Ein Mann für alle Fälle

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4 Romane in einem Band!

Ein Mann für alle Fälle:
Privatdetektiv Mitch findet seine Klientin Mae überaus aufregend! Dass er sich in sie verliebt und sie in Verdacht gerät, einen Mord begangen zu haben, wirft allerdings ein paar Probleme auf …

Jede Nacht mit Charlie:
Produzentin Allie und der neue Radiomoderator Charlie sind ein Dreamteam - auf Sendung und privat. Doch sooft der Traummann Allie küsst, sooft betont er, dass er bald das Land verlassen muss …

Wie Feuer im Blut:
Guter Sex ist nicht alles! Und so trennt sich Tess von dem ehrgeizigen Anwalt Nick. Doch für seinen Job braucht Nick ganz plötzlich eine Verlobte! Tess willigt in das Spiel ein - und gefährdet mit ihrem Temperament Nicks ausgeklügelte Karrierepläne …

Beim zweiten Mann ist alles anders:
Der Cop Tom Warren hat seine liebe Not, Lucy davon zu überzeugen, ihn bei sich wohnen zu lassen. Nur so kann er für ihren Schutz garantieren! Doch dann wartet eine süße Überraschung auf ihn …


  • Erscheinungstag 10.08.2014
  • ISBN / Artikelnummer 9783955763435
  • Seitenanzahl 560
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Ein Mann für alle Fälle

Jennifer Crusie

Ein Mann für alle Fälle

Aus dem Amerikanischen von Emma Luxx

Jennifer Crusie

Jede Nacht mit Charlie

Aus dem Amerikanischen von Heike Hellmann-Brown

Jennifer Crusie

Wie Feuer im Blut

Aus dem Amerikanischen von Heike Hellmann-Brown

Jennifer Crusie

Beim zweiten Mann ist alles anders

Aus dem Amerikanischen von Eleni Nikolina

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright dieser Ausgabe © 2014 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgaben:

What the Lady Wants

Copyright © 1995 by Jennifer Crusie

Charlie all Night

Copyright © 1996 by Jennifer Crusie

Strange Bedpersons

Copyright © 1994 by Jennifer Crusie

Getting Rid of Bradley

Copyright © 1994 by Jennifer Crusie

erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Maja Gause

Titelabbildung: Thinkstock/Getty Images, München

ISBN eBook 978-3-95576-343-5

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Jennifer Crusie

Ein Mann für alle Fälle

Aus dem Amerikanischen von Emma Luxx

1. KAPITEL

Mae Sullivan ließ stirnrunzelnd den Blick an dem alten rußgeschwärzten Bürogebäude hochwandern und verlagerte ihr Gewicht. Ihre Füße schmerzten höllisch, und sie hatte den Verdacht, dass sie sich in diesen verflixten hochhackigen Pumps mindestens an einem Fuß bereits eine Blase eingehandelt hatte. Sie blickte sich um und schätzte ihre Chance, überfallen zu werden, nur geringfügig höher ein als die, dass das Gebäude im nächsten Moment zusammenstürzen könnte. Wer in einer solchen Gegend in einem solchen Haus arbeitete, konnte nur ein Versager sein.

Das traf sich gut.

Sie schien genau den Trottel gefunden zu haben, nach dem sie gesucht hatte: Mitchell Peatwick, Privatdetektiv.

Zuerst war ihr nicht so recht klar gewesen, wie sie es am besten anstellen könnte. Wie findet man einen möglichst unfähigen Schnüffler? Gar nicht so einfach. Also hatte sie sich die Gelben Seiten des Telefonbuchs von Riverbend geschnappt, war die Spalte “Detekteien” von A bis Z durchgegangen und hatte sie erst einmal nach Anzeigengröße und Wohngegend durchgesiebt. Daraus ließ sich schon einiges schließen. Alle teuren, auffälligen Anzeigen beschloss sie von vornherein ad acta zu legen, um anschließend die kleinen abzuklappern, bis ihr die Füße wehtaten.

Und hier war sie nun. Mitchell Peatwick – sie sah ihn bereits vor sich, wie er in seinem Bürosessel hing, fett, kahlköpfig und mit hängender Kinnlade.

Er würde sie gönnerhaft und von oben herab behandeln, weil sie eine Frau war. Und sie würde auf ihm spielen wie auf einem Piano. Alles, was sie zu tun hatte, war, ihn davon zu überzeugen, dass es sich bei dem Fall, auf den sie ihn ansetzen wollte, wirklich um Mord handelte.

Sie holte tief Luft und zuckte zusammen, weil ihr der Bund des um mindestens zwei Nummern zu engen pinkfarbenen Rocks, den sie sich von June ausgeborgt hatte, in die Taille schnitt. Dann zog sie den Schleier ihres Huts über die Augen, schritt mit aller Grazie, die sie trotz ihrer schmerzenden Füße noch aufbringen konnte, auf die Eingangstür zu, in deren zerbrochenen Scheiben ihr ihr Spiegelbild entgegenkam.

Wirklich amüsant, was Kleider bewirken konnten.

Der lächerliche pinkfarbene Schleier verwandelte sie in die reinste Sexbombe.

Nun, vorausgesetzt, sie schaffte es tatsächlich, dieses verdammte Gespräch hinter sich zu bringen, ohne dass sie der Bund von Junes Rock in zwei Teile zerschnitt und Junes Stilettos sie für den Rest ihres Lebens hinken ließen, dann war das ein erster Schritt in die richtige Richtung hin zur Lösung all ihrer Probleme.

Bitte, lieber Gott, lass Mitchell Peatwick beschränkt wie ein Ackergaul sein, und mach, dass er eine Schwäche für Frauen in hautengen Kostümen hat, betete sie, während sie mit vor Schmerz zusammengebissenen Zähnen die Treppen emporstieg.

Das Fenster hinter Mitch stand sperrangelweit offen, und der Deckenventilator summte leise, doch der Abkühlungseffekt war gleich null. Mitch, der die Beine bequem auf seinen ramponierten Schreibtisch gelegt hatte, war überzeugt davon, dass es nur noch eine Frage der Zeit sein konnte, bis er einem Hitzschlag erliegen würde. Am besten nicht mal den kleinen Finger rühren, dachte er, während er sich, die Ärmel hochgekrempelt und die Hände hinter dem Kopf verschränkt, vorsichtig zurücklehnte, die Augen schloss und sich seelisch darauf vorbereitete, gleich dahinzuschmelzen wie Butter in der Sonne.

Um sich zu bewegen, war er ohnehin viel zu deprimiert. Er sann darüber nach, was er sich vorgenommen hatte und was schließlich daraus geworden war. Zwischen beidem bestand ein himmelweiter Unterschied. Wunschvorstellungen waren eine lausige Vorbereitung auf die Wirklichkeit, deshalb hatte er beschlossen, sie nun ein für alle Mal zu begraben. Träume in die Realität umsetzen zu wollen, zahlte sich nicht aus, es war kindisch und unproduktiv. Und wenn man merkte, dass es nicht klappte, zog es einen nur runter. Die Wirklichkeit holte einen meist schneller ein, als einem lieb war.

Aufgrund einer Wette, die er während eines feuchtfröhlichen Abends mit einem Freund abgeschlossen hatte, hatte er sich schon als Privatdetektiv gesehen, als einsamen Wolf – der Sam Spade der Neunzigerjahre –, das Böse in der Welt bekämpfend und der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfend. Dafür war er bereit gewesen, seinen einträglichen Job als Börsenmakler ein Jahr lang an den Nagel zu hängen.

Und was war dabei herausgekommen? Jämmerlich wenig. Er hatte lernen müssen, dass die Arbeit eines Privatdetektivs in der Hauptsache darin bestand, untreuen Ehegatten auf die Schliche zu kommen. Was eine ausgesprochen deprimierende Angelegenheit war. Am Ende stellte sich immer heraus, dass alle Beteiligten sich ziemlich mies verhielten. Mitch hatte sich schon vorher eine recht nüchterne Vorstellung von der Ehe gemacht, jetzt aber hatte er auch die letzten Illusionen über diese Institution verloren.

Eine unumstößliche Wahrheit hatte er in diesem Jahr gelernt: Jeder Mensch lügt.

Sam Spade hätte diese Erkenntnis mit Sicherheit nicht vom Hocker gerissen, und bestimmt hätte er auf derartige Aufträge, wie er, Mitch, sie notgedrungen immer wieder übernommen hatte, dankend verzichtet. Mitch wurde das unangenehme Gefühl nicht mehr los, dass er ebenfalls hätte dankend verzichten sollen.

Eine Woche hatte er noch durchzustehen, und einen Klienten brauchte er noch, der ihm 2.694 Dollar über den Tisch schob. Dann hätte er die Wette gewonnen, die darauf hinauslief, dass er ein Jahr lang als Detektiv arbeiten sollte und dabei ein Mindesthonorar von 20.000 Dollar erzielen musste.

Am nächsten Freitag war Stichtag, dann würde er in sein früheres Leben zurückkehren, egal, ob er diese idiotische Wette nun gewonnen oder verloren hatte. Natürlich würde er keinen Klienten mehr auftreiben – vor allem keinen, der so betucht war, dass man ihm für eine Woche ein derart hohes Honorar abknöpfen könnte.

Das war denn auch der eigentliche Grund dafür, weshalb er vor Enthusiasmus nicht gerade einen Satz machte, als er draußen im Flur den Aufzug rumpeln hörte, und nicht etwa deshalb, weil er befürchtete, die Hitze würde ihn auf der Stelle umbringen, wenn er sich auch nur einen Millimeter von der Stelle rührte. Nein, es war nur einfach so, dass ihm wirkliche Begeisterung schon vor längerer Zeit abhanden gekommen war.

Wäre ich Sam Spade, dann käme jetzt Brigid O’Shaugnessy zur Tür herein, überlegte er flüchtig, während er ein Auge halb öffnete und entnervt zu dem altersschwachen Ventilator an der Decke emporblickte, dessen Summen in ein leises Quietschen übergegangen war. Aus heiterem Himmel verspürte er plötzlich wider Erwarten ein winziges Fünkchen Optimismus in sich aufkeimen. Vielleicht war ja noch nicht alles verloren. Wer konnte schon wissen, ob es nicht doch Brigid O’Shaugnessy war, die da gerade aus dem Aufzug stieg? Brigid, die einzig und allein in der Absicht hierher gekommen war, ihn zu verführen. Um das zu erreichen, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte.

Und er wollte verdammt sein, wenn er keine Lust hatte, sich verführen zu lassen.

Gleich würde sich die Tür öffnen, und sie würde hereingeschwebt kommen. Kühl, schön wie eine Göttin und tödlich gefährlich – in einem dieser weißen Kostüme mit breiten Jackenaufschlägen und einem engen, an der Seite bis fast zur Hüfte geschlitzten Rock, der ihre langen, atemberaubenden Beine aufs Vorteilhafteste zur Geltung bringen würde. Auf den roten Locken trüge sie vielleicht einen kleinen Hut, dessen schwarzer Schleier zwar ihre veilchenblauen Augen verdeckte, dafür aber die klassisch geformte Nase, die porzellanweiße Haut und die sinnlichen, vollen dunkelroten Lippen betonte. Und dann würde sein Blick von ihren Lippen abwärts gleiten hin zum herrlichsten Teil ihres Körpers, den ihre Kostümjacke nicht verbergen, sondern vielmehr aufreizend modellieren würde: zu ihren herrlichen üppigen Brüsten.

Erst nach einiger Zeit und mit größter Anstrengung gelang es Mitch, seine Gedanken von den Brüsten seiner Traumfrau loszureißen.

Sie würde leise die Tür hinter sich schließen, auf ihn zuschweben und mit weicher, kehliger Stimme sagen: “Ich muss den Malteser Falken finden.” Dann würde sie ihren Hut abnehmen, ihn mit ihren veilchenblauen Augen ansehen, dass ihm der Atem stockte, und ehe er sich’s versah, würden sie sich in einer leidenschaftlichen Umarmung auf dem Fußboden wiederfinden und heißen, animalischen, schweißtreibenden Sex miteinander haben …

Seine Gedanken verweilten genüsslich bei dieser Vorstellung.

Und irgendwann würde er herausfinden, dass sie von Anfang an ein teuflisches Spiel mit gezinkten Karten gespielt hatte. “Ich werde nicht den Trottel für dich spielen, Baby”, würde er sagen und sie wegen des Mordes an seinem Partner der Polizei übergeben. Okay, er hatte zwar keinen Partner, es sei denn, man zählte Newton mit, aber das wäre lächerlich gewesen. Kein Wunder, dass das Buch zum Klassiker geworden war. Sam Spade hatte Brigid auch ohne Partner zur Strecke gebracht und sich erst wieder richtig gut gefühlt, nachdem ihm der große Befreiungsschlag gelungen war. Erst Sex vom Feinsten, und dann hatte er sie fallen lassen, war wieder frei gewesen wie ein Vogel – ein Held anstatt ein begossener Pudel.

Das alles war nur Fantasie.

Als sich die Tür öffnete und sie hereinkam, schaute er auf.

Ihr Haar war dunkelbraun, und ihr Kostüm war pink statt weiß, doch alles andere stimmte mit seinen Fantasien recht gut überein. Die Nase, die Lippen, die …

“Ich will verdammt sein …” Mit enormer Anstrengung riss Mitch seine Blicke von ihren Brüsten los und sah sie an.

“Von mir aus.” Ihre Stimme jagte ihm einen Schauer den Rücken hinunter. “Sind Sie Mitchell Peatwick?”

“Hm … ja.” Mitch nahm seine Füße vom Schreibtisch und stand auf. Bevor er ihr die Rechte entgegenstreckte, wischte er sich die feuchten Handflächen an seinem Hemd ab. “Mitch Peatwick, Privatdetektiv. Sagen Sie, haben Sie jemals Der Malteser Falke gelesen?”

“Selbstverständlich.” Sie übersah seine Hand und überflog mit einem raschen Blick den mehr als armselig ausgestatteten Raum. “Das hier ist also Ihr Büro, ja?”

Okay, besonders beeindruckt schien sie von seinen Geschäftsräumen ja nicht gerade zu sein. Und von ihm selbst ganz offensichtlich auch nicht. Nun, so war eben das Leben. Hart, aber ungerecht. Schon wieder einmal hatte er sich von seiner Erwartungshaltung aufs Glatteis führen lassen. Wenn sie nicht den Mund aufgemacht hätte, wäre sie fast perfekt gewesen, aber so …

Die Realität. Eine Beruhigungspille, hergestellt auf natürlicher Basis.

Mitch seufzte und zog seine Hand zurück. “Betrachten Sie’s einfach als Atmosphäre. Ich mach’s genauso.” Er ließ sich in seinen Stuhl fallen und gestattete auch seinen Füßen, wieder ihren gewohnten Platz auf dem Schreibtisch einzunehmen. “Und? Womit kann ich Ihnen dienen? Ist Ihnen Ihr Pudel davongelaufen?”

Sie hob die Brauen. “Wären Sie denn in der Lage, ihn zu finden?”

“Das hat mir gerade noch gefehlt – eine schnippische Klientin.” Mitch gab sich redlich Mühe, seinen Unmut im Zaum zu halten, aber es fiel ihm nicht leicht. Sich von einer schönen Frau mit herrlichen Brüsten über den Mund fahren zu lassen, war er nicht gewohnt, und es brachte seine schlechtesten Seiten zum Vorschein. Bei Licht betrachtet, war sie so schön ja nun auch wieder nicht. Nun ja, die Nase war nicht schlecht, durchschnittlich hübscher Standard sozusagen, und die Lippen waren zwar voll, aber sie hatte nicht diesen sinnlichen Schmollmund wie Brigid, und die Brüste … Mitch spürte, wie ihm die Luft wegblieb, und er wagte nicht weiterzudenken. Vergiss die Brüste, rief er sich zur Ordnung. Es deprimiert dich nur.

“Wenn ich Sie so ansehe, werde ich den Eindruck nicht los, dass Sie dringend mal wieder einen Klienten brauchen könnten.” Interessiert unterzog sie seine Schuhe, die auf dem Schreibtisch direkt vor ihr lagen, einer eingehenden Betrachtung. “Wirklich, ich habe noch nie so dünne Sohlen gesehen. Ausgesprochen bemerkenswert. Ich kann Ihnen von hier aus sagen, welche Farbe Ihre Socken haben. Und Löcher haben sie auch.”

“Toll!” Mitch grinste matt. “Wenn Sie mir jetzt auch noch sagen, welche Farbe meine Unterhose hat, sind Sie wirklich gut.”

“Sie tragen keine”, gab sie kühl zurück.

Mitch nahm die Füße vom Schreibtisch.

“Was wollen Sie von mir?” Er starrte sie an und registrierte dabei flüchtig die Staubkörnchen, die im Sonnenschein tanzten. “Wenn Sie aufhören, mir meine Zeit zu stehlen, könnten wir vielleicht ins Geschäft kommen.”

Sie sah sich suchend um, stand schließlich auf und ging mit schwingenden Hüften durchs Zimmer, wobei sich bei jedem Schritt der Stoff ihres hautengen Rocks beängstigend dehnte. Entschlossen steuerte sie auf die Garderobe zu, schnappte sich Mitchs Leinenjackett, ging zu dem Besucherstuhl und staubte die Sitzfläche ab. Mitch hätte normalerweise selbstverständlich empört Protest eingelegt, aber beim Anblick ihres atemberaubenden Pos, als sie sich vorbeugte, fiel ihm ein, dass er das Jackett sowieso noch niemals so besonders gern angezogen hatte. Nachdem sie den Stuhl sauber gemacht hatte, hängte sie das Jackett wieder an seinen Platz. Während Mitch sie beobachtete, sann er belustigt darüber nach, was Frauen doch für seltsame Wesen waren, und er dankte seinem Schöpfer ein weiteres Mal dafür, dass er ihn als Mann hatte auf die Welt kommen lassen.

Sobald sie sich wieder gesetzt hatte, versuchte er seine Aufmerksamkeit auf ihr Anliegen zu konzentrieren.

Sie blinzelte einmal kurz und sah ihn dann mit ihren großen braunen Augen an. “Was ich Ihnen jetzt erzähle, ist streng vertraulich.”

“Das ist für mich eine Selbstverständlichkeit. Glauben Sie vielleicht, hier kommt jemand rein und sagt, hören Sie zu, ich möchte, dass es alle Welt erfährt?” Mitch zog einen Schreibblock zu sich heran und angelte sich aus einer Blechdose einen Kugelschreiber. “Vielleicht verraten Sie mir zuerst einmal Ihren Namen.”

“Mae Sullivan”, sagte sie, und er schrieb es nieder.

“Und was ist Ihr Problem?”

Sie starrte ihn an. “Irgendjemand scheint meinen Onkel ermordet zu haben.”

Ihr Ton war viel zu schnippisch, um sexy zu sein. Außerdem war es ihm sowieso nicht möglich, verärgert und erregt zugleich zu sein. Es hätte ihm eine viel zu große Menge an Energie abverlangt. Und die brauchte er, um die Hitze ignorieren zu können, die im Zimmer herrschte. “Ermordet. Aha. Nun, Sie wissen ja sicher, dass wir eine hervorragende Polizei haben. Haben Sie die Leiche schon gemeldet?”

“Die Beerdigung ist übermorgen.”

“Dann weiß die Polizei ja bereits Bescheid.”

“Sie ist nicht interessiert.” Gelassen begegnete sie seinem Blick. “Und Sie?”

Mitch überlegte. Offenbar gab es für ihn nur eine Alternative zu der schmutzigen Wäsche, die er ein Jahr lang in Scheidungsangelegenheiten hatte hervorkramen müssen: Mord. Er seufzte. “Ja. Wahrscheinlich wird es mir hinterher leidtun, aber egal. Ja, ich bin interessiert.”

Sie schlug aufreizend die Beine übereinander.

Lügen war nicht unbedingt eine von Maes stärksten Seiten, aber man konnte doch, wie sich nun zeigte, allerhand damit ausrichten. Mitchell Peatwick, vollkommen groggy von der brütenden Hitze, hing in seinem Stuhl, grinste sie träge an und erweckte den Eindruck, dass er nicht mal dann den kleinen Finger gerührt hätte, wenn sie damit herausgerückt wäre, seit Jahren auf den Fahndungslisten der Polizei zu stehen. Solange er den Mund hielt, fand sie ihn gar nicht mal so übel. Der Malteser Falke? Was für ein Träumer!

Nun, ihr konnte es nur recht sein. Einer, der von großen Abenteuern träumte, würde ihr die Geschichte von dem Mord und dem Tagebuch eher abkaufen als jemand, der realistischer war. Und so unmöglich erschien er ihr nun auch wieder nicht. Seine Kleidung war zwar nicht gerade hip, und ein Besuch beim Friseur stand auch wieder mal an – im Moment hing ihm eine Locke seines blonden Haars fast bis in die Augen, und sein Kinn konnte sie nur als ausgesprochen kantig bezeichnen. Na wenn schon. Insgesamt wirkte er ausgesprochen männlich, mit breiten Schultern und schmalen Hüften, und wenigstens gehörte er nicht zu den Typen, die stets ein Goldkettchen um den Hals trugen. Wenn er grinste, strahlte er diesen überwältigenden Macho-Charme aus, bei dem man als Frau gelegentlich ins Zweifeln geriet, ob man sich mit der Emanzipation nicht vielleicht doch noch ein bisschen Zeit hätte lassen sollen.

Aber wehe, wenn er den Mund aufmachte! Dann war es für all die Frauen, die eben noch fast schwach geworden wären, an der Zeit, sich nach dem nächsten Laternenpfahl umzusehen, an dem sie ihn aufknüpfen könnten. Wenn er einfach nur geschwiegen hätte …

Egal, dachte sie, schließlich habe ich ja genau so einen Trottel gesucht.

“Erzählen Sie mir von Ihrem Onkel”, forderte er sie geduldig auf.

War das ein Funken von Mitgefühl, was da in seinen Augen aufblitzte? Plötzlich verspürte sie ein leises Schuldgefühl, weil sie ihn benutzte. Natürlich nur, wenn sie sich nicht getäuscht hatte. Vielleicht hatte er ja auch bloß einen Kater.

“Er ist ermordet worden.” Mae lehnte sich etwas vor – nur ein wenig, sodass ihre Brüste unter der Kostümjacke leicht in Bewegung gerieten, wobei sie sich allerdings bemühte, die Sache nicht zu übertreiben. Oft bekamen Männer dann diesen seltsam glasigen Blick, vor dem es ihr grauste. Sie sah Mitch an. Da war nichts Glasiges. Na dann, Vollgas voraus. “Aber mir glaubt niemand.”

“Die Polizei auch nicht?”

Mae zog alle Register, um so verletzt und schutzlos auszusehen wie möglich, weil sie ihn als einen Mann einschätzte, der auf so etwas ansprach. “Ich war nicht bei der Polizei. Sie würden mir erst recht nicht glauben. Laut Totenschein war es ein ganz normaler Tod.”

Mitch klemmte sich den Kugelschreiber wieder zwischen die Finger. “Wie hieß Ihr Onkel?”

“Armand Lewis.” Mae sah zu, wie er auf seinem gelben Block herumkritzelte und Strichmännchen malte. Er hatte große, starke Hände, und seine Bewegungen waren sicher. Einen kurzen Moment streifte sie der Gedanke, was diese Hände alles bewerkstelligen könnten. Sie rief sich zur Ordnung.

Er sah sie an. “Was steht denn als Todesursache auf dem Totenschein?”

“Herzversagen.”

Gewissenhaft notierte er es und fuhr dann fort: “Hatte Ihr Onkel Probleme mit dem Herzen?”

“Ja.”

“Wie alt war er?”

“Sechsundsiebzig.”

Als er jetzt wieder sprach, schien er seine Worte sehr sorgfältig zu wählen. “Und Sie finden es ungewöhnlich, dass er im Alter von sechsundsiebzig Jahren an Herzversagen verstorben ist?”

“Sonst wäre ich nicht hier.” Mae – ganz Brigid – schenkte ihm ein aufreizendes Lächeln.

“Haben Sie denn einen Grund, anzunehmen, dass er ermordet worden ist?”

“Nein.” Mae lehnte sich ein bisschen nach vorn und fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. “Ich weiß es einfach. Manchmal habe ich einen sechsten Sinn für bestimmte Sachen.”

Er gönnte ihr ein mitleidiges Grinsen, als wäre sie ein unvernünftiges Kind. “Aha. Und Sie glauben, dass das jetzt so eine Sache ist.”

“Ja.”

“Okay.” Er wandte sich wieder seinem Block zu, und Mae entspannte sich etwas. “War er vermögend?”

“Ja. Seine Hinterlassenschaft dürfte sich etwa auf zwanzig Millionen belaufen.”

“Nicht schlecht. Wer erbt?”

“Ich. Falls er in seinem Testament nicht etwas anderes verfügt hat.”

Er sah ruckartig auf. “Alles?”

Mae schüttelte den Kopf. “Die Hälfte.”

“Und die andere Hälfte? Wer bekommt die?”

“Sein Bruder, Claud Lewis.”

Mitch runzelte die Stirn. “Und sonst gibt es niemanden – keine Bediensteten, kein Wohlfahrtsverein, keine entfernten Verwandten?”

Mae fand es an der Zeit, ihm ein weiteres Brigid-Lächeln zu präsentieren, um ihn wieder dahin zu bringen, wo sie ihn haben wollte. “Das ist wirklich nicht so wichtig. Natürlich bekommen sowohl der Butler als auch die Haushälterin etwas, aber kaum so viel, dass es für sie der Mühe wert gewesen wäre, meinen Onkel deshalb umzubringen.”

“Wie viel?”

“Jeder fünfzigtausend.”

Ihre Blicke begegneten sich. “Für meine Verhältnisse sind fünfzigtausend nicht gerade wenig.”

Geduld gehörte vermutlich nicht unbedingt zu den Tugenden eines Vamps, aber Mae hatte kaum eine andere Wahl. Mitchell Peatwick stellte sich als ein ziemlich hartnäckiger Zeitgenosse heraus. Das war nicht gut. “Es ist jedenfalls nicht genug, um ihnen ihren Lebensabend zu sichern. Wenn Onkel Armand noch am Leben wäre, hätten sie jeden Monat ihr sicheres Gehalt plus freie Kost und Logis. Da sie beide Anfang sechzig sind, ist es unwahrscheinlich, dass sie noch mal eine neue Stellung finden. Sein Tod war ein Unglück für sie. Mein Onkel …”

“Mag sein. Vermutlich werden derzeit wirklich nicht viele Butler gesucht”, räumte Mitch ein. “Wie auch immer – geben Sie mir ihre Namen.”

Mae holte tief Luft. Warum zum Teufel taten Männer eigentlich immer so hilfsbereit und hörten dann doch nie auf das, was man zu sagen hatte? Lag es an ihr, oder war das generell eine verhängnisvolle Nebenerscheinung der männlichen Hormone? “Sie haben ihn nicht umgebracht.”

“Ich will ihre Namen.”

Ihr Lächeln fiel diesmal etwas weniger großzügig aus. “Harold Tennyson und June Peace.”

“Adresse?”

“Sie wohnen bei uns im Haus.” Am liebsten hätte Mae vor Ungeduld mit den Zähnen geknirscht. Die Hitze machte sie ebenso gereizt wie ihre schmerzenden Füße, am meisten jedoch reizte sie Mitchell Peatwick. “Im Haus meines Onkels.”

“Dann können Sie sie doch behalten.”

“Nun ja – natürlich.” Mae verlor allmählich die Geduld. “Ich kann sie natürlich nicht einfach auf die Straße werfen.”

Er lächelte sie an, offensichtlich erfreut darüber, dass es ihm gelungen war, sie zu verärgern. “Es ist immerhin Juli. Erfrieren würden sie nicht. Und wenn Sie sie nicht rauswerfen, haben die beiden mit dem Tod Ihres Onkels überhaupt nichts verloren – im Gegenteil.”

Mae hatte Mühe, sich ihre Gereiztheit nicht anmerken zu lassen. “Sie wussten doch gar nicht, dass ich sie nicht entlassen würde.”

“Ja – kennen Sie sich denn nicht ein bisschen näher?”

“Ich weiß nicht, was Sie unter ein bisschen näher verstehen. Selbstverständlich kennen wir uns, aber sie konnten dennoch nicht davon ausgehen, dass ich sie nach dem Tod von Onkel Armand behalten würde. Darüber haben wir niemals gesprochen.”

“Wie lange kennen Sie sich denn schon?”

Zeit für ein Lächeln. Mae strahlte Mitch an. “Was tut das denn zur Sache?”

“Wie lange?”, wiederholte er hartnäckig.

“Achtundzwanzig Jahre.”

Er verengte die Augen. “Seit Ihrer Geburt?”

“Nein, ich war sechs, als ich zu meinem Onkel kam.”

“Dann sind Sie jetzt vierunddreißig?”

“Mein Kompliment, Kopfrechnen eins.”

“Sie sehen aber gar nicht aus wie vierunddreißig.”

“Das kommt daher, weil ich nicht verheiratet bin. Die Ehe lässt Frauen früher altern.”

“Männer auch.”

“Blödsinn. Verheiratete Männer leben nachgewiesenermaßen länger als unverheiratete.”

“Sie leben scheinbar länger.” Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück und musterte sie mit gönnerhafter Nachsicht. “Also – Harold und June haben Sie schon auf den Knien geschaukelt, aber Sie sind dennoch der Meinung, dass die beiden nicht davon ausgehen, dass Sie nach dem Tod Ihres Onkels für sie sorgen.”

Mae schloss die Augen und schwieg.

“Egal, wir kommen später noch darauf zurück. Und außer Ihnen, Harold und June und Onkel Claud gibt es also niemanden, der im Testament bedacht ist?”

“Nein.”

“Was hatte Ihr Onkel für Geschäftsverbindungen?” Er klopfte mit dem Kugelschreiber auf seinen Notizblock. “Ist es möglich, dass einer seiner Geschäftspartner ihn loswerden wollte?”

“Kaum. Ihm gehörte zusammen mit meinem Onkel Claud der Konzern ‘Lewis & Lewis’.”

“Gibt es noch andere Teilhaber?”

“Nein. Nur mein Onkel Claud.”

Als Mitchell zum Sprechen ansetzte, schnitt Mae ihm kurzerhand das Wort ab. “Der Onkel Armand aber auch nicht getötet hat.”

“Haben die beiden sich gut verstanden?”

“Nein. Onkel Claud konnte Onkel Armand nicht ausstehen. Er missbilligte Onkel Armands ausschweifendes Leben, weil er Angst hatte, dass das dem guten Namen von ‘Lewis & Lewis’ schaden könnte.”

“Klingt wie ein direktes Zitat.”

“Ist es auch.”

“Und? Stimmte das?”

“Ja.”

Mitch hob die Augenbrauen. “Ein ausschweifendes Leben mit sechsundsiebzig?”

Mae seufzte. Mitch Peatwick mochte zwar ein Trottel sein, aber zumindest war er ein ausgesprochen hartnäckiger Trottel. “Er hatte eine Geliebte. Wenn Sie es genau wissen wollen, er war in der Nacht, in der er gestorben ist, bei ihr. Er ist in ihrem Bett gestorben.”

Mitch lehnte sich zurück. “Kann ich eine Frage stellen?”

Langsam brachte er Mae an den Rand der Verzweiflung. “Wenn es sein muss.”

“Ja. Er hatte also trotz seines relativ hohen Alters und seiner Herzschwäche eine Geliebte, die … wie alt war? Fünfzig?”

“Fünfundzwanzig. Sie heißt Stormy Klosterman, aber das ist nicht weiter wichtig.”

“Klosterman?”

Mae gab auf. “Ihr Künstlername ist Stormy Weather. Solange sie mit meinem Onkel liiert war, hat sie selbstverständlich nicht gearbeitet.”

“Selbstverständlich.” Er zwinkerte ironisch. “Und wie lange war das?”

“Sieben Jahre”, gab Mae kurz angebunden zurück. “Er hob ihr eines Nachts ihren Regenschirm auf, der ihr auf die Straße gefallen war. Es war Liebe auf den ersten Blick.”

Er grinste sie an. “Sie sind nicht gerade ein Fan von Stormy, scheint mir.”

Mae zuckte die Schultern. “Ach, sie ist schon okay. Zumindest halte ich es für ausgeschlossen, dass sie meinen Onkel umgebracht hat. Sie erbt keinen Cent.”

“Wusste sie das vorher?”

“Ja. In dieser Beziehung hat er bei seinen Geliebten niemals Zweifel aufkommen lassen.”

“Bei seinen Geliebten? Hatte er mehrere?”

“Vor Stormy eine ganze Reihe. Ich bin mit vielen Tanten groß geworden.”

“Sie sind bei Ihrem Onkel Armand aufgewachsen?”

Mae dachte kurz daran, aufzuspringen, ihn an seiner Krawatte zu packen und ihm ins Gesicht zu schreien, dass sie nun bitte schön endlich, endlich auf das Tagebuch zu sprechen kommen wollte, doch gleich darauf verwarf sie diese Idee als ungeeignet. Also riss sie sich zusammen. “Meine Eltern kamen bei einem Autounfall ums Leben, als ich sechs war. Danach ging zwischen meinen drei Onkeln der Streit um mich los. Da mich jeder von ihnen gern zu sich genommen hätte und sie sich nicht einigen konnten, losten sie um mich.”

“Drei? Wer ist denn der dritte?”

“Onkel Gio. Wir waren alle im Büro des Notars, und sie zogen Streichhölzchen. Onkel Armand gewann. So, jetzt wissen Sie alles. Können wir nun endlich wieder auf Onkel Armands Tod zurückkommen?”

“Und wie heißt Ihr Onkel Gio mit Nachnamen?”

“Donatello.”

“Na, großartig.” Er warf den Kugelschreiber hin und starrte sie ausgesprochen unangenehm berührt an.

“Ich sehe, dass Ihnen die Gerüchte, die über Onkel Gio in Umlauf sind, nicht unbekannt sind. Machen Sie sich keine Sorgen, da ist absolut nichts dran. Nun, vielleicht bis auf …”

“Ich weiß über die ganze Familie Bescheid. Wie geht’s Ihrem Cousin Carlo?”

“Er ist schon wieder draußen”, gab Mae zurück. “Jemand hat ihn angeschwärzt.”

Er hüllte sich für einen Moment in Schweigen und musterte sie eingehend von Kopf bis Fuß, wobei sie kurz der Gedanke streifte, ob es nicht womöglich doch ein Fehler gewesen war, hierher gekommen zu sein. Zwar schaute er sie an, als könnte er kein Wässerchen trüben, aber sie wurde das ungute Gefühl nicht los, dass in seinen verschlungenen männlichen Gehirnwindungen etwas vor sich ging, das sich ihrer Kenntnis entzog. Der Himmel mochte wissen, was es war, doch ihre innere Stimme sagte ihr, dass es nichts Gutes war.

Er lehnte sich vor. “Okay, vergessen wir Onkel Gio für einen Augenblick. Abgesehen von diesem sechsten Sinn, von dem ich überzeugt bin, dass er ausgezeichnet funktioniert, müssen Sie aber doch noch einen anderen Grund gehabt haben, anzunehmen, dass Ihr Onkel ermordet worden ist. Vielleicht sollten Sie mit der Wahrheit herausrücken.”

Endlich kommt er zur Sache, dachte Mae. Sie befeuchtete sich die Lippen und lehnte sich ebenfalls etwas vor. “Sein Tagebuch ist verschwunden. Ich habe gehört, wie er noch an seinem Todestag am Telefon mit jemandem darüber gesprochen hat, doch wir haben es nicht gefunden. Ich halte es zwar für nicht besonders wichtig, aber immerhin.”

Mitch sah ihr an, dass sie log. Entweder gab es gar kein Tagebuch, oder es gab eins, und es war im Gegensatz zu dem, was sie sagte, überhaupt das Allerwichtigste. Warum belog sie ihn?

Wie auch immer. Mit dieser Frau als Klientin könnte er womöglich seine Wette doch noch gewinnen. Trotz ihres sechsten Sinns. Wenigstens war sie flüssig.

Zwanzig Millionen.

Großer Gott, zwanzig Millionen! War es denn dann nicht vollkommen egal, ob sie log, dass sich die Balken bogen? Hauptsache, sie schob die 2.694 Dollar über den Tisch.

Wenn sie bloß nicht ihren Onkel Gio erwähnt hätte.

Bis zu diesem Zeitpunkt war Mitch durchaus daran interessiert gewesen, den Fall zu übernehmen. Und zwar nicht nur des Geldes wegen und auch nicht deshalb, weil sie gut gebaut war. Nun ja – zumindest nicht nur. Nein, es wäre einfach schön gewesen, wenn er zu guter Letzt doch noch einen Fall bekommen hätte, bei dem nicht von ihm verlangt wurde, sich in seinem Auto vor billigen Motels herumzudrücken, lauwarmen Kaffee zu trinken und darauf zu warten, dass der Ehebrecher oder die Ehebrecherin in Sicht kamen. Danach hätte er in aller Ruhe wieder in sein altes Leben als Börsenmakler Mitchell Kincaid zurückkehren können.

Und nun legte sie ihm dieses Kuckucksei Gio Donatello ins Nest. Das ging zu weit. Es war bekannt, dass die Luft in Gios Umgebung ausgesprochen bleihaltig war. Sehr ungesund. Er hob den Blick, um ihr zu sagen, dass er an dem Fall nicht interessiert sei. Sie saß vor ihm und schaute ihn mit ihren großen braunen Augen vertrauensvoll an. Wie verletzlich sie auf einmal wirkte! Er rätselte, ob diese Verletzlichkeit echt war oder nur gespielt. Egal. Zumindest würde das Geld, das er von ihr bekommen würde, kein Spielgeld sein.

Das gab für seine Entscheidung den Ausschlag.

“Also.” Mitch rutschte unbehaglich in seinem Sessel herum. Sein Hemd, nass von Schweiß, klebte an der Rückenlehne. “Fassen wir zusammen: Wir haben einen sechsundsiebzigjährigen Mann mit einem schwachen Herzen und einer fünfundzwanzigjährigen Geliebten, in deren Bett er eines Nachts stirbt. Der Arzt attestiert Herzversagen, aber Sie vermuten, dass es Mord war. Die einzigen drei Leute, die von seinem Tod profitieren – Sie selbst ausgenommen –, das Bedienstetenehepaar und Claud Lewis, kommen als Tatverdächtige nicht infrage, sagen Sie.”

Mae nickte. “So ist es. Ich habe mit June und Harold gesprochen. Sie würden mich niemals anlügen.”

Mitch konnte angesichts ihrer Naivität nur den Kopf schütteln. “Natürlich würden sie das. Jeder Mensch lügt. Wenn Sie das immer im Kopf behalten, sind Sie schon einen ganzen Schritt weiter.”

Sie sah durch ihre dichten schwarzen Wimpern unter halb gesenkten Augenlidern zu ihm auf und blinzelte. “Das klingt ja wirklich schrecklich zynisch, Mr. Peatwick.”

“So bin ich eben. Und selbst wenn es zynisch sein sollte, heißt das noch lange nicht, dass es nicht stimmt. Ich bin zum Beispiel bereit, fünfzig Dollar zu wetten, dass Sie mich auch schon angelogen haben.”

Diesmal blinzelte sie nicht. “Wie können Sie so etwas sagen?”, fauchte sie empört. “Selbstverständlich habe ich Sie nicht angelogen.”

Mitch grinste unverschämt. “Sie haben es wirklich gut drauf, Sweetheart. Im Lügen haben Sie anscheinend Übung, das merke ich allmählich. Aber es wird Ihnen nichts nützen. Hören Sie auf, mich so seelenvoll anzuschauen, die Masche zieht bei mir nicht.”

Nun verengte sie die Augen. Mitch fand, dass ihr auch das recht gut stand. Ein bisschen biestig und gemein vielleicht, aber durchaus wirkungsvoll. “Mr. Peatwick, nehmen Sie den Job nun an oder nicht?”

Wieder lag ihm auf der Zunge, dankend abzulehnen mit der Begründung, dass ihm zum einen ihre Verwandtschaft nicht passte und dass er zum anderen den Verdacht hatte, dass sie das Blaue vom Himmel herunterlog, doch dann entschied er sich anders.

Er seufzte. “Was hat denn Ihr Onkel am Telefon über das Tagebuch gesagt, das Ihren Verdacht erregt hat?”

“Er sagte: ‘Mach dir keine Sorgen, ohne das Tagebuch kommt niemand an mein Geld’.”

“Und Sie sind sicher, dass das Tagebuch noch da war, bevor er starb?”

“Bestimmt.” Wieder bedachte sie Mitch mit diesem Unschuldsblick, der ihm signalisierte, dass sie etwas vor ihm verbarg. “Er hat noch am Montagabend am Telefon darüber gesprochen, und später in der Nacht ist er gestorben. Da er gewissenhaft jeden Tag darin aufzeichnete, hatte er bestimmt auch an dem fraglichen Tag bereits seine Eintragungen gemacht.”

Mitch warf seinen Kugelschreiber auf den Schreibtisch. “Also gut. Fünfhundert pro Tag plus Spesen.”

Sie zog die Augenbrauen zusammen. “Lächerlich.”

Mitch zuckte die Schultern. “Das ist mein Tagessatz.”

Missmutig verzog sie das Gesicht, und er lächelte sie ungerührt an. “Okay.” Sie öffnete ihre Handtasche und kramte nach einer Weile ihr Scheckbuch hervor. Er sah ihr zu, wie sie die Summe eintrug und ihre Unterschrift daruntersetzte. Zitterte ihre Hand etwa leicht, oder bildete er sich das nur ein?

Nun riss sie den Scheck heraus und warf ihn auf seinen Schreibtisch. Dreitausendfünfhundert Dollar. Mitch holte tief Luft und setzte ein unbeeindrucktes Gesicht auf. “Das ist für eine Woche. Was ist, wenn ich den Fall heute Abend bereits gelöst habe?”

“Dann geben Sie mir den Rest zurück.”

Diese Möglichkeit erschien ihr offenbar nicht allzu wahrscheinlich. Was ihm nur recht sein konnte, denn er würde den Teufel tun, ihr auch nur einen einzigen Cent von den dreitausendfünfhundert Dollar wieder zurückzuzahlen. Schließlich wollte er seine Wette gewinnen.

Mitch stand auf, ging um den Schreibtisch herum und nahm sein Jackett von der Garderobe. “Okay, dann lassen Sie uns Onkel Gio besuchen.”

Sie holte tief Luft. “Mr. Peatwick, ich habe Sie nur dafür bezahlt, dass Sie das Tagebuch finden.”

“Das werde ich auch, Miss Sullivan, verlassen Sie sich drauf. Sie bekommen von mir genau das, was Sie wollen. Aber erst werden wir Gio Donatello einen Besuch abstatten.”

“Warum denn Onkel Gio? Ich habe Ihnen doch gesagt …”

“Ich muss mit all diesen Leuten reden”, sagte Mitch geduldig. “Und wenn ich dann durch bin mit diesem Pack, ist mir wahrscheinlich schon einiges klarer.”

“Onkel Gio ist kein Pack.”

“Ihr Cousin Carlo hat jemandem den Finger abgeschnitten. Pack ist noch viel zu milde ausgedrückt. Das sind doch Psychopathen.”

Sie rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl herum. “Sie sind nur ein wenig impulsiv.”

“Impulsiv.” Mitch schnaubte empört. “Wie süß. Also los, lassen Sie uns gehen, aber ich warne Sie – wenn Sie mich nicht vor Ihren mörderischen Verwandten beschützen, verdoppelt sich mein Tagessatz, alles klar?”

Sie warf ihm einen verächtlichen Blick zu, schnappte sich ihre Handtasche und stand auf. “Großartig.”

Mit einem gekonnten Hüftschwung drehte sie sich um und ging vor ihm zur Tür.

Wenn sie bloß den Mund gehalten hätte …

Ungeduldig sah sie sich nach ihm um. “Ich habe nicht unbegrenzt Zeit, Mr. Peatwick. Hätten Sie vielleicht die Güte, sich ein wenig zu beeilen?”

Die prickelnden Fantasien, die er angesichts ihrer Rückansicht entwickelt hatte, lösten sich in Luft auf, und die Realität hatte ihn wieder. Er seufzte tief und folgte ihr zur Tür.

2. KAPITEL

Peatwicks Wagen hatte etwa die Größe eines Flugzeugträgers. Obwohl Mae Mitchell Peatwick nicht gerade als einen Volvo-Typ eingeschätzt hatte, hatte sie doch ein etwas zeitgemäßeres Auto erwartet. “Das also ist Ihr fahrbarer Untersatz?”

“Ein Klassiker.” Liebevoll strich er über die Fahrertür. “69er Catalinas sieht man heutzutage nicht mehr allzu oft.”

“Ja. Und das hat seinen guten Grund.” Mae deutete auf den Lack. “Was soll denn das für eine Farbe sein?”

“Rostrot. Steigen Sie nun ein, oder nicht?”

“Selbstverständlich.” Mae blickte auf die Beifahrertür.

Er grinste. “Machen Sie schon, steigen Sie ein, die Tür ist offen.”

Mae schüttelte missbilligend den Kopf. “Da nennt der Mann einen Sammlertraum sein Eigen und schließt ihn nicht mal ab. Was denken Sie sich eigentlich dabei?”

“Ich setze eben Vertrauen in meine Mitmenschen”, entgegnete er gelassen.

“Dann werden Sie meinen Cousin Carlo bestimmt ganz besonders mögen.” Sie rüttelte an der Tür, doch ohne Erfolg. “Scheint mir aber doch zu zu sein.”

“Nein – Sie müssen einfach nur ein bisschen mehr ziehen.” Er öffnete die Fahrertür, stieg ein und knallte sie hinter sich zu, während Mae mit allen Kräften an der Beifahrertür zerrte. Mitch kam ihr zur Hilfe.

“Danke.” Mae glitt auf ihren Sitz. “Das ist ja der reinste Ballsaal.”

Mit geradezu enervierendem Besitzerstolz ließ er seine Blicke durchs Wageninnere schweifen. “Bestimmt fragen Sie sich, warum man hier Schalensitze eingebaut hat, stimmt’s?”

Mae hatte bereits die Federung angetestet, die praktisch nicht existierte. “Nein.”

Er steckte den Schlüssel ins Zündschloss. “Es ist doch immer wieder dasselbe. Reiche Leute wissen die einfachen Dinge des Lebens nicht zu schätzen.”

“Ich bin nicht reich.” Mae musterte die luxuriöse Innenausstattung. “Und das hier würde ich nicht gerade als einfach bezeichnen.”

“Sie sind nicht reich?”

“Nein.” Mae zerrte an dem Sicherheitsgurt. “Meine Eltern haben mir zwar einen Vermögensfonds hinterlassen, aber der hat sich leider aus unerfindlichen Gründen in Luft aufgelöst. Erst wenn mit dem Erbe von Onkel Armand alles geklärt ist, bin ich reich. Bis dahin allerdings sieht es finster aus. Ich habe soeben mein Konto für Sie leer geräumt.” Frustriert stellte sie ihren Kampf mit dem Sicherheitsgurt ein. “Mr. Peatwick, ich glaube nicht, dass dieser Sicherheitsgurt funktioniert.”

Als er sich zu ihr hinüberlehnte und ihr den Gurt aus der Hand nahm, um nun seinerseits daran zu zerren, strömte ihr aus seinem Haar der Duft nach Shampoo entgegen. Er zog, und als der Gurt nicht nachgeben wollte, rutschte Mitch noch ein wenig näher an sie heran. Ihr wurde plötzlich ganz heiß, und sie hielt den Atem an.

Mitch zog mit aller Kraft, bis der Gurt schließlich nachgab. Mitch ließ ihn einschnappen. “Sehen Sie. Nicht anders als bei einem dieser modernen Schlitten – nur besser.”

Mae riss sich zusammen, und sie versuchte sich wieder auf ihr eigentliches Anliegen zu konzentrieren.

Er legte einen Gang ein und fuhr aus der Parklücke. “Wo muss ich hin?”

Mae beschrieb ihm den Weg und beantwortete anschließend etwas geistesabwesend Mitchs Armand betreffende Fragen, wobei sie immer wieder versuchte, seine Aufmerksamkeit auf das Tagebuch zu lenken, wenn er zu weit abschweifte. Seine großen, geschmeidigen Hände lagen locker auf dem Lenkrad und zogen ihren Blick magisch an. Dass Hände etwas Erotisches haben konnten, war ihr bisher noch nicht aufgefallen, aber da hatte sie auch Mitch Peatwick noch nicht gekannt. Er ist ein Trottel, sagte sie sich. Und außerdem einer von diesen Ich-mach-das-schon-Typen, die genau der Grund dafür waren, weshalb ihr sämtliche Männer gestohlen bleiben konnten.

Sie hatte ihn dafür bezahlt, dass er das Tagebuch fand, und fertig. Nun schien er das dringende Bedürfnis zu haben, Onkel Gio kennenzulernen, also würde sie ihm Onkel Gio eben vorstellen. Er würde bekommen, was er wollte. Solange er nur das wollte, was sie auch wollte.

Sie starrte ihn an.

Er hielt mitten im Satz inne. “Was? Was haben Sie gesagt?”

“Nichts”, erwiderte Mae schroff. “Absolut nichts.”

Mitch wurde während der Fahrt zu Gio Donatello eines klar: Mae Sullivans eigentliches Interesse galt diesem Tagebuch. Immer wieder fing sie davon an, wie eine Schallplatte, die einen Sprung hatte. Stur wie ein Maulesel war sie – aber egal, sie war seine Klientin, er musste sie so nehmen, wie sie war.

Jetzt würde er sich erst einmal Onkel Gio ansehen. Mitchs Wachsamkeit wuchs, als sie vor einem hohen schmiedeeisernen Tor anhalten mussten und schließlich, nachdem Mae dem Leibwächter ihr Anliegen unterbreitet hatte, durchgewinkt wurden. Die Ausbuchtung unter dem Jackett des bulligen Bodyguards war nicht zu übersehen. Langsam fuhr Mitch die Auffahrt zur Villa hinauf, vor der der nächste finster aussehende Schrank postiert war.

Die zierliche, nicht weniger düster dreinblickende Hausangestellte, die sie schließlich einen creme- und goldfarben gehaltenen Flur entlang zu Gios Büro führte, schien, soweit Mitch es erkennen konnte, nicht bewaffnet zu sein. Allerdings wirkte sie deshalb keineswegs ungefährlicher.

Das Erste, was ihm beim Betreten des Büros auffiel, war ein riesiges, in lebhaften Farben gehaltenes Gemälde der biblischen Judith, die triumphierend das abgeschlagene Haupt ihres Todfeindes Holofernes in die Höhe hielt.

“Sind das auch Verwandte von Ihnen?”, raunte Mitch Mae zu und straffte die Schultern.

Sie verzog das Gesicht, nahm ihn am Arm und zog ihn zu einem wuchtigen Schreibtisch, der vor der Fensterfront platziert war.

Und dann stand er dem legendären Gio Donatello und seinem Enkel Carlo, dem Fingerabhacker, gegenüber.

Gio würdigte Mitch kaum eines Blickes. Er verließ eilig seinen Platz hinter dem Ehrfurcht gebietenden Schreibtisch und schloss seine Nichte in die Arme, während er sich darüber beklagte, dass sie sich so lange – drei volle Tage! – nicht hatte sehen lassen.

Währenddessen unterzog Carlo Donatello Mitch einer eingehenden Musterung.

“Onkel Gio, ich möchte dir Mitchell Peatwick vorstellen”, sagte Mae, und Gio richtete seine kleinen dunklen Augen auf Mitch. Die Raumtemperatur sank schlagartig.

“Wer ist er?” Gios Stimme klang scharf wie eine Rasierklinge.

Mae tätschelte beruhigend seinen Arm. “Keine Aufregung, Onkel Gio. Er ist nur ein Privatdetektiv, den ich engagiert habe.”

Es wurde noch etwas kälter im Zimmer, als Carlo den Blick von Mitch nahm und Mae ansah. “Mae, Baby, du hast doch uns, du brauchst keinen Privatdetektiv. Willst du etwas herausfinden? Sag einfach, worum es sich handelt. Ich mache alles für dich.” Nun wandte er sich an Mitch. “Sie sind gefeuert. Machen Sie, dass Sie rauskommen.” Damit ging er auf Mitch zu, was diesen veranlasste, schnell einen Schritt zurückzutreten.

“Lass ihn in Ruhe, Carlo.” Maes Tonfall ließ ihren Cousin innehalten. “Ich habe ihn angeheuert, weil ich ihn brauche. Ich will einen Profi.”

“Mae, Baby, sag mir einfach nur, was du möchtest, und ich erledige es für dich. Du bist doch nicht auf so einen Vollidioten angewiesen.”

Mae schenkte ihrem Cousin ihr charmantestes Lächeln. “Nein”, gab sie so bestimmt zurück, dass Carlo vor Staunen der Mund offen stehen blieb und er seine Cousine voller Bewunderung anstarrte.

“Wir übernehmen das für dich”, bekräftigte Gio.

“Kommt überhaupt nicht infrage”, widersprach Mae unerschütterlich, und Mitch fragte sich, wie oft sie das wohl noch wiederholen musste.

Noch einige Male, wie sich gleich darauf herausstellte. Mitch hatte es mittlerweile aufgegeben, dem Gespräch zu folgen, als Gio ihn aus seinen Gedanken riss.

“Setzen”, bellte er.

Mitch tat es.

Mae ließ sich in den Stuhl neben ihm fallen. “Ich habe Mr. Peatwick engagiert, damit er die Umstände von Onkel Armands Tod aufklärt.”

“Was? Armand ist an Herzversagen gestorben.” Verständnislos starrte Gio Mae an. “Was ist er – ein Arzt?”

“Nein.” Um ihren Onkel zu besänftigen, schenkte Mae ihm ein reizendes Lächeln. “Er ist einfach nur ein Privatdetektiv, der ein paar Dinge für mich herausfinden soll. Das ist alles, was ich will, Onkel Gio. Bitte.”

Gio gab sich geschlagen. “Wenn du meinst.” Er blickte Mitch an. “Stellen Sie Ihre Fragen.”

Mitch zögerte. Die Sache war ihm nicht ganz geheuer. “Sie haben auch ganz bestimmt nichts dagegen?”

Gio zuckte die Schultern. “Wenn sich Mae Belle etwas in den Kopf gesetzt hat, bekommt sie es auch.”

“Mabel?” Erstaunt drehte sich Mitch zu Mae um. “Mabel?”

“Mae Belle.” Mae trennte die beiden Worte klar und deutlich.

“Mabel.” Mitch schüttelte den Kopf, und als er sich Gio wieder zuwandte, bemerkte er, dass Donatelli ihn wütend ansah. “Oh. Ein herrlicher Name. Wirklich.” Nun kam er zur Sache. “Also, Mr. Donatello, wann haben Sie Armand Lewis zum letzten Mal gesehen?”

Gio starrte ihn finster an. “Am 11. Juni 1978. Das war definitiv das allerletzte Mal, dass ich ihn sah. Noch weitere Fragen, Mr. Peatwick?”

Mitch starrte ebenso finster zurück. “Ja. Was geschah denn am 11. Juni 1978, wenn Sie sich an das Datum so genau erinnern?”

“Da habe ich meinen Highschool-Abschluss gemacht”, warf Mae ein. “Ich habe Ihnen doch gleich gesagt, dass wir hier nur unsere Zeit vergeuden. Er hat Onkel …”

“He! Die Fragen stelle ich”, schnitt Mitch ihr kurzerhand das Wort ab. “Falls Ihnen das recht ist, Miss Sullivan”, fügte er etwas kleinlaut hinzu, nachdem er sich daran erinnert hatte, dass sie seine Geldgeberin war.

“Selbstverständlich.” Mae lehnte sich zurück und wedelte in großzügiger Geste mit der Hand. “Machen Sie weiter.”

Mitch wandte sich wieder an Gio, dessen kleine braune Äuglein Zornesblitze schleuderten. Als er sich zu Carlo umwandte, verdüsterte sich dessen Miene schlagartig. Hinter ihm an der Wand weidete sich Judith am Unglück des Holofernes. Mach, dass du hier wegkommst, sagte sich Mitch. Es war das einzig Vernünftige, was er tun konnte.

Andererseits hatte er noch einige Fragen, und da er fest entschlossen war, sich nicht noch ein zweites Mal in die Höhle des Löwen zu begeben, musste er sie jetzt stellen. Also holte er tief Luft. “Hatten Sie mit Armand Lewis geschäftlich zu tun?”

“Früher.” Gios Gesicht blieb unbewegt, doch unter der glatten Oberfläche brodelte Zorn. Mitch war bereit zu wetten, dass der Grund dafür in der Vergangenheit lag und mit Armand zu tun hatte.

“Wussten Sie, dass er Tagebuch führte?”

“Nein.” Das kurze Flackern in Gios Augen konnte alles Mögliche bedeuten.

“Können Sie sich vorstellen, dass irgendjemand einen Grund gehabt hat, ihn aus dem Weg zu räumen?”

“Nein.” Da war das Flackern wieder, und Gios Wut wuchs von neuem, wusste der Teufel, warum.

Zur Hölle mit dem ganzen Kram. Es wurde Zeit, von hier zu verschwinden.

Mitch stand auf. Mae und Carlo erhoben sich ebenfalls.

“Hoffentlich sind Sie bald draußen”, knurrte Carlo bösartig.

“Dürfte ich vielleicht noch erfahren, wo Sie sich am Montagabend aufgehalten haben?”, gab Mitch ungerührt zurück.

Bruchteile von Sekunden später hielt Carlo einen Revolver in der Hand und zielte auf Mitch, der geistesgegenwärtig einen Schritt zurück und nach rechts trat, sodass Mae nun direkt in der Schusslinie stand.

“Nimm das Ding runter”, brüllte Gio seinen Enkel an, was sich jedoch als überflüssig erwies, denn Carlo hatte die Pistole bereits gesenkt.

“Ich bin beeindruckt.” Maes Stimme triefte vor Hohn. “Habe ich Sie nicht engagiert, damit Sie mich beschützen?”

“Keineswegs. Ich soll den Tod Ihres Onkels aufklären. Wenn Sie jemand mit der Waffe bedroht, ist das Ihr Problem.”

“Heiliger Himmel, was für eine Niete hast du denn da gezogen?”, fragte Carlo Mae und sah Mitch mit Todesverachtung an.

Mitch fühlte sich in seiner Ehre gekränkt. “War doch klar, dass er nicht auf Sie schießt. Schließlich hat auch ein Mann bestimmte Bedürfnisse.”

Mae blinzelte verblüfft. “Bedürfnisse?”

“Ja. Und an erster Stelle steht bei mir das Bedürfnis zu überleben.” Mitch warf Carlo einen misstrauischen Blick über die Schulter zu. “Würden Sie Ihren Cousin bitte freundlicherweise entwaffnen, sodass wir dieses gastfreundliche Haus in Ruhe verlassen können, Miss Sullivan?”

“Steck das Ding weg”, schnauzte Gio seinen Enkel an. “Der Junge ist zurzeit etwas nervös”, erklärte er, nachdem Carlo dem Befehl Folge geleistet hatte.

Mach, dass du hier wegkommst, sagte sich Mitch. Das ist ja das reinste Irrenhaus. “Nun, das dürfte genügen. Vielen Dank für Ihr Entgegenkommen. Wir müssen jetzt gehen.” Mit diesen Worten trat er hastig den Rückzug an, ohne darauf zu achten, ob Mae ihm folgte oder nicht. Es war ihm im Augenblick egal.

Nachdem die Haustür mit einem Krachen hinter ihm ins Schloss gefallen war, drehte er sich um. Wer da auf ihn zukam, war nicht Mae, sondern Carlo.

“Sag ihr, dass du den Kram hinschmeißt”, verlangte Carlo mit finsterer Miene. “Sofort.”

“Sie sollten dringend an Ihren Umgangsformen arbeiten.” Mitch riss Carlo die Hand, die schon wieder zur Waffe greifen wollte, aus dem Jackett.

“Sie braucht dich nicht, kapiert?” Carlo beugte sich vor, sodass sein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von Mitchs entfernt war. “Und im Übrigen gehört sie mir, damit das ein für alle Mal klar ist.”

“Wie schön für sie”, entgegnete Mitch spöttisch.

“Sag ihr auf der Stelle, dass du den Fall abgibst.” Carlo spuckte ihm die Worte förmlich ins Gesicht.

“Ich denke nicht daran.”

Mitchs Weigerung steigerte Carlos Wut. Er holte aus und verpasste seinem Gegenüber einen Kinnhaken, der so gut saß, dass Mitchs Kopf gegen die Wand schlug. Mitch sah Sterne und ging lautlos zu Boden. In dem Moment kam Mae aus der Tür.

“Carlo!” Mae hob ihre Handtasche, schleuderte sie am Riemen durch die Luft und ließ sie gezielt auf Carlos Schulter niedersausen. “Verdammt noch mal, er ist mein Detektiv! Lass ihn in Ruhe, du Idiot.”

“Au, du tust mir weh, Mae!” Carlo rieb sich mit schmerzverzerrtem Gesicht seine Schulter. “Ich hab ihn doch nur ein bisschen getätschelt. Hat doch nicht wehgetan, oder, Peatwick?” Hasserfüllt starrte er Mitch an, der sich Blut aus dem Mundwinkel wischte.

“Natürlich hat es wehgetan, du Neandertaler”, stieß Mitch zornig hervor, wobei er anklagend seine Hand, die rot war von Blut, ausstreckte. “Siehst du das? Es ist Blut. Und wo Blut ist, ist auch Schmerz. Das ist wie mit dem Feuer und dem Rauch. Was zum Teufel ist bloß los mit dir?”

Carlo streckte die Hand aus, packte Mitch am Jackettaufschlag und zerrte ihn hoch. “Schlappschwanz!”

“Das reicht, Carlo!”, befahl Mae. “Lass ihn in Ruhe!”

“Ich helfe ihm doch nur auf.” Carlo ließ Mitch los und schlug ihm so hart auf die Schulter, dass nicht viel gefehlt hätte und Mitch wäre wieder zu Boden gegangen. “Er hat dir was zu sagen, Mae. Stimmt doch, oder, Peatwick?”

Mitch starrte Carlo mit zusammengekniffenen Augen an. “Ja.” Er wandte sich an Mae. “Ihr Cousin ist ein Psychopath. Können wir gehen?”

Carlo machte einen Schritt auf Mitch zu, was Mae veranlasste, sich geistesgegenwärtig zwischen die beiden Streithähne zu werfen. “Lass die Finger von ihm, verstanden? Wenn ich ihn nicht mehr will, feuere ich ihn. Du hast dich da nicht einzumischen.”

Carlo sah plötzlich drein wie ein begossener Pudel. “Ich hab doch nur versucht, dich zu beschützen. Dieser Typ …”

Mae brachte ihr Gesicht ganz nah vor das ihres Cousins. “Zum letzten Mal: Halt dich da raus! Verstanden?”

Carlo gab auf. “Ganz, wie du willst.”

Mae verschränkte die Arme vor der Brust. “So gefällst du mir schon besser. Im Moment brauche ich diesen Mann noch. Und nun verschwinde.”

Amüsiert beobachtete Mitch, wie Carlo sich umdrehte und wie ein geprügelter Hund die Treppe hinaufschlich.

“Wir sehen uns dann am Sonntag zum Dinner”, rief Mae ihm hinterher. Als Carlo über die Schulter sah, um ihr noch einmal zuzulächeln, wirkte er bereits merklich entspannter. “Und pass gut auf Onkel Gio auf.”

“Kommen Sie.” Mae nahm Mitch am Arm und zog ihn durch die Eingangstür. “Ich nehme Sie mit zu mir nach Hause und verarzte Sie dort erst mal. Er hat Sie ja übel zugerichtet.”

“Vielen Dank.” Mitch betastete vorsichtig seine aufgeplatzte Unterlippe. “Was für eine wunderbare Klientin ich doch habe!”

“Jammern Sie nicht”, empfahl Mae. “Es ist schlecht fürs Image.”

Das Haus, in dem Mae wohnte, war zwar kein Palast, aber dennoch recht eindrucksvoll. Als Mitch aus dem Auto stieg, ließ er seinen Blick an der weißen Fassade nach oben wandern. “Gibt es auch jemanden in Ihrer Familie, der weniger luxuriös lebt?”

“Onkel Claud wohnt in einem kleinen Apartment in der River Road. Er lebt sehr spartanisch.”

“Die River Road ist ziemlich kostspielig spartanisch”, gab Mitch zurück.

Mae stieg die breiten weißen Treppen, die zum Haus hinaufführten, empor. “Sie sagten weniger luxuriös – nicht billig.”

“Ich meinte …” Noch bevor er seinen Satz beenden konnte, wurde die Haustür geöffnet, und ein Mann trat heraus. Der Kleidung nach zu urteilen, war er der Butler.

Harold hätte nach Mitchs Ansicht auch einen guten Rausschmeißer abgegeben, aber im Vergleich zu Gios Gorillas schnitt er immer noch ganz gut ab. Er bemühte sich zumindest, seiner Rolle in einem vornehmen Haus gerecht zu werden, und nickte Mae nun formvollendet zu. “Einen schönen guten Tag, Miss Mae.”

“Guten Tag, Harold.” Mae nickte ebenso formvollendet zurück und ging hinter ihm ins Haus. Mitch folgte ihnen und konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die beiden sich über ihn lustig gemacht hatten.

Das Haus strahlte eine schwüle, drückende Eleganz aus. Alles wirkte düster und schwer. Die Wände waren mit dunklem Holz vertäfelt, auf dem Boden lagen dicke orientalische Teppiche in Dunkelrot, Dunkelgrün und Dunkelblau, in denen man fast versank, das Geländer der gewundenen, breiten Treppe war aus Walnussholz und – wie Mitch vermutete – handgeschnitzt. Maes Zuhause war kein Ort für lebenslustige, lachende Menschen.

Am liebsten hätte Mitch um eine Taschenlampe gebeten.

Harold musterte ihn ungeniert von Kopf bis Fuß, während er die Tür schloss. “Wer ist denn dieser Zombie?”, fragte er hinter seinem Rücken.

Mitch drehte sich um. “Wie bitte?”, fragte er pikiert.

Mae nahm Harold beiseite. “Das ist Mitchell Peatwick. Er ist Privatdetektiv. Ich habe ihn engagiert, damit er Onkel Armands Tod untersucht.”

“Das also hast du mit June zusammen ausgebrütet.” Harold klang nicht besonders erfreut.

Mae deutete mit dem Kopf zu Mitch hinüber. “Nicht jetzt. Wir reden später darüber.”

“Eine ziemlich idiotische Idee, wenn du mich fragst”, stellte Harold fest.

“Vielleicht, aber eine bessere habe ich nicht.” Mae blieb stehen. “Ich bin hungrig wie ein Wolf.”

“Der Tisch in der Bibliothek ist in zehn Minuten gedeckt.” Harold wandte sich ab, um in die andere Richtung zu gehen. “Pass auf, dass du nicht wieder was verschüttest.”

Mae hielt ihn am Ärmel fest, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf die Wange, was Mitch zu der Überlegung veranlasste, ob er nicht vielleicht eine Butlerkarriere anstreben sollte. “Du weißt doch, ich verschütte nie etwas.”

“Erzähl das dem Teppich in der Bibliothek.” Damit verschwand Harold endgültig.

“Wen zum Teufel meinte er denn mit Zombie?”, erkundigte sich Mitch missmutig.

“Sie ganz offensichtlich.” Mae machte eine Kopfbewegung zu der Tür hin, durch die Harold entschwunden war. “Kommen Sie mit in die Küche. Ich werde Ihnen das Blut abwaschen, und anschließend können wir uns unterhalten.”

Mitchs erster Eindruck von der Küche waren blendend weiße Kacheln und blitzende Geräte, in deren Mitte die Doppelgängerin von Marilyn Monroe – allerdings in einem Alter, das diese bedauerlicherweise nie erreicht hatte – stand.

“Ach, du meine Güte.” Die Frau strich ihr weißes Kleid über der schlanken, noch immer kurvenreichen Figur glatt. “Ist er das?”

“Das ist Mitchell Peatwick, June.” Mae ging zum Spülbecken und nahm sich ein Handtuch. “Der Privatdetektiv, den ich angeheuert habe.”

June legte den Kopf in den Nacken und ließ fast zärtlich den Blick über seinen Körper wandern. “Sehr hübsch.”

“Vielen Dank”, sagte Mitch. “Es wird aber auch langsam Zeit, dass endlich jemand meine Vorzüge erkennt.”

“Oh, mein armer Kleiner, was läuft denn falsch?”, gurrte June und zog unter dem Küchentisch einen Stuhl für ihn hervor. Ihre Bewegungen waren so sinnlich, dass Mitch kaum den Blick von ihr wenden konnte. “Ist das Blut an Ihrem Mund?”

“Ja. Mae hat mich mit ihrem Cousin Carlo bekannt gemacht.” Mitch setzte sich auf den Stuhl und zuckte leicht zusammen, als June behutsam mit ihrem Zeigefinger über seine lädierte Unterlippe fuhr.

“Armer Kleiner”, sagte June mitleidig, und Mitch sah sie fasziniert an. Ihre Gesichtszüge trugen bereits Spuren des Alters, aber sie war noch immer sehr schön, und Mitch wusste den Anblick einer schönen Frau zu schätzen.

Nun kam Harold herein und setzte mit Getöse ein Tablett ab, wobei er Mitch argwöhnisch betrachtete. “Mae ist hungrig”, ließ er June wissen, und sein Tonfall ließ nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig. June lächelte Mitch ein letztes Mal an, bevor sie sich abwandte und zum Kühlschrank ging.

Mitch sah ihr nach und fing sich erst wieder, als die nur angelehnte Tür aufging und ein mittelgroßer, zottiger Hund unbestimmbarer Rasse hereingetrottet kam und sich direkt vor dem Küchentresen niederließ. Harold übersah ihn und trat ihm aus Versehen auf den Schwanz.

Nun begann June den Kühlschrank auszuräumen. Als sie kalten Braten, zwei Fleischtomaten, verschiedene Sorten Käse, eine Schüssel mit Salat und eine Flasche Milch auf den Tisch stellte, bekam auch Mitch einen Bärenhunger.

Glücklicherweise lenkte Mae ihn ab, die jetzt mit einem nassen Handtuch herbeikam und den Hund mit dem Fuß ein Stück beiseite zu schieben versuchte. “Verschwinde, Bob, du hast hier nichts verloren, das weißt du ganz genau.”

Der Hund erhob sich und verzog sich zu seinem Platz neben dem Schrank.

Gerade als Mitch den Mund öffnen wollte, um Bob nach dem Verbleib des Tagebuchs zu fragen, beugte sich Mae über ihn, und er schaute direkt in ihren Ausschnitt auf einen pinkfarbenen Spitzen-BH. Er sah viel Spitze und noch mehr nackte Haut.

“Großer Gott!”, entfuhr es ihm.

Mae legte eine Hand unter sein Kinn und riss seinen Kopf hoch. “Zuerst June und jetzt ich. Wenn Sie nicht sofort damit aufhören, uns mit den Blicken zu verschlingen, sage ich Carlo Bescheid, kapiert?”

“Das ist es mir wert. Aua!”

Mae betastete seine aufgeplatzte Lippe. “Stellen Sie sich nicht so an.”

“Sei vorsichtig, Mae.” June war beim Brotschneiden und sah auf, während Mae Mitchs Lippe ziemlich unsanft reinigte. Bob, der sich unbeobachtet fühlte, war mittlerweile zum Tresen zurückgetrottet, auf dem der kalte Braten stand. “Hierher, Bob”, befahl June.

Bob blinzelte sie an, riss die Schnauze auf und gähnte.

“Tut mir leid wegen Carlo”, sagte Mae, die zum Abschluss ihr Werk zufrieden begutachtete und das Handtuch – wesentlich sanfter diesmal – auf Mitchs Lippen drückte, was ihn auf der Stelle vergessen ließ, wie abscheulich sie sein konnte, wenn sie es darauf anlegte. Offensichtlich war aber auch eine gute Portion Feinfühligkeit in ihr, wenn sie es nur wollte. Er holte tief Luft und atmete ihren Duft ein.

Gleich darauf trat sie einen Schritt zurück, und der Zauber war verflogen. “So, das reicht. Sie sind wieder okay. War halb so schlimm. Er hat Sie ja kaum angefasst.”

“Vielen Dank für Ihr Mitgefühl.”

Harold kam aus der Speisekammer. “Geh vom Tresen weg, du blöder Hund.”

Draußen zwitscherte ein Vogel. Bob fuhr mit dem Kopf herum und donnerte gegen den Küchenschrank.

“Ich hab dir doch gesagt, dass du von hier verschwinden sollst”, sagte Mae, doch Bob zeigte keine Reaktion.

“Macht er das immer so?”

“Täglich”, gab Mae zurück. “Er ist ein Mann. Wie Sie. Er lernt einfach nichts dazu.”

“Sei ein bisschen netter zu deinem Gast, Mae”, mahnte June.

“In fünf Minuten steht das Essen auf dem Tisch”, sagte Harold. “Und nehmt Bob weg, bevor er sich noch den Schädel einschlägt.”

Die Bibliothek war ebenso düster wie alles andere im Haus. An den dunklen holzgetäfelten Wänden standen hohe Bücherregale, in denen in Leder gebundene braune, blutrote und dunkelgrüne Bücher – die Farben des Hauses – ihren Platz hatten. Sie standen hinter Glas und erweckten den Eindruck, als hätte sie noch niemals ein Mensch in den Händen gehalten, geschweige denn gelesen.

Mitch verspürte den Wunsch, die schweren dunkelroten Samtportieren von den Fenstern zurückzuziehen, um ein bisschen frische Luft hereinzulassen. “Schöner Raum”, bemerkte er höflich, nachdem er an dem großen Tisch, der in der Mitte des Zimmers stand, Platz genommen hatte. Bob legte sich ihm zu Füßen, wobei er Mitchs Schuh als Kopfkissen benutzte.

Mae sah Mitch an, als wäre er nicht ganz bei Trost. “Finden Sie? Nun – kommen wir jetzt zu dem Tagebuch.”

Mitch lehnte sich im Stuhl zurück. “Ich liebe Bibliotheken. Ich verdanke ihnen die besten Erfahrungen meines Lebens.”

“Lassen Sie uns zu dem Tagebuch kommen.”

Mitch hätte im Moment eigentlich lieber über andere Dinge geredet, doch als er den starrsinnigen Zug sah, der um ihren Mund lag, gab er sich geschlagen. “Na gut”, willigte er ein. “Erzählen Sie mir von dem Tagebuch.”

Mae ging zu einem der Bücherregale, und Mitch sah ihr hinterher. Er fand den Anblick, der sich ihm bot, ausgesprochen erfreulich. Wenn sonst schon nichts bei diesem Fall herauskam, so würde er doch zumindest Mae Belle Sullivans Gang ausführlich genießen können. Sie schloss eine der Glastüren auf und nahm ein in Leder gebundenes Buch heraus.

“Das hier sind Armands gesammelte Werke”, sagte sie und wies auf eine ganze Reihe gleich eingebundener Bücher. “Lauter Tagebücher – achtundfünfzig Stück an der Zahl – für jedes Jahr eins. Er hat seit seinem achtzehnten Lebensjahr Tagebuch geführt. Dies hier ist vom vergangenen Jahr.” Sie reichte ihm das Buch.

Mitch schlug es auf und blätterte darin herum. Armand hatte offensichtlich jeden Tag seines Lebens in allen Einzelheiten festgehalten. Wenig später kam Harold herein und stellte ein Tablett auf den Tisch, auf dem eine Platte mit üppig belegten Sandwiches, ein Krug Milch, Salat, Tomaten und ein Teller mit Schokoladenkeksen standen.

Mae blickte ihn an. “Na, haben Sie schon etwas Interessantes gefunden?”

“Ich kann es gar nicht erwarten, Stormy kennenzulernen”, gab Mitch zurück, klappte das Buch zu und warf es auf den Tisch. Das dumpfe Krachen ließ Bob, der vor sich hingedöst hatte, aufschrecken. Er hob ruckartig den Kopf und stieß mit voller Wucht gegen das Tischbein. Mitch zuckte zusammen und wandte sich dann an den Butler. “Harold, wie lange sind Sie schon hier im Haus beschäftigt?”

Harold straffte die Schultern. “Achtundzwanzig Jahre. Falls Sie noch etwas brauchen, läuten Sie.” Er deutete mit dem Kopf auf eine kleine Messingglocke, die auf dem Tisch lag, doch Mitch wurde das ungute Gefühl nicht los, dass er im Zweifelsfall bis in alle Ewigkeit läuten könnte.

Nachdem Harold das Zimmer verlassen hatte, bediente Mitch sich von der kalten Platte. “Er wurde eingestellt, als Ihr Onkel Sie bei sich aufnahm?”

“Ja. Onkel Gio hat ihn geschickt. Und jetzt zu dem Tagebuch …”

Genüsslich biss Mitch in das dick mit Roastbeef und Tomaten belegte Sandwich. “Warum hat Onkel Gio das getan?”

“Weil er Armand nicht traute.” Mae nahm die obere Brotscheibe von ihrem Sandwich ab und angelte sich das darunter liegende Stück Käse. “Könnten wir nicht vielleicht endlich zu dem Tagebuch kommen?”

“Hören Sie zu, Mae. Sie können sich mit mir anlegen und damit Ihre und meine Zeit verschwenden, oder Sie können meine Fragen beantworten. Suchen Sie es sich aus. Warum hat Gio Armand nicht getraut?”

Mae, die sich gerade die nächste Scheibe Käse in den Mund schieben wollte, stockte mitten in der Bewegung. “Das alles ist vollkommen lächerlich. Onkel Gio hat Armand bestimmt nicht umgebracht.”

“Das habe ich auch nicht behauptet. Warum hat er Armand nicht getraut?”

Mae wurde wütend. Böse funkelte sie Mitch an. “Okay. Gut. Also – es ist zwar nur eine Vermutung, aber ich glaube nicht, dass Onkel Armand mich deshalb zu sich genommen hat, weil er unbedingt ein Kind wollte.”

“Wie kommen Sie darauf?”

“Weil er sich nie etwas aus mir gemacht hat. Er hat sich einfach nicht für mich interessiert.” Maes Wut flaute wieder ein wenig ab. “Ich vermute, ein Grund ist der, weil er nicht wollte, dass ich zu Onkel Gio oder Onkel Claud komme.”

“Und was für Gründe gibt es sonst noch?”

Mae zuckte die Schultern. “Keine.”

“Eben haben Sie gesagt, ein Grund – also muss es doch noch weitere geben, oder?”

“Nun, ich habe so meine Theorie, aber …” Mae nahm sich eine Scheibe Roastbeef und biss hinein. “Ich habe letzte Nacht das Tagebuch von 1967 gelesen – das Jahr, in dem ich zu ihm kam.” Sie sah Mitch nachdenklich an. “Ich habe versucht, mir über einiges klar zu werden. Er war kein einfacher Mensch, aber immerhin habe ich achtundzwanzig Jahre mit ihm zusammengelebt. Ich hatte immer das Gefühl, dass er mich nicht besonders mochte. Und deshalb habe ich das Tagebuch gelesen. Mein Verdacht hat sich bestätigt. Der einzige Grund, weshalb er mich bei sich behielt, war June. Er wusste genau, dass sie nur so lange bei ihm bleiben würde, wie ich auch da war.”

“Warum das denn? Er hätte June doch nur mehr Geld anzubieten brauchen.”

“Es ging June nicht ums Geld. Sie war sehr unglücklich damals. Ihr Sohn Ronnie war gerade gestorben, und sie wollte von hier weg. Dann brachte Onkel Armand mich mit nach Hause, und sie wusste sehr genau, dass ich von Armand keine Liebe bekommen würde, und deshalb blieb sie.” Mae nahm sich noch eine Scheibe Roastbeef. “Auf diese Weise war es Armand gelungen, drei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Er hatte Claud und Gio ausgetrickst, und June blieb ihm auch erhalten. Dafür musste er lediglich mich in Kauf nehmen.”

Mitch blickte finster drein. Onkel Armand war offenbar kein besonders netter Mensch gewesen.

“Und Harold? Wann erschien er auf der Bildfläche?”

Mae klaubte sich aus dem nächsten Sandwich den Belag heraus. “Onkel Gio hat ihn hergeschickt, weil er Armand nicht über den Weg traute. Er machte sich Sorgen um mich. Man kann Onkel Gio alles Mögliche nachsagen, aber Kinder liebt er wirklich.”

Ein Punkt für Gio, dachte Mitch und wehrte sich gleich darauf gegen diesen Gedanken. An Gio Donatello konnte man nichts gut finden. Zurück zu Harold. “Und Armand erlaubte Harold zu bleiben?”

Mae nickte. “Gio bezahlte ihm ja damals sein Gehalt. Deshalb störte es Armand nicht weiter – im Gegenteil, er hatte einen Butler umsonst. Und dann verliebten sich Harold und June ineinander, was für mich sehr schön war, denn nun hatte ich wieder richtige Eltern wie andere Kinder auch. Können wir jetzt endlich zu dem Tagebuch kommen?”

“Das erklärt aber noch nicht, warum Armand Sie noch immer hier wohnen ließ, auch als Sie bereits erwachsen waren.” Mitch stand ihr in puncto Sturheit in nichts nach. “Vielleicht hing er ja doch an Ihnen und …” Er hielt inne, weil sie nachdrücklich den Kopf schüttelte.

“An dem Tag, an dem ich ausgezogen wäre, hätten Harold und June das Haus ebenfalls verlassen.” Sie machte sich über das nächste Stück Käse her. “Und er wollte sie nicht verlieren. Ich hätte es mir finanziell nicht leisten können, Harold und June zu unterstützen, und es wäre mehr als unwahrscheinlich gewesen, dass die beiden zusammen in einem anderen Haushalt eine Stelle gefunden hätten. Die beiden brauchen ein richtiges Zuhause.”

“Und Sie fühlen sich verantwortlich für sie?”

“Selbstverständlich”, betonte Mae. “Schließlich haben sie mich großgezogen. Ich schulde ihnen etwas.”

“Aha.” Mitch nahm sich ein zweites Sandwich. “Irgendwie macht das alles für mich noch keinen Sinn. Warum wollten June und Harold nicht ohne Sie weiterhin bei Armand bleiben?”

“Weil sie ihn hassten.” Mae warf ihm einen warnenden Blick zu. “Aber geben Sie sich keinen Illusionen hin. Sie hassten ihn nicht genug, um ihn umzubringen.” Sie trank einen Schluck Milch und fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen, um sich den weißen Milchschnurrbart abzulecken. Mitch vergaß für einen Augenblick all seine Fragen. Sie streckte die Hand aus und nahm sich einen Schokoladenkeks. “Jetzt also zum Tagebuch …”

“Sie können doch nicht mit dem Kuchen anfangen, bevor Sie mit Ihrem Sandwich fertig sind, Mabel.” Mitch rückte den Kuchenteller außer Reichweite.

“Ich kann alles, was ich will.” Mae beugte sich über den Tisch, um den Teller wieder näher zu sich heranzuziehen, doch Mitch war schneller und hielt ihn fest. Als sie beide daran zerrten, fiel Mitchs Sandwich zu Boden, wo Bob sich sofort höchst erfreut darüber hermachte und es hinunterschlang. Seine Gier brachte ihm einen heftigen Schluckauf ein. Mae klopfte ihm auf den Rücken, bis er sich wieder beruhigt hatte und sich erschöpft auf ihren Füßen zur Ruhe bettete.

Mitch schüttelte besorgt den Kopf. “Ist er okay?”

“Ja.” Mae schaute liebevoll zu dem Hund hinunter. “Er ist zwar ein bisschen beschränkt, aber okay. Also los, gönnen Sie sich ruhig noch ein Sandwich.”

Mitch bediente sich. “Und warum wollen Sie unbedingt dieses angeblich verschwundene Tagebuch finden?”

“Weil der, der es an sich gebracht hat, meinen Onkel ermordet hat. Ich will nur der Gerechtigkeit zu ihrem Sieg verhelfen”, erwiderte Mae unschuldig, während sie sich noch einen Keks schnappte.

“Aha. Weil Sie ihn so sehr geliebt haben.”

“Das ist doch gar nicht der Punkt. Der Punkt ist …”

“Dass Sie das Tagebuch wollen. Ich weiß, ich weiß.” Mitch legte sein angebissenes Sandwich auf seinen Teller. “Die Beerdigung findet übermorgen statt?”

Mae nickte.

“Werden viele Leute da sein?”

Sie zuckte die Schultern. “Einige Geschäftspartner, die Familie …”

“Stormy?”

“Richtig. Und wahrscheinlich noch ein paar seiner Exfreundinnen … Oh Gott!” Mae, die gerade nach dem nächsten Schokokeks greifen wollte, hielt mitten in der Bewegung inne. “Barbara!”

“Barbara?”

“Barbara Ross. Sie hatte auch was mit Onkel Armand. Sie schwimmt in Geld.” Mae sah plötzlich ganz elend aus. “Himmel, sie wird Stormy treffen! Arme Stormy, erst stirbt ihr Armand buchstäblich unter den Händen weg, und jetzt auch noch das. Es wird schrecklich werden. Für sie ist es eine furchtbare Katastrophe. Ich muss mir unbedingt etwas einfallen lassen.”

“Wo wohnt Stormy?”

“Armand hat noch ein Haus ein paar Meilen von hier. Früher hat sie dort gewohnt, aber ich nehme an, dass sie mittlerweile ausgezogen ist.”

“Besitzen Sie einen Schlüssel?”

Mae nickte. “Harold hat einen. Er war gestern dort und hat einige von Armands Sachen in Kisten verpackt.”

“Okay. Dann fahren wir morgen dorthin.”

“Aber da ist das Tagebuch nicht, Harold hat bereits alles durchsucht.”

“Vergessen Sie doch mal für eine Minute das Tagebuch. Vielleicht gibt’s dort ja noch ein paar andere Dinge, die für uns interessant sein könnten.” Mitch stand auf und deutete auf die Tagebücher. “Kann ich ein paar davon mit nach Hause nehmen?”

Mae machte ein finsteres Gesicht. “Aber was ich von Ihnen will, ist doch …”

“Das Tagebuch”, beendete Mitch ihren Satz. “Lassen Sie mich doch bitte auf meine Art an die Sache herangehen, ja?”

“Habe ich denn eine andere Wahl?”

“Nein.”

3. KAPITEL

Nachdem Mitch gegangen war, lehnte sich Mae zurück und überdachte ihre Lage. Mitch war anscheinend wild entschlossen, die Geduld von halb Riverbend mit seiner Fragerei auf die Probe zu stellen, aber das machte er vermutlich seit Jahren. Wenn es ihr doch bloß gelänge, ihn mehr für dieses Tagebuch zu interessieren! Nun, immerhin hatte er jetzt ein paar von Armands früheren Aufzeichnungen in den Händen …

Sie verweilte in Gedanken bei seinen Händen, was sich als ein äußerst ungeschickter Zug erwies. Wenn sie an eines nicht denken durfte, dann an seine Hände. Das lenkte sie zu stark von ihrem Vorhaben ab. Es ließ sich nicht leugnen, dass ihr allein der Anblick seiner Hände ein erregendes Kribbeln im Bauch bescherte. Und der Gedanke …

Schluss! Es mochte zwar recht nett sein, solche Gefühle zu verspüren, aber keinesfalls im Zusammenhang mit Mitchell Peatwick. Er strotzte vor Überheblichkeit, war stur wie ein Maulesel und sah aus wie ein Boxer. Und vor allem dachte sie gar nicht daran, sich von einem Mann, der sich weigerte, ihr zuzuhören, einwickeln zu lassen. Solche Männer kannte sie zur Genüge.

Nachdem sie sich lange genug eingeredet hatte, die Situation voll im Griff zu haben, stand sie auf und ging in die Küche. Sie setzte sich, streifte sich die Pumps ab und hielt sie June hin.

“Mit bestem Dank zurück”, sagte sie. “Das sind ja die reinsten Folterinstrumente.”

“Armes Baby.” June nahm ihr die Schuhe ab und stellte sie auf den Küchentisch. “Soll ich dir ein Fußbad machen?”

“Nein.” Mae massierte sich stöhnend einen geschwollenen Fuß. “Das Einzige, was ich will, ist das Geld, damit wir endlich diesem Mausoleum hier den Rücken kehren und leben können wie normale Menschen. Ich drehe hier noch durch.”

“Ich habe heute Armands Zimmer sauber gemacht. Das Bild mit der nackten Frau ist weg”, berichtete June.

Mae hielt mit dem Massieren inne. “Der Lempicka? Seit wann?”

“Ich weiß nicht.” June setzte sich ebenfalls. “Meiner Meinung nach war er letzten Mittwoch noch da, aber ich bin mir nicht sicher. Ich hasse dieses verdammte Zimmer und schau immer nur so wenig wie möglich hin.”

“Ich weiß. Mach dir keine Sorgen, bald haben wir alles hinter uns.” Mae ergriff Junes Hand und drückte sie liebevoll, woraufhin die ältere Frau sie zärtlich anlächelte. “Vielleicht hat er das Bild ja verkauft.”

June zuckte die Schultern. “Lass das doch deinen Detektiv rausfinden. Er gefällt mir.” Ihr Tonfall wurde plötzlich ganz weich. “Was hältst du von ihm?”

“Keine Ahnung”, erwiderte Mae scheinbar desinteressiert. “Zuerst habe ich ihn für total beschränkt gehalten, aber jetzt … Ich glaube, er ist irgendwie anders.”

“Wie anders?”, drängte June.

Mae zuckte die Schultern. “Ich weiß nicht. Irgendwie eben. Er versucht wenigstens nicht ständig, den Beschützer zu spielen oder mir mit den üblichen Anmachsprüchen zu kommen. Er stellt einfach seine Fragen und behandelt mich wie … als wäre ich eine ganz beliebige Klientin.” Sie begann wieder, ihre Füße zu massieren. “Außerdem gibt er offen zu, dass er ein Versager ist.”

June sah Mae forschend an. “Der ist doch kein Versager”, widersprach sie. “Ebenso wenig wie ich glaube, dass er dich für eine x-beliebige Klientin hält. Meiner Meinung nach ist er ziemlich interessiert an dir.”

“Er ist an Frauen generell interessiert.” Mae lehnte sich zurück. “Aber je länger ich darüber nachdenke, desto mehr gelange ich zu der Überzeugung, dass er viel gewiefter ist, als ich dachte.”

“Darauf kannst du Gift nehmen.” June grinste. “Er wird sich gut machen, wart’s ab. Vielleicht sollten wir ihm die Wahrheit sagen und ihn bitten, dass er die Angelegenheit in die Hand nimmt.”

“Kommt überhaupt nicht infrage”, widersprach Mae kategorisch. “Wenn du erst mal einem Mann erlaubst, deine Angelegenheiten in die Hand zu nehmen, kannst du davon ausgehen, dass du am Ende mit leeren Händen dastehst.”

Die hochsommerliche Hitze stand im Zimmer. Mitch lag in seinem heruntergekommenen Apartment in weißen Boxershorts ausgestreckt auf dem Eisenbett und hatte alle Mühe, nicht in seinem eigenen Schweiß zu ertrinken, während er in Armands Tagebuch von 1978 blätterte. Armands Stil war nicht gerade aufregend, aber der Inhalt war hochinteressant. Nachdem Mitch die Tagebücher 1967 bis 1977 gelesen hatte, war ihm klar, dass es kein Problem sein würde, jemanden zu finden, der ein Motiv gehabt hatte, Armand umzubringen. Aus den Aufzeichnungen ging hervor, dass es mehr als genug Leute gab, die Grund hatten, den Mann zu hassen.

Es klopfte. Da sein Apartment nur aus einem Zimmer mit angrenzendem Bad bestand, brauchte Mitch nicht aufzustehen.

“Herein.”

Einen Moment später stand sein bester Freund vor seinem Bett und blickte voller Missbilligung auf ihn herunter.

Newton, geschniegelt und gebügelt wie stets, die blassblauen Augen hinter einer goldumrandeten Brille, war geradezu der Inbegriff eines konservativen Börsenmaklers. “Du solltest alt genug sein, um zu wissen, dass man in dieser Gegend seine Wohnungstür besser abschließt. Was für ein bodenloser Leichtsinn! Warum haust du überhaupt hier? Das war nicht Gegenstand unserer Wette.”

“Aber ja. Ich muss mich allein aus den Erträgen meiner Detektei über Wasser halten, Newton. Und da ist eben eine luxuriösere Behausung nicht drin.” Mitch ließ seinen Blick durchs Zimmer schweifen und grinste jungenhaft. “Ich finde es gar nicht so schlecht hier. Eigentlich gefällt es mir hier fast besser als in der River Road. Irgendwie hat das Ganze einfach mehr Atmosphäre.” Nachdenklich hielt er einen Moment inne. “Ich bin heilfroh, dass ich mein Apartment verkauft habe. Damit habe ich zumindest einen kleinen Teil meines alten Lebens hinter mir gelassen.”

Newtons Nasenflügel bebten vor Entrüstung, während er kopfschüttelnd die fleckige Tapete und den ziemlich schmuddeligen Teppichboden einer eingehenden Musterung unterzog. “Grässlich”, lautete sein gnadenloser Kommentar, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder Mitch zuwandte und dessen blütenweiße Boxershorts taxierte. “Aber wie ich sehe, hast du mittlerweile wenigstens eine Wäscherei gefunden.”

“Mir blieb nichts anderes übrig.” Mitch wollte sich wieder in das Tagebuch vertiefen. “Es ist jemandem aufgefallen, dass ich keine Unterwäsche anhatte. Drüben auf dem Tisch steht was zu essen, falls du Hunger hast.”

“Du hast etwas zu essen im Haus?”, rief Newton ungläubig aus, und Mitch sah verärgert auf. Newton betrachtete die Überreste des großzügigen Carepakets, das June Mitch beim Weggehen geradezu aufgedrängt hatte. “Wirklich erstaunlich. Es geschehen noch Zeichen und Wunder.” Er beugte sich interessiert über den Tisch, um das Essen genauer in Augenschein zu nehmen. Dabei hielt er ängstlich seine maßgeschneiderte Anzugjacke fest, um zu verhindern, dass sie Flecken bekam. “Das sind ja Schokoladenkekse.”

“Stimmt.”

Newton zog skeptisch die aristokratische Nase kraus. “Sehen aus wie selbst gemacht.”

“Sie sehen nicht nur so aus, sie sind es auch. Im Kühlschrank gibt’s auch Milch, falls du möchtest. Ach, und dann hab ich noch etwas.” Mitch ließ das Tagebuch auf die Bettdecke fallen, beugte sich aus dem Bett und angelte sich seine Hose, um aus der Gesäßtasche seine Brieftasche hervorzuziehen.

Newton holte die Milchflasche aus dem Kühlschrank. “Du hast noch nie in deinem Leben Milch in der Flasche gekauft. Wo kommt das Essen her?”

“Aus derselben Quelle wie das hier.” Mitch überreichte Newton Maes Scheck.

“Großer Gott!” Newton ließ sich auf den Küchenstuhl sinken, die Milchflasche in der einen Hand, den Scheck in der anderen. “Du hast es geschafft. Du hast die Wette gewonnen.” Er starrte fassungslos auf den Scheck, als traute er seinen Augen nicht. “Da wird unser Freund Montgomery aber ganz schön sauer sein.”

“Wenn er nicht verlieren kann, hätte er eben nicht wetten dürfen”, erklärte Mitch voller Genugtuung. “Weißt du, was mir an der ganzen Sache am besten gefällt? Dass ich das alles nur als Mitchell Peatwick durchgezogen habe. Von Mitchell Kincaids Konto habe ich nicht einen Cent angerührt, ebenso wenig wie ich mich seiner Beziehungen bedient habe. Und das wird Montgomery am meisten ärgern. Dass ich das tatsächlich schaffen würde, hätte er bestimmt nie für möglich gehalten.”

Newton grinste. “Heute Abend erfährt er es.”

“Warum die Eile? Du hast nicht zufällig nebenbei noch eine zweite Wette laufen?”

“Und was für eine! Er hat mir unterstellt, dass ich jedes Risiko scheuen würde, also habe ich ihn den Einsatz bestimmen lassen.”

“Ich bin gerührt”, meinte Mitch leichthin, aber er war wirklich bewegt. “Wie viel hast du auf mich gesetzt?”

“Zwanzigtausend.”

Mitch schnappte nach Luft. “Ich bin nicht gerührt, ich bin fassungslos. Wie zum Teufel hat er dich dazu gebracht, so eine Riesensumme zu riskieren?”

Newton zwinkerte ihm zu. “Es war kein Risiko. Schließlich wusste ich ja, auf wen ich setze.”

Mitch schloss die Augen. “Mach so was bloß nie wieder! Was wäre gewesen, wenn ich aufgegeben hätte?”

Kopfschüttelnd stellte Newton die Milchflasche ab und steckte den Scheck ein. “Ich werde ihn in Verwahrung nehmen. Und dass du nicht aufgibst, wusste ich von Anfang an.” Er ging zum Küchenschrank und nahm ein Glas heraus, das er argwöhnisch gegen das Licht hielt, um es anschließend unter fließendem Wasser abzuspülen.

Mitch lehnte den Kopf gegen das eiserne Bettgestell, wobei sein Blick auf das Tagebuch fiel. “Wenn ich diesen letzten Fall gelöst habe, werde ich wohl oder übel wieder in meine Yuppie-Existenz zurückkehren müssen.”

“Du willst aufhören?”

Mitch nickte. “Ja. Obwohl mich die Vorstellung nicht sonderlich reizt. Andererseits ist ein Leben als Privatdetektiv auch nicht gerade das Gelbe vom Ei. Die Klienten sind öde, es zieht einen echt runter.”

“Keine Brigid O’Shaugnessy?”

“Nun, fast.” Mitch rief sich das Bild ins Gedächtnis zurück, als Mae in sein Büro hereingestöckelt kam. “Du solltest Mabel mal kennenlernen.”

“Mabel?” Newton biss in einen Keks. “Klingt nach Bardame.” Er kaute gewissenhaft. “Schmeckt nicht übel. Wo hast du sie her?”

“June hat sie gebacken. Sie ist Mabels Haushälterin.”

“Erzähl mir alles.” Newton schob seinen Bissen im Mund herum und kaute ihn wohl zum vierzigsten Mal, ehe er ihn hinunterschluckte.

“Heute Nachmittag kam in der größten Hitze eine attraktive Frau mit atemberaubenden Brüsten in mein Büro und bat mich, den Mörder ihres Onkels zu finden.”

“Mörder? Ist das nicht ein bisschen weit hergeholt? Wer war denn der Onkel?”

“Armand Lewis. Weit hergeholt erschien es mir zuerst auch, aber mittlerweile bin ich mir nicht mehr so sicher.”

“Armand Lewis.” Newton stutzte und überlegte einen Moment. “Er hat einen recht zweifelhaften Ruf.”

“Hatte. Er ist tot. Was meinst du mit zweifelhaft?”

“Die Leute in seiner Umgebung pflegten ihr Geld immer falsch anzulegen. Glaubst du wirklich, dass er ermordet worden ist?”

“Offiziell starb er an Herzversagen, aber die Nichte behauptet etwas anderes. Zumindest scheint es eine Menge Leute zu geben, die ihm keine Träne nachweinen werden.”

“Zum Beispiel?”

“Nun, da hätten wir als Erstes June, die Haushälterin. Sie hatte einen Sohn, der 1967 fünfzehnjährig an Drogen geriet – na, du weißt schon, damals die Blumenkinder eben. June bat Armand, ihr zu helfen, eine Drogenklinik für Ronnie zu finden, aber der weigerte sich. Fünf Monate später war der Junge tot. Eine Überdosis.”

Newton runzelte die Stirn. “Nun, das war vielleicht nicht sehr nett von dem alten Knaben, kann aber wohl schwerlich als Motiv für einen Mord herhalten. Nicht nach so vielen Jahren.”

“Der Junge war Armands Sohn.”

Newton blinzelte überrascht.

Mitch reichte ihm das Tagebuch. “Hier steht alles drin. Er war offensichtlich nicht allzu unglücklich über den Tod seines Sohnes, im Grunde genommen war er froh, ihn los zu sein. Das Einzige, was ihm anschließend Sorgen machte, war, dass June, die nur wegen Ronnie bei ihm geblieben war, ihn jetzt verlassen würde.” Nun berichtete Mitch Newton das, was ihm Mae erzählt hatte. “Und immer wieder äußert Armand in seinem Tagebuch die Befürchtung, dass Harold ihn umbringen könnte. Er hat die ganze Zeit davor Angst gehabt, wie man nachlesen kann.”

Newton runzelte die Stirn. “Ist dieser Harold denn gemeingefährlich?”

“Er ist ein langjähriger Angestellter von Gio Donatello.”

Newton fiel fast vom Stuhl. “Herrje, wo um alles in der Welt bist du denn da reingeraten?”

“Gio ist auch ein Onkel von Mabel. Er konnte Armand nicht leiden, teils wegen Mae und teils weil …”, Mitch blätterte in dem Tagebuch von 1978, “… Armand ihn um mehr als eine viertel Million Dollar geprellt hat.”

Newtons Gesicht nahm den strengen Ausdruck seiner puritanischen Vorfahren an. “Das war nicht sehr nett.”

“So war Armand.” Mitch schüttelte den Kopf. “Außerdem hat er seine Geliebte mit einer anderen Frau betrogen und, und, und. Mit einem Wort, er hat sich im Laufe seines Lebens mehr Feinde als Freunde gemacht.” Er sah Newton an. “Newton, du hast mir doch schon mehrmals deine Hilfe angeboten. Tu mir einen Gefallen und lies dir diese Tagebücher durch, vielleicht fällt dir noch was dazu ein.”

Newton zögerte einen Moment. “Wenn du meinst, dass es dir weiterhilft”, gab er dann nicht gerade begeistert zurück.

“Es ist für einen guten Zweck”, tröstete Mitch ihn. “Ach ja, noch etwas. Das letzte Tagebuch ist verschwunden.”

“Ach.”

“Ja.” Mitch nahm das Tagebuch von 1993 zur Hand. “Und ich habe das Gefühl, dass da irgendetwas nicht stimmt, Newton. Ich weiß nur noch nicht, was. Mabel verheimlicht mir etwas. Ich werde den Verdacht nicht los, dass sie mich belügt.”

Als Mitch am nächsten Morgen zu seinem Wagen kam, waren alle vier Reifen aufgeschlitzt. Er rief den Abschleppdienst an, seine Versicherung und die Polizei. Dann wählte er Maes Nummer. Als er Maes Stimme hörte, rieselte ihm ein wohliger Schauer über den Rücken. Vergiss es, befahl er seinem Körper, der sich weigerte, sich von seinem Verstand Zügel anlegen zu lassen.

“Irgendjemand scheint das dringende Bedürfnis verspürt zu haben, meine Reifen aufzuschlitzen”, sagte Mitch ohne Einleitung.

“Mr. Peatwick?”

“Nennen Sie mich Mitch, Mabel. Es klingt freundlicher. Sie müssen mich abholen.”

“Alle vier Reifen?”

“Ja. Ich habe einen sechsten Sinn für solche Dinge, und ich gehe jede Wette ein, dass Ihr reizender Cousin Carlo hinter der Sache steckt. Anscheinend hat er nicht auf Sie gehört, als Sie ihm ans Herz legten, mich in Ruhe zu lassen.”

Er hörte am anderen Ende der Leitung einen Seufzer, der ihn zwang, seinen Körper ein weiteres Mal zur Ordnung zu rufen. “Ich bezahle Ihnen die Reifen.”

“Danke, das ist nicht nötig. Ich bin versichert. Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie jetzt kommen und mich abholen würden.” Er erklärte ihr den Weg und wartete, bis sie sich alles genau notiert hatte.

“Hm … Mr. Peatwick?”

“Mitch.”

“Das ist doch in Overlook, wenn ich das richtig sehe, oder?”

“Ganz genau.”

“Oh. Keine sehr vertrauenerweckende Gegend.”

“Bevor Ihr Cousin hier aufgetaucht ist, war es eigentlich gar nicht so übel.”

“Ich bin gleich da.”

“Vielen Dank”, gab Mitch zurück, doch sie hatte bereits aufgelegt.

Als Mae in ihrem braunen Mercedes vorfuhr, stand Mitch bereits schwitzend in der heißen Morgensonne vor dem Haus, in dem er wohnte. Er erschien ihr größer und kräftiger, als sie in Erinnerung hatte. Wieder fiel ihm diese widerspenstige blonde Locke ins Auge, während er seelenruhig an der rußgeschwärzten Hausmauer im hässlichsten Stadtteil der Stadt lehnte und durch nichts zu erkennen gab, dass ihn seine Umgebung womöglich deprimierte.

Nachdem er eingestiegen war, hielt er die Hand vor die Klimaanlage, die erfrischend kühle Luft in den Wagen blies, und sagte anerkennend: “Toller Schlitten, wirklich”, woraufhin Mae schulterzuckend zurückgab: “Ich hasse die Kiste.” Seine Frage nach dem Warum blieb unbeantwortet.

Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte sie, wie er sie musterte, dann kurz die Augen schloss, sie wieder aufmachte und sich anschließend bequem in seinen Sitz zurücklehnte. “Hübsch sehen Sie aus heute.”

Mae schaute an sich hinunter auf ihr leichtes bunt geblümtes Sommerkleid. “Danke.” Im Vergleich zu gestern sah sie heute doch ziemlich anders aus. Gereizt registrierte sie, wie sehr sie sich spontan darüber freute, dass sie ihm unverkleidet mindestens ebenso gut gefiel wie gestern als Vamp. Schnell verdrängte sie den Gedanken. Es war vollkommen unwesentlich, was Mitchell Peatwick mochte oder was ihm missfiel. Zurück zum Geschäft.

“Das mit Ihren Reifen tut mir wirklich leid”, begann sie.

“Kein Problem.”

Sie fuhren an einem parkenden Auto vorüber, an dem sich gerade ein ausgemergelter Jugendlicher mit einem Brecheisen zu schaffen machte.

“Soll ich anhalten?”, fragte Mae, warf einen Blick in den Rückspiegel und verlangsamte das Tempo.

“Warum? Sie haben doch schon ein Radio.”

Der Mann war wirklich unmöglich. “Ich dachte ja nur, dass es Ihnen Spaß macht, Leute festzunehmen.”

Mitch murmelte etwas, das wie “kein Interesse” klang.

“Nun, Sie sind immerhin Privatdetektiv. Da nahm ich an …”

“Lassen Sie’s”, riet Mitch ihr. “Annahmen sind immer schlecht. Ich zum Beispiel habe angenommen, dass es Ihnen Spaß machen würde, so einen Luxusschlitten zu fahren, aber das stimmt offensichtlich nicht. Warum nicht?”

Mae seufzte. Er würde nicht aufhören zu fragen. Das Problem mit Mitch war nicht, dass er so geistreiche Fragen stellte, sondern vielmehr, dass er absolut idiotische Fragen stellte und einem damit so lange auf den Wecker ging, bis man vor lauter Verzweiflung antwortete. Auf diese Weise gelang es ihm, alles aus einem herauszuholen, was er wissen wollte.

“Warum haben Sie sich das Auto denn gekauft, wenn Sie es gar nicht mögen?”

Mae gab sich geschlagen. “Ich habe es nicht gekauft. Ich habe mir einen wunderschönen, kleinen blauen Miata gekauft, obwohl ich ihn mir nicht leisten konnte.”

“Wieso konnten Sie ihn sich nicht leisten?”

“Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich kein Geld habe. Ich verdiene fünfzehntausend Dollar im Jahr als ehrenamtliche Koordinatorin des Kunstmuseums von Riverbend.”

“Sie sind berufstätig? Warum müssen Sie dann heute nicht arbeiten?”

“Weil mein Onkel gerade gestorben ist und ich die Beerdigung vorbereiten muss. Ich gehe erst am Montag wieder zur Arbeit.”

“Aha.” Mitch hüllte sich für einige Zeit in Schweigen. Offensichtlich musste er diese neue Information erst einmal verdauen. “Und warum fahren Sie diesen Wagen dann?”

Wider Willen musste Mae grinsen. “Sie sind wirklich ein zäher Brocken.”

“Eine meiner Qualitäten. Warum haben Sie sich denn diesen …”

“Habe ich ja gar nicht. Onkel Armand fand es unter seinem Niveau, dass in seiner Garage ein Miata herumstand, und hat ihn gegen diesen schokoladenbraunen Schuhkarton in Zahlung gegeben.”

Mitch runzelte die Stirn. “Dazu hatte er doch gar kein Recht.”

“Wenn Sie glauben, dass sich mein Onkel um Recht oder Unrecht geschert hat, haben Sie seine Tagebücher offenbar noch nicht gelesen.”

“Sie werden’s kaum für möglich halten, aber ich habe sie gelesen. Nun, zumindest sind Sie auf diese Art und Weise umsonst zu einem Luxusschlitten gekommen, das ist doch nicht schlecht, oder?”

“Schön wär’s ja.” Mae fuhr eine Straße, die rechts und links von Bäumen gesäumt war, hinunter. “Er hat lediglich die Differenz zwischen dem Miata und dem Mercedes übernommen. Ich bin immer noch dabei, den Kredit zurückzuzahlen, den ich für den Miata aufgenommen habe. Dank Onkel Armand – Friede seiner Asche – muss ich also ein Auto abbezahlen, das ich überhaupt nicht will.” Sie hielt vor einem Backsteinhaus an. “So ist das.”

“Vielleicht wollte er Ihnen nur etwas Gutes tun”, vermutete Mitch. “Ein Mercedes ist immerhin sicherer.”

“Er wollte sich etwas Gutes tun”, gab Mae unverblümt zurück. “Ohne Statussymbole wäre Onkel Armand ein Nichts gewesen. Er umgab sich stets nur mit dem Feinsten und Teuersten. Ach, was soll’s. Sonst noch irgendwelche Fragen?”

“Lassen Sie mich auf dem Rückweg fahren?”

“Passen Sie auf”, warnte ihn Mae. “Sie untersuchen einen Mordfall.”

“Ich weiß. Aber ich würde so gern mal einen Mercedes fahren.”

Mae gab auf und stieg aus.

Nachdem sie die Haustür aufgeschlossen hatte, betraten sie die kleine Eingangsdiele. Eine gewundene Treppe führte hinauf in den ersten Stock.

“Was ist denn da oben?”, erkundigte sich Mitch.

“Keine Ahnung. Ich war noch nie hier.” Sie ging zum anderen Ende der Diele, wo sich ein Torbogen befand, und blieb überrascht auf der Schwelle zum Wohnzimmer stehen. Fast wäre sie vor Neid erblasst.

Das Zimmer war nicht besonders groß, aber es wirkte ausgesprochen gemütlich. Eine luxuriöse Couch mit bernsteinfarbenen Polstern lud dazu ein, es sich bequem zu machen, überall lagen Kissen verstreut, und an den Wänden hingen Blumenbilder in lebhaften Farben. Durch die hohe Terrassentür ergoss sich das strahlende Licht der Morgensonne in den Raum und tauchte das ganze Zimmer in sanftes Gold. Mae trat an die Terrassentür und blickte hinaus auf einen kleinen Garten, in dem bunte Blumen blühten. Alles hier wirkte so behaglich, dass sie sich auf die Lippen biss und sich fragte, wie es wohl sein mochte, in solch einer sonnenüberfluteten Wohnung zu leben mit jemandem, der zuhören konnte und ihr sagte, dass er sie liebte. Sie war überzeugt davon, dass ihr dieses Glück niemals zuteil werden würde. Einen Moment wallte so heftiges Selbstmitleid in ihr auf, dass sie fast in Tränen ausgebrochen wäre.

Mitch kam und stellte sich neben sie, und sie fühlte sich seltsamerweise durch seine Nähe getröstet.

“Nach der Testamentsvollstreckung suche ich für Harold, June und mich ein schönes Haus am Fluss mit glänzenden Parkettböden und langen weißen Vorhängen”, sagte sie mit gespielter Munterkeit. “Es muss ganz große Fenster haben, und wenn man sie öffnet, kommt eine erfrischende Brise vom Wasser herein, die die weißen Gardinen bauscht.”

“Klingt gut”, meinte Mitch, und ihr war klar, dass er nicht verstand, wovon sie sprach, aber immerhin hörte er zu.

“Und mindestens zwölf Hunde werden wir haben”, fügte sie hinzu.

“Das wird dem glänzenden Parkett aber gar nicht gut bekommen.”

Typisch Mitch. Erneut musste sie wider Willen lächeln. Seine Schlagfertigkeit gefiel ihr. “Alles, was wir wollen, ist ein richtiges Zuhause, June, Harold und ich. Armand hatte keinerlei Sinn für Gemütlichkeit. Die Sachen hier hat mit Sicherheit Stormy ausgesucht.”

Eine leise Stimme aus dem Hintergrund ließ sie zusammenzucken. “Ja, das habe ich.”

Als sie sich umwandten, sahen sie die junge, fast kindhaft wirkende Frau im Torbogen stehen.

Mae hatte fast vergessen, wie schön Stormy war. Sie hatte lockiges rotblondes Haar, das ihr in weichen Wellen auf die Schultern fiel, und große blaue Augen, die ihre helle, fast durchscheinende Haut noch zarter erscheinen ließen, als sie sowieso schon war. Stormy mit ihren fünfundzwanzig Jahren war die perfekteste Schönheit, die Mae jemals gesehen hatte.

Mae warf Mitch einen Blick zu und seufzte. Auf seinem Gesicht lag derselbe Ausdruck ungläubigen Staunens, den man bei allen Männern, die Stormy zum ersten Mal sahen, beobachten konnte. Es war nicht seine Schuld. Selbst Frauen waren überwältigt von Stormys Schönheit.

“Tut mir leid, dass wir hier hereinplatzen.” Mae machte einen Schritt auf die junge Frau zu, um sie zu begrüßen. “Wenn wir gewusst hätten, dass Sie hier sind, hätten wir natürlich vorher angerufen. Wie geht es Ihnen?”

Stormy betupfte sich mit einem Spitzentaschentuch die Nase. Unter ihren Augen lagen bläuliche Schatten, die ihr trotz des tragischen Ausdrucks, den sie ihrem Gesicht verliehen, ausgezeichnet standen. “Ach, danke, ganz gut. Es macht nichts, dass Sie unangemeldet gekommen sind, ich wohne nicht mehr hier. Hier wohnt überhaupt niemand mehr.” Sie begann leise zu schluchzen.

Mae legte ihr den Arm um die Schultern und führte sie zur Couch. “Es tut mir wirklich leid für Sie, Liebes.” Sie sah sich über die Schultern nach Mitch um, für den offensichtlich die Verbindung von Schönheit und Tränen mehr war, als er verkraften konnte. “Holen Sie ihr bitte ein Glas Wasser”, bat sie.

Er machte sich auf die Suche nach der Küche und kehrte einen Augenblick später mit dem Gewünschten zurück.

“Vielleicht ist es besser, wenn Sie uns einen Moment allein lassen”, sagte Mae, nachdem sie ihm das Glas aus der Hand genommen und Stormy gereicht hatte.

“Ganz wie Sie wünschen.” Er drehte sich um und verließ das Zimmer. Einen Augenblick später hörte sie ihn die Treppe hinaufgehen.

“Entschuldigen Sie, dass ich mich so gehen lasse”, brachte Stormy mühsam heraus, nachdem sie sich wieder etwas beruhigt hatte. Sie hob den Kopf, den sie an Maes Schulter gebettet hatte, und sah sie mit tränenumflorten Augen an.

“Waren Sie die ganze Zeit über allein?”

“Ja.” Stormy putzte sich die Nase. “Meistens in meiner anderen Wohnung, aber ich bin jeden Tag hierher gekommen, um von Armand Abschied zu nehmen.” Wieder war sie den Tränen nahe.

Mae tätschelte ihr beruhigend die Hand. “Tut mir leid, Stormy, ich hätte Sie anrufen sollen, ich habe einfach nicht daran gedacht.”

“Ach, das macht nichts”, erwiderte Stormy mit erstickter Stimme.

“Kann ich Ihnen irgendwie helfen?”

Stormy hob den Kopf und lächelte sie wehmütig an. “Vielleicht könnten wir ja mal zusammen essen gehen.”

“Essen gehen?” Mae nickte und war froh, dass es etwas gab, womit sie Stormy trösten konnte. “Gern. Wie wäre es am nächsten Wochenende?”

“Am Samstag vielleicht?” Stormy lächelte sie unter Tränen an, und Mae fiel wieder auf, wie schön sie war. Ob Armand wirklich entschlossen gewesen war, sie wegen Barbara Ross zu verlassen? Es war kaum vorstellbar. “Es würde mir bestimmt guttun”, fuhr Stormy fort. “Wollen wir ins ‘Levee’ gehen? Ich liebe dieses Restaurant.”

“Ja gern, ich mag es auch.” Mae überschlug im Kopf rasch die Kosten, die sie auf sich zukommen sah, denn das “Levee” war nicht gerade billig.

“Warum sind Sie denn hergekommen?”

Mae überlegte blitzschnell. “Hm, ich …” Stormy zu erzählen, dass sie einen Detektiv angeheuert hatte, um Armands Tagebuch zu finden, wäre sicherlich kein besonders kluger Schachzug. “Ich habe nur etwas gesucht.”

“Wer ist denn der Typ?”

Mae zwinkerte, als verstünde sie nicht ganz.

“Der Typ, mit dem Sie hier sind. Er ist süß.” Stormy krauste kokett ihre hübsche Nase.

“Süß?” Mae starrte sie an. “Mitch?”

Stormy nickte. “Wie ein Teddybär. Gehört er Ihnen?”

“Hm, nein. Ich habe ihn nur engagiert.”

“Engagiert? Wofür?”

“Um Armands letztes Tagebuch zu finden. Wir dachten, es sei möglicherweise hier.”

“Nun, das ist es offensichtlich nicht”, schaltete sich Mitch vom Torbogen her ein. “Jedenfalls ist hier nichts zu finden, wie es den Anschein hat.”

Stormy drehte sich nach ihm um und lächelte ihn an. “Das hätte ich Ihnen gleich sagen können. Oben sind nur noch ein paar Kleinigkeiten, Harold hat schon alles zusammengepackt und mitgenommen.” Als Mitch zu ihr trat, streckte sie ihm die Hand hin. “Ich bin Stormy.”

“Hi. Ich bin Mitch. Kennen Sie vielleicht jemanden, der ein Interesse an Armands Tod gehabt haben könnte?”

Stormy riss die Augen auf. “Wollen Sie damit sagen, er sei ermordet worden?” Sie schnappte nach Luft. “Das ist absurd. Er war hier, als er starb. Ich war bei ihm. Er ist in meinen Armen gestorben.” Bei ihren letzten Worten begann sie wieder zu schluchzen und sank wie ein schutzsuchendes kleines Tier an Maes Schulter. “Ich habe ihn geliebt”, stieß sie hervor. “Und niemand glaubt mir. Alle sind überzeugt davon, ich sei nur hinter seinem Geld her gewesen. Dabei habe ich ihn so sehr geliebt.”

Mae tätschelte wieder ihre Hand. “Ich glaube Ihnen.”

Es dauerte noch einige Zeit, bis es ihr schließlich gelungen war, Stormy zu beruhigen, und nachdem sie sich mit ihr für den Samstag verabredet hatte, brachen Mae und Mitch schließlich auf.

4. KAPITEL

Tief in Gedanken versunken, händigte Mae Mitch wie versprochen den Wagenschlüssel aus und setzte sich schweigend neben ihn, während er den Motor anließ.

“Ist etwas?”, erkundigte er sich und setzte aus der Parklücke zurück.

“Ich muss nur an Stormy denken.”

“Machen Sie keine Witze.” Er gab Gas. “Die Frau ist irgendwie komisch. Was für einen IQ hat sie? Zwölf?”

“Ach, sie ist nur vollkommen durcheinander”, nahm Mae Stormy großzügig in Schutz, wobei sie sich bemühte, sich ihre Genugtuung darüber, dass Mitch Stormy offensichtlich nicht gerade überwältigend fand, nicht anmerken zu lassen.

“Mir kommt überhaupt alles ziemlich komisch vor”, fuhr Mitch fort. “Warum hat Armand ihr eine andere Wohnung gekauft, wenn sie doch in dieser hier wohnen konnte?”

Mae musste ihm beipflichten. “Aber das ist nicht das einzig Komische. Können Sie mir vielleicht erklären, warum ein Mann fremdgeht, wenn er eine Frau wie Stormy hat?”

“Sicher. Das ist ganz einfach.” Mitch bog auf die Hauptstraße ab. “Weil er ein Mann ist.”

Mae spürte Ärger in sich aufsteigen. “Nicht alle Männer gehen fremd.”

“Fast alle.”

Mae starrte ihn an. “Basiert diese tiefschürfende Erkenntnis auf persönlichen oder beruflichen Erfahrungen?”

Mitch warf ihr einen herablassenden Blick zu. “Seien Sie nicht gleich beleidigt, nur weil ich die Wahrheit sage und sie Ihnen nicht passt. Männer betrügen eben ihre Frauen. Das ist biologisch bedingt.”

“Ein Muss sozusagen”, schob Mae nach. “Liegt am Testosteron, stimmt’s?”

“Teilweise zumindest. Hauptsächlich aber ist’s wohl deshalb, weil ein Mann einfach wissen muss, was hinter dem nächsten Hügel ist. Deshalb haben Männer die Weltmeere überquert, Pipelines gelegt und Neuland erobert.”

“Aha, und Onkel Armand musste also Stormy betrügen, weil es keinen neuen Kontinent mehr zu entdecken gibt?”, erkundigte sich Mae spitz, was Mitch veranlasste, ihr einen wachsamen Blick zuzuwerfen.

“Vielleicht sollten wir das Thema nicht weiter vertiefen.”

“Aber warum denn nicht?”, fragte Mae unschuldig.

“Ich weiß wirklich nicht, warum sich Frauen darüber immer so aufregen.” Mitch schüttelte verständnislos den Kopf. “So sind Männer eben. Es liegt nicht in ihrer Natur, sich festzulegen.”

“Und warum ist das so?”, stieß Mae zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Mitch bog auf die Straße ab, die zu dem vornehmen Viertel führte, in dem Mae wohnte. “Okay, nehmen wir mal an, ich sei verheiratet.” Er warf Mae einen finsteren Blick zu. “Was ich selbstverständlich nie sein werde, weil ich nicht an die Ehe glaube und weil es einfach noch viel zu viele Bibliothekarinnen gibt, die ich noch nicht geküsst habe. Aber jetzt nur mal so als Annahme, also, ich bin verheiratet.”

Mae presste die Lippen aufeinander und lehnte sich zurück.

“Ich habe eine schöne, intelligente Frau mit aufregenden langen Beinen und den perfektesten Brüsten der Welt. Ich meine wirklich perfekte Brüste – hoch, rund, voll.” Er nahm eine Hand vom Steuerrad und machte die entsprechende Geste. “Fest. Brüste, die wippen, nicht hängen, wenn Sie verstehen, was ich meine.”

Mae hob eine Augenbraue. “Sie scheinen ja schon viel darüber nachgedacht zu haben.”

“Himmel, nein. An so etwas denke ich niemals. Wo war ich stehen geblieben?”

“Bei den wippenden Brüsten.”

“Richtig. Also, ich bin mit einer perfekten Frau mit perfekten Brüsten verheiratet, aber dann sehe ich eine andere Frau, irgendwo auf der Straße vielleicht.”

Vor Maes geistigem Auge erstand eine Frau in einem blauen Kleid an einer Straßenecke. Ein Windstoß fegt über sie hinweg und presst ihr das Kleid so eng an den Körper, dass ihre Kurven deutlich hervortreten. “An einer Straßenecke.”

“Richtig. Sie hat eine ganz nette Figur, die natürlich nicht so perfekt ist wie die von meiner Frau, aber immerhin ganz passabel. Ihre Beine sind zwar nicht so atemberaubend, und sie ist nicht gerade eine Schönheit, aber sie hat etwas Anziehendes.”

“Und?”

“Ich will ihre Brüste sehen.”

“Warum?”, fragte Mae. “Ich dachte, Sie hätten gesagt, dass Ihre Frau die schönsten …”

“Ja, aber die kenne ich bereits. Ich will die von der anderen Frau sehen.”

“Auch wenn sie nicht so schön sind.”

“Ganz recht.”

Mae dachte einen Moment nach. “Angenommen, es stellt sich raus, dass Ihre attraktive Unbekannte ein Playmate ist. Würde es Ihnen reichen, sich einfach nur den ‘Playboy’ zu kaufen?”

“Nein.”

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