Ein Sommerhaus in Cornwall

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Pippa hat alle Hände voll zu tun, seit sie nach dem Tod ihrer Eltern deren Farm, die Ferienhausvermietung und die Verantwortung für ihre jüngeren Geschwister übernommen hat. An ein Date hat Pippa schon seit Langem nicht einmal mehr gedacht. Doch dann spaziert Ben Retallick auf den Hof und fragt nach einer Unterkunft, und sofort ist Pippa klar: Für diesen Mann lohnt es sich definitiv, die Gummistiefel wieder einmal gegen etwas Schickeres zu tauschen und vielleicht sogar eine Sommerromanze zu riskieren. Doch Bens Vergangenheit droht sie einzuholen, und Pippa muss ihre Gefühle in den Griff bekommen.

»Ein pures Vergnügen« Sunday Express

»Dieses Buch hat alles, was ein perfekter Urlaubsroman braucht: die wunderschöne Küste Cornwalls, eine Familien-Farm und einen geheimnisvollen Mann mit unwiderstehlichem Charme« Yours Magazine


  • Erscheinungstag 02.05.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783745750096
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. Kapitel

»Heiß siehst du heute aus, Baby«, sagte Pippa Harte laut zu sich selbst, als sie aus dem Augenwinkel einen Blick auf ihr Ebenbild im Badezimmerspiegel erhaschte.

Zumindest, dachte sie spöttisch, wenn man unter »heiß« die Kombination von achtlos zusammengebundenem, zerzaustem Haar, Ölschlieren als Rouge und einem Parfum aus WD-40-Kontaktspray versteht. Nicht zu vergessen natürlich die glamourösen Accessoires – ellenbogenlange grüne Gummihandschuhe, frisch vom Pariser Laufsteg. Oh, là, là!

In der Hand hielt sie eine Toilettenbürste, deren Borsten in eine Plastiktüte vom Supermarkt gehüllt waren, die Griffe der Tüte hatte sie in einer lose baumelnden Schleife um den Stiel gebunden.

»Das klappt doch nie«, murmelte Pippa, während sie auf die Toilettenschüssel hinunterstarrte. Die sehr verstopfte Toilettenschüssel. Das Wasser stand bereits bis zum Rand, und ein weiteres Drücken des Spülknopfs würde es mit ziemlicher Sicherheit darüber hinaus ansteigen lassen. Pippa wusste aus Erfahrung, dass derartig gewagte Klempner-Manöver das Potenzial besaßen, Szenen vom Untergang der Titanic nachzustellen.

Aber nicht dieses Mal, sagte sie sich. Dieses Mal würde sie triumphieren – indem sie ihr wissenschaftliches Know-how nutzte, um die tückische Toilette des Todes zu bezwingen. Entschlossen versenkte sie die Toilettenbürste in der Schüssel und schob sie, soweit es ging, in die U-förmige Biegung des Rohrs. Erzeugen Sie ein Vakuum, wiederholte Pippa gedanklich die Worte aus dem Internetvideo, dann wird die Natur es füllen …

Sie sandte ein Stoßgebet zum Schutzheiligen der Ferienhausbesitzer und drückte den Spülknopf, während sie gleichzeitig energisch die Toilettenbürste aus der Schüssel zog. Sie wich schnell zurück, darauf gefasst, sich vor den Sturzfluten in Sicherheit zu bringen. Erleichtert sah sie, wie das Wasser erst anstieg, dann aber abebbte und schließlich in einem Strudel im Abflussrohr verschwand.

»Yay!«, schrie sie begeistert und hüpfte ausgelassen durch das Zimmer und nach draußen in den Flur von Honeysuckle Cottage, wie sie das kleine, typisch englische Ferienhäuschen getauft hatte. »Ich habe es geschafft! Ich bin die Beste! Ich habe ein Vakuum erzeugt! Yay! Danke, Youtube!«

In ihrer Begeisterung entgingen ihr gleich zwei Dinge: die winzigen Wassertröpfchen, die von der Plastiktüte um die Toilettenbürste durch die Gegend spritzten, während sie tanzte, und der Mann, der draußen im Flur gestanden und ihr zugesehen hatte. Pippa hüpfte geradewegs in ihn hinein und ließ vor Schreck die Bürste fallen. Mit einem feuchten Klatschen landete sie direkt auf seinen teuer aussehenden Wanderstiefeln. Ups!

»Oh!«, rief sie aus und trat überrascht einen Schritt zurück. »Es tut mir leid … machen Sie sich keine Sorgen, es war sauberes Wasser …«, fügte sie hinzu, während sie das unappetitliche Objekt mit ihren Gummistiefeln beiseitekickte. »Nicht wie beim letzten Mal … das war, na ja, eklig. Das wollen Sie gar nicht wissen, denke ich …«

Mit einem breiten Grinsen auf dem ölverschmierten Gesicht sah sie auf – in diesem Moment würde nichts ihre Laune verderben, hatte sie beschlossen. Nicht, nachdem gerade ein kleines Wunder geschehen war. Und tatsächlich konnte auch nichts von dem, was sie jetzt vor sich sah, ihr die Überzeugung nehmen, dass der Schutzheilige der Ferienhausbesitzer sie diesmal erhört hatte – der Mann, der vor ihr stand, war atemberaubend. Etwa 1,85 groß; breite Schultern unter einer kakifarbenen Windjacke; lange, schlanke Beine in einer Jeans und die tiefsten braunen Augen, die sie jemals bei einem Menschen gesehen hatte. Nicht einmal die Milchkühe auf der Weide, die sie sehr gut kannte, konnten da mithalten. Volle, schöne Lippen und dunkles Haar, das ihm in das wettergegerbte Gesicht fiel, noch feucht vom Nieselregen draußen. Oder möglicherweise von der Toilettenbürste, dachte sie und zuckte schuldbewusst zusammen. Willkommen in Cornwall.

»Sind Sie Mr. Retallick?«, fragte Pippa. Sie kannte den Namen jedes Gastes, den sie erwartete. Dieser war etwas zu früh dran, aber davon würde sie sich nicht den Tag vermiesen lassen. Nicht, nachdem die Toilettengötter so gnädig mit ihr gewesen waren.

»Bin ich – ich hoffe, es ist in Ordnung, dass ich einige Stunden früher hier bin als geplant? Sie scheinen mit einer Art … Party beschäftigt zu sein«, antwortete er und deutete zum Badezimmer. Seine Stimme war tief und hörte sich so an, wie Schokolade klingen würde – vorausgesetzt, sie könnte sprechen.

»Ja, das ist eine unserer Lieblingsbeschäftigungen hier, Badezimmer-Partys. Je mehr, desto besser, Mr. Retallick. Sie sind herzlich eingeladen!«

Pippa rieb sich mit den Händen durchs Gesicht, und ihr wurde bewusst, dass ihr verführerischer Unterton erheblich wirkungsvoller wäre, wenn sie nicht aussähe wie eine Kfz-Mechanikerin. Die Latzhose, die sie trug, mochte praktisch sein, wenn sie die Arbeit auf dem Hof erledigte, aber sie war nicht unbedingt das, was man besonders schick nennen würde. Mr. Retallick hingegen – Ben, wenn sie sich recht entsann – sah schick aus. Nach Geld. Nach Stil. Nach Sex-Appeal. Er würde ein Mädchen wie sie keines zweiten Blickes würdigen, unabhängig davon, wie überragend ihre Heimwerker-Fähigkeiten waren.

»Ich habe nur meinen Sieg gefeiert«, erklärte sie. »Dank meines überlegenen Intellekts habe ich die bösartige Toilette besiegt.«

»Sie feiern die Tatsache, dass Ihr Intellekt dem einer Toilette überlegen ist?«, fragte er, während er seinen Rucksack zu Boden gleiten ließ, und hob belustigt eine Braue.

»Tja, wir Mädchen vom Land müssen unsere Siege eben feiern, wie sie fallen, Mr. Retallick … Retallick … das ist ein Name aus der Gegend, oder?« Es schien zwar nicht sehr wahrscheinlich, dass jemand aus dem Norden Cornwalls seinen Urlaub in einem Ferienhaus im Norden Cornwalls verbrachte, aber es waren schon merkwürdigere Dinge passiert. Vielleicht hat seine Frau ihn hinausgeworfen, überlegte Pippa und linste verstohlen auf seinen Ringfinger. Den nackten Ringfinger – nicht, dass sie das in irgendeiner Weise interessierte.

»Ja, ich hatte hier Familie«, erwiderte Ben Retallick. »Vor langer Zeit.«

Obwohl er ebenso höflich war wie zuvor, verriet ihr etwas in seiner Stimme, dass sie das Thema auf sich beruhen lassen sollte. Was Pippa nicht im Geringsten störte – sie konnte nur zu gut nachvollziehen, wie kompliziert Familien manchmal waren. Ihre eigene beispielsweise war derart seltsam, dass man problemlos eine Sitcom über sie drehen könnte. Viele Gäste kamen auf der Suche nach Ruhe, Abgeschiedenheit und Frieden zur Harte-Farm. Was eine gute Entscheidung war, denn die Farm lag auf einem stürmischen Hügel mit direktem Blick auf die tosenden Fluten des Atlantischen Ozeans. Nicht unbedingt der Ort für ein reges Nachtleben. Wenn Mr. Retallick also seine Ruhe haben wollte, dann würde sie das respektieren. Selbst wenn er geradezu verboten heiß war.

»Wie läuft es dort drinnen?«, fragte er und machte eine Geste in Richtung der offenen Badezimmertür, wo noch immer verschiedene Werkzeuge auf den schwarz-weißen Fliesen verstreut lagen. Nicht gerade der beste erste Eindruck, dachte Pippa, während sie die Werkzeuge hastig einsammelte und in der alten metallenen Kiste ihres Vaters verstaute. Andererseits musste man mit so etwas rechnen, wenn man zwei Stunden vor der vereinbarten Zeit auftauchte. Hinter der Fassade jedes noch so idyllischen Bilderbuch-Ferienhauses lauerte eine potenzielle Klempner-Katastrophe – für deren Behebung Pippa keinen Fachmann bezahlen konnte.

»Es könnte gar nicht besser laufen«, versicherte sie ihm und wischte sich die öligen Hände an der Latzhose ab.

»Ich bin Pippa Harte, willkommen auf unserer Farm. Ich würde Ihnen ja die Hand geben, aber …«

»Ich will nicht wissen, wo sie vorher war?«, beendete er ihren Satz. Er verzog keine Miene, aber seine Stimme klang belustigt. Einer von der Sorte also, dachte Pippa. Eher trockener und bissiger Humor als lautstarkes Losprusten. Diese Sorte mochte sie. Oder hatte sie gemocht, als sie sich noch mit solchen Dingen beschäftigt hatte.

»Na ja, ich denke, Sie wissen ziemlich genau, wo sie vorher war – das ist ja das Problem! Sie wollten eine Woche bleiben, richtig, Mr. Retallick? Wundervolles Wetter haben Sie mitgebracht!«

Das war offensichtlich ein Scherz, denn seit zwei Stunden ergoss sich draußen ein ununterbrochener Nieselregen, der von den orkanartigen Böen gegen die Fensterscheiben gepeitscht wurde. Viele Gäste hätten sich beschwert – vor allem solche, die aus der Stadt kamen und zu denken schienen, dass es auf dem Land nichts als strahlenden Sonnenschein gab. Aber Mr. Retallick zuckte bloß mit seinen anbetungswürdigen Schultern und brummte etwas wie: »Das kann man wohl nicht ändern.«

Pippa starrte ihn an, während er seine Jacke auszog, und fragte sich, ob sie ihm schon einmal begegnet war. Es lag nicht nur an seinem für Cornwall so typischen Namen – auch sein Gesicht kam ihr bekannt vor. Besonders die Augen. Sie waren ziemlich unverwechselbar, und Pippa beschlich das Gefühl, dass sie heute nicht zum ersten Mal in diese Augen gesehen hatte.

»Kennen wir uns?«, fragte sie ihn. »Sie kommen mir bekannt vor …«

Ebenso schlagartig wie ein Sturm, der vom Meer heraufzieht, änderte sich sein Gesichtsausdruck, und tiefe Furchen bildeten sich auf seiner Stirn. Pippa spürte, dass ihr eine heftige verbale Erwiderung bevorstand, und bereitete sich darauf vor. Seit drei Jahren kümmerte sie sich fast allein um das Ferienhaus und hatte in dieser Zeit gelernt, mit allen möglichen Arten von eigenartigen Besuchern und ihren Marotten umzugehen.

Gerade, als er den Mund öffnete, um etwas zu sagen, flog die Haustür auf, und Daisy kam hereingeprescht, wobei ihre blonden Locken in alle Richtungen flogen. Wie erwartet folgte Lily ihr, nicht weniger aufgebracht, direkt auf dem Fuß.

»SpongeBob ist schon wieder entwischt«, kreischte Daisy. »Sie …«

»… macht überall ihre Haufen hin!«, kam Lily ihr zuvor. Die beiden waren eineiige Zwillinge, neun Jahre alt, und schienen nicht in der Lage zu sein, allein einen vollständigen Satz zu formulieren. Was aber immer noch ein Fortschritt gegenüber der Geheimsprache war, in der sie bis zu ihrem siebten Lebensjahr kommuniziert hatten. Pippa war kurz davor gewesen, einen Exorzisten zu rufen, als die beiden plötzlich und unerwartet damit aufgehört hatten. Obwohl sie die Mädchen noch hin und wieder nachts in ihrem Schlafzimmer unverständliche Dinge brabbeln hörte. Aber solange ihre Köpfe nicht auf einmal begannen, sich zu drehen, war sie zufrieden.

»Oh … Bockwurst!«, rief Pippa, hechtete über Mr. Retallicks Rucksack hinweg und sprintete durch die Tür hinaus in den Innenhof. Sofort sah sie SpongeBob – das passierte, wenn man Kindern erlaubte, einen Namen für eine Kuh auszusuchen –, die seelenruhig an den Hortensien knabberte. Die Kuh sah auf, als Pippa auf sie zukam – in seinem breiten Maul zermalmte das Tier gemächlich ein Hortensienblatt und blickte Pippa durch die langen Lider aus feuchten Augen friedfertig an. Zumindest würde der ungeübte Betrachter das meinen. Aber Pippa hatte sich schon zu oft mit SpongeBob herumschlagen müssen, um sich dadurch in die Irre führen zu lassen.

»Daisy, Lily! Jeder auf eine Seite!«, befahl sie. »Scotty – ich weiß, dass du hier irgendwo bist. Mach das Tor auf!«

Auf ihr Zeichen kam ein kleiner Junge, der etwa vier Jahre alt war und dasselbe lange blonde Haar hatte wie die Zwillinge, hinter dem hübschen alten Wassertrog hervor und lief hinüber zu dem großen Metalltor, wo er sich auf Zehenspitzen stellte und das blaue Nylonband löste, das es geschlossen hielt.

Pippa arbeitete sich langsam zu SpongeBob vor, wobei sie über deren dampfende Hinterlassenschaften auf den Pflastersteinen hüpfte und unablässig die abgewandelten Schimpfworte murmelte, die sie vor den Kindern benutzte – Variationen von »Scheibenkleister«, »Kakadu«, »Astloch« und ihrem persönlichen Favoriten: »Gruselgrütze!« Aus dem Augenwinkel sah sie Mr. Retallick nach draußen und auf sie zukommen. »Lassen Sie sich nicht täuschen! Sie sieht vielleicht harmlos aus, aber das hier ist der Osama bin Laden der Kühe! Halten Sie sich lieber fern!«

Er nickte, tat dann aber das Gegenteil und ging hinüber zum Tor, neben dem noch der Futtereimer stand, der bei SpongeBob angesichts der Hortensien zeitweise in Vergessenheit geraten war. Dann hob er den Eimer hoch und schlug mit der Faust dagegen, sodass es im Inneren hörbar rasselte. SpongeBob hob den gewaltigen Kopf und drehte ihn langsam in Richtung des Lärms. Ihre Augen verengten sich – da war Pippa sich absolut sicher –, während sie nachdachte und die Vor- und Nachteile in ihrem großen Kuhhirn gegeneinander abwägte.

Mr. Retallick schüttelte den Futtereimer noch einmal, diesmal kräftiger, und ging durch das Tor hindurch auf den Stall zu. Zur gleichen Zeit näherte sich Pippa der Kuh immer weiter und versuchte, sie sanft in die richtige Richtung zu scheuchen. Daisy und Lily nahmen sie von beiden Seiten in die Zange, und Pippa konnte sehen, wie sich ihre kleinen blonden Köpfe in SpongeBobs riesigen glänzenden Augen widerspiegelten. Sie klopften der Kuh auf die Seite, und Pippa versetzte ihr von hinten einen leichten Klaps, immer auf der Hut vor ausschlagenden Hufen oder einem wedelnden Schweif, der einen ins Auge treffen konnte, falls das Tier doch wütend werden sollte.

Schließlich zeigte der Köder Wirkung, und SpongeBob setzte sich langsam in Bewegung. Nach einem letzten trotzigen Biss in die leuchtend pinken Hortensienblüten. Eine der Blüten hing ihr noch immer aus dem Maul, als sie durch das Tor trottete.

»In den Stall!«, rief Pippa und sah zu, wie ihr verfrühter Gast mit großen Schritten den matschigen Pfützen auswich und das bösartige Kuh-Genie mit sich lockte. Er verpasste dem Tier einen Klaps auf die Flanke, als es durch die Stalltür marschierte. SpongeBob drehte sich um und warf ihm einen ihrer bösartigen Blicke zu, den Mr. Retallick erwiderte, bevor er die Stalltür schloss.

Dann stemmte er die Hände in die Hüften, warf den Kopf in den Nacken und fing an zu lachen. Er lachte laut und schallend. Fasziniert starrte Pippa ihn an und genoss den Anblick dieses Prachtexemplars von einem Mann, das hier auf ihrem Hof im Regen stand. Ein Tropfen lief aus seinem durchnässten Haar über seine Stirn, dann über den leicht gebogenen Rücken seiner Nase bis hinunter zu dem sinnlichen Schwung seiner Lippen. Er war in der Tat zum Niederknien. Und als wäre das noch nicht genug, schien er auch noch zu wissen, wie man mit Kühen umging. Wow! Der perfekte Mann. Na gut, wenn er jetzt auch noch Schuluniformen bügeln und sich nach dem Sex in eine Pizza verwandeln konnte, dann wäre er wirklich perfekt.

Die Kinder pirschten sich an Pippa heran und musterten den Neuankömmling ebenso neugierig wie sie. Scotty klammerte sich aus Sicherheitsgründen an ihrer Hand fest. Die Zwillinge kannten keine Angst, aber der Kleinste? Er brauchte immer ein bisschen mehr Geborgenheit als die Mädchen. Womit Pippa kein Problem hatte. Solange er nicht mit sechzehn Jahren noch zu ihr ins Bett krabbeln wollte, wenn er einen Albtraum hatte, würde sie immer gern seine Hand halten.

»Vielen Dank, Mr. Retallick«, sagte sie. »Wie ich sehe, haben Sie schon einige Erfahrungen mit Kühen gemacht?«

»Dazu könnte ich Ihnen die eine oder andere Geschichte erzählen, Miss Harte, aber ich werde mich zusammenreißen. Es war mir ein Vergnügen. Ist schon ein Weilchen her, dass ich das letzte Mal ein Friesisches Rind aus der Nähe gesehen habe. Das hier war einmal eine Milchfarm, oder?«

»Ja. 500 Kühe. Aber meine Eltern … sind nicht mehr hier. Jetzt gibt es nur noch uns. Also haben wir die Farm in Ferienwohnungen umgebaut. Ein Bauernhof ist eine Menge Arbeit. Zu viel Arbeit für diese Bande von Unruhestiftern.«

»Mit ›uns‹ meinen Sie …« Er ließ den Blick seiner unheimlich attraktiven braunen Augen über die versammelte Gruppe schweifen, die jetzt aus Pippa, Daisy, Lily, Scotty, einer Ziege namens Ben Ten und einem Paar Moschusenten, die Phineas und Ferb hießen, bestand. Tatsächlich waren die Bewohner des Hofs vollzählig – bis auf eine Person. Wie immer.

»Ja. Uns. Das hier sind mein Bruder, meine Schwestern und unsere tierischen Freunde«, antwortete Pippa und stellte jeden einzeln vor. »Und einer fehlt noch. Patrick. Er ist siebzehn und versteckt sich vermutlich irgendwo, nachdem er die Stalltür offen gelassen hat.«

»Schon wieder!«, kommentierten die Zwillinge unisono und verdrehten die Augen auf eine Art, die Bände über Patrick und seine zahlreichen Fehltritte sprach.

»Sie sind verantwortlich für die … alle?«, fragte Ben Retallick ungläubig und runzelte die Stirn, als er dieses Mädchen mit dem ölverschmierten Gesicht und den blonden Korkenzieherlocken, die sich aus dem Haargummi befreit hatten, in ihrer durchnässten Latzhose vor sich stehen sah.

Er konnte kaum glauben, dass sie die Glucke für diese ganze Brut spielte. Sie selbst sah kaum älter als achtzehn aus, was ihm seit seiner Ankunft schon einige Gewissensbisse verursacht hatte. Als er sie bei seiner Ankunft über die Toilette gebeugt gesehen hatte, den Hintern in die Höhe gestreckt, hatte er sofort bemerkt, dass sie unter dieser Latzhose nichts weiter trug als ein abgewetztes pinkes T-Shirt. Seitdem hatte er sein Bestes gegeben, nicht darauf zu achten, wie eng es war – oder darauf, dass sie keinen BH trug. Es war nicht einfach gewesen, den Blick abzuwenden. Aber er hatte schon mit genug Selbsthass zu kämpfen, ohne dass er noch das Verlangen nach einem Teenager zur Liste hinzufügen musste. Jetzt schien es, als hätte er sich geirrt – sicherlich war sie schon etwas älter, als er gedacht hatte, wenn sie all diese Verantwortung auf ihren schmalen Schultern trug?

»Ja, Mr. Retallick«, sagte sie nachdrücklich und richtete sich zu ihrer vollen Größe auf – was in den uralten Gummistiefeln gut ein Meter sechzig war – und durchbohrte ihn mit ihren Blicken. »Ich bin in der Tat verantwortlich für ›die … alle‹. Wir leben zusammen in einem alten Haus oben auf dem Hügel. Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Sie dürfen sich jetzt gerne ins Honeysuckle Cottage zurückziehen und Ihre Sachen auspacken.«

Ihr Tonfall hatte sich drastisch geändert. Die humorvolle und freche Art von zuvor war verschwunden, stattdessen klang sie jetzt misstrauisch und zurückhaltend. Und mächtig eingeschnappt. Ohne es zu wollen, hatte er sie wütend gemacht – das musste seine Spezialität sein. Er erschauderte. Nicht aus Angst, sondern aus … Bewunderung, dachte er. Das war es. Diese zierliche kleine Frau, die dem Aussehen nach beinahe selbst noch ein Kind war, steckte voller Stolz, Energie und Beschützerinstinkt. Er hatte mit einem Stock nach ihrer Familie gestochen, und jetzt war sie bereit, ihm diesen Stock dorthin zu schieben, wo die Sonne nicht schien. Was, überlegte er, während er sich auf dem Hof umsah, zurzeit wohl auf jeden Ort in Cornwall zutrifft.

»In Ordnung. Das mache ich«, antwortete er. »Bis später, Pippa, Daisy, Lily, Scotty, Ben Ten, Phineas und Ferb. Richtet Madame SpongeBob meine Grüße aus.«

Er nickte jedem Einzelnen zu, drehte sich dann um und ging davon. Pippa fühlte, wie ihre Wut langsam nachließ und leichter Verärgerung wich. Er hatte sich tatsächlich alle Namen gemerkt. Selbst die der Tiere. Das hatte sie zuvor noch nie erlebt, selbst sie vergaß sie ab und zu und musste sich mit »Du da, mit den Federn!« oder »Ey! Kleiner Junge!« behelfen.

Vielleicht ist er doch nicht so schlimm, dachte sie. Vielleicht ist er ja bloß einer dieser Menschen, die unbewusst unhöflich sind und es noch nicht einmal merken. Aber eventuell, gestand sie sich ein, bin ich auch einer dieser Menschen, die unbewusst gereizt reagieren und nicht merken, dass sie sofort in die Defensive gehen. Sie hatte über die Jahre einiges verteidigen müssen, und wenn es um die Kinder und ihre Fähigkeit, sich um sie zu kümmern, ging, war sie besonders empfindlich. Aber nichts davon war die Schuld ihres großen, hübschen Gastes mit dem Händchen für Kühe.

Also lief sie ihm hinterher, wobei ihre Gummistiefel im Matsch quietschten.

»Warten Sie!«, rief sie und griff nach seinem Arm, damit er stehen blieb. »Woher kenne ich Sie? Wirklich. Sie kommen mir so bekannt vor …« Während sie sprach, bemerkte sie, dass sein Arm sich ebenso stark und zäh anfühlte wie die Eichen, die die Einfahrt des Hofes säumten. Er sah nach Stadt aus, aber er fühlte sich nach Land an. Er fühlte sich gut an.

Sofort bemerkte Pippa, wie seine Miene verschlossen wurde und sein Blick hinunter zu ihren Fingern auf seinem Arm wanderte. Er zog vielsagend die Augenbrauen hoch, und es war klar, was er damit sagen wollte: Finger weg, Astloch.

Ben seufzte und sah zu, wie sich ihre Hand von seinem Arm löste. Sie war also doch wie alle anderen. Eine weitere Fremde, die dachte, dass sie ihn kannte. Zwar hatte sie noch nicht alle Puzzleteile zusammengesetzt, aber in wenigen Minuten würde sie zweifellos das Gesicht mit dem Namen verknüpfen, mit der Geschichte, der Legende. Und dann würde sie überzeugt sein, ihn genau zu kennen. Das waren sie alle.

Er spürte wieder das ihm so vertraute Gefühl der Frustration in sich aufsteigen. Über ein Jahr war vergangen, seitdem er aus dem Gefängnis entlassen worden war, aber noch immer kamen die Leute auf der Straße zu ihm. Sie sprachen ihn an, berührten ihn, ohne um Erlaubnis zu bitten, klopften ihm auf den Rücken und versuchten, ihm die Hand zu schütteln. Manche gratulierten ihm und behandelten ihn wie einen Helden, weil er acht Monate im Scorton-Gefängnis überstanden hatte. Er hasste es. Die fehlende Privatsphäre, die Fotos in den Zeitungen – es kam ihm vor, als kannte die gesamte Öffentlichkeit sein ganzes Leben. Genau aus diesem Grund war er hergekommen – zurück in diesen entlegenen Landstrich an der Küste Cornwalls, wo es mehr Kühe als Menschen gab und das Internet bestenfalls unzuverlässig war. Er hatte auf eine Woche in totaler Abgeschiedenheit gehofft, ohne von neugierigen Blicken verfolgt zu werden oder von völlig Fremden aufgefordert zu werden, ihnen seine Lebensgeschichte zu erzählen. Aber ihm wurde wieder einmal bewiesen, was er vorher schon wusste: Selbst hier draußen war sein Gesicht noch bekannt.

Pippa musterte ihn gründlich und rieb sich über die Wangen, wobei sie die Ölstreifen noch tiefer in ihre samtige Haut einmassierte. Mit ihren riesigen kornblumenblauen Augen war sie wahrhaft eine englische Rose. Falls englische Rosen es inzwischen nicht mehr als notwendig erachteten, Unterwäsche zu tragen … und gerade in einen Kuhfladen getreten waren.

Er wartete noch wenige Augenblicke darauf, dass sie ihn erkannte, und sah, wie sich Überraschung auf ihrer Miene ausbreitete, als ihr schließlich klar wurde, wer da vor ihr stand. Halb so wild, dachte er sich. Er könnte noch heute Abend gehen, einen noch entlegeneren Ort als diesen finden. Irgendeinen Ort, an dem man ihn nicht erkennen würde. Einen Ort, an dem man ihn nicht sofort als den bekanntesten Knasti des Vereinigten Königreichs identifizieren würde. Und wo er niemanden traf, der davon überzeugt war, ihn zu kennen und seine Geschichte zu verstehen.

Dann zeigte Pippa mit dem Finger auf ihn. »Du! Ich hab’s!«, rief sie triumphierend. »Du bist der Mistkerl, der mich in den Ententeich geworfen hat, als ich sieben war!«

2. Kapitel

Ben starrte sie fassungslos an und fragte sich, ob er in ein Kaninchenloch gefallen und in einem Paralleluniversum gelandet war. Okay. Sie hatte ihn tatsächlich erkannt – aber nicht auf die Art, die er vermutet hatte. Sie hatte keine Ahnung, wer Ben Retallick wirklich war, hatte nie von seinem Fall gehört oder von Darren McConnell. Und sie hatte ganz offensichtlich auch keine Ahnung, dass er einer der berühmtesten Verbrecher des Landes war. Ben war sich sicher gewesen, dass sie wie all die anderen sein würde – und ihn ausquetschen würde, ihn provozieren würde und ihn mit dieser typischen Mischung aus Angst und Bewunderung ansehen würde.

Tja … er hatte sich geirrt. Offenbar beschuldigte sie ihn eines sehr viel früheren Verbrechens. Eines Verbrechens, an das er sich nicht einmal mehr erinnerte. Vielleicht hatte er es sich ja schon zu eigen gemacht, von vornherein nur mit dem Schlimmsten zu rechnen.

»Es ist schon ewig her – vierzehn Jahre oder so –, aber ich weiß genau, dass du es warst. Leugnen ist zwecklos!«, verkündete sie und hüpfte vor Aufregung auf und ab. Wieder vermied er es um jeden Preis, einen Blick auf ihren Oberkörper zu werfen. Sollte er sich nicht verrechnet haben, müsste sie jetzt einundzwanzig Jahre alt sein, aber auch das war noch mehr als ein Jahrzehnt jünger als er. Es wäre immer noch … falsch. Darüber hinaus hatte er sein Bestes gegeben, sich seit seiner Entlassung prinzipiell von Frauen fernzuhalten. Seitdem Johanna und ihre Familie ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben hatten, dass sie mit einem dahergelaufenen Ex-Knacki nichts zu tun haben wollten, egal, wie gerechtfertigt seine Taten gewesen waren. Johanna – mit der er verlobt gewesen war, als sich der Vorfall ereignete, der sein Leben für immer verändert hatte – hatte sich ebenso schnell in Luft aufgelöst wie seine Karriere. Inzwischen war sie, hatte er gehört, mit einem Firmenanwalt aus Abu Dhabi verlobt. Viel Glück dabei. Auch für den armen Kerl, er würde es dringend brauchen.

»Es tut mir leid, aber ich bin mir nicht sicher, wovon Sie reden«, antwortete er und zwang sich, seine Konzentration wieder auf das Hier und Jetzt zu lenken und auf Pippa. Einen Moment lang fragte er sich, ob sie bei ihrer Klempner-Aktion versehentlich zu viel Klebstoff eingeatmet haben könnte.

Empört stach sie ihm einen Finger in die Brust – stark genug, um ihn einen Schritt zurückweichen zu lassen.

»Natürlich bist du das! Du weißt es genau! Das war vor Ewigkeiten, und du warst hier mit deinem … Großvater, glaube ich. Stimmt das? Er hatte mit meinem Dad irgendwelche geschäftlichen Dinge zu regeln, und ihr wart ein paar Nächte lang hier. Ich war sieben, also war Patrick, na ja, ungefähr drei, und Scotty und die Zwillinge waren noch gar nicht geboren. Ihr habt so vornehm gewirkt, du bist den ganzen Weg aus London hergekommen. Erinnerst du dich etwa wirklich nicht?«

Sie starrte erwartungsvoll zu ihm hoch, und ihre großen, runden Augen leuchteten. Er wollte sie nicht enttäuschen und abstreiten, was sie offenbar noch direkt vor sich sah, aber er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern.

»Ich weiß noch, dass ich hier war«, erwiderte er und dachte angestrengt nach. »Das ist einer der Gründe, weshalb ich dieses Zimmer gebucht habe. Damals war ich gerade achtzehn Jahre alt und habe den Sommer mit meinem Großvater verbracht, bevor ich mit der Uni angefangen habe. Ich habe mich zu Tode gelangweilt. Und da waren … ja, da waren zwei Kinder, jetzt fällt es mir wieder ein!«

Er dachte an diese Zeit zurück. Achtzehn Jahre alt. Mein Gott. Es kam ihm vor wie ein völlig anderes Zeitalter. Seine Eltern waren gerade nach Australien gezogen, und er war zu seinem Großvater verfrachtet worden, um die Zeit zu überbrücken, bis er mit dem Jura-Studium anfing.

Die Welt hatte für ihn damals ganz anders ausgesehen. Eine Welt voller jugendlicher Überheblichkeit, grenzenlosem Potenzial und der Sicherheit, dass ihm das ganze Universum zu Füßen lag. Ein endloser Sommer voller Sonne, Regen und Surfen. Voller blonder Mädchen, deren Haut nach Salzwasser schmeckte, und voller Arbeit auf der Farm seines Großvaters. Er hatte Cider getrunken und seine Zukunft geplant. Sein Großvater, ein runzliger alter Mann, der selbst mit seinen siebzig Jahren noch stämmig und muskulös gewesen war, hatte ihn mit zur Harte-Farm genommen, wo er mit dem hippiemäßig anmutenden Paar, dem die Farm gehörte, über eine Zusammenarbeit diskutieren wollte. Sie hatten schon damals auf nachhaltige Bewirtschaftung geachtet, wenn er sich recht erinnerte, und waren ihrer Zeit damit voraus gewesen.

Während er so darüber nachdachte, sah er auch die Kinder wieder vor sich. Da war ein kleiner Rotzlöffel gewesen, der die unangenehme Angewohnheit gehabt hatte, einem hinterherzuschnüffeln, sowie ein wildes Mädchen mit buschigem Haar und einem Faible dafür, nackt herumzulaufen. Er sah Pippa an. Die zerzausten Locken, die lose zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren. Die nackte Brust unter dem pinken Shirt.

Wirklich? Konnte diese erwachsene Frau das siebenjährige Mädchen sein, das vor seinem achtzehnjährigen Ich gestanden hatte? Der Altersunterschied war ihm damals unvorstellbar groß vorgekommen.

»Du bist auf meinen Kopf gesprungen«, erinnerte er sich lächelnd. Jetzt erschienen die Bilder wieder vor seinem inneren Auge. Er hatte einen Kater gehabt – wie nahezu jeden Tag. Zu viel Cider am Abend zuvor. Auf dem Feld hatte er nach einem geeigneten Platz gesucht, um seinen Rausch auszuschlafen, und ihn im Schatten eines der Äste einer alten Eiche gefunden. Also hatte er sich hingelegt und von London geträumt und diesen blonden Mädchen mit der salzigen Haut und dem unanständigen Lachen.

Plötzlich hatte sie einen Kriegsschrei ausgestoßen wie die Heerführerin Boudicca und hatte sich von einem der niedrigeren Äste auf ihn gestürzt. Er hatte sie bis dahin nicht einmal bemerkt – sie war mit grüner Farbe angemalt wie Rambo und hatte sich zwischen den Blättern versteckt. Überall in ihrem Haar hatten kleine Zweige gesteckt, und ihre Füße waren voller Schlamm gewesen.

Im Nachhinein musste er darüber schmunzeln, aber damals war es ihm durchaus unangenehm gewesen. Er war von einem Kind ertappt und aus seinem Halbschlaf aufgeweckt worden. Einem seltsamen und etwas unheimlichen Kind, das ihn zum Ziel eines Bauernhof-Kriegsspiels auserkoren hatte. Man konnte nur vermuten, wie lang sie dort oben gelauert und ihn beobachtet hatte, während er schnarchend den Cider der letzten Nacht ausgeschwitzt hatte.

Er hatte sie an ihren dürren Knöcheln gepackt und sie mit sich über das komplette Feld gezogen. Sie hatte gekreischt und geschrien und versucht, ihn zu kratzen, aber er ließ kein bisschen locker, bis er den Ententeich erreicht hatte – wo er sie vor- und zurückschwang, als würde er für den olympischen Diskuswurf trainieren, und sie dann schließlich geradewegs in den Teich warf, in dem sie mit einem gewaltigen Platschen landete.

Sein Großvater hatte ihm eine ordentliche Standpauke gehalten. Was wäre passiert, wenn sie nicht schwimmen konnte? Oder sich den Kopf gestoßen hätte? Oder auf einer Ente gelandet wäre? Nur ihre Eltern waren gelassen geblieben. Sie hatten bloß gelacht und ihm versichert, dass ihr das ganz recht geschehe – sie wäre ziemlich wild und verdiene es, von ihrer eigenen Medizin zu kosten. Ihre Eltern, die, wie sie vor einigen Minuten erzählt hatte, nicht mehr hier waren. Sicher, sie könnte damit gemeint haben, dass sie sich einer Kommune in Marrakesch angeschlossen hatten, aber ihn beschlich der Eindruck, dass sie etwas anderes gemeint hatte. Dass sie tot waren, genau wie sein Großvater. Dieses kleine Mädchen von damals hatte viel zu früh und viel zu schnell erwachsen werden müssen.

»Jetzt weißt du es wieder, oder?«, fragte sie lachend. »Erinnerst du dich noch an meinen Kriegsschrei?«

Ohne seine Antwort abzuwarten, stieß sie den Schrei erneut aus, und sofort stimmten Scotty, Lily und Daisy mit ein. Mein Gott! Eine ganze Familie von Wilden!

»Okay, okay … ich ergebe mich!« Er hob die Hände in die Luft. »Ich erinnere mich jetzt wieder, aber du kannst es mir nicht verübeln, dass ich dich nicht gleich erkannt habe. Du hast dich ganz schön verändert, weißt du? Du bist viel …«

Zögernd versuchte er, ein Wort zu finden, das nicht lüstern klang, und ballte die Hände zu Fäusten, um zu vermeiden, dass er versehentlich eine unangemessene Geste machte.

»Ja?«, hakte sie nach und hob herausfordernd eine Braue. »Viel was?«

Er sah verdutzt aus, erheblich weniger selbstsicher und arrogant als zuvor. Um seine Augen bildeten sich kleine Fältchen und offenbarten winzige Streifen weißer Haut unter der gesunden Bräune. Pippa erinnerte sich daran, dass sie damals unsterblich in ihn verliebt gewesen war. Er war der große, hübsche und exotische Fremde gewesen, dem sie ständig hinterhergeschlichen war. Selbstverständlich hatte er von ihr kaum Notiz genommen. Ihre Attacke auf ihn war bloß ein Versuch gewesen, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Seitdem hatten sich ihre Flirt-Fähigkeiten … na ja, nicht sonderlich verbessert, musste sie sich eingestehen. Man konnte kaum behaupten, dass sie viel Übung darin besaß.

»Einfach … viel«, vollendete er schließlich seinen Satz und starrte auf etwas hinter ihr, so als versuchte er, jeglichen Augenkontakt zu vermeiden. »Wer ist das?«, fragte er auf einmal und kniff die schokoladenbraunen Augen zusammen.

»Was? Wer?« Pippa sah ihm gedankenverloren ins Gesicht. Wie hatte es so lange dauern können, bis sie ihn erkannte? Er war die erste Liebe ihres Lebens gewesen und hatte ihr winziges Herz gebrochen, als er sie im Ententeich versenkt hatte – was sie allerdings mehr als verdient gehabt hatte.

Sie drehte sich um und folgte seinem Blick. Dort sah sie eine Wolke aus pechschwarzem Qualm und hörte kurz darauf ein Krachen. Dann ein Quietschen und das Geräusch von Metall, das über Kies rutschte.

»Oh«, sagte sie, und ihr Lächeln verblasste. »Das. Das ist Patrick. Auf seinem Motorrad. Oder eher unter seinem Motorrad, vermute ich.«

»Hatte er gerade einen Unfall? Geht es ihm gut?« Ben sah besorgt auf die Rauchwolke, die in den nicht weniger grauen Himmel aufstieg. Das alles hier wirkte seltsam surreal, als wäre er geradewegs in eine Episode von The Twilight Zone – Unwahrscheinliche Geschichten geraten. Und er hatte gedacht, sein Leben wäre merkwürdig.

»Ja, er hatte einen Unfall«, antwortete Pippa und ging zügig in Richtung der Rauchwolke los. »Und ja, es geht ihm gut. Er hat mindestens einmal am Tag einen Unfall, um mich auf Trab zu halten. Fühl dich nicht verpflichtet, mir zu folgen – er wird sich nur danebenbenehmen. Du wirst ihn verprügeln wollen, und mir wird es peinlich sein.«

»Tja, wie sollte ich einem so verlockenden Angebot widerstehen?«, erwiderte Ben und bemühte sich, mit ihr Schritt zu halten. Sie wirkte nicht besonders beunruhigt, aber er wollte lieber mit ihr gehen – nur für den Fall, dass der heutige Unfall ein anderes Ende genommen hatte als sonst.

Die Kinder liefen ihnen hinterher, und er spürte, wie sich eine winzige Hand in seine schob. Die des kleinen Jungen. Scotty. Mit großen Augen sah er zu Ben auf. Der Kleine strahlte die gleiche muntere, gesunde Lebendigkeit aus wie die anderen Familienmitglieder. Sie alle hätten ohne Weiteres aus einer Werbung für skandinavische Blockhäuser stammen können mit ihren blonden Haaren und den leuchtend blauen Augen.

»Keine Sorge«, sagte Lily – oder war es Daisy? – im Vorbeigehen. »Patrick ist bloß ein ziemlicher Kakadu«, vollendete ihre Zwillingsschwester den Satz.

Besagter Kakadu lag, alle Viere von sich gestreckt, auf dem Weg, und eins seiner Beine war unter dem Motorrad begraben. Die Maschine sah aus wie eine alte Kawasaki. Patrick trug keinen Helm, und sein Haar – das natürlich auch blond, aber deutlich dunkler war als das seiner Geschwister – hing ihm in das mit Schürfwunden übersäte Gesicht. Zweifellos mussten die Verletzungen wehtun, und es würde kein Spaß werden, all die Schrammen zu reinigen, in denen sich die winzigen Steine festgesetzt hatten.

Pippa blieb stehen, und ihr Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, dann ging sie wortlos zu ihrem Bruder. Sie beugte sich hinunter, hob das Motorrad hoch und kippte es auf die andere Seite. Wow, dachte Ben. Sie war stärker, als sie aussah. Andererseits hatte sie vielleicht Übung darin – keinem der Kinder war anzusehen, dass dies eine ungewöhnliche Szene war. Stattdessen hatten Daisy und Lily die Arme über der Brust verschränkt und ahmten den verärgerten Gesichtsausdruck ihrer großen Schwester nach. Möge Gott den Jungs aus der Gegend beistehen, wenn die beiden Zwillinge einmal älter wären!

Autor

Debbie Johnson
Bestsellerautorin Debbie Johnson lebt und arbeitet mit ihrer Familie in Liverpool. Als Journalistin hat sie erste Schreiberfahrungen gesammelt und schließlich entschieden, dass sie ihre eigenen Geschichten erzählen will. Sie hat viele Genres ausprobiert, doch im Liebesroman hat sie ihre wahre Berufung gefunden.
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