Eine Liebe an der Adria

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An der idyllischen Adriaküste will Lara über ihre zerbrochene Ehe hinwegkommen. Aber obwohl die Einheimischen sie mit der typisch italienischen Herzlichkeit empfangen, fällt es ihr schwer, Vertrauen zu ihnen zu fassen. Selbst der charismatische Muschelfischer Alessandro beißt bei ihr zunächst auf Granit.
Als Lara sich dennoch auf eine Affäre mit ihm einlässt, scheint diese zum Scheitern verurteilt. Denn sie verschweigt Alessandro ein wichtiges Detail - und auch ihr charmanter Verehrer scheint ein Geheimnis zu haben.
Hat ihre junge Liebe trotzdem eine Chance?


  • Erscheinungstag 15.09.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783745750775
  • Seitenanzahl 464
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1

Ein strahlend blauer Herbsthimmel begrüßte Lara, als sie die Jalousien öffnete. Die Luft dieses Morgens war erstaunlich klar im Gegensatz zu den letzten Tagen, an denen stets ein leichter Morgendunst die Sonne mit einem zarten, milchigen Schleier verhüllt hatte. In der Nacht jedoch war Wind aufgekommen, und nun schien alles auf subtile Weise verändert. Zu Hause waren ihr diese kleinen atmosphärischen Unterschiede nie so deutlich aufgefallen, und auch hier konnte sie nicht wirklich den Finger darauflegen. Es war mehr ein Gefühl als eine messbare Tatsache. Das Licht, das so anders war als daheim in Regensburg, bescherte ihr unversehens eine Art Urlaubsfeeling, und sie konnte mit einem Mal nachvollziehen, was berühmte Künstler wie William Turner und Goethe so unaufhaltsam in den Süden gezogen hatte.

Sie lächelte. Ihr fiel kein Grund für ihre unvermittelt gute Laune ein, außer vielleicht der Tatsache, dass sie langsam anfing, sich hier im Haus ihrer Freunde zurechtzufinden. Der Ankunftsschock, den sie immer bekam, wenn sie irgendwo das erste Mal nächtigte, hatte sich verflüchtigt und war einer angenehmen Routine gewichen. Einen Gutteil hatte sicher auch das gemütliche Ferienhäuschen dazu beigetragen. Allein der große offene Kamin mit der Umrahmung aus rustikalen Ziegeln sorgte allabendlich für heimeliges Ambiente. Dieses Wohnzimmer, das so anders war als ihr eigenes, kühl durchgestyltes Zuhause, war ihr anfangs sehr fremd erschienen. Dass ihr der Kontrast so gut gefiel, war ihr beinahe unheimlich gewesen.

Der Gedanke an daheim ließ Laras gute Stimmung für einen Moment verpuffen, doch als sie sich nach dem Zähneputzen dazu zwang, ihr Spiegelbild anzulächeln, kehrte sie wieder zurück.

Na also. Ging doch.

Sie warf sich einen kritischen zweiten Blick zu. Große graugrüne Augen wurden von dunklen Wimpern betont, eine nicht zu lange, fein geschnittene Nase und einigermaßen volle Lippen. Das schmale Gesicht umrahmt von glattem, mahagonifarbenem Haar, das sie zu einem fast streng wirkenden Pagenkopf geschnitten trug.

Die Frage drängte sich ihr auf, was daran nicht genügt haben mochte … doch dann erinnerte sie sich stirnrunzelnd daran, was sie sich vorgenommen hatte: Denk nicht mehr dran. Vergiss, was passiert ist. Du bist jetzt hier, und hier geht es dir gut. Punktum.

Draußen wehte ihr der kalte Wind scharf entgegen, der den Himmel über Nacht so blank geputzt hatte. Also ließ sie das Fahrrad stehen und fuhr mit dem Auto. Um die veränderte Stimmung auf sich wirken zu lassen, nahm sie nicht den direkten Weg, sondern fuhr am Flussufer entlang. Zwar waren hier eigentlich nur Fahrräder erlaubt, doch Lara gab der spontanen Lust nach, mal nicht die vorschriftentreue Deutsche zu sein, sondern es den lebenslustigen Italienern nachzumachen, die Straßenschilder für optional hielten und sich regelmäßig mit selbstverständlicher Nonchalance über sie hinwegsetzten.

Die Strecke in das kleine Hafendorf Goro führte sie um das Kastell von Mesola herum. Von der erhöhten Dammstraße aus hatte sie einen schönen Blick auf das Bauwerk, das einige Jahrhunderte auf dem Buckel hatte und von Alfonso II., dem Herzog von Este, angeblich für seine Gattin Lucrezia Borgia als Jagdschloss erbaut worden war. Den Reiseführern nach, die sie im Buchregal gefunden hatte, war es ein Ableger des großen Renaissanceschlosses von Ferrara und so wie dieses aus rotem Ziegelstein erbaut. Die vier Türme an den Ecken gaben dem quadratischen Bau ein trutziges Aussehen, und der große, mit Flusskieseln gepflasterte Innenhof hatte früher sicher viele Pferde und vornehme Jagdgesellschaften kommen und gehen sehen – Raum für Fantasie war hier genug.

Lara blieb auf der Uferstraße und fuhr langsam und gemächlich. Hin und wieder musste sie Schlaglöchern ausweichen, ansonsten konnte sie sich ganz auf ihre Umgebung konzentrieren. Die Flussauen standen voller exakt in Reih und Glied gepflanzter Pappelhaine, die Ufer waren mit mannshohem Gebüsch überwuchert und von Silberweiden durchzogen. Rechts säumten Felder ihren Weg, jedes schön schnurgerade wie mit dem Lineal gezeichnet. Ein Gewirr an Kanälen durchzog die Landschaft. Wenn die Sonne im richtigen Winkel stand, blitzte das Wasser darin für einen kurzen Augenblick auf, als hätte jemand Diamanten über die Ebene verstreut. Einzelne Gehöfte lagen über die Felder verteilt wie Rosinen auf einem Blechkuchen. Überhaupt … dieses flache Land … der hohe Himmel ließ sowohl dem Auge als auch der Seele viel Freiraum, sich darin zu verlieren.

„Das Podelta ist der Beweis dafür, dass die Erde eben doch eine Scheibe ist“, hatte Bert, der Mann ihrer Freundin Valerie, einmal gesagt. Dieser Satz drängte sich ihr immer wieder auf, und jedes Mal spürte sie, dass sich ihre Mundwinkel unwillkürlich nach oben stehlen wollten bei dem Gedanken.

Vor Loris’ Hafenbar parkte sie ihren Wagen und freute sich über die vielen freien Parkplätze auch heute wie am ersten Tag. Zu Hause war es in der engen, verwinkelten Innenstadt ein ewiger Kampf um Parkplätze, und die öffentlichen Parkhäuser wurden immer teurer. Neun Euro für zwei Stunden! Daher war sie mit großer Erleichterung vor ein paar Jahren an den Stadtrand gezogen, aber auch dort war es nicht immer einfach, das Auto unterzubringen.

Zumindest nicht solche, wie sie nach Roberts Willen hätte fahren sollen. Am liebsten hätte er ihr einen VW Touareg oder einen Jaguar F Pace verpasst. Als Statussymbol natürlich. Ob sie damit im Stadtverkehr Probleme bekam, war ihm egal gewesen. Erst nach langem, zähem Ringen war es ihr gelungen, ihn auf einen Audi A4 Kombi herunterzuhandeln. Allerdings hatte er sich beim Allradantrieb durchgesetzt, doch damit konnte sie leben.

Lara schüttelte sich. Weniger wegen der Kälte. Gegen die wickelte sie die Jacke fest um sich, schlang den Schal einmal mehr um ihren Hals und genoss so noch einen Moment lang die Aussicht auf den kleinen Fischerhafen, in dem die Schiffe und Boote auf der bewegten Wasseroberfläche auf und ab tanzten. Die Böen waren hier heftig und pfiffen teilweise hörbar um die Führerkabinen und die metallenen Aufbauten der Muschelkutter.

Sie ging hinein, statt sich wie in den Tagen zuvor auf die Terrasse zu setzen.

„Ciao, Lara“, begrüßte Loris sie kameradschaftlich. Sie hatten sich während der letzten Zeit häufiger gesehen, als Lara regelmäßig mit dem Fahrrad hergekommen war. „Was darf’s denn sein?“

„Ciao, Loris. Ich nehme einen Orangensaft und ein Tramezzini.“

„Wenn du nur eines willst, heißt es Tramezzino“, erklärte er ihr. „Welches möchtest du? Schinken und Artischocken oder Thunfisch mit Ei?“

Sie entschied sich für Schinken und setzte sich an einen der freien Tische am Fenster. Die schlichte Einrichtung mit den einfachen Tischen und Stühlen aus Kunststoff wirkte angenehm entspannt auf sie, auch wenn sie sich bei ihrem ersten Besuch hier ein wenig fehl am Platz gefühlt hatte. Es war ein bisschen wie mit Valeries Ferienhaus und ihrem eigenen Zuhause: Ein permanenter Kontrast zwischen gestylt und gemütlich, und immer drängender wurde in ihr der Verdacht, dass das ganze Designerzeugs, das sie sonst immer umgab, nicht wirklich ihre Welt war.

Offensichtlich war heute kein Tag zum Fischen, denn ein paar lärmende junge Männer traten ein, die allesamt den regionalen Dialekt sprachen, von dem Lara noch immer kein Wort verstand.

„Warum ist heute so viel los bei dir?“, fragte sie, als Loris ihr den Saft und das Sandwich brachte.

„Heute ist zu viel Wind, da fahren die meisten Fischer nicht raus aufs Meer“, bestätigte er ihre Vermutung. „Morgen vielleicht wieder. Zum Glück kommt später Sania zur Verstärkung.“

Sania, erinnerte sich Lara, war das junge Mädchen, das bedient hatte, als sie vor etwa drei Wochen das erste Mal hier gewesen war. Tatsächlich traf sie kurze Zeit später ein und lächelte Lara zur Begrüßung zu. Dann band sie sich ihre Schürze um und gesellte sich zu Loris hinter die Theke. Als Lara aufgegessen hatte und Loris den leeren Teller abräumte, hatte er offensichtlich Lust, ein wenig zu plaudern.

„Hast du eigentlich schon unsere neuen Billardtische gesehen?“, fragte er sie.

„Nein, wo denn?“

„Komm, ich zeig sie dir.“

Sie folgte ihm ins Nebenzimmer, das sich als fast doppelt so groß wie das eigentliche Café erwies. Es hatte eine riesige Bar aus dunklem Holz, war mit ebensolchen Tischen und Stühlen eingerichtet und wirkte sehr gemütlich. Der Knüller allerdings waren drei große Billardtische, die richtig professionell aussahen.

„Ganz neu“, erklärte der Wirt stolz. „Wir haben letzten Freitag die Umbauarbeiten abgeschlossen und abends die Bar hier eröffnet. Da war mächtig was los. Schade, dass du nicht hier warst.“

Lara nickte anerkennend. „An der Uni habe ich gern Billard gespielt. Aber das ist auch schon wieder acht Jahre her. Meistens habe ich nur versucht, die weiße Kugel zu treffen, und dann zugeschaut, was passiert.“

„Komm mal abends hierher, dann kannst du üben“, bot ihr Loris an.

Sie zögerte. „Ach weißt du, ich kenne doch hier niemanden. Allein macht das auch keinen so großen Spaß.“

„Eben deshalb. Beim Billard wurden schon unzählige Freundschaften geschmiedet.“

„Na ja, das klingt schon sehr verlockend. Ich hoffe nur, die sprechen nicht alle bloß euren Dialekt, sonst weiß ich nachher gar nichts über meine neuen Freunde.“

Loris lachte. „Das kommt mit der Zeit, wart’s nur ab. Und ein paar von ihnen können tatsächlich auch richtiges Italienisch.“

„Vielleicht komme ich wirklich mal vorbei.“

Während sie sich noch unterhielten, war von vorn ein lautes Klirren zu hören, dann ein Schrei und danach Stille. Sie eilten zurück ins Café, das sich in der Zwischenzeit geleert hatte.

Sania stand hinter der Theke, ein zerbrochenes Glas in der Hand, von der hellrotes Blut tropfte, und sah sie beide ratlos an.

„Ich habe mich geschnitten“, sagte sie tonlos, ehe sie sich langsam auf den Boden setzte. Lara bemerkte, wie das Mädchen immer bleicher wurde, während Loris vorsichtig die Wunde inspizierte.

„Ich glaube, sie muss zum Arzt. Der Schnitt scheint ziemlich tief zu sein.“ Ratlos wandte er sich an Lara. „Kannst du sie hinfahren?“

„Ich habe keine Ahnung, wo hier der Arzt ist. Wenn du es mir genau erklärst …“

„Nein“, unterbrach er sie, „das ist zu kompliziert, es ist besser, wenn ich sie selbst hinbringe. Aber dann ist niemand im Lokal!“ Er verzog das Gesicht und sah sie fragend an.

„Ich kann inzwischen hierbleiben und auf dich warten. Ich werde das schon irgendwie schaffen, bis du wieder da bist.“

„Das wäre super, danke.“

Loris umwickelte Sanias Hand provisorisch mit einer Küchenserviette und erklärte Lara nebenbei, wie Kasse und Kaffeemaschine funktionierten. Dann half er dem immer noch kreidebleichen Mädchen auf die Beine und führte sie nach draußen.

Lara holte tief Luft.

Was hatte sie da nur geritten? Es stimmte schon, sie hatte während ihres Betriebswirtschaftsstudiums in Regensburg in einem Restaurant gejobbt, weil ihr Vater der Meinung gewesen war, dass es nicht schaden konnte, wenn seine verwöhnte Tochter lernte, selbst ein wenig Geld zu verdienen. Aber hier? Wollte sie sich nicht eigentlich entspannen? Anders als im Büro einfach mal keine Verantwortung haben?

Sie hoffte inständig, dass Loris bald wieder zurückkäme und bis dahin niemand etwas von ihr wollte.

Keiner ihrer beiden Wünsche sollte in Erfüllung gehen.

Es waren höchstens fünf Minuten vergangen, seit Loris die Bar verlassen hatte, als ein Schwung junger Leute hereinkam, von denen Lara einige schon einmal gesehen hatte. Alle bestellten durcheinander, und schnell kannte sie sich vorn und hinten nicht mehr aus. So ging das auf keinen Fall!

Mit erhobenen Händen bat sie verzweifelt um Ruhe und spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss, als alle Augen auf sie gerichtet waren.

„Hört mal, Sania hat sich die Hand aufgeschnitten, und Loris bringt sie gerade zum Arzt“, erklärte sie, so ruhig sie nur konnte. „Ich war zufällig hier und helfe ihm, aber ich kenne mich überhaupt nicht aus. Bitte seid so nett und redet langsam mit mir, weil ich euren Dialekt sonst nicht verstehe.“

Leises Lachen und ein Raunen waren die Antwort. Während ihrer letzten Worte hatte eine weitere kleine Gruppe das Lokal betreten, und ehe sich Lara versah, löste sich einer der jungen Männer von den anderen und trat neben sie hinter die Bar.

„Ich helfe dir“, erbot er sich. Überrascht und dankbar zugleich machte sie Platz. „Jetzt seid doch endlich mal leise, zum Donnerwetter!“

Stille breitete sich aus.

„Also, was wollt ihr?“

Einer nach dem anderen gab seine Bestellung auf, und der Fremde dirigierte Lara von rechts hinten nach links vorn und wieder zurück, um die Bestellungen der Gäste abzuarbeiten, während er selbst Cola, Bier und Wein ausschenkte. Nebenbei machte er die Caffès und kassierte ab. Nach etwa einer halben Stunde war der Andrang schließlich vorbei, und sie nutzte die Gelegenheit, um einmal tief Luft zu holen.

„Danke für deine Hilfe! Ich bin Lara.“ Sie reichte ihm die Hand.

Der Kerl, dem sie da gegenüberstand, war schon auf den ersten Blick ein völlig anderes Kaliber als alle, die sie bisher in Goro kennengelernt hatte: dunkle geschwungene Brauen über Augen, die so blau waren, wie sie noch nie welche gesehen hatte, gerahmt von langen schwarzen Wimpern; ein scharf geschnittenes, leicht gebräuntes Gesicht mit hoher Stirn und akzentuierten Wangenknochen. Von der kühnen, geraden Nase führten zwei tief eingegrabene Lachfältchen zu den Mundwinkeln, die Lippen waren geschwungen und so voll, wie man es einem Mann gerade noch durchgehen lassen konnte, und das energische, markante Kinn zierte ein kleines Grübchen in der Mitte. Seine Erscheinung strahlte eine deutliche physische Präsenz aus.

„Freut mich, Lara. Ich bin Alessandro.“

Sein Händedruck war fest und angenehm. Entweder täuschte sie sich, oder er schüttelte ihre Hand einen Augenblick länger als nötig, ehe er sich abwandte und ein Bier kassierte. Während er den Kopf zur Seite geneigt hielt, bemerkte sie in seinem kurz geschnittenen, dunklen Haar ein paar silberne Fäden an den Schläfen. Ihre Inspektion wurde abrupt unterbrochen, als er ihr wieder seine Aufmerksamkeit schenkte.

„Du bist also keine Kellnerin, aber einer dahergelaufenen Touristin hätte Loris seine Bar auch nicht überlassen. Was tust du in der Gegend? Warte mal …“ Er trat einen Schritt zurück und musterte sie. „Dich habe ich doch irgendwo schon mal gesehen!“

Verwundert schaute sie ihn an, gab aber keine Antwort. Sie erinnerte sich nicht, ihm bereits begegnet zu sein, und das würde sie, das war sicher.

Er schnippte zufrieden mit dem Finger, als es ihm einfiel.

„Na klar, das war vorn am Hafen, ist schon eine Weile her. Da hast du aber nicht den Eindruck gemacht, als wärst du auf so viel Gesellschaft versessen, wie du sie heute hast.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich bin keine Touristin, aber ich mache hier Ferien. Wenn nicht gerade medizinische Notfälle eintreten, habe ich meine Ruhe.“

„Ungewöhnliche Jahreszeit für Ferien“, meinte er.

Seine direkte Art befremdete sie. „Von gewöhnlich hatte ich genug“, erwiderte sie kurz angebunden.

Fiel ihm der verschlossene Zug auf, der über ihr Gesicht huschte? Jedenfalls wechselte er das Thema.

„Lass mich dir ein paar von meinen Freunden vorstellen.“

Während er ihr der Reihe nach die Namen der Anwesenden aufzählte, musterte sie ihn verstohlen von der Seite. Er war mit Sicherheit einer der größten Italiener, denen sie bisher begegnet war. Unter seinem dunkelblauen Hemd, dessen Ärmel er bis zu den Ellbogen hochgekrempelt hatte, erkannte sie breite Schultern und muskulöse Oberarme. Er hatte eine schmale Taille, und unter dem Stoff seiner Jeans spannten sich unübersehbar kräftige Oberschenkel.

Ihr wurde bewusst, dass sie ihn anstarrte, und sie wandte abrupt den Blick ab. Falls es jemandem außer ihr aufgefallen war, ließ es sich zumindest keiner anmerken. Sie wurde freundlich und mit einem Kopfnicken von den Francos, Paolos, Dinos, Ginos und wie sie alle hießen, begrüßt.

„Freut mich sehr“, meinte sie mit einem unsicheren Lächeln, „aber bitte entschuldigt, wenn ich mir bei so vielen Namen nicht alle auf einmal merken kann.“

„Ah, das macht nichts“, rief einer von ihnen vorlaut und grinste sie über den Tresen hinweg an. „Hauptsache, du vergisst nicht, dass ich Maurizio bin!“

„Nein, Maurizio, bestimmt nicht.“ Sie schüttelte ihm die Hand. „Piacere.“

„Wenn du gerade mal nicht arbeitest, sollten wir eine Partie Billard spielen“, versuchte Maurizio, seine Annäherungsversuche fortzusetzen. „Auch wenn du eigentlich gar nicht in Loris’ Fischerbude passt.“

„Wie … meinst du das?“ Lara starrte ihn befremdet an.

„Du bist viel zu …“ Maurizio wedelte mit der Hand unbestimmt in ihre Richtung. „… schick angezogen, finde ich.“

„Äh …“ Sie schaute unwillkürlich an sich hinunter. Natürlich hatte sie bereits bemerkt, dass das bevorzugte Outfit des Großraums Mesola-Goro aus Trainingsanzügen bestand, aber diese „Mode“ musste sie ja nicht unbedingt mitmachen.

Oder doch?

War sie wirklich so auffallend overdressed in Stoffhose und Desigual-Longshirt? Immerhin war das für sie schon bequem und eine willkommene Abwechslung zu ihren sonstigen Businesskostümen.

Alessandro rettete sie aus der Verlegenheit. „Du bist unhöflich, Maurizio“, tadelte er ihn, klopfte ihm über den Tresen hinweg aber gutmütig auf die Schulter. „Und eins ist klar: Die Signorina ist nicht deine Kragenweite, das hast du eben selbst bestätigt!“

„Deine wohl schon eher“, gab der Gefoppte keck zurück. Die anderen feixten, und Alessandro ließ ein tiefes, leicht raues Lachen hören, da ging die Tür auf, und Loris kam herein. Er wirkte müde und schien sehr überrascht zu sein, Alessandro hinter der Theke zu sehen.

„Ciao, Alessandro. Was machst du denn hier?“, fragte er, bevor die beiden Männer sich mit lässigem Handschlag begrüßten.

„Ich war gerade mit ein paar Jungs unterwegs und habe den Trubel mitbekommen. Da bin ich Lara etwas zur Hand gegangen, sie machte einen ziemlich ratlosen Eindruck.“

Besorgt wandte Loris sich an Lara. „Wie geht’s denn an der Front?“

„So lala. Ich bin froh, dass du wieder da bist! Ohne Alessandro hätte ich ganz schön dumm und deine Bar bestimmt schlimm ausgesehen.“

„Ach was, sie hat Talent, Loris“, warf Alessandro lässig ein, während er seine Hände abtrocknete und sich dann auf die andere Seite der Theke stellte. „Du solltest sie behalten, eine schöne Deutsche ist hier garantiert der Renner.“

Lara wusste nicht, ob sie wütend oder geschmeichelt sein sollte, und funkelte ihn wortlos an. Er quittierte ihren Blick mit einem breiten Grinsen, bei dem seine wirklich unverschämt blauen Augen aufleuchteten.

Loris lachte mit ihm. „Da könntest du recht haben.“

„Ich muss jetzt gehen. Aber vorher, mysteriöse Fremde, mach mir doch bitte noch einen schönen Caffè ristretto, sì?“

Wortlos drehte sie sich um, schraubte das Sieb aus der Halterung der Kaffeemaschine, klopfte es schwungvoll aus, füllte es mit frischem Pulver, positionierte es wieder unter dem Wasserventil und drückte auf den Knopf.

„Siehst du, Loris, ich habe dir ja gesagt, sie hat echt Talent. So schöne Crema bringst nicht mal du zustande.“

Alessandro kippte den Inhalt seiner kleinen Tasse mit einem Schluck hinunter, und Lara fragte sich, wie er es nur schaffte, ihn schwarz und ohne Zucker zu trinken. Als er zahlen wollte, wehrte Loris heftig ab.

„Geht aufs Haus, für deine Hilfe.“

„Danke. Schönen Nachmittag noch und viel Erfolg, Lara. Ciao!“

Als er verschwunden war, sah Lara Loris fragend an.

„Wie geht’s Sania?“

„Ganz gut soweit. Aber sie wird ein paar Tage nicht arbeiten können.“ Ratlos sah er sie an. „Ich möchte nicht unhöflich sein, und du hast bestimmt was Besseres zu tun in deinen Ferien … aber würde es dir was ausmachen, mir ein paar Tage zu helfen? Nicht lange“, beeilte er sich zu versichern, als er ihr Zögern bemerkte, „und nur ein paar Stunden. Vielleicht am Abend?“

Lara überlegte. Was hinderte sie eigentlich daran? Abends saß sie sowieso meistens nur auf der Couch, sah sich Filme im Fernsehen an, die sie schon kannte, oder las, bis sie müde wurde. Alles nur Beschallung, um nicht an zu Hause denken zu müssen. Das hier würde als Ablenkung genauso gut dienen, und es war entschieden mal was anderes. Und wenn sie schon mal jemandem aus der Patsche helfen konnte …

„Also gut. Ich mach’s, Loris“, antwortete sie. „Wann soll ich morgen antreten?“

Sein erleichtertes Lächeln bestärkte sie in ihrer Entscheidung. „Sagen wir, um acht?“

„Wunderbar, ich werde pünktlich sein.“

Lara fühlte sich merkwürdig beschwingt, als sie das Lokal verließ, um zurückzufahren. Als hätte sie bereits etwas Gutes getan, das ihr ein Gefühl moralischer Befriedigung gäbe, indem sie ihm ihre Hilfe zugesagt hatte.

Der Wind hatte sich noch immer nicht gelegt, also vergrub sie die Nase in ihrem Schal und steuerte mit schnellen Schritten ihr Auto an.

Eine Bewegung aus dem Augenwinkel ließ sie hochschauen. Unter zwei Pinien, welche die Einfahrt zum Parkplatz flankierten, stand ein Mann und telefonierte. Er gestikulierte heftig nach typisch italienischer Art, sodass sie fast das Gefühl hatte, zu verstehen, was er sagte.

Schmunzelnd ging sie weiter zum Auto. Der Mann beendete das Gespräch und winkte ihr zu. Als er auf sie zukam, erkannte sie ihn – es war Alessandro.

Obwohl sie am liebsten einfach weitergegangen wäre, hielt sie an und wartete auf ihn. Es gab keinen Grund, offen unhöflich zu ihm zu sein, und nicht nur, weil er ihr vorhin den Hintern gerettet hatte. Das gehörte sich einfach nicht.

„Du bist ja noch da“, formulierte sie das Offensichtliche und schenkte ihm ein knappes Lächeln.

„Ich wurde aufgehalten.“ Er lächelte zurück und schwenkte sein Handy, als sei das Erklärung genug.

„Aha. Ja, dann …“

„Ganz schön windig heute, was?“

Ein Gespräch übers Wetter? Wirklich? Beinahe hätte sie gelacht. So souverän, wie er hinter dem Tresen gewirkt hatte, kam er ihr plötzlich nicht mehr vor.

„Allerdings“, stimmte sie seiner scharfsinnigen Beobachtung zu.

„Du solltest dich nicht erkälten.“

Nun lachte sie tatsächlich. „Sagt der, der mich auf dem Weg zum warmen Auto aufgehalten hat.“

Alessandro lachte mit. „Tut mir leid. Sehr intelligent von mir, was?“

„Irgendwie … schon, ja. Und ausgerechnet mit diesem Thema …“

„Du willst doch nicht etwa über Fußball oder Formel 1 plaudern?“ Er sah sie gespielt schockiert an.

Lara konnte ein Kichern nicht unterdrücken, obwohl sie langsam kalte Finger bekam. „Nein, Gott bewahre. Auf keinen Fall.“

„Gut. Das interessiert mich nämlich auch kein bisschen.“

„Ein Italiener, der nicht fußballverrückt ist? Nicht zu fassen.“

Er zuckte mit den Schultern. „Ausnahmen bestätigen die Regel. Ich war noch nie in meinem Leben in einem Fußballstadion.“

„Da haben wir tatsächlich was gemeinsam. Ich nämlich auch nicht.“

Zwei Atemzüge lang herrschte Schweigen. Lara zog die Jacke enger um sich und starrte auf ihre Schuhspitzen. Wie sollte sie sich jetzt nur aus der Affäre ziehen, ohne unhöflich zu wirken?

„Also dann …“, fing sie unbeholfen an.

„Du frierst …“, sagte er im selben Moment und sah sich um. „Wo steht dein Auto?“

Sie nickte mit dem Kopf ein paar Meter weiter. „Da vorn.“

„Dann mal los. Sonst wird aus Spaß tatsächlich Ernst, und ich bin schuld.“

„Und ich würde meinen ersten Arbeitstag morgen gleich mit einer Krankmeldung beginnen“, bemerkte Lara mehr zu sich selbst als zu ihm und kramte in der Handtasche nach ihrem Schlüssel, während sie nebeneinander in Richtung ihres Wagens gingen.

„Was?“

Sie sah auf. „Na ja … ich vertrete Sania ab morgen, bis ihr Finger verheilt ist“, erklärte sie und betätigte die Fernbedienung.

„Wie hat Loris, dieser Fuchs, das nur angestellt?“

„Er hat einfach gefragt“, antwortete sie trocken und erntete ein schiefes Grinsen, das seine blauen Augen zum Leuchten brachte.

„Soso. Dann bist du jetzt also Teilzeiturlauberin mit Job.“

„Sieht so aus.“

Kopfschüttelnd sah er sie an. „Normalerweise sucht man im Urlaub nach einer Pause vom Alltag.“

Seine Worte berührten sie unangenehm. „Vielleicht suche ich einen neuen Alltag“, sagte sie kurz angebunden. „Und jetzt muss ich los. Hat mich gefreut.“

„Ciao, Lara. Man sieht sich!“

Jetzt aber nichts wie weg.

Nach wenigen Tagen bereits kannte Lara die üblichen Verdächtigen beim Namen. Sie ließ sich auf Smalltalk ein, bediente die Kasse und fand beinahe alle gewünschten Getränke auf Anhieb. Wenn sie gelegentlich doch auffallend lang die Regale absuchte, erntete sie nie Spott, sondern nur geduldige Ermutigung. Und den Spitznamen Lumachina – Schneckchen. Natürlich kam der Einfall von Maurizio, doch er begleitete ihn mit einem so spitzbübischen Lachen, dass Lara ihm deshalb einfach nicht beleidigt sein konnte.

Als Maurizio am folgenden Freitag zu seinem Caffè Sambuca bestellte, entdeckte sie die Flasche nicht gleich, und noch während sie die Regale absuchte, hatte sie plötzlich das unbestimmte Gefühl, beobachtet zu werden.

„Geh nach links und jetzt streck den Arm aus. Da steht sie, direkt vor deiner Nase!“

Die tiefe samtige Stimme gehörte eindeutig nicht zu Maurizio! Lara schnellte herum: Vor ihr stand Alessandro.

„Oh, ciao! Wie geht es dir?“

Sie begrüßten sich formell, und wieder schien es Lara, als ob er ihre Hand einen Augenblick zu lange festhielte.

„Wie lange musst du heute noch bleiben?“

Die Frage befremdete sie. „Meistens höre ich um zwölf auf“, antwortete sie trotzdem wahrheitsgemäß.

Er sah auf seine schlichte goldene Armbanduhr. Lara stellte irritiert fest, dass er sie, so wie sie auch, auf der falschen Seite trug, also am rechten Handgelenk.

„Das ist nur noch eine Viertelstunde“, bemerkte er zufrieden. „Ich werde Loris fragen, ob er dir für heute schon freigibt.“

Noch ehe sie den Mund aufmachen konnte, hatte er sich umgedreht und steuerte auf Loris zu, der sich in einer Ecke mit einem Gast unterhielt. Wenig später kam er wieder und winkte ihr zu.

„Komm, nimm deine Sachen, wir können gehen.“

Lara war überrumpelt, irgendwie ging ihr das zu schnell, doch da ihr in der Eile nicht die rechten Worte einfielen, verabschiedete sie sich mit einem kurzen Gruß von Loris und folgte Alessandro nach draußen.

„Du könntest mich wenigstens fragen, ob ich mitkommen will“, meinte sie schließlich, als sie zu seinem Auto gingen.

„Willst du denn nicht?“

„Ich weiß nicht mal, was du vorhast!“

„Wir gehen bei einem Freund was trinken. Oder hast du keine Lust? Bin ich vielleicht der böse italienische Wolf, der deutsche Mädchen frisst?“

„Unsinn“, entgegnete sie ärgerlich. Und außerdem bin ich kein Mädchen mehr, ergänzte sie im Stillen.

„Also dann, steig ein.“

Er öffnete ihr galant die Tür eines kleinen silbernen Alfas.

„Wohin fahren wir?“

Er nahm hinter dem Steuer Platz. „Es ist nicht weit, wir sind gleich da“, war die unbestimmte Antwort.

Sie betrachtete ihn im Halbdunkel des Wageninneren. Alessandros Gesicht wurde nur vom Schein des Armaturenbretts beleuchtet, was seine markanten Züge noch stärker hervortreten ließ. Er war wohl Mitte dreißig, vielleicht auch älter, und sah verdammt gut aus. Es störte sie ein wenig, wie selbstverständlich er sie in sein Auto gepackt hatte, um mit ihr wer weiß wohin zu fahren, doch das war Teil seines lässigen, selbstsicheren Auftretens, das sie vom ersten Moment an fasziniert hatte.

Lara versuchte, sich in der Dunkelheit zu orientieren, so gut es ging, doch als Alessandro von der Hauptstraße abbog und einem Schotterweg folgte, der sich durch die Landschaft schlängelte, verlor sie völlig die Orientierung.

Unbehagen stieg in ihr auf.

Wie hatte sie nur so unbedacht sein können, einfach zu einem wildfremden Mann ins Auto zu steigen? Als vor ihnen der nahe Wald als dunkler Schatten gegen den Nachthimmel auftauchte, stöhnte sie innerlich auf und tastete nach dem Türöffner. Das durfte doch nicht wahr sein! Sie saß im Auto neben einem arroganten Fremden, der mitten in der Nacht mit ihr davonfuhr, ihr nicht sagen wollte, wohin, und sie landete tatsächlich auf einem einsamen Waldweg!

Als Kies unter den Reifen knirschte, verlangsamte Alessandro das Tempo und bog scharf nach links ab. Lara traute ihren Augen kaum, als die Scheinwerfer ein Gartentor streiften und wie aus dem Nichts ein kleines Haus auftauchte, dessen Eingangstür von einem schwachen, gelblichen Licht erhellt wurde.

„So, da sind wir“, kommentierte er das Ende ihrer Fahrt gut gelaunt.

Sie seufzte so laut auf vor Erleichterung, dass er erstaunt zu ihr herübersah.

„Was ist los? Bin ich zu schnell gefahren?“

„Mm“, war die einzige Antwort, die sie zwischen zusammengebissenen Zähnen herausbrachte. Als sie zur Haustür nebeneinander herliefen, wurde ihr bewusst, wie sehr sie sich vor Anspannung und Nervosität verkrampft hatte.

„Du zitterst ja! Ist dir kalt?“, fragte Alessandro, doch sie weigerte sich zu antworten. Er machte Halt und starrte sie forschend an. „Moment mal – nein, das ist nicht wahr, oder?“

„Was?“

Nun begann sie tatsächlich vor Kälte zu zittern, so eisig klang seine Stimme.

„Du hattest tatsächlich Angst, aber nicht vor der Geschwindigkeit. Hör mal“, er nahm ihr Kinn fest in seine Hand und zwang sie, ihn anzusehen. „Für wen hältst du mich eigentlich? Italienischer Kidnapper verschleppt deutsche Touristin? Ich lade dich zu meinen Freunden ein, und du traust mir so etwas zu?“

Lara war ärgerlich und zugleich verunsichert, weil das Licht der Lampe sie blendete, und sie das Funkeln in seinen Augen mehr ahnte als sah. Er ließ ihr Gesicht los, und die Wärme seiner Hand breitete sich als Schamesröte über ihre Wangen aus. Sie kam sich dumm vor und wusste nicht, was sie erwidern sollte, um seine Aussage zu entkräften, denn schließlich hatte er den Nagel auf den Kopf getroffen.

„Tut mir leid, ich … es war so dunkel, und ich wusste doch nicht, wohin du fährst.“ Obwohl sie nach wie vor fand, dass ihre Bedenken berechtigt waren, schämte sie sich.

Er gab ihr keine Antwort, sondern wandte sich kopfschüttelnd ab und klingelte. Die Tür schwang auf, sie traten ein und wurden lautstark begrüßt.

„Da seid ihr ja! Warum hat das denn so lange gedauert?“

Lara folgte Alessandro und der fremden Stimme und fand sich in einem kleinen Wohnzimmer wieder, das nur spärlich eingerichtet war. Ein Sofa, ein paar Stühle und Hocker, dazu kleine Tischchen, die voller Flaschen und Gläser standen. Linker Hand erkannte sie den Zugang zu einer winzigen Küche, die diesen Namen eigentlich gar nicht verdiente. Um den riesigen Kamin, in dem ein Feuer behaglich vor sich hin loderte, war eine gemischte Gruppe von Leuten in Laras Alter versammelt. Zwanglos begrüßten sie die Neuankömmlinge. Der Mann, der ihnen die Tür geöffnet hatte, stellte sich als Rossano vor. Er war kleiner und schmächtiger als Alessandro, hatte nur millimeterkurze dunkle Haarstifte, dafür einen beeindruckenden Vollbart, und drückte ihr ohne Umschweife ein Glas Wein in die Hand.

„Lara kommt aus Deutschland und macht gerade Ferien hier“, erklärte Alessandro und setzte sich zwischen zwei junge Frauen auf die Couch.

„Hier bei uns? In dieser gottverlassenen Gegend? Wo übernachtest du?“, fragte Rossano überrascht.

„Bei Freunden.“

Gnädigerweise schob ihr jemand einen Stuhl hin, sodass sie nicht mehr so ungelenk mitten im Raum stehen musste. Sie hörte dem melodischen Stimmengewirr zu, das wie das Summen eines riesigen Bienenschwarmes klang und manchmal von lautem Lachen übertönt wurde. Nun holte Rossano hinter der Couch eine Gitarre hervor, griff in die Saiten und begann zu singen. Die anderen sangen mit, jeder kannte den Text. Lara hatte das Lied noch nie gehört, aber es gefiel ihr.

Als sie zu Alessandro hinübersah, fing sie einen unergründlichen Blick auf, den sie nicht deuten konnte. Trotzig versuchte sie, ihm standzuhalten, und gewann die Partie, weil der blonde, schlaksige Junge, der neben Rossano auf einem Stuhl saß, Alessandro plötzlich eine Frage stellte.

Langsam und unmerklich rückte Lara ihren Stuhl etwas nach hinten aus seinem Blickfeld und versuchte, sich zu entspannen, während die fröhlichen Stimmen um sie herum gute Laune verbreiteten. Sie sah sich um. Ein paar der jungen Männer und Frauen, es waren acht oder neun, waren einfach, aber ordentlich in die unvermeidlichen Trainingsanzüge gekleidet. Die Männer hatten saubere, kurze Haarschnitte und die Frauen waren sehr gepflegt und dezent geschminkt.

Laras Anspannung wich allmählich. Sie war froh, dass niemand sie besonders beachtete. Keiner beäugte sie abschätzend, so wie sie es von vielen Partys und Abendessen zu Hause gewohnt war: Hatte sie die richtigen Schuhe zur Designerhose? Trug ihre Handtasche das richtige Label? War der Blazer etwa aus der Vorjahreskollektion? Jetzt, da sie keine wertenden Blicke auf sich spürte, wurde ihr erst richtig bewusst, wie anstrengend das für sie immer gewesen war.

Eine helle Frauenstimme riss sie aus ihren Gedanken. „Spaghetti sind fertig!“

Verstohlen sah sie auf ihre Uhr: halb zwei! Spaghetti um diese Zeit? Alle anderen schienen es völlig normal zu finden, denn nacheinander belud sich jeder einen Teller in der kleinen Küche.

Alessandro hielt ihr ebenfalls einen hin. Dem verlockenden Duft, der ihm entströmte, konnte sie nicht widerstehen.

„Danke!“

Sie stellte den Teller auf ihre Knie und er setzte sich auf den freigewordenen Stuhl neben ihr.

„Schmeckt es dir?“

Sie probierte und konnte mit vollem Mund nur zustimmend nicken. Es war köstlich, die Soße bestand aus Tomatenpüree, kleinen Muscheln, Garnelen, Petersilie und Knoblauch. Den merkte sie allerdings erst, als sie darauf biss. Sie hatte in ihrer Küche Knoblauch stets vermieden, weil Robert ihn nicht mochte. Genüsslich schmeckte sie dem Aroma nach.

„Wirklich fabelhaft“, sagte sie, als sie wieder sprechen konnte.

„Das freut mich. Ich wusste nicht, ob du Meeresfrüchte magst.“

„Doch, wahnsinnig gern. Und das hier ist das Beste, was ich in dieser Art je gegessen habe. Ehrlich!“

„Schön, ich werde es Silvia sagen. Sie war heute Abend die Köchin.“ Er stellte seinen Teller beiseite. „Das freut sie sicher. – Möchtest du einen Schluck Wein, um deine traurige Miene damit hinunterzuspülen? Und lächle noch mal, deine Augen funkeln dann so schön.“

Wäre Lara nicht schon mit dem Essen fertig gewesen, dann wäre ihr sicher der Bissen im Hals stecken geblieben. Hatte sie richtig gehört?

Zum Glück schien er nicht zu bemerken, wie verdutzt sie war, sondern stand auf und trug ihre beiden Teller in die Küche, wo er sich kurz mit Silvia, der Köchin, unterhielt. Dann kam er wieder und schenkte Lara Wein nach.

„Los, Rossano, spiel weiter“, ermunterte er seinen Freund. Der grinste und stimmte ein neues Lied an.

Die Songs, die er jetzt spielte, kannte Lara zum Teil, und sie klatschte begeistert in die Hände. Rossano deutete eine Verbeugung in ihre Richtung an und gab sich danach besondere Mühe, das Original nachzuahmen.

„Du kennst das Lied?“, fragte Alessandro ungläubig, nahe an ihrem rechten Ohr.

„Oh ja, und ich liebe es“, flüsterte sie zurück und erhaschte einen Hauch seines Aftershaves.

Mit einem Schlag wurde ihr seine physische Präsenz bewusst.

Verwirrt zog sie sich zurück. Was war nur in sie gefahren? Vor zwei Stunden noch hatte sie gedacht, er sei ein – ja, was eigentlich? Und nun? Klarer Fall. Sie hatte zu viel getrunken, und diese Stimmung hier benebelte sie. Ein einziges Kompliment zu ihren Augen warf sie sonst nicht so leicht aus der Bahn.

Sie nahm sich vor, ab jetzt nur noch Wasser zu trinken, um bei Sinnen zu bleiben. Nebenbei beobachtete sie Alessandro aus dem Augenwinkel, doch er konzentrierte sich nur auf die Musik und warf ab und zu ein scherzhaftes Wort in die Runde.

Schließlich machte sich Müdigkeit in der Runde breit, aus einem versteckten Gähnen wurde ein herzhaftes, und als die ersten aufbrachen, sah Alessandro Lara fragend an.

„Wollen wir?“

„Einverstanden.“

Sie sah auf die Uhr. Es war schon nach vier, und sie hatte gar nicht gemerkt, wie die Zeit verflogen war. Sie verabschiedeten sich, und Lara bedankte sich bei Rossano und Silvia für die Gastfreundschaft.

„Es hat uns gefreut, dich kennenzulernen. Hoffentlich bringt Alessandro dich bald mal wieder mit.“ Silvia schüttelte ihr herzhaft die Hand.

„Wenn Lara möchte, warum nicht?“, war Alessandros diplomatische Antwort.

„Na dann – ciao und kommt gut nach Hause, ihr beiden!“, mischte sich Rossano ein.

Lara schwieg peinlich berührt. Offensichtlich glaubten alle, sie hätten noch ein gemeinsames Ziel vor sich.

Draußen war in der Zwischenzeit dichter Nebel aufgestiegen.

„Wohin möchtest du?“, fragte Alessandro, als er losfuhr. Dabei haftete sein Blick an ihr. Lara wünschte, er würde sich lieber auf die schmale Straße konzentrieren, und war heilfroh, dass es dunkel war. Wenigstens sah er nicht, wie sie rot wurde.

„Was steht denn zur Auswahl?“, wich sie aus.

„Entweder dein Auto, wenn du noch selbst fahren kannst, oder nach Hause, wenn du es lieber stehen lassen möchtest.“

Wieder hatte sie sich getäuscht. Benahm er sich eigentlich absichtlich so zweideutig, oder bildete sie sich das nur ein? Bevor sie zu einem Ergebnis kam, hielt er das Auto an.

„Hier musst du dich entscheiden, rechts oder links? Und keine Sorge, ich habe nichts getrunken heute Abend.“

Als er das sagte, wurde ihr bewusst, dass sie während der ganzen Zeit kein Weinglas in seiner Hand gesehen hatte – und wie müde sie war.

„Aber ich muss morgen wieder zur Arbeit“, machte sie einen schwachen Versuch, sich gegen ihre eigene Bequemlichkeit zu wehren. Der Gedanke, nach Hause chauffiert zu werden, war zu verlockend, besonders bei diesem Nebel!

„Sag mir, wann ich dich holen soll, und ich bin da.“

„Ich will dir aber keine Umstände machen.“

„Dann fang auch jetzt nicht damit an, okay?“

„Also bitte einmal Taxi nach Hause“, entschied sie und unterdrückte ein Gähnen, was er mit einem leisen Lachen quittierte.

Schweigend fuhren sie durch die Nacht. Er war ein sicherer, konzentrierter Fahrer, und nun, da sie sich wohler fühlte, registrierte sie auch, wie angenehm sein Fahrstil war. Dabei trat sie sonst als Beifahrerin schon mal die Bremse, weil sie es nicht gewohnt war, daneben zu sitzen.

„Wir sind da, sag mir, wohin“, unterbrach er ihre schläfrigen Gedanken.

„Lass mich an der nächsten Ecke aussteigen, ich möchte gern noch ein paar Schritte laufen, ja?“

Er bremste, und Lara hielt unwillkürlich den Atem an. Stellte er nun den Motor ab? Wenn er das täte, würde er wohl einen längeren Abschied erwarten, sozusagen als Taxientgelt.

Doch wieder überraschte er sie, indem er den Motor laufen ließ, sich zu ihr wandte und ihr die Hand hinstreckte.

„Komm gut heim, und schlaf gut. Wann soll ich dich morgen abholen?“

„Ist halb acht für dich in Ordnung?“

„Selbstverständlich. An dieser Ecke?“

Sie lächelte und schüttelte seine Hand. „Danke für den schönen Abend. Und danke fürs Fahren“

„Habe ich gern gemacht. Ciao.“

Sie stieg aus und sah ihm nach, bis die Nacht und der Nebel ihn verschluckt hatten, dann wandte sie sich um.

Lara nahm nicht den direkten Weg, sondern ging einmal um das Geviert herum. Obwohl sie schon lange nicht mehr so spät von irgendwo nach Hause gekommen und in Alessandros Auto entsprechend müde gewesen war, wollte sie den Abend noch ein wenig Revue passieren lassen.

Es war … entspannt gewesen. Frei von Druck. Sie hatte sich mehr als sie selbst gefühlt als seit sehr langer Zeit. Mit Robert war es immer anstrengend gewesen. Stets hatte sie versucht, ihm zu gefallen. Hatte seine Stimmungen analysiert und sich ihnen angepasst. Oder es zumindest versucht. Dabei hatte er sie in Gesellschaft selten mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht. Ihm war der Eindruck, den sie als Paar machten, stets wichtiger gewesen. So viel Interesse an ihrer Person wie an diesem Abend war ihr fremd, noch dazu eine Art von Interesse, die keine Gegenleistung von ihr zu erwarten schien.

Sie hatte sich kritiklos akzeptiert gefühlt. Wunderbar!

So wunderbar, dass sie sich daran gewöhnen könnte …

Als Lara am nächsten Abend pünktlich um halb acht um die Ecke bog, wartete Alessandros silberner Alfa schon am Straßenrand. Als sie einstieg, stutzte sie einen Moment. Hinterm Steuer saß nicht er, sondern Rossano.

„Alessandro lässt sich entschuldigen, er musste überraschend weg. Deshalb hat er mich gebeten, dich abzuholen“, erklärte er ihr mit einem bedauernden Lächeln.

„Das macht doch nichts. Ich freu mich genauso, dich zu sehen, Rossano“, antwortete sie wenig wahrheitsgemäß und wunderte sich über ihre eigene Ernüchterung. Hatte es etwas zu bedeuten, dass er heute einen Stellvertreter schickte?

Sie führten während der Fahrt eine belanglose Unterhaltung miteinander. Lara beteuerte noch einmal, wie gut ihr die Spaghetti geschmeckt hätten und dass sein Auftritt mit der Gitarre sie sehr beeindruckt hätte.

„Du hast wirklich eine gute Stimme. Man merkt auch, dass es dir riesigen Spaß macht.“

„Das ist wahr. Wenn man mich allerdings reden hört, glaubt man kaum, dass ich einen anständigen Ton herausbringe“, witzelte er.

Es stimmte, Rossano hatte eine derart raue Sprechstimme, dass man solche anderen Töne bei ihm gar nicht vermutete. Lara lachte.

„Trefft ihr euch denn oft zu solchen Abenden?“

„Hin und wieder. Manchmal mit Anlass, manchmal auch ohne. Gestern war außerdem Alessandros Geburtstag, da hatten wir schon was zu feiern.“

„Gestern war was?“ Sie traute ihren Ohren nicht. Hoffentlich hatte sie sich verhört.

Er sah sie erstaunt an. „Alessandros Geburtstag. Hat er dir das nicht gesagt?“

„Keine Silbe!“

„Aber er hat dich doch extra abgeholt, damit du von seiner Party noch was mitbekommst!“

Ach du Schande, auch das noch! Das wurde ja immer schöner!

„Nein, er hat nichts dergleichen erwähnt. Ich habe ihn gestern überhaupt erst das zweite Mal in meinem Leben gesehen.“

Rossano schüttelte ungläubig den Kopf. Dann fing er an zu grinsen.

„Unser Alessandro hat eben seinen eigenen Humor. Soso, dann seid ihr euch also praktisch gerade erst begegnet, was?“

„Könnte man sagen.“

Lara war heilfroh, als sie endlich aussteigen und in Loris’ Bar flüchten konnte.

Als sie eintrat, saßen Sania und Loris am Tisch neben der Tür.

„Na, du! Wie geht’s dir denn?“ Sie legte dem Mädchen freundschaftlich eine Hand auf die Schulter, während Loris aufstand, um für einen anderen Gast einen Caffè zu machen.

„Wieder ganz gut.“ Sania lächelte zu ihr hoch. „Wenn es dir nichts ausmacht, könnte ich ab morgen wieder anfangen zu arbeiten.“

„Klar, freut mich, dass der Schnitt wieder verheilt ist. Das hat am Anfang schön schlimm ausgesehen.“

„Der Arzt hat es sogar genäht, siehst du?“ Sania zeigte ihr unter dem Pflaster die rötliche Narbe, an der die Stiche noch deutlich sichtbar waren. „Ich möchte mich noch bei dir bedanken, dass du für mich eingesprungen bist. Das war großartig von dir.“

„Keine Ursache, Sania. Es hat Riesenspaß gemacht, und ich weiß nicht, ob es mir gefällt, jetzt arbeitslos zu sein.“ Sie zwinkerte. „Aber gut. Dann werde ich meinen letzten Einsatz heute besonders genießen. Und morgen komme ich dich besuchen, und dann trinken wir ein Glas darauf, dass ich wieder Ferien habe und du okay bist, einverstanden?“

Sanias Freund Fabio hupte draußen, und das Mädchen verschwand mit einem fröhlichen Winken.

Lara trat neben Loris hinter die Bar.

„Weißt du“, meinte er, „ich glaube, du wirst mir fehlen. Ich habe mich schon richtig an dich gewöhnt!“

„Aber Loris, glaubst du denn, ich komme dann nicht mehr? Was wird aus dem Billardspielen? Inzwischen kenne ich so viele von deinen Kumpels, dass ich mir schon zutraue, mit einem von ihnen eine Partie zu spielen.“

„Fein, das wäre nett. Ach übrigens, wie hat dir die Party gestern gefallen?“

„Du weißt aber auch wirklich alles!“

„Klar, Alessandro hat mir ja gesagt, du müsstest unbedingt früher gehen, damit du noch die letzten Minuten von seinem Geburtstag mitkriegst.“

„Na toll! Und weißt du was? Das bleibt aber jetzt wirklich unter uns, versprochen?“

„Versprochen!“

„Er hat mir nicht gesagt, dass er Geburtstag hat. Er hat mir auch nicht gesagt, wohin wir fahren, und ich Dummkopf bin im Auto vor lauter Angst fast gestorben.“

„Das ist nicht wahr, oder?“

„Doch, leider ist das sehr wahr. Ich habe mich blamiert bis auf die Knochen und ihm die Überraschung verdorben.“

Nun konnte Loris sich nicht länger beherrschen, er lachte schallend drauflos.

„Das kann ich nicht glauben. Du hattest Angst?“

„Und wie! Ich schwör’s dir, ich hatte bereits den Türöffner in der Hand, aber wir waren einfach zu schnell. Kannst du dir vorstellen, wie ich ausgesehen hätte, wenn ich aus dem fahrenden Auto gesprungen wäre und danach gesagt hätte: ‚Mein Name ist Bond – Lara Bond‘!“

Nun konnte Lara sich nicht mehr halten, und sie lachten beide, bis sie außer Atem waren und Lara die Wimperntusche über das Gesicht lief.

„Wisch dir das Gesicht ab“, riet Loris ihr, als er wieder einigermaßen vernünftig sprechen konnte. „Sonst denken die Leute noch, du weinst Freudentränen, weil du endlich nicht mehr bei mir arbeiten musst.“

Als auch Lara sich wieder beruhigt hatte, versuchte sie, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Sie war froh, dass ziemlich viel los war und sie nicht zum Nachdenken kam. Was sie gehört hatte, verwirrte sie, und sie wusste, wenn sie erst zu Hause in ihrem Bett läge, würde sie bestimmt nicht gleich zum Schlafen kommen. An diesem Abend wurde es später als sonst, und als sie sich dann schließlich von Loris verabschieden wollte, drückte er ihr den restlichen Lohn und eine Flasche Prosecco in die Hand und bestand darauf, dass sie sie annahm.

„Als kleines Dankeschön. War eine Freude, mit dir zu arbeiten! Und versprich mir, dass du wirklich öfter mal vorbeikommst, ja?“

2

Der nächste Morgen wartete mit bedecktem Himmel auf, es war zwar nicht besonders kalt, doch Lara hatte keine Lust, sich von der Stelle zu bewegen. Sie schnappte sich ein Sitzkissen und eine Wolldecke und machte es sich mit einer Tasse Kaffee auf der Bank vor dem Haus bequem.

Diese Phase der Muße nach den bewegten und ereignisreichen vergangenen Tagen schien ihrer Laune allerdings nicht gutzutun. Während sie an ihrem Kaffee nippte und den Olivenbaum betrachtete, der ein paar Meter entfernt im Wind raschelte, drängte sich plötzlich eine vergangene Szene in ihr Bewusstsein. Je stärker Lara versuchte, die Erinnerung zu verscheuchen, desto intensiver wurde sie.

Valerie und Bert hatten ihnen damals eröffnet, dass sie sich in Italien ein Haus gekauft hätten und dieses Jahr Weihnachten und Silvester dort verbringen würden.

„In einem Ferienhaus im Süden? Im Winter?“, hatte Robert verblüfft gefragt. „Habt ihr denn überhaupt Heizung und genug Strom?“

Lara wäre am liebsten im Erdboden versunken, als sie Berts beleidigtes Gesicht gesehen hatte. Wie konnte ihr Mann sich nur so danebenbenehmen?

„Natürlich haben wir Heizung. Das ist ein normales freistehendes Einfamilienhaus in einem Dorf. Voll erschlossen, mit Heizung, Strom, fließend Wasser – warm und kalt – und sogar asphaltierten Straßen vor der Tür“, war Valerie mit ihrer Beschreibung fortgefahren, und hatte sich einen ironischen Nachsatz nicht verkneifen können. „Und denk dir nur, Robert, in Italien sind Messer und Gabel sowie die Geheimnisse des Schreibens und Lesens bereits bekannt.“

Pikiert hatte er sie angesehen, doch angesichts der Tatsache, dass alle anderen sich die Bäuche vor Lachen hielten, hatte er gute Miene zum bösen Spiel gemacht und unlustig mitgelacht.

Allerdings nur so lange, wie sie in Gesellschaft gewesen waren. Zu Hause hatte er drei Tage lang kaum ein Wort mit ihr gesprochen, ihr nur vorgeworfen, sie sei ihm in den Rücken gefallen, indem sie mit den anderen gelacht habe. Statt ihm Paroli zu bieten, hatte sie sich bei ihm entschuldigt und auf Schönwetter gemacht. Wie des Öfteren in solchen Situationen.

Und wozu das alles?

Seufzend tauchte Lara aus ihren trüben Erinnerungen auf und beschloss, sich notfalls mit Gewalt auf andere Gedanken zu bringen. Also raffte sie sich auf und ging ins Haus zurück. Im Wohnzimmer hatte Valerie einen Bücherschrank voll mit Lesestoff jeglichen Genres angelegt. Sie selbst hatte früher so gern gelesen – bevor ihr Robert mit seinem Spott den Spaß an ihren geliebten Krimis und historischen Romanen verdorben hatte. Zu anspruchslos, fand er. Auf seinem Lesetisch fanden sich natürlich nur Pulitzer- und sonstige Preisträger. Manchmal hatte Lara sich gefragt, ob er die Schmöker überhaupt anfasste, doch da er tatsächlich hin und wieder mit einem Zitat aufwarten konnte, hatte er sie offenbar gelesen.

Sie selbst las nicht, um mit ihrer Lektüre anzugeben, sondern um sich zu unterhalten und die Zeit zu vertreiben. Ein spannendes Buch war für sie wie ein Film – Kopfkino, bei dem sie mitfiebern oder lachen konnte, Herzschmerz inklusive und allem, was sonst noch so dazugehörte. Manchmal sogar mit Popcorn.

Langsam streifte sie an den vollgepackten Regalen entlang. Viele der hier vertretenen Autoren kannte und mochte sie. Andere waren ihr neu. Ein etwas zerlesenes Taschenbuch fiel ihr auf und sie zog es aus dem Regal: Zeit der Hoffnung von Nora Roberts.

Das würde ihre Lektüre für den Rest des Tages sein. Wenn das kein gutes Omen war …

In den folgenden Tagen ging sie viel spazieren und erkundete das Dorf und die nähere Umgebung. Schon als sie bei Loris in der Bar gearbeitet hatte, war ihr Italienisch flüssiger geworden, als sie selbst es erwartet hätte. Kein Wunder, schließlich hatte sie tagelang kein einziges deutsches Wort gesprochen. Und auch mit den Dorfbewohnern kam sie immer enger in Kontakt; ihre verschiedenen Einkäufe und Aufenthalte in den Bars halfen ihr dabei, heimisch zu werden.

Als sie abends kurz vor Sonnenuntergang am Flussufer saß, schaltete sie ihr Handy ein und rief Valerie an.

„Hallo, hier spricht Italien.“

„Ja, hallo! Was ist mit dir los? Ich habe mir schon Sorgen um dich gemacht!“

„Warum? Ich sagte dir doch, ich würde mich melden!“

„Schon, mein Schatz, aber es sind schon wieder ein paar Tage vergangen seit deinem letzten Anruf. Hast du denn schönes Wetter?“

„Meistens schon …“

„Na fein. Und wie geht es dir sonst?“

„Keine Ahnung, wenn ich ehrlich bin. Es ist noch immer ein bisschen komisch, allein zu sein.“ Lara fühlte sich außerstande, das besser zu beschreiben.

„Ach, du gewöhnst dich bestimmt bald daran, du bist bloß noch nicht lang genug weg! Nimm dir eine Flasche Prosecco, setz dich in die Sonne und tauch etwas ab. Du langweilst dich doch nicht, so allein?“

„Bis jetzt noch nicht.“

„Weißt du schon, wie lange du noch bleiben willst?“

Lara lachte verlegen. „Gefühlt bin ich gerade erst angekommen.“

„Verstehe …“

„Ist irgendwas passiert?“

„Nein, ich wollte mich nur orientieren. Unseretwegen kannst du bleiben, solange du willst, es sieht nicht so aus, als ob wir dieses Jahr im Winter wegfahren können. Bert hat ein kompliziertes Mandat angenommen und kann sich wahrscheinlich gar nicht freinehmen.“

„Das ist natürlich schade für euch. Aber … nein, ich weiß noch nicht, wann ich wieder zurückkomme.“ Und ob überhaupt, ergänzte sie im Stillen. „Wenn es euch nichts ausmacht, bleibe ich etwas länger, einverstanden?“

„Klar. Hast du etwa jemanden kennengelernt?“

„Ich doch nicht. Ich mag momentan einfach nichts anderes hören und sehen. Was tut sich bei euch? Äußert sich Robert eigentlich?“

„Na klar. Du hast seinen männlichen Stolz schließlich gehörig verletzt und damit hält er auch nicht hinterm Berg, selbst nicht vor uns.“

„Was sagt er denn?“

„Ach, weißt du … du solltest dich damit gar nicht belasten. Erhole dich und denk nicht daran.“

„Du machst mir Angst. Ist es so schlimm?“

Valerie schwieg einen Moment, und in Laras Magen ballte sich ein eisiger Klumpen zusammen.

„Nun ja. Er stellt es so dar, als hättest du ihn ohne die leiseste Vorwarnung und vor allen Dingen grundlos eiskalt sitzenlassen.“

Lara wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, so tief war ihre Fassungslosigkeit. „Das darf doch nicht wahr sein“, murmelte sie schließlich kraftlos.

„Du weißt, wie das in solchen Situationen ist“, antwortete Valerie voller Unbehagen. „Der andere stellt es so dar, wie es für ihn am besten ist.“

„Ist klar.“ Lara atmete tief aus, um ihrer Beklemmung Herr zu werden. Warum interessierte es sie überhaupt? Die Leute, bei denen er sie schlechtmachte, würde sie in Zukunft ohnehin nicht mehr sehen wollen. Trotzdem … „Er ist einfach ein Mistkerl.“

„Hast du von ihm was anderes erwartet?“ Eine ungewohnte Schärfe lag in Valeries Stimme.

„Du hast ihn nie richtig gemocht, oder?“

Einen Moment herrschte Schweigen. Dann antwortete Valerie mit einer Gegenfrage. „Mal ehrlich?“

„Ja, mal ehrlich. Von Lügen habe ich nämlich die Nase gestrichen voll!“

„Nein, ich konnte ihn nie so richtig leiden. Aber da du dich nun mal für ihn entschieden hattest, habe ich den Mund gehalten. Man soll sich da als Außenstehender lieber nicht einmischen mit seinen Unkenrufen …“

„Aber du bist meine beste Freundin! Du hättest es mir sagen müssen.“

„Einen Keil zwischen euch treiben und am Scheitern einer Beziehung schuld sein? Nein, Lara, das wollte ich nicht. Ich habe mich oft mit Bert darüber unterhalten, und wir waren uns einig, dass wir den Mund halten. Wenn es weiter gut gegangen wäre, hätten wir eines Tages als die Bösen dagestanden, und du bist mir als Freundin zu wichtig, als dass ich das zulassen wollte. Du musstest selbst herausfinden, dass er dich nicht verdient hat.“

„Hinterher ist man eben immer schlauer.“ Lara seufzte. „Was soll’s jetzt noch, nicht wahr? Wenigstens habe ich nun endlich rausgefunden, wer er wirklich ist.“

„Genau. Damit hast du dir immerhin die nächsten Jahre deines Lebens mit ihm gespart. Und jetzt wieder Kopf hoch, okay?“

„Okay. Und Valerie …“

„Was?“

„Wenn Robert nach mir fragen sollte …“

„Dann weiß ich nicht, wo du bist. Schon klar.“

Allein bei der Erwähnung ihres Mannes zog sich Laras Magen jedes Mal zu einem eiskalten Klumpen zusammen. Daher vermied sie es nach Möglichkeit, über ihn zu reden, nur manchmal musste es eben doch sein. Immerhin hielt er sich getreu an die letzten Worte, die sie ihm entgegengeschleudert hatte. Sie erinnerte sich nur zu gut daran.

„Es ist vorbei, und zwar endgültig. Ich verlasse dich, und du brauchst gar nicht zu versuchen, mich zu finden. Wenn ich so weit bin, melde ich mich bei dir.“

„Bist du sicher, dass du das willst?“, hatte er noch gefragt, seine Stimme betont ruhig, so wie immer, wenn Lara aufgebracht war. Als müsse er ein kreischendes Kind besänftigen.

„Ganz sicher. So sicher, wie schon lange nicht mehr in meinem ganzen beschissenen Leben. Und wenn du möchtest, kannst du ja gern schon mal die Scheidung einreichen“, hatte sie ihm eisig erklärt, bevor sie ihre Sachen ins Auto gepackt hatte und einfach gegangen war.

Zuerst hatte sie eine Weile bei Valerie und Bert gewohnt, aber das war kein Dauerzustand für sie gewesen. Sicher, die beiden mochten sie von Herzen gern, sie kannten sich schon, seit Lara ein Teenager gewesen war. Aber einerseits hatte sie dauernd das Gefühl gehabt, ein geliehenes Leben zu führen, das ihr weder gehörte noch zustand und in dem sie ständig die Intimsphäre zweier Menschen verletzte, und andererseits hatte sie es einfach nicht mehr ertragen, mit ansehen zu müssen, was für eine harmonische Beziehung die beiden miteinander führten. Jeder Moment hatte ihr deutlich gemacht, wie sehr sie und Robert versagt hatten – wahrscheinlich vor allem sie, sonst wäre das alles schließlich nicht passiert. Es hatte ihr einfach zu wehgetan.

Lara fröstelte und wusste nicht, ob es wegen der heraufziehenden Abendkühle war oder weil sie sich plötzlich zutiefst selbst bedauerte. Sie hatte immer getan, was sich gehörte, und hatte standesgemäß geheiratet. Sie hatte ihr Studium absolviert, nicht weil Betriebswirtschaft zu ihren eigentlichen Talenten gehörte, sondern weil ihr Vater der Meinung war, damit könnte sie überall punkten. Die wenigen Male, die er sich wirklich Zeit für sie genommen hatte, war es um ihre berufliche Laufbahn gegangen, und er hatte sie nicht ein einziges Mal gefragt, was sie selbst gern machen würde. Sie hatte dann auch folgerichtig im Architekturbüro gearbeitet, als Robert es von ihrem Vater übernommen hatte, und hatte sich um die Kontakte zu ihren Kunden gekümmert. Das war ihr einigermaßen leichtgefallen, obwohl auch das nicht wirklich ihren Neigungen entsprach. Neigungen, von denen sie im Grunde bis heute nicht wusste, wo sie eigentlich lagen.

Sie war immer die wohlerzogene Tochter und Ehefrau gewesen, die funktionierte, wenn man sie brauchte. Immer.

Und das hatte sie nun davon!

Scheiß drauf, dachte sie trotzig. Damit war es jetzt vorbei. Hier kann ich tun und lassen, was ich will. Und was sie wollte, war ein ruhiger Abend, vorzugsweise mit einer Flasche Rotwein.

Der dörfliche Supermarkt war mit Spirituosen und Wein erstaunlich gut bestückt. Lara nahm sich die Zeit und genoss es, sorgfältig auszuwählen. Für Wein hatte sie sich immer schon eher interessiert als für trockene Zahlen und Arbeitsrecht, hätte als Teenager gern einen Kurs als Sommelière besucht, doch wie aus anderen ihrer naiven Träume war auch aus diesem nichts geworden.

Wie sie es von ihren Einkäufen zu Hause gewohnt war, fing sie mit den teuren Weinen an. Robert war stets der Meinung gewesen, je kostspieliger, desto besser, doch auch hier teilte sie seinen Geschmack nur bedingt. Für ihn musste es staubtrocken sein, sie mochte es auch mal lieblicher. Nicht süß, aber … Chianti vielleicht? Montepulciano? Oder doch lieber ein einfacher Merlot? Bei einem Malbec hielt sie schließlich inne. Preislich akzeptabel und – soweit sie sich erinnerte – ein guter Jahrgang.

Zufrieden packte sie ihn ein.

Jedoch lief Laras Abend nicht nach Plan. Als sie, ihre Flasche Rotwein in der Handtasche, noch einen Caffè im Pub al Castello um die Ecke nahm, kam sie mit der Frau des Besitzers ins Gespräch. Der Kontakt zu den beiden jungen Leuten war in den letzten Tagen ein wenig freundschaftlicher geworden, trotzdem war sie überrascht und zierte sich dementsprechend, als Gaia sie zum Feierabend in ihr Zuhause einlud.

„Nun mach schon, komm mit!“ Gaia, mit blonden Haaren, blauen Augen und zwei Kopf kleiner das krasse Gegenteil zur langbeinigen und dunkelhaarigen Deutschen, unterstrich ihre Aufforderung mit temperamentvollen Gesten. „Michele macht sowieso hier Dienst, und die Kinder sind bei meiner Mutter. Na los, sag Ja! Wir trinken Wein und stopfen uns mit Käse und Oliven voll. Allein zu Hause sitzen kannst du doch morgen auch noch, oder?“

„Na gut, ich komme“, gab Lara schließlich nach. „Aber wenn ich deine Oliven esse, dann trinken wir wenigstens meinen Wein, abgemacht?“

„Abgemacht!“ Gaias herzhaftes Lachen war ansteckend, und gemeinsam fuhren sie los, Lara in ihrem Auto hinter Gaia her. Sie und ihre Familie bewohnten ein neues Haus direkt an der Pappelallee, die Lara schon oft entlanggefahren war, wenn sie nach Goro oder ans Meer wollte. Es lag inmitten eines riesigen Gartens, in dem zwei französische Bulldoggen herumtollten.

Lara war begeistert. „Es ist so ruhig hier, und trotzdem nicht einsam.“

„Stimmt. Ins Dorf ist es nur ein Katzensprung. Aber der Garten macht ganz schön Arbeit, das kann ich dir sagen.“

„Denke ich mir. Trotzdem, mit Kindern und Tieren ist so was ideal. Habt ihr das Haus schon lange?“

„Wir sind erst letzten Herbst eingezogen.“

Bewundernd sah Lara sich um. Schwere dunkle Holzbalken durchzogen die Decke und zwei hohe steinerne Bögen lagen sich rechts und links der Haustür gegenüber und trennten die Küche vom Wohnzimmer. Große doppelflügelige Türen führten beiderseits des Kamins in den Garten hinaus.

„Es gefällt mir sehr. Diese Form … ich habe sie auf meinen Ausflügen schon öfter gesehen und kann dir nicht sagen, was mich daran so fasziniert.“

„Du meinst den Kubus? Ich nehme an, das ist noch ein Überbleibsel der venezianischen Herrschaft auf der Terraferma. Meist bauten sich die örtlichen Honoratioren solch große Würfel mit dem typischen Walmdach darauf. In der Mitte die Eingangstür, rechts und links Fenster und zwischen denen jeweils ein Kamin.“

„Genau das meine ich. Und dann noch in rosa oder gelb gestrichen – ich würde da am liebsten sofort einziehen.“

Gaia lachte. „Kamin haben wir hier nur einen. Sollen wir den anzünden?“

„Nein, mach dir nicht so viel Arbeit. Es ist auch so sehr gemütlich.“

Sie setzten sich, naschten die Oliven und etwas Käse zum Rotwein und plauderten eine Weile, bis Gaia ihr schließlich unvermittelt eine sehr direkte Frage stellte.

„Sag mal, ich möchte dir ja nicht zu nahetreten, aber du siehst manchmal so traurig aus, wenn du bei uns im Pub sitzt. Hat das einen bestimmten Grund?“

Lara schwieg einen Moment. Sollte sie dieser herzlichen jungen Frau, die mit ihren Kindern, dem großen Haus und dem Lokal wahrscheinlich genug Probleme hatte, auch noch ihre eigenen aufs Auge drücken?

„Du brauchst es mir nicht zu sagen.“ Gaia legte ihr kurz eine Hand auf den Arm, als sie Laras Zögern bemerkte. „Ich denke mir nur, da du hier allein bist und vielleicht nicht so viel Anschluss hast – ich meine, wenn du mal jemanden zum Reden brauchen solltest …“ Sie ließ den Satz unvollendet.

„Danke, das ist sehr lieb von dir. Ich glaube, ich bin noch nicht so weit, aber wenn, dann komme ich mich bei dir ausweinen. Ich habe mich vor kurzem erst von meinem Ehemann getrennt, das sitzt mir noch in den Knochen.“

„Verständlicherweise, dafür hältst du dich aber bewundernswert. Lass uns lieber über etwas Angenehmeres reden. Und trinken wir auf die Liebe, die dir bestimmt bald wieder begegnen wird. Salute!“

Mit ihrem lauten, herzerfrischenden Lachen schenkte sie Lara nach und sie stießen an. Auf die Liebe, dachte Lara, ja, die Liebe. Wenn das nur so einfach wäre mit dieser vertrackten Liebe. Nie hatte sie sich davon weiter entfernt gefühlt als in diesen Tagen, und doch musste sie sich eingestehen, dass eine unterdrückte Sehnsucht danach immer noch in ihr schwelte. Auch wenn sie wild entschlossen war, energisch dagegen anzukämpfen.

Sie schlief nicht sofort ein an diesem Abend, das Telefonat mit Valerie beschäftigte sie, ohne dass sie es verhindern konnte.

Sie hatte Robert schon vor ihrer Heirat gekannt, nur offensichtlich eher lang als gut. Er war attraktiv, und er hatte ihr den Eindruck vermittelt, seine Traumfrau zu sein – dem hatte sie einfach nicht widerstehen können. Also hatte sie sich gar nicht mehr gefragt, ob sie seine Gefühle erwiderte.

Sicher, es hatte auch schon zu Beginn manche Dinge an ihm gegeben, die ihr nicht besonders gefallen hatten, zum Beispiel sein Bedürfnis, stets mehr zu scheinen, als er war. Seinen Markenwahn – nur, wenn etwas ein Designerlabel trug, war es ihm gut genug. Zuerst hatte sie das abgetan, doch mit der Zeit … Dafür hatte sie anfangs seinen Ehrgeiz sehr bewundert. Seine Zielstrebigkeit. Nur ging das mit der Zeit zunehmend auf ihre eigenen Kosten, und sie hatte immer mehr zurückgesteckt, ohne sich dessen richtig bewusst zu werden.

Sie konnte sich noch an eine Phase erinnern, als sie sich gar nicht mehr so sicher gewesen war, ob sie Robert überhaupt heiraten sollte. Als sie versucht hatte, mit ihrer Mutter darüber zu sprechen, hatte sie zur Antwort bekommen, das Leben sei nun mal kein Wunschkonzert. Es sei absolut normal, im Zusammensein mit einem Menschen Kompromisse zu schließen. Sie solle sich in Toleranz üben, da sie selbst auch nicht fehlerfrei sei.

Ja toll.

Natürlich hatte ihre Mutter auf ihre Weise recht gehabt, das war ihr heute klar, aber sie hatte sich selbst zu wenig gekannt und ihre Bedenken nicht ernst genug genommen. So hatte sie sich an der falschen Stelle auf Kompromisse eingelassen und sich stattdessen immer mehr zurückgezogen.

Nun, jedenfalls bedauerte sie mit einem gewissen Groll, dass ihre Mutter nicht mehr lebte. Die hätte sie jetzt gern gefragt, was um alles in der Welt sie nun dazu zu sagen hätte, dass manche Menschen das Leben eben doch als Wunschkonzert betrachteten und dass sie nicht mehr der Wunschtitel war.

Autor

Laura Gambrinus
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