahm auch das Telefon nicht ab, das ununterbrochen aus dem Empfangsbereich herüberklingelte. Er musste seine Berichte jetzt selbst abtippen, und nachdem das Tippen nicht gerade zu seinen Stärken zählte, wollte er es einfach so schnell wie möglich hinter sich bringen.

Parris Investigations konnte man nicht gerade als florierendes Unternehmen bezeichnen. Aber Cade reichte es, und er fühlte sich wohl, selbst in dem winzigen Zwei-Raum-Büro im Dachgeschoss eines abgewrackten Gebäudes mit schlechten sanitären Anlagen im Nordwesten von Washington D.C.

Er brauchte keine vornehmen Teppiche oder eleganten Möbel. Mit all diesem Pomp war er aufgewachsen. Jetzt, mit dreißig, nach einer gescheiterten Ehe und einer Familie, die sich immer noch darüber ärgerte, welchen Weg er eingeschlagen hatte, war er im Großen und Ganzen zufrieden.

Inzwischen hatte er sich einen recht anständigen Ruf als Privatermittler aufgebaut. Er verdiente genug Geld, um den Laden über Wasser zu halten. Gut, momentan stellte sein Verdienst ein kleines Problem dar. Er durchlebte eine – wie er es nannte – vorübergehende Flaute. Außerdem handelte es sich bei den meisten seiner Aufträge lediglich um Versicherungsfälle, die mit Unmengen an Schreibkram verbunden waren. Nicht ganz so aufregend wie das, was er sich vorgestellt hatte, als er entschied, Detektiv zu werden.

Bis auf zwei belanglose Fälle von Versicherungsbetrug gab es zurzeit keine neuen Aufträge. Dafür hatte der Blutsauger von Vermieter schon wieder die Miete erhöht, der Motor des Wagens gab in letzter Zeit merkwürdige Geräusche von sich, und die Klimaanlage war im Eimer. Außerdem schien das Dach mal wieder undicht zu sein. Cade nahm den spindeldürren gelbblättrigen Philodendron, den seine Sekretärin zurückgelassen hatte, und stellte ihn auf den nackten Fußboden unter das Tröpfeln, in der Hoffnung, dass die Pflanze ersaufen möge.

Plötzlich ertönte eine ungeduldige Stimme aus dem Anrufbeantworter. Die Stimme seiner Mutter. Guter Gott, dachte er gereizt. Konnte ein Mann seiner Mutter denn wirklich niemals entfliehen?

„Cade, mein Lieber, ich hoffe, du hast den Botschafts-Ball nicht vergessen. Du weißt doch, dass du Pamela Lovett begleiten sollst. Ich habe heute mit ihrer Tante zu Mittag gegessen, und die sagte mir, dass Pamela nach ihrem kleinen Ausflug nach Monaco einfach großartig aussieht.“

„Ja, ja, ja“, murrte er, dann starrte er düster auf seinen Computer. Er unterhielt zu elektronischen Geräten keine besonders harmonische Beziehung. Während seine Mutter weiterplapperte, setzte er sich widerwillig an den Schreibtisch. „Hast du den Smoking in die Reinigung gebracht? Und nimm dir die Zeit, zum Friseur zu gehen. Letztes Mal hast du so ungepflegt ausgesehen.“

Und vergiss auch nicht, dich hinter den Ohren zu waschen! Seine Mutter würde niemals akzeptieren, dass er mit dem Lebensstil der Familie nichts anfangen konnte. Dass er einfach keine Lust hatte, im Klub zu Mittag zu essen oder gelangweilte ehemalige Debütantinnen in Washington herumzuführen, und dass sich daran auch niemals etwas ändern würde.

Er wollte Abenteuer, und wenn er auch nicht gerade in die Fußstapfen eines Sam Spade trat, indem er Berichte über erfundene Schleudertraumata verfasste, so arbeitete er doch zumindest im gleichen Job.

Meistens fühlte er sich gut. Er kam sich nicht nutzlos oder gelangweilt oder fehl am Platz vor. Er mochte den Verkehrslärm vor seinem Fenster, auch wenn er das Fenster nur öffnete, weil sein Vermieter nichts von einer zentralen Klimaanlage hielt. Der Smog war fast unerträglich, außerdem regnete es herein, aber bei geschlossenem Fenster wäre es im Büro viel zu stickig gewesen.

Winzige Schweißperlen liefen ihm den Rücken hinunter. Er trug nur ein weißes T-Shirt und Jeans, und er musste sich während des Tippens immer wieder das Haar aus dem Gesicht streichen, was ihn wahnsinnig machte. Seine Mutter hatte recht. Er musste zum Friseur.

Als ihm zum wiederholten Mal eine Strähne vor die Augen fiel, ignorierte er diese Tatsache genauso wie den Schweiß, die Hitze, den Verkehrslärm und das stete Tröpfeln von der Decke. Da saß er nun, ein bemerkenswert gut aussehender, düster dreinblickender Mann, der mechanisch auf die Tastatur seines Computers einhieb.

Er hatte das gute Aussehen der Familie Parris geerbt – die klaren grünen Augen, die je nach Gemütslage scharf wie Glasscherben oder sanft wie Meeresdunst wirken konnten. Sein Haar, das so dringend geschnitten werden musste, war dunkelbraun und tendierte dazu, bei Feuchtigkeit in Locken zu fallen. Zumindest lockte es sich in diesem Moment. Er hatte eine gerade, markante Nase und sinnlich geschwungene Lippen, die sich zu einem Lächeln verziehen konnten, wenn er sich amüsierte. Oder zu einem höhnischen Grinsen, wenn er es nicht tat.

Obwohl sein Gesicht nach der peinlichen engelhaften Periode seiner Kindheit und frühen Jugend schmaler geworden war, zierten es noch immer zwei kleine Grübchen. Er freute sich bereits auf sein mittleres Lebensalter, wenn aus ihnen mit etwas Glück männliche Falten wurden.

Er hätte gerne verwegen ausgesehen, stattdessen musste er sich mit dem aalglatten Aussehen eines GQ-Models abfinden. Für dieses Magazin hatte er zu seiner Schande mit Mitte zwanzig tatsächlich einmal posiert, allerdings nur unter Protest und auf den fast unerträglichen Druck seiner Familie hin.

Das Telefon läutete erneut. Diesmal erklang die Stimme seiner Schwester, die ihm eine Strafpredigt hielt, weil er irgendeine langweilige Cocktailparty zu Ehren eines dickbäuchigen Senators verpasst hatte.

Cade überlegte, den verdammten Anrufbeantworter einfach aus der Wand zu reißen und ihn mitsamt der nörgelnden Stimme seiner Schwester aus dem Fenster zu werfen, direkt hinunter auf die Wisconsin Avenue.

Und dann begann der Regen zu allem Übel auch noch, ihm auf den Kopf zu tropfen. Der Computer schaltete sich aus keinem ihm ersichtlichen Grund – von reiner Niedertracht einmal abgesehen – aus, und der Kaffee, den er völlig vergessen hatte, kochte mit einem boshaften Zischen über.

Er hechtete zum Herd, verbrannte sich die Hand und fluchte laut, als die Kanne auf dem Boden zersplitterte und der heiße Kaffee in sämtliche Richtungen spritzte. Hektisch riss er eine Schublade auf, griff nach einem Stapel Servietten und schnitt sich dabei den Daumen an der Nagelschere seiner ehemaligen Sekretärin auf.

In dem Moment, in dem sie eintrat, hatte er gerade – immer noch fluchend und blutend – den Philodendron umgestoßen, den er zuvor in die Mitte des Raumes gestellt hatte. Somit war es kaum verwunderlich, dass sie einfach nur dastand, regennass, mit totenbleichem Gesicht und mit vor Erstaunen aufgerissenen Augen.

„Entschuldigen Sie.“ Ihre Stimme klang rau, so, als ob sie seit Tagen nicht gesprochen hätte. „Ich muss mich in der Tür geirrt haben.“ Sie ging einen Schritt zurück und starrte mit ihren großen runden Augen auf das Namensschild. Sie zögerte, dann blickte sie ihn wieder an. „Sind Sie Mr. Parris?“

Einen Moment lang, einen betäubenden Moment lang, konnte er nicht sprechen. Er wusste, dass er sie anstarrte, konnte aber nicht anders. Sein Herz blieb einfach stehen. Seine Knie wurden weich. Und der einzige Gedanke, den er fassen konnte, lautete: Da bist du ja endlich. Wo zum Teufel hast du so lange gesteckt?

Und weil das so lächerlich war, zwang er sich zu einem desinteressierten, beinahe zynischen Gesichtsausdruck.

„Ja.“ Ihm fiel ein, dass er ein Taschentuch bei sich hatte, und wickelte es um seinen blutenden Daumen. „Ich hatte hier nur eben einen kleinen Unfall.“

„Verstehe.“ Was ganz offensichtlich nicht stimmte, so wie sie ihn weiterhin anblickte. „Ich bin wohl zu einem schlechten Zeitpunkt gekommen. Ich habe keinen Termin. Ich dachte nur, vielleicht …“

„Sieht so aus, als ob ich Zeit hätte.“

Er wollte, dass sie ganz ins Zimmer kam. Von seiner ersten völlig absurden und noch nie da gewesenen Reaktion abgesehen, handelte es sich schließlich um eine potenzielle Klientin. Und eines war sicher: Keine Frau, die jemals Sam Spades heilige Räume betreten hatte, war perfekter gewesen als diese.

Sie war blond und schön und verwirrt. Das nasse Haar fiel ihr glatt und fließend über die Schultern. Ihre Augen waren whiskeybraun, ihr Gesicht – obwohl ihm etwas mehr Farbe nicht geschadet hätte – war zart wie das einer Elfe, herzförmig, die Wangenknochen sanft geschwungen und die Lippen voll, ernst und nur dezent geschminkt.

Sie hatte sich ihr Kostüm und die Schuhe im Regen ruiniert, beides von hoher Qualität. Er erkannte die schlichte Eleganz, die nur in Designerläden zu finden war. Neben der nassen blauen Seide ihres Kostüms wirkte die große Stofftasche, die sie fest mit beiden Händen umklammert hielt, merkwürdig fehl am Platz.

Eine Jungfrau in Not, überlegte er, und seine Mundwinkel zogen sich kaum merklich nach oben. Genau das, was er jetzt brauchte.

„Warum kommen Sie nicht herein und schließen die Tür, Miss …?“

Sie verstärkte den Griff um ihre Tasche. „Sind Sie Privatdetektiv?“

„So steht es zumindest auf dem Türschild.“ Cade lächelte erneut und stellte dabei skrupellos seine Grübchen zur Schau, während sie nervös auf ihrer Unterlippe kaute. Auf der er am liebsten selbst gekaut hätte, verdammt.

Diese Reaktion, dachte er mit einiger Erleichterung, sah ihm schon ähnlicher. Pure Lust war ein Gefühl, das er problemlos begreifen konnte.

„Lassen Sie uns nach nebenan in mein Büro gehen.“ Er betrachtete den Schaden, den er angerichtet hatte – zersplittertes Glas, verstreute Erde und verschütteten Kaffee. „Ich denke, ich bin hier erst mal fertig.“

„Na gut.“ Sie holte tief Luft, trat über die Schwelle und schloss die Tür hinter sich. Dann folgte sie ihm zögernd in das angrenzende Zimmer, in dem sich nicht viel mehr als ein Tisch und ein paar billige Stühle befanden. Nun, sie konnte im Moment nicht wählerisch sein. Geduldig wartete sie, bis er sich hinter seinen Schreibtisch gesetzt hatte und ihr erneut dieses schnelle, um Vertrauen heischende Lächeln zuwarf.

„Haben Sie – könnte ich …“ Sie schloss die Augen, versuchte, sich zu sammeln. „Haben Sie irgendeinen Berechtigungsschein, den ich mir ansehen könnte?“

Nachdem er ihr den Besucherstuhl angeboten hatte, kramte er wortlos seine Lizenz aus der Schublade und reicht sie ihr. Sie trug zwei sehr hübsche Ringe, einen an jeder Hand. Ihre Ohrringe passten zu dem an ihrer Linken, einem schmalen, mit drei Steinen besetzten Goldring. Cade bemerkte es, als sie sich das Haar hinters Ohr strich und das Papier studierte, als wollte sie sich jedes einzelne Wort einprägen.

„Würden Sie mir verraten, was Sie zu mir führt, Miss …?“

„Ich glaube …“ Sie reichte ihm die Lizenz zurück und umklammerte erneut die Tasche, die sie jetzt auf ihren Schoß gelegt hatte. „Ich glaube, ich würde Sie gern engagieren.“ Jetzt waren ihre Augen auf sein Gesicht gerichtet, genauso prüfend wie zuvor auf die Lizenz. „Kümmern Sie sich auch um Vermisstenfälle?“

Wen hast du verloren, Kleines? Er hoffte um ihretwillen und um der hübschen kleinen Fantasie willen, die sich in seinem Kopf formte, dass es sich nicht um einen Ehemann handelte. „Ja, ich nehme auch Vermisstenfälle an.“

„Und, ähm, der Preis?“

„Zweihundertfünfzig pro Tag. Plus Ausgaben.“ Als sie nickte, zog er einen Block hervor und schnappte sich einen Kugelschreiber. „Wen wollen Sie finden?“

Sie nahm einen tiefen, zittrigen Atemzug. „Mich. Sie müssen mich finden.“

Ohne sie aus den Augen zu lassen, klopfte er mit dem Kugelschreiber auf den Block. „Wie mir scheint, habe ich das bereits getan. Soll ich Ihnen eine Rechnung ausstellen, oder wollen Sie gleich bar zahlen?“

„Nein.“ Sie spürte, dass sie kurz davor stand, die Fassung zu verlieren. Sie hatte sich so lange zusammengerissen, aber jetzt wusste sie, dass der Strohhalm, an den sie sich geklammert hatte, seit sie den Boden unter den Füßen verloren hatte, langsam nachgab. „Ich kann mich nicht erinnern. An nichts. Ich weiß nicht …“ Ihre Stimme überschlug sich. Sie ließ die Tasche los und hielt die Hände vors Gesicht. „Ich weiß nicht, wer ich bin! Ich weiß nicht, wer ich bin …“ Und dann weinte sie die Worte in ihre Hände. „Ich weiß einfach nicht, wer ich bin!“

Cade hatte eine Menge Erfahrung mit hysterischen Frauen. Er war mit Frauen aufgewachsen, die mit Tränen und ersticktem Schluchzen auf so ziemlich alles reagierten – von einem abgebrochenen Nagel bis hin zu einer zerbrochenen Ehe. Also stand er auf, bewaffnete sich mit einer Schachtel Papiertaschentücher und ging vor ihr in die Knie.

„Sehen Sie mich an. Alles wird gut.“ Mit behutsamen und geübten Bewegungen strich er ihr die schwarz verlaufene Wimperntusche von den Wangen, tätschelte ihre Hand, streichelte ihr übers Haar, blickte in ihre vor Tränen schimmernden Augen.

„Es tut mir leid. Ich kann nicht …“

„Kein Problem. Weinen Sie ruhig“, murmelte er. „Danach werden Sie sich besser fühlen.“ Er erhob sich, ging in das winzige Badezimmer und füllte einen Pappbecher mit Wasser.

Nachdem sie einen Berg Taschentücher auf ihrem Schoß zerknüllt und drei Pappbecher zerdrückt hatte, stieß sie einen kleinen, bebenden Seufzer aus. „Entschuldigen Sie. Vielen Dank. Jetzt fühle ich mich tatsächlich besser.“ Ihre Wangen röteten sich ein wenig, als sie die Taschentücher und Pappbecher zusammensammelte. Cade nahm ihr das Ganze aus den Händen, warf es in den Papierkorb, lehnte sich an eine Ecke seines Schreibtisches und sah sie ruhig an.

„Wollen Sie mir jetzt erzählen, was los ist?“

Sie nickte, verschränkte dabei aber die Finger so fest ineinander, dass die Knöchel weiß hervortraten. „Ich … da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich kann mich nur einfach an nichts erinnern. Weder daran, wer ich bin, noch was ich tue oder wo ich herkomme. Freunde, Familie: Nichts.“ Ihr stockte wieder der Atem, sie stieß ihn langsam aus. „Gar nichts“, wiederholte sie.

Sollte das ein Traum sein? Eine atemberaubend schöne Frau ohne Vergangenheit spazierte einfach so in sein Büro? Er warf einen Blick auf die Tasche in ihrem Schoß. Darauf würde er gleich zu sprechen kommen. „Warum erzählen Sie mir nicht alles der Reihe nach. Was ist das Erste, an das Sie sich erinnern können?“

„Ich bin in einem Zimmer aufgewacht – in einem kleinen Hotelzimmer in der Sechzehnten Straße.“ Sie lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen, um sich zu konzentrieren. „Aber selbst das ist irgendwie unklar. Ich lag zusammengerollt auf dem Bett, und ein Stuhl war unter die Türklinke geklemmt. Es regnete. Ich konnte den Regen hören. Ich war müde und verwirrt, aber mein Herz klopfte so schnell, als wäre ich aus einem Albtraum aufgewacht. Ich hatte noch meine Schuhe an. Ich kann mich erinnern, wie ich mich fragte, warum ich mit meinen Schuhen ins Bett gegangen bin. Im Zimmer war es dunkel und stickig. Alle Fenster waren verschlossen. Ich war so müde und fertig, dass ich ins Badezimmer ging, um mir Wasser ins Gesicht zu spritzen.“

Jetzt öffnete sie die Augen und blickte ihn an. „Ich sah mein Gesicht im Spiegel. In diesem hässlichen kleinen Spiegel mit den schwarzen Klecksen. Und es sagte mir überhaupt nichts, dieses Gesicht.“ Sie hob eine Hand, fuhr sich über die Wange, dann über das Kinn. „Mein Gesicht war das einer Fremden. Ich konnte mich an keinen Namen erinnern oder an Gedanken oder Pläne aus meiner Vergangenheit. Ich wusste nicht, wie ich in dieses schreckliche Zimmer gekommen bin. Ich habe die Schubladen durchsucht, aber da war nichts. Keine Kleider. Ich hatte Angst. Ich wollte nicht dort bleiben, aber ich wusste auch nicht, wohin ich gehen sollte.“

„Die Tasche? Das war alles, was Sie bei sich hatten?“

„Ja. Keine Geldbörse, keine Brieftasche, keine Schlüssel. Nur das war darin.“ Sie langte in ihre Jackentasche und zog eine Notiz hervor.

Cade musterte die hingekritzelten Worte.

Bailey, Samstag um sieben, richtig? M.J.

„Ich weiß nicht, was das bedeutet. Ich habe vorhin eine Zeitung gesehen. Heute ist Freitag.“

„Hmm. Schreiben Sie das auf.“ Er reichte ihr Block und Stift.

„Was?“

„Schreiben Sie auf, was auf dem Zettel steht.“

„Oh.“ Sie gehorchte.

Obwohl es eigentlich nicht nötig war, legte er die beiden Schriftproben nebeneinander. „Nun, Sie sind nicht M.J., also vermute ich, dass Sie Bailey sind.“

Sie schluckte. „Wie bitte?“

„Die Handschrift von M.J. sieht aus, als ob es sich um einen Linkshänder oder eine Linkshänderin handelt. Sie hingegen sind Rechtshänderin. Sie schreiben ordentlich und schlicht, M.J. hingegen kritzelt eher. Die Notiz war in Ihrer Tasche. Somit ist es sehr wahrscheinlich, dass es sich bei Ihnen um Bailey handelt.“

„Bailey.“ Sie versuchte, den Namen in sich aufzunehmen, in der Hoffnung, etwas Vertrautes dabei zu empfinden. Aber der Klang war ihr vollkommen fremd. „Das bedeutet mir nichts.“

„Es bedeutet, dass wir zumindest einen Namen haben, den wir Ihnen geben können. Das ist ein Anfang. Erzählen Sie mir, was Sie als Nächstes getan haben.“

Verwirrt blinzelte sie ihn an. „Oh, ich … in dem Zimmer lag ein Telefonbuch. Also habe ich nach einer Privatdetektei gesucht.“

„Und warum haben Sie mich ausgewählt?“

„Das lag am Namen. Er klang irgendwie so … kraftvoll.“ Sie schenkte ihm ihr erstes Lächeln, es war zwar schwach, aber es war da. „Ich wollte schon anrufen, aber dann dachte ich, dass Sie mir vielleicht keinen Termin geben würden. Wenn ich aber einfach vorbeikäme … Also wartete ich in meinem Zimmer, bis die Geschäfte öffneten, dann lief ich eine Weile herum und nahm mir schließlich ein Taxi. Und hier bin ich.“

„Warum sind Sie nicht in ein Krankenhaus gefahren? Oder haben einen Arzt gerufen?“

„Das habe ich überlegt.“ Sie blickte auf ihre Hände hinab. „Habe es dann aber lieber doch nicht getan.“

Sie ließ ziemlich viel aus, das war offensichtlich. Cade nahm einen Schokoladenriegel aus der Schublade. „Sie haben nicht gesagt, dass Sie irgendwo frühstücken waren.“ Er sah, wie sie den Schokoriegel mit einer Mischung aus Verwunderung und Dankbarkeit betrachtete. „Das sollte erst mal reichen, bis wir etwas Besseres für Sie finden.“

„Dankeschön.“ Mit akkuraten Bewegungen wickelte sie den Riegel aus seinem Papier. Vielleicht rührte ja zumindest ein Teil des seltsamen Gefühls in ihrem Magen vom Hunger? „Mr. Parris, vielleicht gibt es Menschen, die sich Sorgen um mich machen. Familie, Freunde. Ich könnte doch ein Kind haben, nicht wahr? Ich weiß es nicht.“ Ihre Augen wurden dunkel, sie fixierte einen Punkt hinter ihm. „Allerdings glaube ich das nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand sein eigenes Kind vergessen könnte. Aber irgendjemand macht sich womöglich Sorgen um mich, fragt sich, was mit mir geschehen ist und warum ich letzte Nacht nicht nach Hause gekommen bin.“

„Sie hätten zur Polizei gehen können.“

„Ich wollte nicht zur Polizei.“ Diesmal klang ihre Stimme überraschend streng. „Nicht bis … Nein, ich will nicht zur Polizei.“ Sie zog ein weiteres Taschentuch aus der Pappschachtel und begann, es in kleine Streifen zu reißen. „Vielleicht sucht jemand nach mir, der nicht gerade mein Freund ist. Dem es nicht um mein Wohlergehen geht. Ich weiß nicht, wie ich darauf komme, aber ich weiß, dass ich Angst davor habe. Es geht um mehr als nur darum, dass ich mich nicht erinnere. Aber das alles kann ich erst begreifen, wenn ich weiß, wer ich bin.“

Vielleicht lag es an diesen großen feuchten Augen, die ihn anstarrten, oder an der Art, wie sie nervös und hilflos an dem Taschentuch herumnestelte – jedenfalls konnte Cade dem Bedürfnis, ein wenig anzugeben, einfach nicht widerstehen.

„Ein paar Dinge kann ich Ihnen schon jetzt sagen. Sie sind eine intelligente Frau, Anfang oder Mitte zwanzig. Sie haben einen guten Blick für Farben und Stil und genug Geld auf dem Konto, um italienische Schuhe und Seidenanzüge zu kaufen. Sie sind gepflegt und wahrscheinlich ziemlich ordentlich. Sie ziehen Understatement vor. Und ich vermute, dass Sie eine schlechte Lügnerin sind. Sie haben einen klugen Kopf, denken gründlich über alles nach. Sie werden nicht schnell panisch. Und Sie essen gern Schokolade.“

Sie zerknüllte das glänzende Schokoladenpapier, das vor ihr auf dem Tisch lag. „Wie kommen Sie auf all das?“

„Sie können sich gut ausdrücken, selbst wenn Sie Angst haben. Sie haben genau überlegt, wie Sie mit Ihrer Situation umgehen sollen, und haben jeden einzelnen Schritt logisch ausgeführt. Sie ziehen sich gut an – Qualität geht Ihnen über modischen Schnickschnack. Sie haben gepflegte Fingernägel, aber tragen keinen auffälligen Nagellack. Ihr Schmuck ist sehr besonders, interessant, aber nicht überladen. Und Sie halten Informationen zurück, seit sie dieses Büro betreten haben, weil Sie noch nicht genau wissen, wie sehr Sie mir vertrauen können.“

„Wie sehr kann ich Ihnen denn vertrauen?“

„Sie sind zu mir gekommen.“

Langsam stand sie auf, ging zum Fenster hinüber und lauschte dem Trommeln des Regens, der ihre hinter den Augen liegenden Kopfschmerzen verstärkte. „Ich erkenne diese Stadt nicht wieder“, murmelte sie. „Und trotzdem habe ich das Gefühl, dass ich sie kennen muss. Ich weiß, wo ich bin, weil ich diese Zeitung sah, die Washington Post. Ich weiß, wie das Weiße Haus aussieht und das Kapitol. Ich kenne all die Denkmäler – aber die könnte ich auch im Fernsehen oder in einem Buch gesehen haben.“

Sie legte ihre Hände auf das vom Regen feuchte Fensterbrett. „Ich komme mir vor, als ob ich aus dem Nichts direkt in dieses hässliche Hotelzimmer gefallen wäre. Und doch kann ich schreiben und lesen und laufen und sprechen. Der Taxifahrer hatte das Radio an, und ich erkannte die Musik. Ich erkannte Bäume. Ich war nicht überrascht, dass der Regen nass war. Ich habe Kaffee gerochen, als ich hier ins Büro kam, und der Geruch war mir vertraut. Ich weiß, dass Ihre Augen ein sehr seltenes Grün haben. Und wenn der Regen einmal aufhört, weiß ich, dass der Himmel blau sein wird.“

Sie seufzte tief. „Also bin ich nicht aus dem Nichts gefallen. Es gibt Dinge, die ich weiß, Dinge, derer ich mir sicher bin. Aber mein eigenes Gesicht sagt mir nichts, und was sich hinter diesem Gesicht abspielt, ist mir vollkommen schleierhaft. Vielleicht habe ich jemanden verletzt – oder Schlimmeres. Vielleicht bin ich egoistisch und berechnend, sogar brutal. Ich könnte einen Ehemann haben, den ich betrüge, oder Nachbarn, mit denen ich im Streit bin.“

Jetzt drehte sie sich wieder zu ihm um. Ihr Gesicht war angespannt und bildete einen merkwürdigen Kontrast zu den großen, unter dichten Wimpern liegenden Augen, die noch immer feucht von Tränen waren. „Ich weiß nicht, ob mir gefallen wird, was Sie über mich herausfinden, Mr. Parris. Aber ich muss es wissen.“ Sie stellte die Tasche auf seinem Schreibtisch ab und öffnete sie. „Ich denke, ich habe genug, um Sie bezahlen zu können.“

Cade kam aus einem sehr reichen Elternhaus, doch selbst er hatte noch nie so viel Geld auf einem Haufen gesehen. Die Tasche war prall gefüllt mit gebündelten Hundert-Dollar-Scheinen – jeder einzelne glatt, sauber und neu. Fasziniert nahm er ein Bündel heraus und blätterte es durch. Ja, tatsächlich. Jeder Schein trug Ben Franklins schlichtes, würdevolles Gesicht.

„Ich vermute, das ist ungefähr eine Million“, murmelte er.

„Eine Million zweihunderttausend.“ Bailey erschauerte, als sie in die Tasche blickte. „Ich habe die Bündel gezählt. Ich weiß nicht, wo das Geld herkommt und warum ich es bei mir habe. Vielleicht hab ich es gestohlen.“

Erneut stiegen Tränen in ihre Augen, und sie wandte sich ab. „Es könnte sich um Lösegeld handeln. Ich könnte in eine Entführung verwickelt sein. Womöglich wird irgendwo ein Kind festgehalten, und ich habe das Lösegeld an mich genommen. Ich könnte …“

„Fügen wir zu Ihren Eigenschaften noch eine blühende Fantasie hinzu.“

Es lag an seiner kühlen und sachlichen Stimme, dass sie tief durchatmete und ihn wieder ansah. „In dieser Tasche steckt ein Vermögen.“

„Eine Million zweihunderttausend ist heutzutage kein großes Vermögen mehr.“ Er ließ das Geldbündel zurück in die Tasche fallen. „Und es tut mir leid, Bailey, aber Sie sind einfach nicht der Typ ‘eiskalte Entführerin’.“

„Aber Sie könnten das überprüfen. Sie könnten diskret herausfinden, ob es eine Entführung gegeben hat.“

„Natürlich. Wenn die Polizei eingeschaltet wurde, kann ich das herausfinden.“

„Und falls es einen Mord gegeben hat?“ Sie versuchte, ruhig zu bleiben, während sie erneut in die Tasche griff. Diesmal zog sie eine 38er hervor.

Cade zog scharf die Luft ein. Vorsichtig schob er den Lauf zur Seite, dann nahm er ihr die Pistole aus der Hand. Es handelte sich um eine Smith and Wesson, die, wie er nach kurzer Prüfung feststellte, voll geladen war. „Wie fühlt sie sich in Ihrer Hand an?“

„Ich verstehe nicht.“

„Wie hat es sich angefühlt, als Sie sie in die Hand genommen haben? Das Gewicht, die Form?“

Obwohl sie verblüfft über die Frage war, tat sie ihr Bestes, so präzise wie möglich zu antworten. „Sie ist nicht so schwer, wie ich dachte. Etwas mit so viel Kraft sollte mehr wiegen, mehr Substanz haben. Ich würde sagen, es fühlte sich komisch an.“

„Der Kugelschreiber hingegen nicht.“

Sie fuhr sich mit den Händen durchs Haar. „Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Ich habe Ihnen gerade über eine Million Dollar und eine Pistole gezeigt. Und Sie reden über Kugelschreiber.“

„Als ich Ihnen den Kugelschreiber gegeben habe, hat er sich in Ihrer Hand nicht komisch angefühlt. Sie mussten gar nicht darüber nachdenken. Sie nahmen ihn einfach und benutzten ihn.“ Er lächelte leicht und steckte die Pistole vorsichtshalber in seine Tasche. „Ich denke, dass Sie es weitaus mehr gewohnt sind, einen Kugelschreiber in der Hand zu halten, als eine 38er.“

Diese Tatsache, die simple Logik dahinter, schien sie zwar zu erleichtern, die düsteren Wolken aber vertrieb sie nicht. „Vielleicht haben Sie recht. Das heißt aber nicht, dass ich sie nicht benutzt habe.“

„Nein, das ist wahr. Und nachdem sie jetzt voll von Ihren Fingerabdrücken ist, können wir das auch nicht mehr beweisen. Ich kann aber überprüfen lassen, ob sie registriert ist. Und auf wen.“

In ihren Augen flackerte ein Funken Hoffnung auf. „Wenn sie mir gehört …“ Sie nahm seine Hand und drückte sie. „Wenn sie mir gehört, dann hätten wir einen Namen. Ich würde meinen Namen wissen. Mir war gar nicht klar, wie einfach das ist.“

„Einfach sein könnte.“

„Stimmt.“ Sie ließ seine Hand los und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. Ihre Schritte waren ruhig und kontrolliert. „Das war vorschnell. Aber es tut so gut, mit jemandem zu reden, verstehen Sie? Mit jemandem, der sich auskennt. Ich weiß nicht, ob ich gut darin bin, Rätsel zu lösen. Mr. Parris …“

„Cade“, sagte er, fasziniert von der Tatsache, dass er ihre sparsamen Bewegungen so sexy finden konnte. „Machen wir’s nicht unnötig kompliziert.“

„Cade.“ Sie atmete tief durch. „Es ist schön, jemanden beim Namen nennen zu können. Sie sind der einzige Mensch, den ich kenne, und der einzige Mensch, von dem ich weiß, dass er mich kennt. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie seltsam das ist. Und wie tröstlich.“

„Warum machen wir aus mir nicht den ersten Menschen, mit dem Sie gemeinsam etwas essen? Einen Schokoriegel kann man kaum als vernünftiges Frühstück bezeichnen. Sie sehen erschöpft aus, Bailey.“

Es war so sonderbar, wenn er sie mit diesem Namen ansprach. „Ja, ich bin müde“, gab sie zu. „Es fühlt sich nicht so an, als ob ich viel geschlafen hätte. Und ich weiß nicht, wann ich zum letzten Mal gegessen habe.“

„Was halten Sie von Rührei?“

Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. „Ich habe nicht die geringste Ahnung.“

„Nun, dann sollten wir es herausfinden.“ Er wollte ihre Tasche nehmen, doch sie hielt seine Hand fest.

„Da ist noch etwas.“ Sie schwieg einen Moment, sah ihn aber weiterhin an, so wie vorhin, als sie hereingekommen war. Fragend, abwägend, unentschlossen. Aber sie wusste, dass sie keine Wahl hatte. „Sie müssen mir etwas versprechen.“

„Sie haben mich engagiert, Bailey. Ich arbeite für Sie.“

„Ich weiß nicht, ob meine Bitte in Ihrem Geschäft üblich ist, aber Sie müssen mir einfach Ihr Wort geben. Falls Sie bei den Ermittlungen feststellen, dass ich ein Verbrechen begangen habe, dann müssen Sie erst alles herausfinden, was Ihnen möglich ist, alle Umstände, alle Fakten, bevor Sie mich der Polizei melden.“

Er neigte den Kopf und sah sie ungläubig an. „Sie denken, ich werde Sie verraten?“

„Wenn ich das Gesetz gebrochen habe, dann erwarte ich sogar, dass Sie es tun. Aber ich muss erst alle Hintergründe kennen. Ich muss alles verstehen können. Versprechen Sie mir das?“

„Natürlich.“ Er ergriff ihre ausgestreckte Hand. Sie war so zerbrechlich wie dünnes Porzellan, aber ihr Händedruck war überraschend fest. Diese Frau, wer immer sie auch war, war eine faszinierende Mischung aus Kraft und Zerbrechlichkeit. „Keine Polizei, bevor wir nicht alles wissen. Sie können mir vertrauen, Bailey.“

„Sie versuchen, mich an den Namen zu gewöhnen.“ Unvermittelt gab sie ihm einen schnellen Kuss auf die Wange. „Sie sind so nett.“

Nett genug, dachte sie, dass er sie bestimmt in seine Arme genommen hätte, wenn sie ihn darum gebeten hätte. Und sie sehnte sich danach, gehalten zu werden! Danach, dass sie jemand tröstete und ihr versprach, dass alles wieder gut würde. Aber sie musste das jetzt allein schaffen. Blieb nur zu hoffen, dass sie zu den Frauen gehörte, die es gewohnt waren, auf eigenen Füßen zu stehen.

„Noch etwas.“ Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Tasche, steckte die Hand hinein, tastete nach dem dicken, schweren Samtbeutel. „Ich vermute, das ist überhaupt das Wichtigste.“

Sie zog den Beutel sehr vorsichtig heraus, beinahe ehrfürchtig, öffnete den Knoten und ließ den Inhalt auf ihre Handfläche gleiten.

Das Geld hatte ihn überrascht, die Waffe hatte ihn beunruhigt. Aber das hier flößte ihm Ehrfurcht ein! Das Glitzern, dieses selbst in dem regendüsteren Zimmer hoheitsvolle Glitzern, besaß eine atemberaubende Anziehungskraft. Der Edelstein füllte ihre Handfläche gänzlich aus, die Kanten waren sauber und scharf genug geschliffen, um noch das schwächste Licht einzufangen und in gleißenden Strahlen in den Raum zurückzuwerfen. Dieser Stein gehörte in die Krone einer Königin oder zwischen die Brüste einer uralten antiken Göttin.

„Ich habe noch nie einen so großen Saphir gesehen.“

„Das ist kein Saphir.“ Sie nahm seine Hand und legte den funkelnden Stein hinein. „Das ist ein blauer Diamant, ungefähr einhundert Karat. Brillantschliff, vermutlich von Asia Minor. Mit bloßem Auge sind keine Einschlüsse erkennbar, und sowohl die Farbe als auch die Größe sind außerordentlich selten. Ich schätze, er ist locker dreimal so viel Wert wie das Geld in der Tasche.“

Cade sah nun nicht mehr den Stein an, sondern sie. Als sie den Blick zu ihm hob, schüttelte sie den Kopf. „Ich weiß nicht, woher ich das weiß. Aber ich weiß es. Genauso wie ich weiß, dass das nicht alles ist … dass es nicht komplett ist.“

„Wie meinen Sie das?“

„Ich wünschte, ich wüsste es. Aber es ist ein sehr starkes Gefühl, fast so, als würde ich mich erinnern. Ich weiß, dass dieser Stein ein Teil der Geschichte ist. Genauso wie ich weiß, dass er keinesfalls mir gehören kann. Er gehört eigentlich niemandem. Niemandem“, wiederholte sie. „Ich muss ihn gestohlen haben.“

Sie presste die Lippen zusammen, hob das Kinn und straffte die Schultern. „Und dafür habe ich womöglich getötet.“

2. KAPITEL

Cade nahm Bailey mit zu sich nach Hause. Etwas Besseres fiel ihm auf die Schnelle nicht ein. Außerdem wollte er die Stofftasche samt Inhalt so schnell wie möglich in seinem Safe verstauen.

Sie hatte nicht protestiert, als er sie aus dem Gebäude geführt hatte, und sie hatte auch keinen Kommentar abgegeben, als er sie auf den Beifahrersitz seines Jaguars gesetzt hatte. Normalerweise zog er es vor, mit seinem alten, ziemlich verbeulten Sedan zur Arbeit zu fahren, aber nachdem der gerade in Reparatur war, war ihm nur der auffällige Jaguar geblieben.

Die ganze Zeit über sagte sie nichts, auch nicht, als er in eine wunderschöne Wohngegend mit einer Allee schattenspendender Bäume einbog und vor einem würdevollen, im typischen Südstaatenstil errichteten Gebäude hielt. Er wollte ihr schon erklären, dass er das Haus von einer Großtante geerbt hatte, die eine Schwäche für ihn hatte – was ja auch stimmte. Und dass er hier wohnte, weil ihm die Ruhe und der Komfort der Wohngegend gefielen.

Aber sie fragte gar nicht erst.

Cade hatte den Eindruck, dass sie vollkommen erschöpft war. Die Energie, die sie gebraucht hatte, um durch den Regen zu laufen, sein Büro zu finden und ihre Geschichte zu erzählen, war endgültig aufgebraucht. Sie wirkte beinahe teilnahmslos.

Und wieder so zerbrechlich. Er musste sich zwingen, sie nicht einfach auf seine Arme zu heben und ins Haus zu tragen. Dabei hatte er das Bild schon genau vor Augen: Er, der tapfere Ritter, der die Jungfrau in die Sicherheit seiner Burg brachte. Weg von all den bösen Drachen, die hinter ihr her waren.

Er musste wirklich aufhören, solchen Blödsinn zu denken.

Also schulterte er die Stofftasche, nahm Bailey an der Hand und zog sie mit sich zum Eingangsbereich, dann den Flur hinunter und direkt in die geräumige Wohnküche.

„Rührei“, sagte er, schob ihr einen Stuhl zurecht und drückte sie sanft darauf.

„Ja. Gut. Danke.“

Sie fühlte sich steif und desorientiert, gleichzeitig war sie ihm unendlich dankbar. Er löcherte sie nicht mit Fragen, er schien auch nicht besonders schockiert oder abgestoßen von ihrer Geschichte zu sein. Vielleicht lag es an seinem Beruf, dass er das alles so gelassen hinnahm. Egal, woran es lag, sie war einfach nur froh, dass er ihr Zeit gab, sich zu erholen.

Geschickt schlug er ein paar braune Eier in eine Schüssel, dann steckte er Brotscheiben in den Toaster. Ich sollte ihm meine Hilfe anbieten, dachte sie. Das wäre das Mindeste. Aber sie war so schrecklich müde, und es war so angenehm, einfach nur in dieser großen Küche zu sitzen, während der Regen aufs Dach prasselte, und ihm beim Bereiten des Frühstücks zuzusehen.

Er kümmerte sich um sie. Und sie ließ es geschehen. Bailey schloss die Augen. Sie fragte sich, ob sie zu den Frauen gehörte, die von einem Mann versorgt werden wollten, die gerne die Rolle des hilflosen Weibchens spielten.

Sie konnte nur hoffen, dass es nicht so war. Zugleich wunderte sie sich darüber, dass ihr ein so unbedeutender Charakterzug wichtig schien, wo sie doch noch nicht einmal wusste, ob sie eine gemeine Diebin oder Mörderin war.

Sie ertappte sich dabei, wie sie ihre Hände musterte. Sie hatte kurze, rund gefeilte und transparent lackierte Fingernägel. Bedeutete das, dass sie ein praktischer Mensch war? Ihre Hände waren zart und weich, ohne Schwielen. Also arbeitete sie nicht damit.

Die Ringe … sehr hübsch, schlicht und gleichzeitig ungewöhnlich. Zumindest glaubte sie das. Sie erkannte die Steine: Granat, Zitrin, Amethyst. Wieso nur wusste sie die Namen von Edelsteinen, aber nicht die ihrer engsten Freunde?

Hatte sie überhaupt Freunde?

War sie eine nette Person oder eine boshafte, großzügig oder engstirnig? Lachte sie viel und weinte sie im Kino? Gab es einen Mann, den sie liebte? Der sie liebte?

Hatte sie über eine Million Dollar gestohlen und diese hässliche kleine Pistole benutzt?

Sie zuckte zusammen, als Cade einen Teller vor sie hinstellte, wurde aber gleich wieder ruhig, als er eine Hand auf ihre Schulter legte.

„Sie müssen etwas essen.“ Er ging zurück zum Herd, um eine Tasse zu holen. „Ich könnte mir vorstellen, dass Sie lieber Tee als Kaffee trinken.“

„Ja. Vielen Dank.“ Sie nahm die Gabel zur Hand, schaufelte etwas Ei darauf und probierte. „Schmeckt gut.“ Ihr gelang ein Lächeln, ein zögerndes, schüchternes Lächeln, das sein Herz berührte.

„Na, das ist doch schon mal was.“ Nachdem er sich selbst einen Becher Kaffee eingeschenkt hatte, setzte er sich ihr gegenüber. „Ich bin auf der halben Welt bekannt für mein Rührei.“

Ihr Lächeln wurde breiter. „Und ich weiß auch, warum. Der Hauch Dill und Paprika macht den Unterschied.“

„Warten Sie erst mal, bis Sie mein spanisches Omelette versucht haben.“

„Ein Meister der Eier.“ Sie aß weiter, genoss die Leichtigkeit, mit der sie sich unterhielten. „Kochen Sie oft?“

Sie blickte sich in der Küche um. Natursteinfarbene Schränke und warmes, helles Holz. Ein Fenster ohne Vorhänge über einer Doppelspüle aus weißem Porzellan. Kaffeemaschine, Toaster und eine auseinandergefaltete Tageszeitung.

Der Raum war ordentlich, aber nicht übertrieben sauber. Und stand in krassem Gegensatz zu dem Durcheinander in seinem Büro. „Ich habe Sie gar nicht gefragt, ob Sie verheiratet sind.“

„Geschieden, und ich koche, wenn ich keine Lust mehr habe, essen zu gehen.“

„Ich frage mich, was ich wohl lieber mache – ausgehen oder selbst kochen.“

„Sie haben Paprika und Dill herausgeschmeckt.“ Er lehnte sich zurück und musterte sie, während er einen Schluck Kaffee trank. „Sie sind schön.“ Sie sah zu ihm auf, überrascht und, wie er bemerkte, mit einem Mal sehr wachsam. „Das ist nur eine Beobachtung, Bailey. Wir müssen mit den Tatsachen arbeiten, die wir kennen. Sie sind schön – auf eine ruhige, natürliche Art. Sie mögen nichts Grelles, und Sie können ein Kompliment über Ihr Aussehen nicht einfach annehmen. Im Gegenteil, es macht Sie nervös.“

Sie nahm ihre Tasse in beide Hände. „Ist es das, was Sie erreichen wollen?“

„Nein, aber ich finde es interessant. Und süß – wie Sie rot werden und mich gleichzeitig so misstrauisch ansehen. Sie können sich entspannen, ich mache Sie nicht an.“ Allerdings war der Gedanke gar nicht so abwegig. Eher faszinierend und, wie er zugeben musste, ein bisschen erregend. „Ich glaube allerdings nicht, dass Sie schüchtern sind“, fuhr er fort. „Ein Mann würde bei Ihnen bestimmt nicht weit kommen, nur indem er Ihnen erzählt, dass Ihre Augen die Farbe von warmem Brandy haben und dass der Kontrast zu Ihrer kühlen, kultivierten Stimme verdammt sexy ist.“

Sie hob die Tasse und ließ ihn nicht aus den Augen – obwohl es ihr schwerfiel. „Das klingt aber schon so, als ob Sie mich anmachen wollten.“

Seine Grübchen wurden tiefer, als er lächelte. „Sehen Sie, gar nicht schüchtern. Aber höflich, sehr höflich und sehr gut erzogen. Aus Ihrer Stimme höre ich New England heraus, Bailey.“

Sie starrte ihn an. „New England?“

„Connecticut, Massachusetts – ich bin nicht sicher. Aber da liegt ein Hauch von Ostküsten-Erziehung in Ihrer Stimme, vor allem, wenn sie so kühl wird.“

„New England.“ Sie suchte nach einer Verbindung. „Das bedeutet mir nichts.“

„Das ist noch ein Puzzleteil, das mir bei meiner Arbeit hilft. Sie riechen förmlich nach Klasse. Entweder sind Sie schon hineingeboren worden, oder Sie haben diese Klasse entwickelt, wie auch immer, sie ist da.“ Er erhob sich, um ihren Teller wegzuräumen. „Genauso wie Ihre Erschöpfung. Sie müssen schlafen.“

„Ja.“ Bei dem Gedanken, zurück in ihr Hotelzimmer zu gehen, musste sie ein Schaudern unterdrücken. „Soll ich später in Ihrem Büro anrufen und einen weiteren Termin vereinbaren? Ich habe die Nummer des Hotels und die Zimmernummer aufgeschrieben. Sie können mich anrufen, sobald Sie etwas herausgefunden haben.“

„Sie gehen nicht zurück ins Hotel.“ Energisch nahm er sie bei der Hand und zog sie auf die Füße. „Sie bleiben hier. Hier ist genügend Platz.“

„Hier?“

„Ich halte es für das Beste, wenn ich ein Auge auf Sie haben kann. Zumindest vorläufig.“ Er führte sie aus der Küche und schob sie die Treppe hinauf. „Das hier ist eine ruhige und sichere Gegend, und bis wir herausgefunden haben, wie Sie an 1,2 Millionen Dollar und einen faustgroßen Diamanten gekommen sind, möchte ich nicht, dass sie allein durch die Stadt wandern.“

„Sie kennen mich doch gar nicht.“

„Sie sich auch nicht. Daran müssen wir arbeiten.“

Er öffnete die Tür zu einem Raum, wo durch Spitzenvorhänge gedämpftes Licht auf den polierten Eichenboden fiel. Ein Tisch mit vier Stühlen stand vor dem Kamin, das Himmelbett war mit einer bestickten Decke und vielen großen und kleinen Kissen dekoriert.

„Schlafen Sie ein wenig“, sagte er. „Dort drüben ist das Badezimmer. Ich werde Ihnen etwas hinlegen, das sie später anziehen können.“

Wieder spürte sie Tränen in sich aufsteigen. „Laden Sie all Ihre Klienten zu sich nach Hause ein?“

„Nein.“ Er berührte ganz leicht ihre Wange, dann ließ er seine Hand wieder fallen, obwohl er Bailey am liebsten an sich gezogen und ihren Kopf an seine Schulter gebettet hätte. „Nur die, die es brauchen. Ich bin unten, falls was ist. Es gibt noch ein paar Dinge zu erledigen.“

„Cade.“ Sie griff nach seiner Hand und hielt sie einen Moment lang fest. „Danke. Wie es scheint, habe ich den richtigen Namen im Telefonbuch erwischt.“

„Ruhen Sie sich aus, und überlassen Sie alles Weitere erst mal mir.“

„Das werde ich. Ach, und … bitte, könnten Sie die Tür offen lassen?“, bat sie schnell, als er in den Gang trat.

Er musterte sie von der Tür aus. Sie sah so zart aus, so verletzlich. „Ich bin die ganze Zeit über unten.“

Sie lauschte seinen Schritten, bevor sie sich auf das Bett sinken ließ. Vielleicht war es dumm von ihr, sich so voll und ganz in seine Hände zu begeben. Aber sie vertraute ihm. Nicht nur, weil ihre Welt derzeit nur aus ihm bestand, sondern weil all ihre Instinkte ihr sagten, dass sie sich auf ihn verlassen konnte. Vielleicht war sie einfach nur verzweifelt, aber sie wusste nicht, wie sie ohne ihn die letzten Stunden überstanden hätte. Ihre Gegenwart und ihre Zukunft hingen von Cade Parris ab. Von seiner Fähigkeit, das Geheimnis ihrer Vergangenheit zu lüften.

Sie schlüpfte aus den Schuhen, zog die Jacke aus und legte sie ordentlich gefaltet auf einen Stuhl. Beinahe war ihr schwindlig vor Müdigkeit. Sie kletterte aufs Bett, kauerte sich zusammen und schlief in der Sekunde ein, in der sie die Augen schloss.

Im Erdgeschoss nahm Cade ihre Fingerabdrücke von der Teetasse. Er hatte die entsprechenden Beziehungen, um die Abdrücke so schnell und so diskret wie möglich überprüfen zu lassen. Falls Bailey vorbestraft war oder irgendwann einmal für die Regierung gearbeitet hatte, würde er ihre Identität auf diese Weise schnell herausfinden.

Außerdem musste er feststellen, ob eine Frau, zu der ihre Beschreibung passte, als vermisst gemeldet worden war. Auch das würde nicht weiter schwer sein.

Das Geld und der Diamant eröffneten ihm noch eine weitere Möglichkeit. Der Diebstahl eines Edelsteins dieser Größe wäre auf jeden Fall gemeldet worden. Er musste ein paar der Fakten, die Bailey ihm genannt hatte, überprüfen und anschließend eigene Nachforschungen anstellen. Wo der Stein registriert war beispielsweise und ob es in letzter Zeit einen Mord oder eine Schießerei mit einer 38er gegeben hatte.

All das wäre natürlich am effektivsten, wenn er es persönlich erledigte. Aber er wollte sie jetzt nicht allein lassen. Sie konnte Panik bekommen und verschwinden, und das durfte er auf keinen Fall riskieren. Genauso gut war es möglich, dass sie aufwachte, sich an alles erinnerte und zurück in ihr eigenes Leben ging, bevor er auch nur die Chance hatte, sie zu retten.

Und er wollte sie wirklich sehr gerne retten.

Während er die Tasche im Safe verstaute, seinen Computer anschaltete und sich ein paar Notizen machte, rief er sich immer wieder in Erinnerung, dass sie vielleicht einen Ehemann, sechs Kinder, zwanzig eifersüchtige Liebhaber und eine Liste von Vorstrafen hatte, die so lang war wie die Pennsylvania Avenue. Aber das war ihm egal.

Sie war seine Jungfrau in Not, und, verdammt, er würde sie retten.

Er erledigte einige Anrufe und kümmerte sich darum, dass ihre Fingerabdrücke bei seiner Kontaktperson bei der Polizei landeten. Dieser kleine Gefallen würde ihn höchstens eine Flasche feinsten Scotch kosten.

„Übrigens, Mick, wissen Sie etwas von einem Juwelenraub? Einem ziemlich großen?“

Cade konnte sich nur zu gut vorstellen, wie Detective Mick Marshall seine Unterlagen durchwühlte, den Hörer unters Ohr geklemmt, mit schiefer Krawatte und drahtigem roten Haar, das ihm in alle Richtungen vom Kopf abstand.

„Wissen Sie etwas, Parris?“

„Hab nur so was gehört“, murmelte Cade beiläufig. „Falls es etwas Großes war, könnte ich einen Hinweis auf die Versicherungsgesellschaft brauchen. Irgendwie muss auch ich meine Miete zahlen, Mick.“

„Zum Teufel, ich weiß nicht, warum Sie nicht einfach gleich das ganze Gebäude kaufen, Sie reicher Junge.“

„Ich bin exzentrisch – so nennt man reiche Jungs, die sich mit Leuten wie Ihnen abgeben. Also, was wissen Sie?“

„Ich hab von nichts gehört.“

„Okay. Ich habe eine 38er Smith and Wesson.“ Cade drehte die Waffe in seiner Hand und leierte die Seriennummer herunter. „Können Sie sie für mich überprüfen?“

„Das macht schon zwei Flaschen Scotch, Parris.“

„Wofür sind Freunde denn da? Wo wir gerade dabei sind – wie geht es Doreen?“

„Prächtig. Vor allem, seit Sie ihr diese verdammten Tulpen mitgebracht haben. Ich bekomme gar nichts anderes mehr zu hören. Als ob ich Zeit hätte, nach Feierabend noch Blumensträuße pflücken zu gehen! Eigentlich sollte ich auf drei Flaschen Scotch erhöhen.“

„Wenn Sie etwas über den vermissten Klunker herausfinden, Mick, dann bekommen Sie eine ganze Kiste voll. Bis später.“

Cade legte auf und starrte düster auf den Bildschirm seines Computers. Mensch und Maschine – sie mussten jetzt einfach miteinander auskommen.

Er brauchte ungefähr dreimal so lange wie ein durchschnittlich intelligenter Zwölfjähriger, um in den Weiten des Internets zu finden, wonach er suchte.

Amnesie.

Cade trank noch eine Tasse Kaffee, und dann erfuhr er mehr über das menschliche Gehirn, als er jemals hatte wissen wollen. Für einen kurzen, unangenehmen Augenblick befürchtete er, dass Bailey vielleicht einen Tumor hatte. Und er selbst womöglich auch. Er durchlebte eine existenzielle Sorge um sein Stammhirn, bevor er wieder wusste, warum er seiner Mutter nie den Gefallen getan hatte, Medizin zu studieren.

Der menschliche Körper mit all seinen Tücken war einfach zu beängstigend. Eine tickende Zeitbombe. Nein, da setzte er sich lieber mit einer geladenen 38er auseinander als mit irgendwelchen inneren Organen.

Schließlich kam er einigermaßen erleichtert zu dem Schluss, dass Bailey vermutlich keinen Tumor hatte. Alle Zeichen deuteten auf eine hysterische Amnesie hin, die Stunden, im ungünstigen Fall auch Wochen dauern konnte. Monate. Manchmal sogar Jahre. Womit er im Grunde genauso viel wusste wie zu Anfang. Der Artikel deutete an, dass eine Amnesie ein Symptom und keine Krankheit war, und dass sie geheilt werden konnte, indem man den Grund des erlittenen Schocks fand und auflöste.

Und hier kam er ins Spiel. Cade Parris. Er hatte den Eindruck, dass ein guter Detektiv mindestens so qualifiziert war wie ein Arzt, um Baileys Problem zu beseitigen.

Sorgsam notierte er alle relevanten Ergebnisse, bevor er zufrieden nach oben lief, um Bailey ein paar frische Kleider herauszusuchen.

Sie wusste nicht, ob es Traum war oder Wirklichkeit – nicht einmal, ob es sich um ihren eigenen Traum oder die Realität einer anderen handelte. Aber alles kam ihr vertraut vor, so merkwürdig vertraut …

Der dunkle Raum, der helle Lichtstrahl der Tischlampe. Der Elefant. Wie seltsam – der Elefant schien sie anzugrinsen, den Rüssel erhoben zum Zeichen, dass er Glück brachte, die glänzend blauen Augen funkelnd vor heimlicher Belustigung.

Weibliches Gelächter – bekannt und so tröstlich. Freundliches, vertrautes Gelächter.

Diesmal wird es Paris sein, Bailey. Wir werden nicht schon wieder zwei Wochen lang zusehen, wie du im Dreck herumwühlst. Was du brauchst, ist Romantik, Leidenschaft, Sex. Es wird Paris sein.

Ein Dreieck, golden und glänzend. Und ein Raum voller Licht, grelles, blendendes Licht. Ein Mann, der kein Mann ist, mit einem so freundlichen Gesicht, so weise und großzügig, dass die Seele erschauern will. Und das goldene Dreieck, das er in den geöffneten Händen hält, die Kraft der blauen Steine, die sich in die Winkel des Dreiecks schmiegen. Die Steine schimmern und pulsieren, schießen Blitze in den Lichtstrahl.

Die Schönheit brennt in den Augen.

Sie hält sie in ihren Händen, die Hände zittern. Wut, eine unbändige Wut kreist in ihr. Und Angst. Die Steine schießen aus ihren Händen, erst einer, dann zwei fliegen davon wie juwelenbesetzte Vögel. Den dritten Stein presst sie an ihr Herz.

Silberblitze, jede Menge Silberblitze. Der Raum erfüllt von gleißendem Licht. Blut. Überall Blut. Es strömt über den Boden wie ein abscheulicher Fluss.

Mein Gott, es ist nass, so rot und nass und teuflisch dunkel.

Rennen. Stolpern. Herzrasen. Es ist wieder dunkel. Das Licht ist gelöscht, die Sterne sind verschwunden. Da ist ein Korridor, ihre Absätze hallen wie die Donnerschläge, die den Blitzen folgen. Es verfolgt sie, jagt sie in der Dunkelheit, während die Wände auf sie zukommen, näher und näher.

Sie kann den Elefanten trompeten hören. Sie krabbelt in die Höhle und versteckt sich wie ein Tier, bebend und winselnd wie ein Tier, als der Blitz sie trifft …

„Kommen Sie, Bailey. Kommen Sie. Es ist nur ein böser Traum.“

Verzweifelt versuchte sie, aus der Dunkelheit aufzutauchen, um zu der beruhigenden Stimme zu gelangen. Stöhnend vergrub sie ihr schweißnasses Gesicht an der breiten, starken Schulter.

„Blut. So viel Blut. Der Blitz. Es kommt näher … Es ist schon so nah!“

„Nein, jetzt ist es weg.“ Cade hauchte einen kaum spürbaren Kuss auf ihr Haar, zog sie auf seinen Schoß und schaukelte sie wie ein Kind. Als er ins Zimmer gekommen war, um ihr einen Bademantel bereitzulegen, hatte er bemerkt, wie sie im Schlaf weinte. Jetzt klammerte sie sich zitternd an ihn. „Sie sind in Sicherheit, Bailey. Versprochen.“

„Die Sterne. Drei Sterne.“ Noch immer gefangen zwischen Wachen und Schlafen, wand sie sich unruhig in seinen Armen. „Ich muss nach Paris.“

„Sie sind schon da. Ich bin hier.“ Er legte ihren Kopf zurück, berührte sanft ihre Wange. „Genau hier.“ Er wartete, bis ihr Blick klar wurde. „Beruhigen Sie sich. Ich bin doch da.“

„Gehen Sie nicht weg.“ Mit einem Schaudern ließ sie den Kopf wieder an seine Schulter sinken, genau so, wie er es sich vorgestellt hatte. Das Ziehen in seiner Brust kam schlagartig und heftig.

Er vermutete, dass es Liebe auf den ersten Blick war.

„Ich gehe nicht weg. Ich kümmere mich um Sie.“

Das reichte, um sie etwas zu beruhigen. Sie hörte auf zu zittern, entspannte sich und schloss die Augen. „Ich habe geträumt. Aber es war so verwirrend, so beängstigend. Und ich verstehe es nicht.“

„Erzählen Sie mir von dem Traum.“

Er lauschte aufmerksam, während sie versuchte, sich so gut wie möglich zu erinnern und die Details in die richtige Reihenfolge zu bringen. „Da waren so viele Gefühle, die mich überschwemmt haben. Angst. Und Wut. Die Vorstellung, hintergangen worden zu sein. Und dann das Grauen. Pures, sinnloses Grauen.“

„Das könnte Ihren Gedächtnisverlust erklären. Sie sind noch nicht so weit, sich mit dem auseinanderzusetzen, was Sie erlebt haben. Sie blenden es aus. Es handelt sich wahrscheinlich um eine Art Hysterie.“

„Hysterie?“ Sie hob den Kopf. „Ich soll hysterisch sein?“

„Nun ja, gewissermaßen.“ Gedankenverloren zeichnete er mit einem Finger die Konturen ihres Gesichts nach. „Steht Ihnen aber nicht schlecht.“

Mit einer sehr bestimmten Bewegung schob sie seine Hand fort. „Ich mag den Begriff nicht.“

„Das ist lediglich eine medizinische Bezeichnung. Sie haben doch keinen Schlag abbekommen, oder? Auf den Kopf vielleicht?“

Jetzt kniff sie die Augen zusammen. „Nicht, dass ich wüsste. Aber ich bin ja auch hysterisch. Was weiß ich schon.“

„Nun werden Sie nicht albern. Ich will nur sagen, dass eine Amnesie auch die Folge einer Gehirnerschütterung sein kann.“ Er wickelte sich eine ihrer Haarsträhnen um den Finger. „Ich dachte immer, dass das totaler Blödsinn ist oder eine Erfindung aus Hollywood, aber offenbar gibt es so was wirklich. Ein weiterer Grund für Gedächtnisverlust kann eine funktionelle nervöse Störung sein, wie zum Beispiel – entschuldigen Sie bitte – eine Hysterie.“

Sie betrachtete ihn aus zusammengekniffenen Augen. „Ich bin nicht hysterisch, aber ich könnte es bestimmt werden, falls Sie eine kleine Demonstration wünschen.“

„Davon hatte ich schon genug in meinem Leben. Ich habe Schwestern, Bailey.“ Er nahm ihr Gesicht mit solch entwaffnender Zärtlichkeit in beide Hände, dass sie vor Überraschung die Augen aufriss. „Sie stecken in Schwierigkeiten, das ist das Entscheidende. Und wir werden das wieder hinbekommen.“

„Indem Sie mich auf Ihren Schoß setzen?“

„Das ist nur eine Zusatzleistung.“ Ein leises Lächeln huschte über ihr Gesicht. Als sie jedoch versuchte, von seinem Schoß zu rutschen, verstärkte Cade seinen Griff. „Mir gefällt es so. Sehr sogar.“

Sie konnte mehr als nur Belustigung in seinen Augen entdecken, etwas, das ihren Puls in die Höhe schnellen ließ. „Ich glaube nicht, dass es klug von Ihnen ist, mit einer Frau zu flirten, die nicht einmal selbst weiß, wer sie ist.“

„Vielleicht ist es nicht klug, aber es macht Spaß. Und es könnte Sie ein wenig ablenken.“

Sie schluckte unmerklich. Es war fast unmöglich, dem Charme seines Lächelns zu widerstehen. Beinahe konnte sie sich ausmalen, wie wunderbar sich seine Lippen auf ihren anfühlen würden.

Vielleicht, weil sie sich gar keine anderen Lippen vorstellen konnte? Weil sie sich an keinen Geschmack erinnern konnte, an kein besonderes Gefühl? Nachdem er somit in gewisser Weise der erste Mann wäre, der sie küsste, fühlte sie einen Schauer der Erregung durch ihren Körper jagen.

Sein Blick wanderte von ihren Augen hinab zu ihrem Mund, dann wieder zurück. Er konnte sich einen Kuss sogar ziemlich gut vorstellen, und er war sich fast schon sicher, dass romantische Musik im Hintergrund erschallen würde, sobald seine Lippen ihre berührten.

„Wollen Sie es versuchen?“

Lust, pure und schockierende Lust durchströmte ihre Glieder und ließ ihre Nerven flattern. Sie war allein mit ihm, mit diesem Fremden, dem sie ihr Leben anvertraut hatte. Diesem Mann, über den sie mehr wusste als über sich selbst.

„Ich kann nicht.“ Sie legte eine Hand an seine Brust, überrascht davon, dass seine Stimme zwar ruhig klang, sein Herz aber mindestens genauso schnell klopfte wie ihres. „Ich habe Angst davor.“

„Meiner Erfahrung nach ist das Küssen keine allzu beängstigende Angelegenheit.“

Daraufhin musste sie wieder lächeln, und als sie diesmal zappelte, ließ er sie los.

„Es ist besser, die Dinge nicht noch komplizierter zu machen, als sie sowieso schon sind.“ Nervös strich sie sich das Haar zurück. „Ich würde gerne duschen, wenn das in Ordnung ist.“

„Sicher. Ich habe Ihnen einen Bademantel gebracht, außerdem eine meiner Jeans, die Sie hochkrempeln können. Als Ersatz für einen Gürtel ist mir nichts Besseres eingefallen als eine Wäscheleine. Zumindest wird sie die Hose halten und ein echt außergewöhnliches Modestatement sein.“

„Sie sind sehr nett, Cade.“

„Das sagen sie alle.“ Er schloss die kleine Kammer der Lust in sich ab und stand auf. „Kann ich Sie eine Stunde lang allein lassen? Ich muss ein paar Dinge erledigen.“

„Ja, natürlich.“

„Sie müssen mir versprechen, dass Sie das Haus nicht verlassen, Bailey.“

Abwehrend hob sie die Hände. „Wohin sollte ich schon gehen?“

Jetzt sah er ihr direkt in die Augen. „Versprechen Sie mir, dass Sie das Haus nicht verlassen.“

„Na schön. Versprochen.“

„Ich bin bald zurück.“ Er lief zur Tür. „Und, Bailey … Denken Sie darüber nach, ja?“

An dem Funkeln in seinen Augen erkannte sie, dass er nicht etwa von den Umständen sprach, die sie zu ihm geführt hatten. Als sie vom Fenster aus beobachtete, wie er in seinen Wagen stieg und davonfuhr, dachte sie bereits darüber nach. Über ihn.

So wie jemand über sie nachdachte. Es waren dunkle, rachsüchtige Gedanken. Sie war ihm entwischt, und mit ihr die Beute und die Macht, die er so sehr begehrte.

Er hatte bereits den Preis für sein Versagen bezahlt, aber das war längst nicht genug. Er würde sie finden, und wenn es so weit war, hatte sie einen viel höheren Preis zu zahlen. Am Ende würde sie mit ihrem Leben bezahlen, auch wenn das unerheblich war.

Viel wichtiger waren die Schmerzen. Und die Angst. Nur das konnte ihn zufriedenstellen. Das Geld, das er verloren hatte, spielte keine Rolle, es war fast genauso unbedeutend wie das Leben dieser törichten Frau. Aber sie besaß, was er brauchte und was ihm gehörte. Und das würde er sich zurückholen.

Es gab drei davon. Jeder einzelne war kostbar, doch zusammen waren sie von unschätzbarem Wert. Er hatte bereits Schritte eingeleitet, um die zwei zurückzubekommen, die sie vor ihm zu verstecken versucht hatte. Es würde noch eine Zeit dauern, bis er sie hatte, natürlich. Er musste vorsichtig sein, wachsam, und er musste dafür sorgen, dass die Gewalt, die er anwenden musste, nicht mit ihm in Verbindung gebracht wurde. Aber in jedem Fall würden die zwei Teile des Dreiecks bald ihm gehören, diese zwei sagenhaften Sterne in ihrer ganzen Schönheit und Pracht.

Er saß in dem Raum, den er für seine Schätze hatte bauen lassen. Für seine Schätze, die er gekauft, gestohlen und für die er Blut vergossen hatte. Juwelen und Gemälde, Statuen und wertvolle Pelze glänzten und glitzerten in seiner geheimen Höhle. Der Altar, den er errichtet hatte, um darauf seinen begehrtesten Schatz zu betten, war leer. Wartete.

Doch bald …

Bald würde er die beiden Ersten bekommen, und sobald er den Dritten in Händen hielt, würde er unsterblich sein.

Und die Frau tot.

3. KAPITEL

Das da im Spiegel war ihr Körper. Bailey atmete tief durch. Sie sollte sich besser an den Anblick gewöhnen. In dem vom Wasserdampf beschlagenen Glas sah ihre Haut blass und glatt aus. Ein wenig verlegen legte sie eine Hand an ihre Brust.

Lange Finger, kurz gefeilte Nägel, eher kleine Brüste. Ihre Arme waren ein bisschen dünn, wie sie mit einem Stirnrunzeln feststellte. Vielleicht sollte sie Krafttraining machen.

An Hüften und Bauch konnte sie kein überflüssiges Gramm Fett entdecken, also trieb sie ja vielleicht ein bisschen Sport. An den Schenkeln stellte sie durchaus einige Muskeln fest. Wie groß sie wohl war? Ein Meter fünfundsechzig? Sie wünschte, sie wäre größer. Wenn eine Frau schon mit über zwanzig ihr Leben ganz von vorne beginnen musste, dann sollte sie sich wenigstens ihre Körpergröße aussuchen dürfen. Und vollere Brüste und längere Beine wären auch nett gewesen.

Über sich selbst amüsiert, drehte sie sich um und sah über die Schulter hinweg, um sich von hinten betrachten zu können. Ihr Mund klappte auf. Sie hatte eine Tätowierung auf dem Hintern.

Wie in aller Welt kam die Tätowierung eines – was sollte das sein? Ein Einhorn? – eines Einhorns auf ihren Po? War sie denn verrückt? Sich tätowieren zu lassen war eine Sache – doch sich diesen speziellen Körperteil tätowieren zu lassen bedeutete nichts anderes, als diesen speziellen Körperteil irgendeinem nadelschwingenden Fremden hinzuhalten.

War sie betrunken gewesen?

Ein wenig verschämt wickelte sie sich in ein Handtuch und verließ das Badezimmer. Dort dauerte es eine Weile, bis sie die Jeans und das Hemd einigermaßen um sich drapiert hatte. Sie hängte ihr Kostüm auf und fuhr sich laut seufzend mit den Fingern durch das noch feuchte Haar.

Cade hatte sie gebeten, im Haus zu bleiben, aber das hieß nicht, dass sie auch in diesem Zimmer bleiben musste. Wenn sie sich nicht ablenkte, würde sie nur wieder zu viel nachdenken: über die Tasche mit dem Geld, über den riesigen blauen Diamanten, über Mord und Tätowierungen. Also verließ sie das Zimmer und stellte überrascht fest, dass sie sich in dem menschenleeren Haus nicht unwohl fühlte. Vermutlich spiegelte das ihre Gefühle für Cade wider. Bei ihm fühlte sie sich auch nicht unwohl. Von der ersten Minute an hatte sie das Gefühl gehabt, dass sie mit ihm über alles reden und sich auf ihn verlassen konnte.

Aber das lag wohl daran, dass sie mit niemandem sonst reden und sich auf niemanden sonst verlassen konnte.

Gleichwohl war er ein netter, rücksichtsvoller Mann. Und intelligent und mutig war er auch, wie sie vermutete, sonst wäre er nicht Privatdetektiv geworden. Er besaß ein wunderschönes Lächeln und aufmerksame Augen. Zudem hatte er starke Arme und, da war sie sich sicher, einen ebenso starken Charakter.

Und Grübchen, bei deren Anblick sie das starke Bedürfnis empfand, sie zu berühren.

Sein Schlafzimmer. Auf der Unterlippe kauend, verharrte sie auf der Schwelle. Es war unhöflich, hier herumzuschnüffeln. Sie fragte sich, ob sie ein unhöflicher Mensch war, der achtlos in die Privatsphäre anderer Leute eindrang. Aber sie brauchte etwas, irgendetwas, um all diese Leerstellen in ihrem Kopf zu füllen. Und außerdem hatte er die Tür offen stehen lassen.

Sie trat ein.

Es war ein herrlich großer Raum, in dem sie alles an ihn erinnerte. Jeans und Socken lagen achtlos auf dem Boden. Sie konnte sich gerade noch daran hindern, sie aufzuheben und in den Wäschekorb zu werfen. Kleingeld und ein paar Hemdknöpfe lagen auf dem Nachttisch verstreut. Sie entdeckte eine wunderschöne antike Kommode, in deren Schubladen zweifellos alle möglichen Hinweise auf ihn verborgen waren.

Sie zog nicht an den Messinggriffen, hätte es aber gerne getan.

Das Bett war riesig und ungemacht. Sie konnte nicht widerstehen, mit den Fingerspitzen über die zerwühlte dunkelblaue Bettwäsche zu fahren. Wahrscheinlich roch sie nach ihm – nach diesem schwachen, minzeartigen Duft.

Als sie sich bei dem Gedanken ertappte, ob er wohl nackt schlief, schoss Röte in ihre Wangen. Sie wandte sich ab.

Eine Seite des Zimmers zierte ein hübscher Backsteinkamin mit einem Sims aus Kiefernholz, auf dem eine rundliche Messingkuh stand und etwas dümmlich grinste. In ein in die Wand eingelassenes Regal waren nachlässig Bücher gestopft. Bailey studierte die Titel sorgfältig und fragte sich dabei, welche davon sie vielleicht gelesen hatte. Er schien eine Vorliebe für Krimis und Bücher über wahre Verbrechen zu haben. Die Namen sagten ihr etwas, woraufhin sie sich schon viel besser fühlte.

Ohne nachzudenken, nahm sie eine benutzte Kaffeetasse und eine leere Bierflasche und trug sie hinunter ins Erdgeschoss. Als sie vor ein paar Stunden angekommen war, hatte sie dem Haus nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt. In ihrem Kopf war alles so durcheinander und unklar gewesen. Doch jetzt betrachtete sie den schlichten, eleganten Stil, die großen, schönen Fenster und die glänzend polierten Antiquitäten.

Der Kontrast zwischen diesem eleganten Haus und dem heruntergekommenen Büro verwunderte sie. In der Küche spülte sie die Tasse ab, warf die leere Flasche in die Recyclingtonne und beschloss dann, sich noch ein wenig umzusehen.

Sie brauchte nicht länger als zehn Minuten, um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass dieser Mann stinkreich sein musste. Das Haus war voller wertvoller Möbelstücke und Gemälde. Sie konnte zwar das Einhorn auf ihrem Hintern nicht recht einordnen, den Wert eines Sekretärs mit Intarsien aus Kirschholz erkannte sie aber durchaus. Warum das so war, hätte sie allerdings nicht sagen können.

Sie bemerkte Waterford-Vasen, georgianisches Silber, kostbares Limoges-Porzellan. Und sie bezweifelte, dass es sich bei dem Turner-Gemälde im Wohnzimmer um eine Kopie handelte.

Sie spähte aus dem Fenster. Ein gepflegter Rasen, majestätische alte Bäume, in voller Blüte stehende Rosen. Warum arbeitete ein Mann, der sich ein solches Ambiente leisten konnte, in einem schäbigen alten Bürogebäude?

Plötzlich musste sie lächeln. Wie es schien, war Cade Parris genauso rätselhaft wie sie. Und das war ungemein tröstlich.

Sie lief zurück in die Küche. Vielleicht konnte sie sich ja irgendwie nützlich machen. Einen Tee oder irgendetwas fürs Mittagessen zubereiten zum Beispiel. Als das Telefon klingelte, schrak sie zusammen. Der automatische Anrufbeantworter sprang an und ließ Cades Stimme durchs Haus schallen. „Hier ist der Anschluss 555-2396. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht, ich rufe zurück.“

„Cade, langsam wird es ärgerlich!“ Die Stimme der Frau klang angespannt. „Ich habe heute Morgen ein halbes Dutzend Nachrichten in deinem Büro hinterlassen. Du könntest wenigstens so höflich sein und zurückrufen. Ich bezweifle ernsthaft, dass du mit deinen sogenannten Klienten zu beschäftigt bist, um mit deiner eigenen Mutter zu sprechen.“ Sie gab einen langen, gequälten Seufzer von sich. „Ich weiß sehr gut, dass du Pamela wegen heute Abend noch nicht angerufen hast. Damit bringst du mich in eine sehr unangenehme Situation, Cade, hörst du! Ich gehe jetzt zu Dodie zum Bridge, dort kannst du mich bis vier Uhr erreichen. Blamiere mich nicht! Übrigens, Muffy ist ziemlich sauer auf dich.“

Ein entschiedenes Klicken. Bailey ertappte sich dabei, wie sie sich räusperte. Sie fühlte sich, als hätte sie selbst diese Standpauke erhalten. Ob sie vielleicht auch eine nörgelnde Mutter hatte? Eine Mutter, die sich Sorgen um sie machte?

Sie füllte einen Kessel mit Wasser, stellte ihn auf den Herd und war gerade auf der Suche nach Teebeuteln, als das Telefon erneut klingelte.

„Cade, hier ist Muffy. Mutter sagt, dass sie dich noch immer nicht erreichen konnte. Offenbar gehst du uns aus dem Weg, weil du dich für dein schlechtes Benehmen schämst. Du weißt ganz genau, dass Camilla gestern Abend ihr Klavierkonzert hatte! Du hättest wenigstens so tun können, als ob dir die Familie etwas bedeutet. Aber ich habe auch nichts anderes von dir erwartet. Ich hoffe nur, dass du genug Anstand besitzt, um Camilla anzurufen und dich bei ihr zu entschuldigen. Bis du das nicht getan hast, werde ich nicht mehr mit dir sprechen.“

Klick.

Bailey stieß die Luft aus und verdrehte die Augen. Eine Familie war offenbar eine schwierige und komplexe Angelegenheit. Andererseits hatte sie vielleicht selbst einen Bruder und war zu ihm genauso … bissig.

Sie ließ den Tee ziehen und öffnete den Kühlschrank. Unwillkürlich musste sie schmunzeln. Eier. Jede Menge Eier. Außerdem entdeckte sie eine Packung geräucherten Schinken, etwas Käse und große Fleischtomaten. Eine Weile machte sie sich Gedanken, ob sie lieber Senf oder Mayonnaise mochte und darüber, ob sie den Tee süßen sollte oder nicht. Jedes Detail war wichtig, um sich selbst wieder zusammenzusetzen. Als sie gerade damit begonnen hatte, die Tomaten sorgfältig in Scheiben zu schneiden, hörte sie die Haustür gehen. Ihr Stimmungsbarometer schnellte augenblicklich nach oben.

Doch die Worte, die sie ihm zurufen wollte, blieben ihr im Hals stecken. Was, wenn es gar nicht Cade war? Wenn er sie gefunden hatte? Wenn er gekommen war, um sie zu töten? In Panik umklammerte sie das Messer und wich zurück zur Hintertür. Unkontrollierbare Angst trieb ihr die Schweißperlen auf die Stirn, das Herz schlug ihr bis zum Hals.

Sie rennt, rennt vor dem scharfen, tobenden Sturm davon in die Dunkelheit. Ihr Atem brüllt in ihrem Kopf. Überall Blut.

Sie umklammerte den Türknauf, innerlich darauf vorbereitet, zu fliehen oder zu kämpfen. Als Cade in die Küche trat, entfuhr ihr ein erleichtertes Aufschluchzen. Das Messer knallte auf den Boden, als sie sich in seine Arme warf. „Sie sind es! Sie sind es.“

„Natürlich.“ Er wusste, dass er sich schuldig fühlen sollte, weil er sie so erschreckt hatte. Aber dieser Umstand hatte immerhin dazu geführt, dass er sie jetzt in seinen Armen hielt – er war schließlich auch nur ein Mann. Und sie duftete fantastisch. „Ich hab Ihnen doch gesagt, dass Sie hier sicher sind, Bailey.“

„Ich weiß. Ich habe mich auch sicher gefühlt. Aber als ich die Haustür zufallen hörte, bekam ich einen Moment lang Panik.“ Sie klammerte sich an ihn, unendlich dankbar dafür, dass er wieder bei ihr war. „Ich wollte wegrennen, als ich die Tür hörte und dachte, dass es vielleicht jemand anderes sein könnte. Ich hasse es, so feige zu sein und nicht zu wissen, was ich tun soll. Ich scheine einfach nicht … klar denken zu können.“

Sie verstummte, wie hypnotisiert. Er streichelte ihre Wange, während sie auf ihn einredete, und sah ihr tief in die Augen. Sie hatte ihre Arme um seine Taille geschlungen, als gehörten sie dort hin. Sanft legte er eine Hand in ihren Nacken und wartete, sah, wie sich ihr Blick veränderte. Er lächelte leicht, ihr Herz begann zu flattern, dann senkte er den Kopf, ihre Lippen berührten sich.

Oh, herrlich … Das war ihr erster Gedanke. Es war herrlich, so gehalten, so sanft geküsst zu werden. Sein Kuss brachte das Blut in ihren Adern zum Rauschen, ließ ihre Seele leise aufseufzen. Intuitiv ließ sie ihre Hände über seinen Rücken gleiten und stellte sich auf die Zehenspitzen.

Als er mit der Zunge sanft über ihre Lippen glitt, öffnete sie sie für ihn.

Das hatte er gewusst. Aus irgendeinem Grund hatte er gewusst, dass sie zugleich scheu und begierig sein würde, er hatte gewusst, wie sie schmecken und duften würde. Es schien ihm unwirklich, dass er sie erst vor ein paar Stunden kennengelernt hatte, vielmehr fühlte es sich an, als ob er diese Frau schon seit Ewigkeiten in seinen Armen hielt.

Zudem war es erregend, zu wissen, dass sie sich an keinen Kuss vor diesem erinnern konnte. Dass er der einzige Mann in ihrem Kopf und in ihrem Herzen war, der sie auf diese Weise berührte. Er war der erste, der sie zum Zittern brachte, sein Name war der erste, den sie wisperte, während sie von einer Welle des Begehrens ergriffen wurde.

Und als sie seinen Namen flüsterte, lösten sich alle Frauen, die er jemals im Arm gehalten hatte, in Luft auf. Sie war die Erste für ihn, so wie er der Erste für sie war.

Sein Kuss wurde leidenschaftlicher. Sie reagierte prompt, öffnete den Mund ein wenig mehr und presste ihren Körper an seinen.

Sie fühlte sich lebendig, ungeheuer lebendig, spürte, wie ihr Herz immer wilder schlug. Sie vergrub eine Hand in seinem Haar, als wollte sie ihn ganz und gar in sich aufsaugen. Er füllte all die leeren Stellen aus. Diese beängstigenden leeren Stellen. Das war das Leben. Das war die Wirklichkeit. Nur das hier war wichtig.

„Langsam.“ Er wünschte zutiefst, er würde sich nicht verpflichtet fühlen, dieses Wort auszusprechen. Er zitterte mindestens genauso wie sie, und ihm war klar, dass er sie an Ort und Stelle lieben würde, wenn sie jetzt nicht aufhörten. „Langsam“, sagte er wieder und drückte ihren Kopf an seine Schulter, um sich nicht erneut auf ihre verlockenden weichen Lippen zu stürzen.

Sie hörte nicht auf zu zittern. „Ich weiß nicht, ob es jemals so war. Ich weiß es einfach nicht.“

Das brachte ihn auf den Boden der Tatsachen zurück. Abrupt. Sie wusste nichts! Er dagegen wusste umso mehr. Und er wusste vor allem, dass es für ihn niemals so gewesen war. „Schon gut.“ Er schob sie ein Stück von sich, massierte sanft ihre Schultern, die schon wieder angespannt waren. „Du weißt, dass das gerade etwas Besonderes war, Bailey. Das genügt für den Anfang.“

„Aber …“ Sie biss sich auf die Unterlippe, als er sich umdrehte und die Kühlschranktür aufriss. „Ich habe … ich mache gerade Tee.“

„Ich brauche ein Bier.“

Bei seinem schroffen Ton zuckte sie zusammen. „Du bist sauer.“

„Nein.“ Er öffnete die Flasche und trank drei große Schlucke. „Ja. Ein bisschen, auf mich selbst. Ich habe schließlich damit angefangen.“ Er ließ die Flasche sinken und musterte sie. Sie hatte die Arme fest um ihren Körper geschlungen. Er sah, wie seine Jeans sich über ihren Hüften ausbeulten und wie sein Hemd über ihre Schultern rutschte. Sie war barfuß, das Haar zerzaust. Sie sah absolut wehrlos aus.

„Okay, ich will ehrlich sein.“ Er lehnte sich an die Küchentheke, äußerst bedacht darauf, Abstand zu ihr zu wahren. „Bei mir hat es Klick gemacht in der Sekunde, in der du in mein Büro gekommen bist. So was ist mir noch nie passiert. Klick: Da ist sie. Ich dachte zuerst, es läge daran, dass du so schön bist, dass du in Schwierigkeiten steckst und dass du meine Hilfe brauchst. Ich habe eine Schwäche für Leute, die meine Hilfe brauchen. Vor allem, wenn es sich dabei um schöne Frauen handelt.“

Er trank erneut einen Schluck, langsamer diesmal, während sie ihn angespannt und mit großen Augen betrachtete. „Aber das ist es nicht, Bailey. Oder zumindest ist es das nicht nur. Ich will dir helfen. Ich will genauso wie du alles über dich herausfinden. Aber ich möchte auch Liebe mit dir machen, langsam, ganz langsam, sodass sich jede Sekunde wie eine Stunde anfühlt. Und anschließend, wenn du nackt und völlig erschöpft unter mir liegst, möchte ich wieder von vorn anfangen.“

Jetzt verschränkte sie die Arme vor der Brust, um ihr wild pochendes Herz im Zaum zu halten. „Oh.“ Mehr brachte sie nicht hervor.

„Und genau das werde ich auch tun. Wenn es dir ein wenig besser geht.“

„Oh“, wiederholte sie. „Na dann.“ Sie räusperte sich. „Cade, ich könnte eine Kriminelle sein.“

„Hmm.“ Er schenkte ihrer Bemerkung keine Beachtung und inspizierte stattdessen die Zutaten für das Sandwich, die sie auf der Küchentheke ausgebreitet hatte. „Unser Mittagessen?“

Sie kniff die Augen zusammen. Was für eine Frage war das, von einem Mann, der eben noch festgestellt hatte, dass er sie bis zur Erschöpfung lieben wollte? „Ich habe vielleicht Geld gestohlen, Menschen umgebracht, ein unschuldiges Kind entführt.“

„Richtig.“ Er stapelte mehrere Scheiben Schinken auf ein Stück Toastbrot. „Ja, du bist wirklich gefährlich, Sweetheart. Das sieht man sofort. Du hast diesen gemeinen Killerblick in den Augen.“ Er drehte sich lachend zu ihr um. „Bailey, um Gottes willen, sieh dich doch mal an! Du bist eine höfliche, wohlerzogene junge Frau mit einem Gewissen so groß wie Kansas. Ich bezweifle ernsthaft, dass du jemals auch nur einen Strafzettel bekommen hast. Und das Verrückteste, was du je getan hast, war vermutlich ein schiefes Ständchen unter der Dusche.“

Das saß. Sie hätte nicht sagen können, warum, aber plötzlich hatte sie das dringende Bedürfnis, ihn zu schockieren. „Ich habe eine Tätowierung auf dem Hintern.“

Er ließ das schludrig zusammengestellte Sandwich wieder sinken. „Wie bitte?“

„Ich habe eine Tätowierung auf dem Hintern“, wiederholte sie mit einem streitlustigen Funkeln in den Augen.

„Tatsächlich?“ Er konnte sich ein Grinsen kaum verkneifen. „Nun, dann muss ich dich wohl der Polizei übergeben. Wenn du mir jetzt noch erzählst, dass deine Ohrläppchen durchstochen sind, dann hole ich besser meine Knarre. Sicher ist sicher.“

„Ich bin so froh, dass du dich so gut amüsierst.“

„Bailey, du faszinierst mich.“ Er stellte sich ihr in den Weg, als sie an ihm vorbeistürmen wollte. „Temperament. Das ist ein gutes Zeichen: Unsere Bailey ist kein Waschlappen.“ Sie machte einen Schritt nach rechts. Er auch. „Sie mag Rührei mit Dill, hat eine Vorliebe für schwarzen Tee, schneidet Tomaten in sehr akkurate Scheiben und kann einen Kreuzknoten machen.“

„Was?“

Er deutete auf die Wäscheleine um ihre Taille. „Wahrscheinlich war sie bei den Pfadfindern oder kann segeln. Ihre Stimme wird ein wenig eisig, wenn sie sich ärgert, sie hat einen exzellenten Geschmack, was Kleidung betrifft, knabbert an der Unterlippe, wenn sie nervös ist – was, wie ich bemerken möchte, ohne vernünftigen Grund wilde Lust in mir entfacht.“

Seine Grübchen vertieften sich, als sie umgehend aufhörte, auf ihrer Lippe herumzubeißen, und sich räusperte. „Sie trägt ihre Fingernägel praktisch kurz“, stellte er weiter fest. „Und sie kann einen Mann um den Verstand küssen. Eine interessante Frau, diese Bailey.“

Er versetzte ihr einen freundschaftlichen Schubser. „So, und jetzt setzen wir uns und essen zu Mittag. Ich muss dir doch noch erzählen, was ich herausgefunden habe. Möchtest du Senf oder Mayo?“

„Ich weiß nicht.“ Noch immer schmollend, ließ sie sich auf einem der Stühle nieder.

„Ich nehme Senf.“ Er räumte die Zutaten für die Sandwichs auf den Tisch. „Wie sieht sie aus?“

Sie nahm ein Messer zur Hand und tauchte es in das Senfglas. „Wer?“

„Deine Tätowierung. Was ist es?“

Ein wenig verlegen bestrich sie ihre Toastscheibe. „Ich denke nicht, dass das wichtig ist.“

„Komm schon.“ Grinsend beugte er sich über den Tisch und sah sie herausfordernd an. „Ein Schmetterling? Eine Rosenknospe? Oder bist du in Wahrheit eine getarnte Rockerbraut und hast dir einen Totenschädel stechen lassen?“

„Ein Einhorn“, murmelte sie.

Er musste sich auf die Zunge beißen. „Süß.“ Dann sah er ihr dabei zu, wie sie ihr Sandwich in ordentliche Dreiecke zerteilte, sagte aber nichts dazu.

„Du wolltest mir erzählen, was du noch über mich herausgefunden hast“, versuchte sie, das Thema zu wechseln.

Nachdem es seinem Blutdruck sowieso nicht guttat, sich weiter das Einhorn auf ihrem Po vorzustellen, ließ er das Thema fallen. „Genau. Die Pistole ist nicht registriert. Meine Quelle war bisher nicht in der Lage, sie zurückzuverfolgen. Das Magazin ist allerdings voll.“

„Das Magazin?“

„Die Pistole war voll geladen, was bedeutet, dass sie entweder nicht abgefeuert oder aber gerade neu geladen wurde.“

„Nicht abgefeuert.“ Sie schloss die Augen und atmete erleichtert auf. „Dann habe ich sie vielleicht doch nicht benutzt.“

„Wahrscheinlich nicht. So, wie ich dich bislang einschätze, kann ich mir nicht vorstellen, dass du eine unregistrierte Waffe besitzt. Falls wir Glück haben und sie doch noch zurückverfolgt wird, werden wir Genaueres wissen.“

„Du hast schon jetzt so viel herausgefunden.“

Er hätte sich gern noch ein wenig in ihrer Bewunderung geaalt, doch er zuckte nur mit den Schultern und biss herzhaft in sein Sandwich. „Die meisten Informationen sind negativ. Es wurde kein Diebstahl von einem Diamanten dieser Größe oder von einer größeren Geldsumme gemeldet. Es gab keine Entführung und in den letzten Wochen, auch keinen Mord mit dieser Art von Waffe.“

Er trank einen Schluck Bier. „Und keine Frau, auf die deine Beschreibung passt, ist als vermisst gemeldet.“

„Aber wie kann das sein?“ Sie schob ihren Teller zur Seite. „Ich habe den Stein, und ich habe das Bargeld. Und ich werde vermisst.“

„Es gibt verschiedene Möglichkeiten.“ Er ließ sie nicht aus den Augen. „Vielleicht hält jemand diese Informationen ganz bewusst zurück. Du hast gesagt, dass du glaubst, dass der Diamant ein Teil eines Ganzen ist. Und als du aus deinem Albtraum aufgewacht bist, hast du von drei Sternen gesprochen. Sterne. Diamanten. Könnte ein und dasselbe sein. Denkst du, dass es drei von diesen Steinen gibt?“

„Sterne?“ Sie drückte die Finger an ihre Schläfen. „Habe ich von Sternen gesprochen? Daran kann ich mich gar nicht erinnern.“

Weil es schmerzte, darüber nachzudenken, konzentrierte sie sich auf das Wesentliche. „Drei Edelsteine von dieser Qualität wären unglaublich selten. Zusammen wären sie unbezahlbar. Ich kann mir nicht einmal vorstellen …“ Ihr Atem wurde flach, sie rang nach Luft. „Ich kann nicht atmen, Cade!“

„Okay.“ Er sprang auf und schob ihren Stuhl zurück, sodass sie den Kopf zwischen ihre Knie legen konnte. Dann streichelte er ihr über den Rücken. „Das reicht fürs Erste. Entspann dich jetzt, du darfst dich zu nichts zwingen.“

Während er über ihren Rücken strich, fragte er sich, was sie wohl Schreckliches gesehen haben mochte.

„Tut mir leid“, presste sie hervor. „Ich möchte dir doch eine Hilfe sein.“

„Das bist du.“ Er richtete sie wieder auf. „Hey, das ist doch erst der erste Tag, richtig?“

„Ja.“ Erleichtert, dass sie sich vor ihm für ihre Schwäche nicht schämen musste, atmete sie tief durch. „Als ich eben versucht habe, mich zu erinnern, habe ich auf einmal Panik bekommen. Ganz fürchterliche Panik. In meinem Kopf begann es zu pochen, und mein Herz hat viel zu schnell geschlagen. Ich bekam keine Luft mehr.“

„Und deswegen müssen wir ganz behutsam vorgehen. Wenn du an den Diamanten denkst, den du bereits hast, bekommst du keine Panik, oder?“

Sie schloss die Augen und stellte sich den Diamanten vor. Er war so schön, so außergewöhnlich. Sie spürte Unruhe, Bedenken, ja. Ein wenig Furcht auch, aber diese Furcht schien klarer und irgendwie weniger lähmend. „Nein, da ist keine Panik.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß auch nicht …“

„Wir werden schon noch herausfinden, woran das liegt.“ Er schob ihren Teller vor sie. „Iss. Ich habe einen langen Abend geplant, und dafür musst du fit sein.“

„Was hast du geplant?“

„Ich war vorhin in der Bibliothek und habe einen ganzen Stapel Bücher über Edelsteine mitgenommen – technischer Kram, Bilder. Bücher über seltene Steine, seltenen Schmuck, die Entwicklung der Diamanten, alles, was du dir vorstellen kannst.“

„Vielleicht finden wir ihn.“ Diese Möglichkeit munterte sie zumindest so weit auf, dass sie wieder an ihrem Sandwich zu knabbern begann. „Wenn wir den Stein identifizieren können, finden wir vielleicht auch heraus, wem er gehört. Und dann … Oh, aber das geht ja nicht.“

„Was geht nicht?“

„Du kannst heute Abend nicht arbeiten, Cade. Du musst mit Pamela irgendwohin gehen.“

„Was muss ich? Zum Teufel …“ Fahrig strich er sich mit einer Hand durchs Haar, als er sich erinnerte.

„Entschuldige, ich habe ganz vergessen, dir zu erzählen, dass deine Mutter angerufen hat. Ich habe ihre Nachricht auf dem Anrufbeantworter gehört. Sie ist sauer, dass du nicht zurückgerufen hast oder dich wenigstens bei Pamela gemeldet hast wegen heute Abend. Sie wird bis vier Uhr bei Dodie sein, du kannst sie dort erreichen. Und Muffy ist auch wütend auf dich. Sie hat kurz nach deiner Mutter angerufen und ist sehr ungehalten, weil du Camillas Klavierkonzert verpasst hast. Sie will erst wieder mit dir sprechen, wenn du dich bei ihr entschuldigst.“

Er ließ die Hände sinken. „Das war eine hübsche Zusammenfassung. Suchst du einen neuen Job?“ Als sie nur lächelte, schüttelte er den Kopf und fuhr fort: „Nein, ich meine das ernst. Du bist tausendmal besser organisiert als meine letzte Sekretärin. Ich könnte etwas Hilfe im Büro gebrauchen, und dir würde etwas Ablenkung nicht schaden.“

„Ich weiß nicht mal, ob ich tippen kann.“

„Ich weiß, dass ich es nicht kann, also bist du mir schon einen Schritt voraus. Und du kannst Telefonate entgegennehmen, oder etwa nicht?“

„Natürlich, aber …“

„Du würdest mir einen Riesengefallen tun.“ Ihm war klar, dass er ihre Situation ausnutzte. Aber nur so konnte er sicherstellen, dass sie in seiner Nähe blieb. „Gerade jetzt würde ich nur ungern eine neue Sekretärin suchen. Annoncen schalten, Vorstellungsgespräche führen … das kostet enorm viel Zeit. Wenn du mir ein paar Stunden am Tag aushelfen könntest, wäre ich dir sehr dankbar.“

Sie dachte an sein Büro und entschied, dass er eher einen Bulldozer als eine Sekretärin brauchte. Aber vielleicht konnte sie sich tatsächlich ein wenig nützlich machen. „Okay, ich helfe dir gern.“

„Wunderbar. Sehr schön. Ach so, ich habe dir ein paar Sachen besorgt.“

„Ein paar Sachen?“

„Kleider und so Zeugs.“

Sie starrte ihn an, als er aufstand und die Teller abräumte. „Du hast mir Kleider gekauft?“

„Nichts Aufregendes. Ich musste deine Größe schätzen, aber ich habe ein ziemlich gutes Auge.“ Er ertappte sie dabei, wie sie wieder auf ihrer Lippe kaute, und musste ein leises Aufstöhnen unterdrücken. „Nur das Wichtigste, Bailey. So niedlich du in meinen Klamotten auch aussiehst, du brauchst etwas Eigenes. Und du kannst nicht jeden Tag in demselben Kostüm rumlaufen.“

„Nein, das kann ich wohl nicht“, flüsterte sie, berührt von der Tatsache, dass er sich überhaupt Gedanken darüber gemacht hatte. „Danke.“

„Kein Problem. Es hat aufgehört zu regnen. Weißt du, was ich jetzt brauchen könnte? Ein bisschen frische Luft. Lass uns einen Spaziergang machen, um einen klaren Kopf zu bekommen.“

„Ich habe keine Schuhe.“ Sie räumte die Teller, die er auf die Küchentheke gestellt hatte, in die Spülmaschine.

„Ich habe dir Turnschuhe mitgebracht. Größe 37?“

Leise lachend wickelte sie den Schinken wieder in die Plastikfolie ein. „Sag du’s mir.“

„Probier sie einfach an.“

Sie schloss die Tür des Geschirrspülers und richtete sich auf. „Cade, du musst deine Mutter wirklich anrufen.“

Er grinste nur. „Hmm.“

„Ich habe doch gesagt, dass sie sauer auf dich ist.“

„Sie ist immer sauer auf mich. Ich bin das schwarze Schaf der Familie.“

„Das mag ja sein.“ Bailey begann, mit einem feuchten Lappen die Küchentheke abzuwischen. „Aber sie ist deine Mutter, und sie wartet auf deinen Anruf.“

„Nein, sie wartet nur darauf, mich dazu zu zwingen, etwas zu tun, was ich gar nicht tun will. Und wenn ich es nicht tue, ruft sie Muffy an, meine nervige Schwester, und dann haben die beiden einen Heidenspaß daran, meinen miesen Charakter zu analysieren.“

„So solltest du nicht über deine Familie sprechen. Und außerdem hast du Camillas Gefühle verletzt. Ich vermute, sie ist deine Nichte?“

„So lauten die Gerüchte.“

„Das Kind deiner Schwester.“

„Nein, Muffy hat keine Kinder – das sind Kreaturen. Und Camilla ist ein weinerlicher, pausbäckiger Mutant.“

Sie weigerte sich zu lächeln, wusch den Lappen aus und hängte ihn ordentlich über den Wasserhahn. „Bedauerlich, wie du über deine Nichte sprichst. Selbst wenn du Kinder nicht magst.“

„Ich mag Kinder.“ Er amüsierte sich offenbar bestens. „Ich sage dir, Camilla ist nicht menschlich. Dann ist da noch meine andere Schwester. Doro hat zwei Kinder, und irgendwie ist es dem Jüngsten gelungen, dem Parris-Fluch zu entkommen. Er ist ein tolles Kerlchen, mag Baseball und Käfer. Doro denkt natürlich, er bräuchte eine Therapie.“

Ihr entfuhr ein Kichern. „Das denkst du dir doch nur aus.“

„Süße, glaub mir, nichts, was ich mir über meine Sippe ausdenken könnte, wäre nur annähernd so schrecklich wie die Wahrheit. Sie sind alle egoistisch, selbstgefällig und maßlos. Willst du jetzt vielleicht noch den Boden wischen?“

Es gelang ihr, den Mund wieder zu schließen, den sie vor Erstaunen über seine Worte aufgerissen hatte. Gedankenverloren betrachtete sie die Fliesen. „Oh, okay. Wo …“

„Bailey, das war ein Scherz.“ Er packte sie am Handgelenk und zog sie aus der Küche. Genau in diesem Moment klingelte das Telefon. „Nein“, sagte er bestimmt, bevor sie den Mund öffnen konnte. „Ich werde nicht rangehen.“

„Aber …“

„Man nennt das Selbstschutz. Ich war niemals mit dieser Pamela-Sache einverstanden, und ich werde mich nicht dazu zwingen lassen.“

„Cade, ich will nicht, dass du meinetwegen deine Familie verärgerst und eine Verabredung sausen lässt. Ich komme schon klar.“

„Ich sagte doch, dass ich diese Verabredung nie getroffen habe. Meine Mutter hat es getan. Tja, und wenn ich schon die Suppe auslöffeln muss, dann kann ich dich auch als Ausrede hernehmen. Dafür bin ich dir überaus dankbar. So dankbar, dass ich dir einen vollen Tag von der Rechnung abziehe. Hier.“ Er griff in eine der Einkaufstüten und holte einen Schuhkarton heraus. „Cinderellas gläserne Schuhe. Wenn sie passen, dann darfst du auf den Ball.“

Sie gab es auf, setzte sich auf die unterste Treppenstufe und öffnete den Karton. Überrascht hob sie die Augenbrauen. „Rote Turnschuhe?“

„Mir gefallen sie. Sie sind sexy.“

„Sexy Turnschuhe.“ Während sie die Schnürsenkel öffnete, fragte sie sich, warum sie sich in solch einer Situation über ein dummes Paar Schuhe freuen konnte. Sie waren wie für sie gemacht, und aus irgendeinem Grund hätte sie am liebsten gleichzeitig gelacht und geweint. „Perfekt.“

„Ich sagte doch, ich habe ein gutes Auge.“ Er lächelte, als sie die Schnürsenkel akkurat zu hübschen kleinen Schleifen band. „Und ich hatte recht. Sehr sexy.“ Er hielt ihr die rechte Hand hin, um ihr auf die Beine zu helfen. „Du machst jetzt ganz schön was her.“

„Sicher, nachdem das Einzige, was mir wirklich passt, meine Schuhe sind.“ Spontan wollte sie sich auf die Zehenspitzen stellen, um ihn auf die Wange zu küssen, überlegte es sich dann aber anders.

„Angsthase“, bemerkte er.

„Vielleicht.“ Stattdessen nahm sie seine Hand. „Ich würde wirklich gern einen Spaziergang machen.“ Gemeinsam traten sie aus der Tür. „Ist Pamela hübsch?“

Er dachte kurz nach und entschied dann, dass die Wahrheit vielleicht sogar zu seinem Vorteil war. „Umwerfend.“ Er schloss die Tür hinter sich und schlang einen Arm um Baileys Hüfte. „Und sie will mich.“

Ihr unterkühltes Brummen zauberte ein Lächeln auf seine Lippen.

4. KAPITEL

Puzzles faszinierten ihn. Die richtigen Teile zu finden, sie hin und her zu schieben, neue Winkel auszuprobieren, bis sie schließlich passten – diese Herausforderung hatte es ihm schon immer angetan und war einer der Gründe gewesen, weswegen Cade die Familientradition an den Nagel gehängt und seinen Beruf ergriffen hatte.

Er hätte so ziemlich jeden Beruf gewählt, der im Widerspruch zur Familientradition stand. Aber seine eigene Privatdetektei zu eröffnen, bedeutete gleichzeitig, dass er sein eigener Chef war, jederzeit Puzzles lösen konnte und gelegentlich sogar verhinderte, dass Unrecht geschah.

Er hatte eine sehr genaue Vorstellung von Recht und Unrecht. Es gab die Guten und die Bösen, es gab Gesetz und Verbrechen. Und doch war er nicht so schlicht gestrickt, dass er nicht auch die Graustufen erkannte und zu würdigen wusste. Doch es gab gewisse Grenzen, die er niemals überschritten hätte. Zudem besaß er einen scharfen Verstand, der höchstens hin und wieder kleine Abstecher in bunte Fantasiewelten machte.

Am Morgen hatte er ziemlich viel Zeit in der Bibliothek verbracht und auf der Suche nach einem Artikel über gestohlene Diamanten jede Menge Mikrofichefilme durchgesehen. Bisher konnte er es noch nicht über sich bringen, Bailey zu sagen, dass sie keine Ahnung hatten, wo sie herkam. Schließlich musste sie nicht notwendigerweise aus Washington, D.C. sein. Sie hätte von überallher kommen können.

Die Tatsache, dass sie, der Diamant und das Bargeld hier waren, hieß noch lange nicht, dass ihre Geschichte hier begonnen hatte. Und keiner von ihnen wusste, wie lange ihr Gedächtnisverlust schon anhielt.

Außerdem hatte er sich weitere Informationen über das Thema Amnesie besorgt, aber bislang war nichts Hilfreiches dabei gewesen. Soweit er wusste, konnte alles Mögliche Baileys Gedächtnis wieder auf die Sprünge helfen, doch es war ebenso denkbar, dass es für immer verloren blieb.

Zweifellos hatte sie etwas sehr Traumatisches erlebt. Und auch wenn man dies durchaus als einen Abstecher in Fantasiewelten bezeichnen konnte, war er sich fast hundertprozentig sicher, dass sie sich nichts zuschulden hatte kommen lassen.

Wie sollte eine Frau mit solchen Augen jemals in der Lage sein, ein Verbrechen zu begehen?

Egal was weiter passierte, eines stand für ihn todsicher fest: Er würde sie beschützen. Wer oder was Bailey auch immer sein mochte, sie war die Frau, auf die er sein Leben lang gewartet hatte.

Zum Teufel, er wollte sie nicht nur beschützen, er wollte sie bei sich behalten!

Seine erste Frau hatte er aus allen möglichen und unmöglichen Vernunftgründen geheiratet. Vielleicht war er auch einfach nur von seinen Eltern und Schwiegereltern manipuliert worden. Diese emotionslose Ehe war jedenfalls ein einziges Desaster gewesen.

Seit der Scheidung – die sämtliche Gemüter erhitzt hatte außer die derjenigen, die es am meisten betraf – war er jeder Form von Verbindlichkeit mit großem Geschick aus dem Weg gegangen. Er war überzeugt, dass der Grund für all das jetzt im Schneidersitz neben ihm auf dem Boden saß und mit zusammengekniffenen Augen in ein Buch über Edelsteine starrte.

„Bailey, du brauchst eine Brille.“

„Hm?“ Sie berührte die Seiten beinahe mit der Nase.

„Reine Spekulation, aber ich würde sagen, dass du kurzsichtig bist. Wenn du dem Buch noch näher kommst, wirst du darin verschwinden.“

„Oh.“ Sie rieb sich die Augen. „Die Buchstaben sind einfach nur schrecklich klein.“

„Nein, das sind sie nicht. Aber keine Sorge, wir kümmern uns morgen darum. Wir arbeiten nun schon seit Stunden. Möchtest du ein Glas Wein?“

„Ja, ich denke schon.“ An der Unterlippe nagend versuchte sie angestrengt, den Text zu entziffern. „Der Große Stern von Afrika ist der größte bekannte geschliffene Diamant, mit einem Gewicht von 530,2 Karat.“

„Klingt nach einem Mordsding“, bemerkte Cade, während er sich für die Flasche Sancerre entschied, die er für einen besonderen Anlass aufgehoben hatte.

„Er ziert das Zepter von König Edward VII. Aber er ist zu groß und kein blauer Diamant. Bisher habe ich nichts finden können, was zu unserem Stein passt. Ich wünschte, ich hätte einen Refraktometer.“

„Einen was?“

„Einen Refraktometer“, wiederholte sie und strich sich das Haar aus dem Gesicht. „Das ist ein Instrument, mit dem man die charakteristischen Eigenschaften eines Steines messen kann. Den Brechungsindex.“ Sie hielt inne. „Woher weiß ich das?“

Mit zwei Gläsern in der Hand setzte er sich wieder neben sie auf den Boden. „Was ist ein Brechungsindex?“

„Die relative Fähigkeit, das Licht zu brechen. Diamanten brechen das Licht einfach. Cade, ich habe keine Ahnung, woher ich das weiß.“

„Woher willst du eigentlich wissen, dass es sich nicht um einen Saphir handelt?“ Er griff nach dem Stein, der wie ein Briefbeschwerer neben ihm auf seinen Notizen lag, und betrachtete ihn.

„Saphire brechen das Licht doppelt.“ Sie erschauerte. „Ich bin eine Juwelendiebin, das muss es sein. Deswegen weiß ich so genau Bescheid.“

„Oder du bist Goldschmiedin, Edelsteinexpertin oder ein richtig, richtig reiches Mädchen, das gerne mit Murmeln spielt.“ Er reichte ihr ein Glas. „Du solltest keine voreiligen Schlüsse ziehen, Bailey. Auf diese Weise übersieht man die wichtigen Details.“

„Okay.“ Dennoch sah sie sich bereits ganz in Schwarz gekleidet in Häuser einbrechen. Sie trank einen großen Schluck. „Ich würde nur zu gern wissen, warum ich mich an bestimmte Dinge erinnern kann und an andere nicht. Refraktometer, die Spur des Falken …“

„Die Spur des Falken?“

„Ein Spielfilm – Bogart, Mary Astor. Du hast den Roman in deinem Zimmer, und als ich ihn sah, konnte ich mich sofort an den Film erinnern. Und Rosen. Ich weiß, wie sie riechen, aber ich kenne mein eigenes Lieblingsparfüm nicht. Ich weiß, was ein Einhorn ist, aber nicht, warum ich mir eines habe tätowieren lassen.“

„Ein Einhorn.“ Er begann zu lächeln. „Das Symbol der Unschuld.“

Sie zuckte nur mit den Schultern und kippte den Rest des Weins hinunter. Cade reichte ihr sein eigenes Glas und stand auf, um ihres nachzufüllen. „Und außerdem hab ich immer wieder diese Melodie gehört, als ich unter der Dusche stand. Ich weiß nicht, woher ich sie kenne, aber ich konnte sie nicht loswerden.“ Sie trank erneut, runzelte vor Konzentration die Stirn und begann zu summen.

„Beethovens Ode an die Freude“, stellte er fest. „Beethoven, Bogart und ein geheimnisvolles Fabelwesen. Du hörst nicht auf, mich zu überraschen, Bailey.“

„Und was soll das eigentlich für ein Name sein, Bailey?“, wollte sie mit einer ausladenden Geste wissen. „Ist das mein Vor- oder mein Nachname? Wer bitte gibt seinem Kind einen solchen Namen? Da würde ich ja noch lieber Camilla heißen.“

Er lächelte erneut, wobei er erwog, ihren Wein außer Reichweite zu stellen. „Nein, das würdest du nicht. Glaub mir.“

Schmollend blies sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Erzähl mir etwas über Diamanten, Bailey.“

Diamonds are a girl’s best friend.“ Sie kicherte, dann strahlte sie ihn an. „Habe ich mir das gerade ausgedacht?“

„Nein, Honey, hast du nicht.“ Sanft entwandt er ihr das halb volle Glas, stellte es zur Seite und notierte im Geiste, dass Bailey keinen Alkohol vertrug. „Sag mir, was du alles über Diamanten weißt.“

„Sie glitzern und schimmern. Sie sehen kalt aus, und sie fühlen sich kalt an. So kann man ganz schnell feststellen, ob es sich vielleicht nur um Glas handelt. Glas ist warm, Diamanten sind kalt. Das liegt daran, dass sie hervorragende Hitzeableiter sind. Kaltes Feuer.“

Sie legte sich auf den Rücken, streckte sich wie eine Katze, worauf ihm augenblicklich das Wasser im Mund zusammenlief. Sie schloss die Augen.

„Es handelt sich um das härteste bekannte Material. Die Zehn auf Mohs’ Härteskala. Alle wirklich wertvollen Diamanten sind weiß. Eine gelbliche oder bräunliche Färbung wird als Makel betrachtet.“

Mannomann, dachte sie seufzend. In ihrem Kopf drehte sich alles. „Blaue, grüne und rote Diamanten sind sehr selten und wertvoll. Die Farbe entsteht durch die abweichende chemische Zusammensetzung.“

„Schön.“ Er studierte ihr Gesicht, die geschwungenen Lippen, die geschlossenen Augen. Sie hätte genauso gut von einem Liebhaber sprechen können. „Weiter.“

„Ihr spezifisches Gewicht schwankt zwischen 3,15 und 3,53. Aber der Wert für reine Kristalle ist fast immer 3,53. Leuchtkraft und Feuer“, murmelte sie, während sie sich erneut träge reckte.

Entgegen seiner guten Vorsätze senkte er mit einem Mal den Blick und betrachtete ihre kleinen, festen Brüste, die sich gegen den Stoff seines Hemdes abzeichneten. „Interessant.“

„Ungeschliffene Diamanten haben einen matten Glanz, aber wenn sie einmal geschliffen sind, oh, dann leuchten und strahlen sie!“ Sie rollte sich auf den Bauch, winkelte die Beine an und überkreuzte die Fußknöchel. „Man bezeichnet das als Adamantine. Der Name Diamant stammt vom griechischen adamas und bedeutet: unbezwingbar. So unglaublich viel Schönheit kann in Stärke liegen.“

Sie öffnete die Augen wieder, schwang die Beine herum und setzte sich auf. „Du bist schrecklich stark, Cade. Und so schön. Als du mich geküsst hast, war es, als ob du mich mit Haut und Haaren verschlingen möchtest.“ Sie seufzte. „Ich mochte das sehr.“

„Junge …“ Er spürte, wie sein Blut allmählich die Reise von seinem Gehirn in seine Lenden antrat, und umfasste vorsorglich ihre Hände, die sie auf seine Brust gelegt hatte. „Wir sollten jetzt besser zu Kaffee übergehen.“

„Du willst mich noch mal küssen, stimmt’s?“

„Mindestens so sehr, wie ich atmen möchte.“ Ihr Mund war voll, willig und viel zu nah. Ihr Blick träumerisch verschleiert.

Und sie war betrunken.

„Lass uns das verschieben, Bailey.“

Er wollte sie sanft von sich schieben, doch sie war schon damit beschäftigt, auf seinen Schoß zu krabbeln. Dann schlang sie die Beine um seine Hüften, seufzte und rutschte ein wenig hin und her, um es bequem zu haben.

„Ich glaube nicht … hör mal …“ Für eine Jungfrau in Not ging sie ganz schön ran! Es gelang ihm, ihre eifrigen Hände abzufangen, bevor sie ihm das Hemd aus der Hose ziehen konnte. „Lass das. Ich meine es ernst.“

Er meinte es wirklich ernst, wie er bemerkte, und er musste wohl die Tatsache akzeptieren, dass er den Verstand verloren hatte.

„Glaubst du, dass ich gut im Bett bin?“ Bei dieser Frage begann er beinahe zu schielen. Sie jedoch seufzte nur, legte den Kopf an seine Schulter und murmelte: „Hoffentlich bin ich nicht frigide.“

„Das kann ich mir kaum vorstellen.“ Sein Blutdruck stieg erheblich, als sie an seinem Ohr zu knabbern begann. Gleichzeitig glitt sie mit den Händen über seinen Rücken, wobei sie ihn sanft mit den Fingernägeln kratzte.

Autor

Nora Roberts
<p>Die preisgekrönte Schriftstellerin sitzt jeden Tag acht Stunden am Schreibtisch. Inzwischen sind fast 250 Romane geschrieben, die weltweit regelmäßig auf den Bestsellerlisten landen. Vom <em>New Yorker</em> wurde sie zu »Amerikas Lieblingsautorin« ernannt. Auch in Deutschland erfreut sich Nora Roberts einer großen Fangemeinde. Sie lebt mit ihrem Ehemann in Maryland.</p>
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