Ein heißes Fest der Liebe

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Sie will ihn unbedingt! Casting-Direktorin Perla möchte dem internationalen Filmstar Gael Montez die Hauptrolle in ihrem neuen Film anbieten. Dann wird sie sein Anwesen verlassen, um über Weihnachten in südliche Gefilde zu fliegen. Doch kaum besprechen sie das Projekt, zieht ein Wintersturm über Long Island – und Perla wird mit dem unwiderstehlichen Frauenschwarm eingeschneit. Wie soll sie cool bleiben, wenn plötzlich die Leidenschaft die Hauptrolle übernimmt? Ein heißes Fest der Liebe beginnt – mit Kerzenschein, Tannenduft und sinnlichen Küssen …


  • Erscheinungstag 25.10.2022
  • Bandnummer 2260
  • ISBN / Artikelnummer 0803222260
  • Seitenanzahl 144

Leseprobe

1. KAPITEL

„Ich habe es so satt, immer die gleichen Rollen zu spielen!“ Missmutig überflog Gael Montez das Drehbuch, das ihm Manolo, sein Onkel und Manager, zur Durchsicht gegeben hatte. „Es muss doch noch andere Rollen für mich geben als den puerto-ricanischen Superhelden.“

„Aber von dem puerto-ricanischen Superhelden lebt es sich recht gut. Und gegen die Gage, die sie dir für eine Rolle in der Space-Squadron-Reihe bieten, lässt sich absolut nichts einwenden, mein Lieber.“ Manolo gab der Stewardess ein Zeichen, das leere Sektglas wieder zu füllen. „Du kriegst die Hauptrolle und wirst als Produzent genannt. Du leidest nur wieder an deinem Weihnachtsblues, wie jedes Jahr.“

Gael hasste es, wenn sein Onkel diesen schulmeisterlichen Ton anschlug, aber leider hatte Manolo in beiden Punkten recht: Nach einer Rolle wie Gaels letzter, in einem der erfolgreichsten Franchise aller Zeiten, hätte sich jeder andere die Finger geleckt, und ja, Gael hasste Weihnachten. Na gut, „hasste“ war vielleicht übertrieben, aber für Gael war ausgerechnet diese Zeit im Jahr mit Erinnerungen verknüpft, auf die er eigentlich verzichten konnte. Trotzdem musste er, sobald sie gelandet waren, sein fröhlichstes Gesicht aufsetzen, wenn er seiner Mutter nicht die Feiertage verderben wollte. Und das wollte er nicht. Nicht nach dem Jahr, das hinter ihr lag.

„Stimmt nicht“, widersprach er.

Seine Schwester Gabi knuffte ihn unsanft in die Seite. „Onkel Manolo hat recht! Regelmäßig im Dezember bläst du Trübsal, du Grinch.“

Er schnitt ihr eine Grimasse. Seine Schwester nutzte jede Gelegenheit, um ihn aufzuziehen, so wie sie überhaupt alles kommentierte, was ihr an ihm nicht passte. Sie betrachtete es als ihre Aufgabe, ihm das Leben schwer zu machen.

„Ich bin einfach müde.“

Das war nicht gelogen: Er fühlte sich ausgepowert und erschöpft, und zwar in einem Maße, dass es ihn ängstigte. Das vergangene Jahr war nur so an ihm vorbeigerauscht. Er hatte seine Arbeit gemacht – gut gemacht, denn Gael stellte hohe Ansprüche und gab nie weniger als einhundert Prozent –, aber seit einer Weile fühlte er sich wie betäubt, konnte sich über nichts mehr freuen. Über gar nichts mehr. Fühlte sich so ein Burn-out an?

Seit seinem Durchbruch in einer äußerst erfolgreichen Serie im Free-TV vor fünf Jahren hatte er ununterbrochen gearbeitet. Er konnte sich vor Angeboten nicht mehr retten, und als Sohn einer alleinerziehenden Mutter, die jeden Cent zweimal umgedreht hatte, um über die Runden zu kommen, wäre es ihm im Traum nicht eingefallen, einen Job abzulehnen. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal mehr als ein paar Tage am Stück freigenommen hatte. Vielleicht brauchte er einfach nur eine Pause.

Zehn Tage hatte er ja nun. Der Produktionsplan für die jüngste Folge der Space-Squadron-Reihe, in der Gael den Superhelden mimte, sah zumindest während der Feiertage keine Pressetermine vor. Aus diesem Grund saßen Gael, Gabi und ihr Onkel Manolo jetzt in Gaels Privatjet und flogen von L. A. zu Gaels Haus in den Hamptons, um dort mit seiner Mutter und dem Rest der Familie Weihnachten zu feiern. Gael konnte es kaum erwarten, ein paar Tage lang nicht rund um die Uhr vor der Kamera zu stehen.

Doch er wollte nicht undankbar erscheinen. Er wusste genau, wie außergewöhnlich es war, dass einer wie er es so weit gebracht hatte. Erfolgreiche Schauspieler mit lateinamerikanischem Hintergrund konnte man in Hollywood an einer Hand abzählen. Solche, die es in eine der erfolgreichsten Filmreihen schafften, sowieso. Theoretisch lebte er seinen Traum. Seine Beliebtheit wuchs mit jedem Film, und – noch wichtiger: Er war in der Lage, für die gesamte Familie zu sorgen. Irgendwie hatte er den Eindruck, als stünden sie alle auf seinem Gehaltszettel.

Doch nach fünf Jahren, in denen er einen Film nach dem anderen abgedreht hatte, ohne dass seine Herkunft je eine große Rolle gespielt hatte oder seine kulturellen Wurzeln mehr als beiläufig erwähnt wurden, sehnte er sich danach, eine neue Seite von sich zu zeigen. Kolleginnen und Kollegen aus der Squadron-Reihe hatten ihn davor gewarnt, sich in die Schublade „heißer Latino“ stecken zu lassen, doch in allen Drehbüchern, die Gael vor sich liegen hatte, wurde von ihm lediglich verlangt, die Muskeln spielen zu lassen und hübsch auszusehen.

Er knallte das Manuskript auf den Tisch und trank einen kräftigen Schluck Champagner. „Mach ich nicht.“

„Hast du gesehen, wie hoch die Gage ist?“, fragte Manolo. „Das ist mehr, als du für die Space Squadron bekommst. Plus: Du würdest die Hauptrolle spielen und als Executive Producer genannt werden. Diese Chance darfst du dir nicht entgehen lassen.“

„Ich habe weder von dieser Produktionsfirma noch von einem der Drehbuchautoren oder dem Regisseur je was gehört. Wahrscheinlich handelt es sich um irgendwelche Burschen, die sich ein paar schnelle Dollars erhoffen, indem sie auf den Marvel-Hype aufspringen“, meinte Gabi, die seit drei Jahren als Gaels Presseagentin tätig war.

Gut bezahlte Jobs an Familienmitglieder zu vergeben entsprach natürlich dem klassischen Latino-Klischee, aber Gabi war wirklich eine hervorragende Presseagentin mit einem sechsten Sinn dafür, was gut für Gael war und was nicht.

„Du weißt, wie viel ich auf deine Meinung gebe“, widersprach Manolo sofort, „aber ich arbeite schon eine ganze Weile in diesem Business und betreue deinen Bruder seit einer Zeit, als ihn kein Mensch zum Vorsprechen eingeladen hat.“

Gael funkelte Manolo böse an. Er liebte seinen Onkel und war ihm dankbar für die langjährige Unterstützung. Ja, er hatte Gael geholfen, dahin zu kommen, wo er jetzt war. Aber manchmal tat Manolo gerade so, als wäre Gael das Talent einfach zugeflogen. Als hätte Gael sich nicht den Allerwertesten aufgerissen, um zwischen zwei Jobs auch noch die Schauspielschule zu besuchen. Als wäre er nicht seit seinem neunzehnten Lebensjahr von Vorsprechen zu Vorsprechen gehetzt, bis er in seinem letzten Studienjahr endlich eine Rolle bekam. Die er im Übrigen nicht Manolo verdankte, sondern … Nein, wenn Gael seiner Mutter die Weihnachtstage nicht verderben und gute Laune behalten wollte, durfte er das jetzt nicht noch einmal mit ihm durchkauen. Es spielte keine Rolle mehr. Manolos Selbstgerechtigkeit dagegen nervte.

Gael ignorierte den wütenden Blickwechsel zwischen Manolo und Gabi und deutete auf den Stapel von Drehbüchern, die er lesen sollte. „Welches soll ich nehmen?“, fragte er seine Schwester.

„Von denen? Keines“, antwortet Gabi wie aus der Pistole geschossen. „In deiner gegenwärtigen Position kannst du es dir leisten, auch mal einen Film zu machen, an dem dir was liegt, Bruderherz. Finanziell wie auch karrieretechnisch“, fügte sie hinzu, ohne sich von Manolos Schnauben irritieren zu lassen.

Für ihre Verhältnisse war Gabi heute ziemlich nachlässig gekleidet. Statt des üblichen Designerkostüms trug sie einen Jogginganzug und Sneakers – allerdings von Prada beziehungsweise Gucci.

Insgesamt kam Gaels Zwillingsschwester mehr nach ihrer Mutter. Gabi war klein und kurvig, während Gael hochgewachsen und muskulös war. Wenn es mit der Schauspielerei nichts geworden wäre, hätte er einen grandiosen Verteidiger beim Football abgegeben, behauptete ihre Mutter immer. Die Größe – Gael brachte es auf fast eins neunzig – wie auch den bronzefarbenen Teint und die grünen Augen hatte er von seinem Vater, und wie es sich für einen Hollywood-Superhelden und Frauenschwarm gehörte, hielt er diesen Traumkörper top in Form.

Gabi machte die fehlende Körpergröße durch ihren knallharten Geschäftssinn wett. Außerdem besaß sie einen untrüglichen Instinkt, wenn es darum ging, Gaels Karriere in die richtige Richtung zu lenken, eine Tatsache, die Manolo gar nicht gefiel. In der Familie wurde gemunkelt, Gabi wäre schon mit Terminkalender in der Hand und iPhone am Ohr zur Welt gekommen. Sie arbeitete hart und hatte den Finger stets am Puls der Filmbranche, während Manolo für die Finanzen zuständig war und dafür sorgte, dass die Familie wirtschaftlich abgesichert war. Beide liebten ihren Beruf, aber beide waren auch davon abhängig, dass Gael im Geschäft blieb.

Im Endeffekt lief es darauf hinaus, dass Gael bei jeder Entscheidung die Variante wählte, die ihm – und dem Rest der Familie – die größte Sicherheit versprach. Das hatte ihm im Lauf der Jahre einiges abverlangt, aber er war Realist genug, um einzusehen, dass man nicht immer tun konnte, was man wollte, sobald andere Menschen von einem abhängig waren. Eigentlich hatte er geglaubt, sich damit abgefunden zu haben, aber nun merkte er, dass es doch an seinen Kräften zehrte. Die Verpflichtung, jedes lukrative Angebot anzunehmen, kostete ihn die Freude am Beruf. Früher hatte er für die Schauspielerei gebrannt. Jetzt brauchte er dringend etwas, um dieses Feuer wieder zu entfachen. Theoretisch hatte er alles erreicht, wovon andere Schauspieler nur träumen konnten, trotzdem war er unzufrieden.

Dabei hatte es eine Zeit gegeben – und die war noch gar nicht lange her –, da war ihm nichts und niemand wichtiger als der Erfolg. Eine Zeit, in der er Entscheidungen traf, die manch einer als herzlos bezeichnet hätte, nur um den Weg, den er gewählt hatte, weiterverfolgen zu können.

„Hörst du mir überhaupt zu?“

Die Stimme seiner Schwester riss ihn aus den Gedanken. „Sorry. Was hast du gesagt?“

Kopfschüttelnd fing sie noch einmal an. „Gerüchten zufolge übernimmt Violeta Torrejos die Regie in einem Mehrteiler über Francisco Rios und seine Frau.“ Sobald der Name des puerto-ricanischen Freiheitskämpfers fiel, Gaels persönlichen Helden, spitzte er die Ohren. „Sie suchen noch jemanden für die Hauptrolle.“ Gabi schmunzelte zufrieden, als sich ihr Bruder in seinem Sitz aufrichtete. Sie hatte geahnt, dass ihn diese Information aus seiner Lethargie reißen würde.

„Auf keinen Fall. Ich habe denen schon erklärt, dass diese Rolle nichts für dich ist und …“

Mit einer Handbewegung schnitt Gael Manolo das Wort ab. Was fiel dem Kerl ein, eine solche Rolle abzulehnen, ohne das mit ihm zu besprechen? „Lass hören.“

Gabi warf ihrem Onkel ein triumphierendes Lächeln zu und scrollte durch ihr Handy, um die Informationen zu dem Film zu suchen, die sie abgespeichert hatte. „Also, die Reihe heißt ‚The Liberator and His Love‘, produziert wird sie von Pedro Galvañes.“

Das klang reizvoll. Der Name Galvañes versprach an sich schon eine Menge Publicity. „Jasmine Lin Rodriguez wird die Claudia Mieses spielen“, las Gabi vom Display ab. Auch das war ein gutes Zeichen. Jasmine war dafür bekannt, dass sie ihre Rollen sehr sorgfältig auswählte.

Gael fühlte tatsächlich so etwas wie Erregung. Eine Serie über Francisco Rios, den Anführer der puerto-ricanischen Unabhängigkeitsbewegung – eine Traumrolle! Der Mann hatte ein außergewöhnliches Leben geführt: 1921 hatte er, als erster Puerto Ricaner überhaupt, seinen Abschluss an der Harvard Law School gemacht. Während des Studiums lernte er Claudia Mieses kennen, eine Biochemikerin aus Peru, die erste lateinamerikanische Studentin, die am Radcliffe College angenommen worden war und selbst eine ganz außergewöhnliche Person gewesen ist. Ihre Liebesgeschichte zählte für Gael zu den romantischsten überhaupt, und Rios Leben war es definitiv wert, erzählt zu werden. So eine Story auf die Leinwand zu bringen, das wäre nicht bloß die Erfüllung eines Traums, es war genau das, was ihn ursprünglich dazu bewogen hatte, Schauspieler zu werden.

„Ich will die Rolle“, entschied er. Notfalls würde er sogar auf seine Gage verzichten. Er fühlte sich so euphorisch wie seit Monaten nicht mehr. „An wen müssen wir uns wenden?“

Ihm fiel auf, dass seine Schwester mit der Antwort zögerte, während Manolo hämisch grinste. Aha, die Sache hatte also einen Haken.

„Die Reihe wird von den Sambrano Studios produziert“, bekannte Gabi.

Kein Wunder, dass der alte Knabe feixte. Gaels Begeisterung zerplatzte wie eine Seifenblase, sein Herz wurde schwer, und sein Gesicht brannte. Wie konnte es sein, dass dieser Name nach all den Jahren noch immer diese Wirkung auf ihn hatte?

„Und rate mal, wer fürs Casting zuständig ist!“ Dem schadenfrohen Ton seines Onkels nach zu schließen, konnte das nur eine einzige Person sein.

„Perla Sambrano ist die neue Casting-Direktorin.“ Gabi konnte Gael nicht in die Augen sehen, während sie sprach.

Gael war nicht überrascht, dass ihm bei der Erwähnung seiner Ex-Freundin das Blut in den Kopf schoss. Er wendete normalerweise viel Kraft auf, nicht an Perla Sambrano zu denken.

„Sie ist vor Kurzem zum Vice President für Casting international und Talentsuche ernannt worden.“ Die Stimme seiner Schwester klang scharf und vorwurfsvoll. Perla Sambrano war der Grund gewesen, warum sich seine Schwester eine Zeit lang geweigert hatte, mit ihm zu reden.

Er schluckte seine Enttäuschung hinunter. „Dann ist es vielleicht doch nicht das Richtige für mich“, sagte er und machte sich darauf gefasst, dass seine Schwester die alten Argumente wieder auffuhr, aber sie warf ihm nur einen vernichtenden Blick zu, den er geflissentlich ignorierte. Auf diese Diskussion würde er sich nicht schon wieder einlassen. Er würde sich nicht entschuldigen für eine Entscheidung, die es ihnen ermöglichte, in einem Privatjet zu einem Zehn-Millionen-Dollar-Anwesen zu fliegen, das er mit seinem Geld gekauft hatte. „Vergiss es, Gabi. Das ist mein Ernst.“

Aber auch das zufriedene Grinsen seines Onkels irritierte Gael. Er war doch verdammt noch mal kein Spielzeug, um das sich Manolo und Gabi zanken konnten. „Und die da vergessen wir auch.“ Gael wies auf den Stapel Manuskripte, die ihm Manolo vorgelegt hatte. Das wischte Manolo das Grinsen aus dem Gesicht, aber Gael war nicht länger bereit, auf irgendwelche Befindlichkeiten Rücksicht zu nehmen. Es ging um seine Karriere und, Verwandtschaft hin oder her, die beiden arbeiteten für ihn.

Gabi machte den Mund auf, als ob sie etwas sagen wollte, überlegte es sich dann aber anders, und Gael versuchte, in seinem Buch weiterzulesen und nicht an Perla oder den Film zu denken. Es hatte keinen Sinn, Vergangenem nachzuweinen.

„Sicher, dass dir das nichts ausmacht?“, erkundigte sich Esmeralda, Perlas ältere Schwester, und die besänftigende Wirkung ihres warmen Lächelns funktionierte sogar über den Bildschirm hinweg.

„Ganz sicher!“

Dass Esmeralda trotzdem nicht hundertprozentig überzeugt schien, konnte Perla ihr nicht verübeln. Noch vor einem Jahr hätte niemand, nicht einmal Perla selbst, geglaubt, dass sie bereit war, um sieben Uhr an einem Samstagmorgen zwei Tage vor Weihnachten an einer Videokonferenz teilzunehmen. Und nun saß sie hier.

Allerdings war in den vergangenen zwölf Monaten allerhand geschehen. Perlas Halbschwester Esmeralda hatte die Leitung der Sambrano Studios übernommen. Das Filmimperium war von ihrem gemeinsamen Vater Patricio Sambrano gegründet worden. Nach seinem Tod ging alle Welt davon aus, dass es an Perla und ihren Bruder, Patricios „rechtmäßige“ Kinder, fallen würde. Stattdessen hatte der Patriarch in seinem Testament seine außerehelich gezeugte Tochter dazu ausersehen, das milliardenschwere Unternehmen als Präsidentin weiterzuführen, und damit für einigen Wirbel gesorgt. In dem Zusammenhang waren sich Perla und Esmeralda, die sich jahrelang aus den Augen verloren hatten, wieder nähergekommen.

Anders als ihre Mutter oder ihr Bruder neidete Perla ihrer Schwester den Posten nicht. Eine solche Verantwortung – das war nichts für sie. Bis vor etwa zehn Monaten, als Esmeralda den ersten, vorsichtigen Annäherungsversuch startete, hatte Perla eigentlich gehofft, keinen Fuß mehr in diese Firma setzen zu müssen. Sogar ihre Anteile hatte sie verkauft, damit sie nie wieder an einer Vorstandssitzung teilnehmen musste. Aber Esmeraldas herzliche Art und die Leidenschaft, mit der sie sich für den Erhalt des Unternehmens einsetzte, das ihr Vater gegründet hatte, wirkten ansteckend, und nun arbeitete Perla also als Vice President für Casting international und Talentsuche für die Studios. Damit, wie ihre Schwester es formuliert hatte, das viele Schulgeld nicht umsonst gewesen war.

„Perlita?“ Esmeraldas sanfte Stimme holte Perla ins Hier und Jetzt zurück. Inzwischen saß auch Rodrigo Almanzar, Esmeraldas Verlobter und Geschäftsführer der Sambrano Studios, vor dem Bildschirm. Die beiden bildeten ein absolutes Dream-Team, und die Chemie zwischen ihnen stimmte nicht nur im Konferenzraum, sie waren Seelenverwandte. Und obwohl Perla ihrer Schwester ihr Glück nicht neidete, eine solche Beziehung hätte sie sich auch gewünscht.

„Von mir aus kann’s losgehen“, versicherte Perla.

„Danach ist aber Schluss mit Arbeiten“, mahnte Esmeralda. „Wir haben uns die Pause redlich verdient.“

Perla schmunzelte. Auch wenn sie es nie zugeben würde, aber sie genoss es, ein wenig bemuttert zu werden, endlich eine Familie zu haben, die sich um sie sorgte, ohne sie zu bevormunden, eine Familie, in der sie sich erwünscht fühlte.

Ihre Mutter Carmelina war eine herrschsüchtige Frau, eine Helikoptermutter von der ganz üblen Sorte. Ständig gab sie Perla das Gefühl, völlig unfähig zu sein. Esmeralda dagegen behandelte die jüngere Schwester wie eine Erwachsene, wie eine kompetente, vertrauenswürdige Person, die in der Lage war, Verantwortung zu übernehmen. Mehr noch, sie gab Perla das Gefühl, dass sie wichtig war und dass ihre Meinung zählte.

„Schön! Legen wir los.“

Sie hatten eine Videokonferenz mit dem Produzenten und der Regisseurin einer Filmreihe angesetzt, die die Studios produzieren wollten. Das Meeting kam zügig voran, und ehe Perla sichs versah, sprachen sie übers Casting.

„Wenn jemand die Qualitäten der lateinamerikanischen Darsteller beurteilen kann, dann Sie, Pedro“, meinte Perla.

Pedro Galvañes, der Produzent, war nicht nur eine Legende im Filmgeschäft, er war auch sagenhaft eitel, und wie erwartet genoss er das Kompliment. „Wir wissen im Grunde, wen wir wollen“, bestätigte er. „Jasmine Lin Rodriguez hat für die Rolle der Claudia Mieses praktisch schon zugesagt.“

Perla, Esmeralda und Rodrigo versuchten erst gar nicht, ihre Begeisterung zu verbergen. Seit ihrem sensationellen Erfolg in einer Telenovela zählte die puerto-ricanische Darstellerin zu den Stars der Szene. „Das ist großartig!“, rief Perla. „Sie ist die ideale Besetzung.“

„Allerdings. Nur brauchen wir dann jemanden, der sich neben ihr behaupten kann“, ergänzte die Regisseurin. „Francisco Rios war zu Lebzeiten bereits eine Legende. Sein Darsteller muss dasselbe Charisma haben, gleichzeitig aber in der Lage sein, den romantischen Frauenhelden zu verkörpern, denn schließlich handelt es sich um eine Liebesgeschichte.“

„Ja, für die Rolle des Rios brauchen wir einen Publikumsmagneten.“ Perla hatte viel über Francisco Rios gelesen, nachdem sie erfahren hatte, dass die Sambrano Studios „The Liberator and His Love“ produzieren würden. Der Mann war eine Kultfigur. Wer auch immer ihn spielte, musste großes Können mitbringen, um ihm gerecht zu werden.

„An wen denken Sie?“, fragte Rodrigo, der nie lange um den heißen Brei redete.

„An Gael Montez.“

Als wäre dieser Kerl nicht schon genug auf Perlas Herz herumgetrampelt, setzte es bei der bloßen Erwähnung seines Namens einen Schlag lang aus.

„Montez“, wiederholte Esmeralda, und Perla hörte, wie sehr sich ihre Schwester um einen neutralen Ton bemühte. Eines Abends, nach ein paar Gläsern Champagner, hatte Perla ihr die ganze jämmerliche Geschichte über ihren Freund anvertraut, der, wenn sie ganz ehrlich war, auch ihre erste große Liebe gewesen war. Eine Geschichte, an die sie nach Möglichkeit nicht dachte. Doch jetzt würde sie ihm wahrscheinlich eine Rolle anbieten müssen.

„Er ist die perfekte Besetzung: tolles Aussehen und eine unglaubliche Leinwandpräsenz“, sagte Pedro, ehe Esme Einwände geltend machen konnte. „Leider hält sein Agent es nicht für notwendig, auf unsere Anrufe zu reagieren. Der Kerl ist echt eine harte Nuss. Er hat sich geweigert, Montez das Skript zu zeigen.“

Den Namen Manolo Montez schnappte Perla auf, obwohl ihr das Blut in den Ohren rauschte und ihr Herzschlag unverschämt laut dröhnte. Sie konnte den Kerl nicht ausstehen und vermutete stark, dass er die Hand im Spiel gehabt hatte, damals, vor sechs Jahren, als Gael mit ihr Schluss gemacht hatte. Dass er sich immer noch in alles einmischte, überraschte sie kein bisschen. Manolo hatte nie einen Hehl daraus gemacht, wie seine Vision für Gaels Karriere aussah. Er sah in Gael die Gans, die goldene Eier für die ganze Familie legte, deswegen riet er ihm grundsätzlich zu den Rollen, die am besten bezahlt wurden.

Außerdem hatte dieser Mann keine Skrupel. Wenn er der Ansicht war, dass das Projekt nicht geeignet für Gael war, würde er vor nichts zurückschrecken, damit sein Neffe nie davon erfuhr. Zumal es bei diesem Film nicht in erster Linie um den kommerziellen Erfolg ging. Die Macher hofften, dass die Aussicht auf gute Kritiken und eventuell eine Nominierung für einen der renommierten Filmpreise die großen Namen anlocken würden, auf die sie spekulierten. Nur für Manolo war das kein Argument.

Allerdings sollte Perla dankbar sein für Manolos fiese Methoden, denn die Wahrscheinlichkeit, dass sie mit Gael persönlich zu tun haben würde, ging damit gegen null. Je länger sie allerdings über Violetas Vorschlag nachdachte, desto besser gefiel er ihr: Gael war tatsächlich die perfekte Besetzung – und er würde die Rolle lieben! Seit der Schauspielschule träumte Gael von einer Rolle, die etwas mit seiner Heimat, Puerto Rico, zu tun hatte, auch wenn dieser Wunsch bei ihm immer mehr in den Hintergrund zu rücken schien, je steiler es mit seiner Karriere bergauf ging. Und weil Perlas Verstand einfach aussetzte, sobald es um diesen Mann ging, sagte sie, ohne nachzudenken: „Gael ist ein alter Freund von mir. Ich bin sicher, dass ich ihm die Rolle schmackhaft machen kann. Ich rufe ihn mal an.“

Esmeraldas und Rodrigos verdutztes Schweigen dröhnte lauter als die begeisterten Ausrufe von Pedro und Violeta.

Was hatte sie getan? Noch lange nach Ende der Videokonferenz hämmerte Perlas Herz wie verrückt. Sie hatte praktisch versprochen, Gael mit ins Boot zu holen. Dabei hatte sie diesen Mann seit sechs Jahren nicht mehr gesehen geschweige denn ein Wort mit ihm gewechselt. Seit dem Weihnachtsabend, als er in ihrer Wohnung aufgekreuzt war, um ihr mitzuteilen, dass er das letzte Semester online absolvieren würde, weil er eine Rolle in einer Fernsehserie bekommen hatte. Im nächsten Satz hatte er dann mit ihr Schluss gemacht, angeblich weil er sich auf seine Karriere konzentrieren müsse. An den genauen Wortlaut erinnerte sie sich nicht mehr, denn der Schmerz über diesen Verrat ließ diesen furchtbaren Abend im Nebel verschwinden. Manchmal wünschte sie, dieser Nebel würde auch die beiden vorausgehenden Jahre verschlucken, damit sie nicht mehr daran denken musste, wie glücklich sie mit Gael gewesen war. Leider erinnerte sie sich noch sehr lebhaft an alles, was sie verloren hatte, und das tat mindestens genauso weh wie der Schmerz über die Trennung.

„Du musst das nicht tun.“ Esmeraldas mitfühlende Worte brachten Perla in die Gegenwart zurück. „Ich rede noch mal mit Violeta und Pedro und erkläre ihnen, dass sie sich einen anderen Hauptdarsteller suchen müssen.“

Perla hätte sich ohrfeigen können, so sehr ärgerte sie sich darüber, dass sie allein der Gedanke an diesen Mistkerl immer noch dermaßen aus dem Gleichgewicht brachte. In was für eine Lage hatte sie sich da bloß wieder hineinmanövriert? Das sah ihr mal wieder ähnlich: Immer versuchte sie, anderen alles recht zu machen, selbst wenn es den eigenen Seelenfrieden kostete. Andererseits war das ihr Job. Sie war fürs Casting für dieses Projekt verantwortlich, und wenn sie das gut hinbekam, dann hatten sie eine reelle Chance, bei den Awards im kommenden Jahr ganz vorne mitzumischen. Doch nicht allein deshalb legte Perla so viel Wert darauf, für dieses Projekt die besten Schauspieler zu engagieren. Auch nicht wegen der damit verknüpften Popularität. Sondern weil Francisco Rios es verdient hatte, von jemandem verkörpert zu werden, der verstand, wen er da spielte. Jemandem, der in die Fußstapfen passte, in die er trat.

Obwohl Perla ein dicker Kloß im Hals steckte, brachte sie ein dankbares Lächeln zustande. Esmeralda versuchte, es ihr leichter zu machen, und das wusste sie zu schätzen. „Schon okay, Esme, ich krieg das hin. Als ich behauptet habe, dass ich ihm die Rolle schmackhaft machen kann, habe ich den Mund vielleicht ein bisschen zu voll genommen, aber anrufen kann ich ihn ja mal.“ Oder jemanden aus seiner Agentur, weil ich ja gar nicht weiß, ob ich es ertrage, seine Stimme zu hören.

„Wenn du meinst.“ Esme klang immer noch besorgt.

„Sicher.“ Nicht nur ihrer Schwester zuliebe gab sich Perla möglichst zuversichtlich. „Da ist nun wirklich nichts dabei. Ich würde zwar nicht behaupten, dass wir noch eng befreundet sind, aber wir hassen uns auch nicht.“ Zwar ließen selbst nicht besonders enge Freunde normalerweise nicht sechs Jahre verstreichen, ohne ein einziges Wort miteinander zu wechseln, aber Perla hoffte, dass ihre Schwester nicht merkte, dass sie ihr gerade eine faustdicke Lüge auftischte.

Autor

Adriana Herrera
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