Faszinierend wie der Kuss des Herzogs

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Was geschieht in der Villa auf Sizilien? Angeblich sollen hier Räuber nach einem Schatz suchen. Clios Neugierde ist größer, als es sich für eine englische Lady geziemt! Sie beschließt, den Gerüchten auf den Grund zu gehen - und läuft dabei Edward Radcliffe, dem Duke of Averton, in die Arme. Er fasziniert sie schon lange, doch sie traut ihm nicht. Als er sie heiß küsst, fragt sie sich, ob sie ihr Herz einem Helden oder einem Schurken geschenkt hat …


  • Erscheinungstag 13.03.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733749460
  • Seitenanzahl 224
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Auf Zehenspitzen schlich Clio Chase durch einen schmalen Korridor im Akropolis House, dem labyrinthischen Londoner Domizil des Duke of Averton, und spähte über ihre Schulter. Niemand folgte ihr. Wahrscheinlich wurde ihre Abwesenheit gar nicht bemerkt, weil in dem Saal, wo der griechische Maskenball stattfand, ein so dichtes Gedränge herrschte.

Perfekt.

In diesem Flur, fern von der Musik und dem Stimmengewirr, war es fast so still wie in einer Gruft. Nur wenige Gaslampen erhellten mit ihrem flackernden Licht die dunkel getäfelten Wände und die golden gerahmten Gemälde.

Clio blieb stehen und schlüpfte aus ihren grünen Tanzschuhen. In Strümpfen eilte sie zum Ende des Korridors, wo eine gewundene Treppe nach oben führte. Sie raffte die Röcke ihres grüngoldenen Medusa-Kostüms und stieg hinauf. An diesem Abend hatte der Duke sich nur vage über den Standort der Statue geäußert. So geheimnistuerisch wie Seine Gnaden waren die Dienstboten nicht, und sie hatte einem Lakaien entlockt, wo sich Artemis befand, die Alabastergöttin.

Am Treppenabsatz erreichte sie eine Galerie, die fast die ganze Breite des Hauses einnahm. Die Fenster gingen zum vorderen Garten und zur Straße hinaus. Um verspätete Gäste einzulassen, stand das Portal immer noch offen.

Obwohl es in der Galerie mehr Lampen als im Flur gab, brannten die meisten nicht. Zweifellos würden sie erst nach dem Souper aufflammen, um die grandiose Enthüllung der Statue zu illuminieren. Jetzt fiel nur schwaches Licht auf vereinzelte Kunstgegenstände.

Während Clio durch die Galerie wanderte, hielt sie den Atem an und ließ ihren Blick immer wieder von einer Seite zur anderen schweifen. Ihr Vater und seine Freunde waren passionierte Sammler und liebten es, ihre Schätze zu zeigen. Inmitten kostbarer Altertümer war sie aufgewachsen. Aber was sie jetzt betrachtete, stellte ein Raritätenkabinett dar, wie sie es nie zuvor gesehen hatte.

Beinahe glich die Galerie einem Lager, vollgestopft mit Kunstwerken. Steinerne Jünglinge starrten sie mit leeren Augen an. Zwischen Bronzekriegern und Marmorgöttern standen Kisten voller goldener etruskischer Juwelen, Skarabäengemmen aus Lapislazuli und Parfümfläschchen. Zahlreiche Regale waren mit Vasen, Amphoren und anderen Gefäßen gefüllt. Und alles bildete ein seltsames Durcheinander – nur um die Eitelkeit eines einzigen Mannes und seine Sammelleidenschaft zu befriedigen? Oder stimmte es, was er behauptet hatte? Hortete er diese Gegenstände, weil es mit seiner Arbeit für die Antiquities Society zusammenhing?

Als Clio den Kopf schüttelte, bebten die Satinschlangen auf ihrer Krone. An ihn durfte sie jetzt nicht denken, denn sie musste eine Aufgabe erledigen.

Am Ende der Galerie, in einem Lichtkreis aus Kerzenschein, erhob sich ein Gegenstand, von einem schwarzen Seidentuch verhüllt. Nur ein kleiner Teil des korallenroten Marmorsockels war zu sehen. Vorsichtig ging Clio darauf zu. Jeden Moment erwartete sie, in eine Falle zu geraten – einen Wächter zu alarmieren. Aber alles blieb still, und sie hörte nichts außer dem Wind, der vor den Fenstern in den Bäumen rauschte. Ermutigt hob sie das Tuch und schaute darunter.

„Oh“, seufzte sie. Tatsächlich, die Alabastergöttin – Artemis in all ihrem Glanz …

Die Statue war nicht groß. Von den meisten Figuren in der Galerie wurde sie überragt. Doch sie sah so schön und anmutig aus, dass Clio verstand, warum sie so viel Aufsehen erregte, warum die Damen „Artemis“-Frisuren und „Artemis“-Sandalen trugen.

Und warum der Duke sie versteckte.

Aus Alabaster gemeißelt, weiß wie frisch gefallener Schnee, hob sie ihren Bogen, auf dem ein Pfeil lag. Die gefältelte Tunika floss über die Konturen ihres schlanken Körpers, als würde ein Windstoß den Stoff bewegen, und reichte bis zur Mitte kraftvoller Beine, die den Anschein erweckten, die Göttin würde jeden Augenblick dahinstürmen. In dieser Saison kopierten alle Damen die mit Bändern verschnürten Sandalen. Daran haftete immer noch ein bisschen Blattgold, ebenso am Band, das Artemis’ lockiges Haar aus der Stirn hielt, verziert mit einem Halbmond, der die Göttin des Mondes kennzeichnete. Ihr Blick richtete sich auf die Beute.

Fasziniert starrte Clio die Statue an und stellte sich den Tempel von Delos vor, wo die Göttin einst residiert hatte und von ihren Bewunderern verehrt worden war. „Wie schön du bist“, flüsterte sie. „Und so traurig.“

Was das betraf, ähnelte ihr der Duke.

Mit einer Geste stummen Mitgefühls berührte sie Artemis’ Fuß. Da bemerkte sie, dass der Marmorsockel auf einem dicken Holzblock stand. Durch seine Mitte zog sich ein dünner Riss. Sie beugte sich vor, um festzustellen, ob der Riss versehentlich oder mit Absicht entstanden war.

„Ah, Miss Chase, Sie haben meinen Schatz entdeckt“, erklang eine leise Stimme.

Verwirrt drehte sie sich um und sah den Duke in der Galerie stehen, nur wenige Schritte entfernt.

Sogar im schwachen Licht leuchteten seine Augen. Freundlich – vielleicht täuschend freundlich lächelte er sie an und schüttelte das Leopardenfell seines Dionysoskostüms von den Schultern. Lautlos kam er näher, als wäre er selber eine Raubkatze.

„Schön ist sie, nicht wahr?“, fragte er, immer noch leise. „Ich wusste, Sie würden sich zu ihr hingezogen fühlen. So wie ich. In ihrem Mysterium und ihrer Einsamkeit ist sie – unwiderstehlich.“

Clio wich zu der Göttin zurück. Ja, auch sie hatte Artemis unwiderstehlich gefunden. So sehr, dass ihre Wachsamkeit nachgelassen, dass sie die Ankunft des Dukes nicht bemerkt hatte. Während er sich näherte, griff sie hinter sich. Ihre Finger berührten einen kalten Fuß der Statue. Dann glitt ihre Hand hinab, und sie fand den Riss im hölzernen Podest. Sie drückte ihre Finger hinein, als könnte Artemis sie vor Averton schützen, vor der seltsamen inneren Unrast, die sie in seiner Gegenwart stets empfand.

Auch jetzt … Langsam und unausweichlich kam er näher, wie ein Jaguar im Dschungel. Dabei ließ er sie nicht aus den Augen, und sie gewann den Eindruck, er würde alle Geheimnisse ihres Herzens erkennen.

Er behinderte ihre Arbeit, die Mission der „Liliendiebin“. Und doch waren sie miteinander verbunden, von unsichtbaren, unzerreißbaren Fesseln.

Trotz ihres Unbehagens würde sie ihm nicht die Genugtuung gönnen und davonlaufen. Noch nicht.

Schließlich blieb er an ihrer Seite stehen, und sie hielt den Atem an. Er berührte den Saum von Artemis’ Tunika, die Finger mit den kostbaren Ringen nur wenige Zentimeter vom Ärmel ihres grünen Seidenkostüms entfernt. Verwirrt spürte sie die Wärme seiner Haut, seinen durchdringenden Blick. Die Spannung zwischen ihnen wuchs, bis Clio fürchtete, sie müsste schreien.

„Natürlich werde ich Ihnen nicht erlauben, sie zu stehlen“, sagte er sanft und unerbittlich zugleich.

„Oh?“ Sie versuchte zu lachen. „Glauben Sie, ich könnte die Statue unter meinen Röcken verstecken und hinausschmuggeln? An all Ihren Wachtposten vorbei?“

Sein Blick schweifte über ihr grünes Gewand. „Was immer Sie tun, nichts würde mich überraschen.“

„Zumindest würde ich ihr ein schöneres Heim bieten als dies hier. Aber ich bin nicht so dumm, um ein solches Wagnis einzugehen.“

„Heute Nacht nicht.“

„Da haben Sie recht.“

Seine Hand wanderte von Artemis’ Tunika zu ihrem gefältelten Ärmel. Obwohl er ihre Haut nicht berührte, fühlte Clio eine Liebkosung. Von einem seltsamen Bann erfasst, trat sie näher zu ihm.

„Was Sie planen, weiß ich, Clio Chase“, erklärte er mit der samtigen Stimme eines Liebhabers. „Und das gestatte ich Ihnen nicht, zu Ihrem eigenen Wohl.“

„Zu meinem Wohl?“ Bestürzt zuckte sie zurück vor der Lockung seiner Nähe, seiner tiefen Stimme. „Oh nein, Euer Gnaden. Was Sie auch tun mögen, es dient nur Ihrem Interesse.“

„Nun, es gibt Dinge, die Sie nicht wissen“, entgegnete er und umfasste ihren Arm.

„Über Sie?“

„Über mich – und was hier geschieht. Mit der Alabastergöttin.“

„Oh, ich fürchte, ich weiß mehr, als es mir gefällt!“, stieß sie hervor. „Über Ihre Habgier, Ihre …“

„Clio!“, unterbrach er sie und zog sie näher zu sich heran.

Zu ihrem eigenen Entsetzen wünschte sie, er würde sie umarmen.

„Warum hören Sie nie auf mich?“ Wie dunkle Smaragde glühten seine Augen.

„Weil Sie nie mit mir reden“, flüsterte sie. „Nicht wirklich.“

„Wie kann ich mit jemandem sprechen, der mir misstraut?“ Seine Fingerspitzen gruben sich leicht in ihren Arm. „Oh Clio, was tun Sie mir an?“ Seine Lippen berührten ihre – ein betörender Kuss, wie eine duftende Sommerbrise. In diesem Kuss kostete sie ihren eigenen Zorn, ihre eigene verzweifelte Sehnsucht.

Und plötzlich war das alles zu viel – der Kuss, Avertons Nähe, ihre heftigen Emotionen. Irgendwie musste sie diesem Wirrwarr entrinnen. Und so ergriff sie die Alabastergöttin, um sie zwischen den Duke und sich selbst zu stoßen, eine Barriere – um ihn daran zu erinnern, wer und was sie wirklich waren.

Stattdessen stieß Artemis’ harter Ellbogen gegen seinen Kopf. Zusammen mit der Statue fiel er zu Boden.

Erschrocken sah sie die blutende Wunde an seiner Stirn, die geschlossenen Augen. „Edward!“, rief sie, kniete neben ihm nieder und tastete nach seinem Handgelenk. Erleichtert spürte sie seinen Puls. Sie hatte ihn nicht getötet.

Noch nicht.

„Bleiben Sie hier“, wisperte sie, „ich hole Hilfe!“

Und dann eilte sie davon, vorbei an all den Antiquitäten und den Schatten, nicht sicher, wohin – oder wovor sie flüchtete.

Den grünen Seidenstreifen in der Hand des Dukes hatte sie nicht bemerkt.

1. KAPITEL

Provinz Enna, Sizilien, sechs Monate später

Oh Grab, oh Brautgemach und oh du Haus aus Stein, das ewig mich umschließen soll, in das ich wandre zu den meinen allen, die schon Persephone bei sich empfing. Die Letzte bin ich, die Unseligste …‘“

Clio Chase richtete ihr Fernrohr in die Ruine des Amphitheaters, wo ihre Schwester Thalia die Zeilen aus „Antigone“ deklamierte.

Obwohl die zerbröckelte Bühne weit entfernt von dem Felsenhang lag, wo sie saß, sah sie Thalias goldenes Haar im Morgensonnenlicht glänzen und hörte die Worte von Sophokles’ Prinzessin, die zu ihrem Tod geleitet wurde. Dieser ewige Kampf von Leben und Tod, Schönheit und Schicksal schien diesem hellen Tag, diesem Land anzugehören. Im alten Sizilien hatten zahlreiche Eroberer die felsigen Berge und staubigen Ebenen erkundet. Und keiner hatte es wirklich beherrscht. Denn es war das Eigentum der Götter – viel älter, als in der griechischen und der römischen Kultur bekannt.

Clio lenkte ihr Fernglas, das sie dem Schiffskapitän auf der Fahrt von Neapel nach Sizilien abgekauft hatte, an ihrer Schwester vorbei zu der Landschaft hinter der Bühne. In London könnte sich kein Theaterdirektor eine so grandiose Szenerie ausmalen, dachte sie. Unter dem blauen Himmel reihten sich Berge wie neblige Meereswogen aneinander, grün und braun und violett, bis zum schneebedeckten Gipfel des Ätna, zwischen Wolken halb verborgen.

In der Ferne, kaum sichtbar, schimmerte das silbrige Wasser des Sees Pergusa, wo Persephone von Hades in sein unterirdisches Reich entführt worden war. Blumenwiesen erstreckten sich zwischen Olivenhainen, Zitronen- und Orangengärten und bestätigten die Ankunft des Frühlings.

Enna, das Bindeglied der Trinacria, der drei Provinzen – ein heiliger Ort, die Heimat Demeters und ihrer Tochter …

Und jetzt besuchten Mitglieder der Familie Chase diese herrliche Gegend. Mit ihrem Vater und zwei ihrer Schwestern, Thalia und Terpsichore, war Clio hierhergereist. Calliope, die älteste Schwester, genoss währenddessen ihre Flitterwochen. Schon vor langer Zeit hatte Sir Walter Chase, ein begeisterter Wissenschaftler, von den archäologischen Wundern gehört, die in Enna auf ihre Entdeckung warteten. Seine Freundin Lady Rushworth war ihm gefolgt. Doch sie interessierte sich vor allem für die erlesenen Zirkel der in der Stadt Santa Lucia, hoch oben in den pittoresken Bergen, lebenden Engländer. Dort hoffte sie die geistige Anregung zu finden, die sie auf den oberflächlichen Partys in Neapel vermisst hatte.

Die Stirn gerunzelt, senkte Clio das Fernglas und dachte an Santa Lucia. Gewiss, eine schöne Stadt mit der barocken Kirche, den alten Palazzi und der mittelalterlichen Burg … Aber dort gewann sie immer wieder – von den sizilianischen Dienstboten abgesehen – den Eindruck, sie hätte England gar nicht verlassen. So wie in London ging sie auf Partys bei Lady Rushworth, der Viscountess Riverton oder den Elliotts.

Doch sie wollte nicht an England denken. Was dort geschehen war, was sie zurückgelassen hatte … Sie schlang die Arme um ihre angezogenen Knie. Wie ein schützendes Zelt schien das alte Arbeitskleid aus braunem Musselin ihren Körper zu umgeben. Die warme Brise, vom Duft der Pinien und den bereits welkenden Blüten der Mandelbäume erfüllt, zerzauste ihr locker hochgestecktes kastanienrotes Haar.

Hierher gehörte sie, an dieses einsame Fleckchen Erde, nicht nach Santa Lucia oder London, schon gar nicht ins Schloss des Duke of Averton mit den gewundenen dunklen Korridoren, wo an allen Ecken Gefahren und Geheimnisse lauerten. Wie die unglücklichen Schatten im Reich des Hades …

Averton. Würde sie jemals einen Tag erleben, an dem ihre Gedanken nicht zu diesem verwirrenden Mann schweiften? An dem sie sich nicht an seine Berührung erinnerte, an den bezwingenden Blick seiner grüngoldenen Augen, den Klang seiner Stimme, als er ihren Namen geflüstert hatte? Clio …

Nun ist er Hunderte von Meilen entfernt, sagte sie sich. Wahrscheinlich werde ich ihn nie wiedersehen. Trotzdem blieb er irgendwie mit ihr verbunden, der berühmte Duke, der voller Habsucht seine antiken Kunstwerke sammelte – so wie er sie betrachtet hatte, als wäre sie eine griechische Vase oder Statue, die er besitzen wollte.

Nun, er besaß immer noch die Alabastergöttin, die wunderbare, aus Delos entwendete Figur der Artemis, die er in seinem Schloss versteckte. Mir wird er das nicht antun. Das werde ich verhindern – und wenn ich mich für den Rest meiner Tage in der sizilianischen Wildnis verbergen muss. Der Duke gehörte der Vergangenheit an. Ebenso wie die Liliendiebin …

Auch sie hatte ihre Geheimnisse gehütet. Für ein paar glorreiche Monate war sie die berüchtigte Liliendiebin gewesen.

Sie stand auf und streckte sich im Sonnenschein. Welch ein Glück, allein zu sein, von niemandem beobachtet oder verurteilt, einfach nur Clio, keine der „Chase-Musen“! Jetzt, nach Calliopes Hochzeit, erwarteten alle Leute, sie würde als Nächste vor den Traualtar treten und ihren gesellschaftlichen Platz in der exklusiven Gelehrtenwelt ihrer Familie einnehmen.

Bisher hatte sie keinen Mann kennengelernt, den sie so lieben könnte wie Calliope ihren Earl. Vielleicht war sie nicht für ein solches Leben geschaffen, sondern vielmehr für die Arbeit in der erst kürzlich entdeckten griechisch-römischen Ausgrabungsstätte. Ein Großteil lag immer noch unter der Erde. Aber ihr Vater und seine Freunde erforschten eifrig, was bereits freigelegt war – das Theater, den Marktplatz, verfallene Mauern kleiner Häuser, eine Villa mit fast intaktem Mosaikboden im Atrium, einen kleinen Tempel ohne Dach, vermutlich der Demeter geweiht.

Durch das Fernglas sah Clio ihren Vater über den Mosaikboden wandern, während ihre vierzehnjährige Schwester Terpsichore – Cory – die Fliesenszenen mit den Meergöttern und Meerjungfrauen skizzierte. Von einem großen Strohhut vor der Sonne geschützt, inspizierte Lady Rushworth ein paar Tonscherben. Wie emsige Ameisen eilten andere Freunde sowie Diener umher.

Clio klappte das Fernglas zusammen, verstaute es in ihrem Tornister und stieg die steilen, in den Felsenhang gehauenen Steinstufen hinab. An der Stelle, wo sie sich gabelten und eine Treppe nach Santa Lucia führte, blieb sie stehen und betrachtete die zerbröckelnden Zinnen des alten Schlossturms. Wieder einmal fühlte sie sich an das Yorkshire-Schloss des Dukes erinnert, das zu seiner ausgefallenen Erscheinung passte. In ihrer Fantasie tauchten seine langen rotgoldenen Haare auf, die starken Hände, die ihre so fest umfasst, die leuchtend grünen Augen, die ihren Blick gefesselt hatten.

Unbewusst bewegte sie ihre Handgelenke. Wie leicht hätte er einer der Kreuzritter sein können, der Erbauer dieses Turms … Dann hätte er zwischen den Zinnen gestanden und sein erobertes Land begutachtet. Hinter ihm hätte sein Banner im Wind geflattert. Dank seines Geldes, seines erlauchten Titels und seiner Attraktivität würde er stets alles gewinnen, was er sich wünschte. Die Welt gehörte ihm.

Aber sie nicht. Niemals.

Clio wandte sich von der alten Burg ab und stieg die andere Treppe hinauf, die sich um den Hügel herumzog. Nach einer Weile führten die Stufen bergab, zu einer Wiese voller weißem Klee. Nur das Summen der Bienen durchbrach die tiefe Stille, und von den Bergen drang das Bimmeln der Ziegenglöckchen zu ihr herüber.

Auch auf dieser Wiese würden die Tiere reiche Nahrung finden, und die Einheimischen könnten wilden Fenchel und Oregano sammeln. Trotzdem sah Clio keine einzige Menschenseele, wann immer sie hierherkam. Rosa, die Köchin im gemieteten Haus, hatte ihr erklärt, dies sei ein heiliger Ort, wo einst ein Demeter-Altar gestanden habe. Das schienen Weizenähren, in den Stamm eines Weißdornbaums geritzt, zu bestätigen, ebenso Früchte und Blumen – Opfergaben, die oft darunterlagen.

In der Nähe hatte Clio mysteriöse Gruben gefunden. Offenbar wiesen sie auf frühere illegale Ausgrabungen hin. Hatte irgendjemand nach Spuren von Persephone und Hades gesucht, ihrem düsteren Gemahl?

Wie auch immer, weder diese beiden noch Demeter störten Clio, wenn sie sich hier aufhielt. Vielleicht wussten sie, dass sie zu ihnen gehörte und ihre Arbeit tat, um sie alle ins Leben zurückzuholen. Sie setzte ihren Weg fort und erreichte ihr Refugium, die Ruine eines kleinen Bauernhauses, vor langer Zeit zerstört. Nur niedrige braune Mauerreste waren übrig geblieben. Sie wickelte ihre Werkzeuge aus einem Wachstuch, ergriff einen kleinen Spaten und begann zu arbeiten. Dabei vergaß sie die Außenwelt, sogar den Duke of Averton, zumindest für einige Zeit.

All die Leidenschaft, die früher ihrer Rolle als Liliendiebin gegolten hatte, widmete sie jetzt dieser Ruine.

2. KAPITEL

Sind Sie zufrieden, Euer Gnaden?“, fragte der Makler mit zitternder Stimme. „Zweifellos ist das der schönste Palazzo von Santa Lucia, mit einer fabelhaften Aussicht. Zudem liegt er in der Nähe der Kirche und des Hauptplatzes. Auch eine Jagdhütte in den Bergen gehört dazu. Anderen Mietern überlässt die Baronin ihre Möbel nur widerstrebend. Aber für Sie, Euer Gnaden, macht sie nur zu gern eine Ausnahme.“

Fühlt sie sich geehrt, wenn das Hinterteil eines englischen Aristokraten ihre Sessel und Sofas beglückt? Edward Radcliffe, Duke of Averton, begutachtete amüsiert die abblätternde Vergoldung und die abgewetzte aprikosenfarbene Polsterung einiger Stühle, die Seidentapete in derselben Farbe und die Putten des schadhaften Stucks an der Decke des Salons.

Der Palazzo bedurfte einer gründlichen Reinigung. Auf dem zerkratzten Marmorboden lag eine dünne Staubschicht, an den reich geschnitzten Rahmen alter Porträts hingen Spinnweben. Missbilligend starrten die sizilianischen Vorfahren der Baronin auf Edward herab. Doch das störte ihn nicht sonderlich. Er kehrte ihnen den Rücken, trat an eines der hohen, schmalen Fenster mit den fadenscheinigen goldenen Satinvorhängen und betrachtete den fernen Ätna und dann das Amphitheater.

Perfekt. Ohne seinen Blick abzuwenden, fragte Edward: „Wo wohnt die Familie Chase?“

„Ah, die Familie mit den Töchtern!“, erwiderte der Makler. „Am anderen Ende des Marktplatzes, bei der Kathedrale. Abends sieht man sie oft spazieren gehen.“

Also nicht weit von hier entfernt. Als Edward die Augen schloss, glaubte er sie an seiner Seite zu spüren – seine mutwillige Muse. „Gut, ich miete den Palazzo“, verkündete er und blinzelte ins sizilianische Sonnenlicht.

Am nächsten Morgen entfernten die Dienstboten des Dukes die deprimierende Ahnengalerie der Baronin und die schlimmsten vergoldeten Möbel und ersetzten sie durch erlesene Antiquitäten aus der Averton-Sammlung. In sorgsam entstaubten Ecken standen Marmorstatuen und anmutige Amphoren.

Edwards Schlafzimmer ging zum Hof und der Straße dahinter hinaus. Im größeren Schlafgemach, offensichtlich von der Baronin benutzt, hingen Bettvorhänge von einem gigantischen Familienwappen herab. Aber er bevorzugte diesen kleineren Raum mit den weißgoldenen Möbeln auf einem abgewetzten blaurot gemusterten Teppich. Von hier aus konnte er die Ereignisse auf den Straßen der Stadt im Auge behalten. Und das Haus der Familie Chase.

„Alles in bester Ordnung“, murmelte er und beobachtete, wie die Lakaien die letzten der aus London nach Sizilien verschifften Antiquitäten in den Palazzo trugen. Die berühmte Alabastergöttin wurde neben dem Kamin im Schlafzimmer postiert und erweckte den Eindruck, sie würde mit ihrem Pfeil auf die Porzellanschäfer und – schäferinnen zielen, die das Sims zierten. Durch ihren hölzernen Sockel zog sich ein Riss – seit dem verhinderten Diebstahl etwas breiter.

Langsam strich Edward mit einer Fingerspitze über diese einzige Spur, die ihn an jene Nacht in der Galerie seines Londoner Hauses erinnerte. Schon oft hatte er Artemis’ kühle Leidenschaft mit Clios Wesen verglichen. Die Göttin des Mondes und der Jagd – niemals gestattete sie einem Sterblichen, ihr den Weg zu versperren, stets nahm sie sich, was sie wollte, was sie für ihr Recht hielt. Vor keiner Gefahr schreckte sie zurück.

Aber Artemis war unsterblich, das Lieblingskind des allmächtigen Zeus, der sie immer und überall beschützte. Und Clio war, trotz ihrer Kühnheit, nur allzu menschlich. Eines Tages würde sie in ihrem Leichtsinn zu weit gehen und ein schlimmes Unheil erleiden. Welch ein törichtes Mädchen …

Edward wandte sich von Artemis ab und betrachtete sich in einem Spiegel, der beinahe vom Boden bis zur Decke reichte. Was für einen seltsamen Anblick er bot, von vergoldeten Schnörkeln umrahmt … Das schulterlange rötlichblonde Haar war im Nacken zusammengebunden. Manchmal deutete sein Kammerdiener diskret an, es müsse geschnitten werden, wie es der Mode entsprach. Zu seinem Gehrock aus feiner schwarzer Wolle trug er ein weißes Krawattentuch, in dem eine Nadel mit einem Gemmenkopf der Medusa steckte. Seine stark ausgeprägten hohen Wangenknochen und das markante Kinn wiesen auf das Wikingererbe der Radcliffes hin.

Ja, er sah wie ein echter Radcliffe aus, der Erbe eines uralten Herzogtums. Aber seine schmale Nase wurde von einem schlecht verheilten Bruch entstellt, das Resultat einer Auseinandersetzung vor vielen Jahren, mit dem Mann, der jetzt Clios Schwager war.

Und die weiße Narbe an der Stirn war ein Geschenk der Muse selber, hervorgerufen von Artemis’ steinernem Ellbogen. Gedankenverloren berührte er das Wundmal – und spürte wieder das Feuer ihres Kusses.

Schon so lange begehrte er Clio Chase – ganz egal, was sie tat oder was er tat. Doch sie durfte seine Arbeit in Santa Lucia nicht behindern.

Er zog den Gehrock aus und warf ihn aufs Fußende des Betts. Dann krempelte er die Hemdsärmel hoch, wobei die Rubin- und Smaragdringe an seinen Fingern funkelten. Seine Unterarme, muskulös und von der Sonne gebräunt, bezeugten seine jahrelange Arbeit in Ausgrabungsstätten unter der südlichen Sonne. Diese Spuren einer Tätigkeit, die nicht zu einem Herzog passte, pflegte er unter gerüschten Manschetten zu verbergen. Was der berühmte, einsiedlerische „Duke der Habgier“ plante, durfte niemand erfahren. Auf dem Toilettentisch stand eine Kassette, die er jetzt aufsperrte. Sie enthielt Briefe und Papiere, Beutel mit Münzen. Unter dem falschen Boden befand sich ein Geheimfach, das Edward jetzt öffnete, um zwei Gegenstände herauszunehmen. Eine winzige Silberschale, leicht verbeult, der Verzierung zufolge griechischer Herkunft, die wahrscheinlich aus dem zweiten Jahrhundert vor Christi stammte. Zwischen einem Muster aus Ahornblättern und Bucheckern rankte sich ein griechischer Satz: „Dies gehört den Göttern“. Eine Warnung und ein Versprechen. Der zweite Gegenstand war ein grüngoldener Seidenstreifen, mit funkelnden grünen Glasperlen besetzt.

Sorgsam legte er die Seide neben die Schale. Diese beiden Dinge symbolisierten, was ihn nach Sizilien geführt hatte – wieder einmal an Clios Seite, obwohl er diese Sehnsucht so entschlossen bekämpfte.

Aber wenn es um ihn und Clio Chase ging, schien das Schicksal immer wieder andere Entscheidungen zu treffen.

3. KAPITEL

Ah, noch eine Einladung von Lady Riverton!“, verkündete Clios Vater am Frühstückstisch und schwenkte die geprägte Karte durch die Luft, bevor er sie zur restlichen Post legte.

„Schon wieder?“ Während Clio ihren Toast mit Butter bestrich, hörte sie kaum zu, in Gedanken bereits bei ihrem Bauernhaus und ihren Plänen für diesen Tag. Wie so oft am Morgen sah es als, als würde es regnen. Der Himmel war grau, und sie musste ihre Ausgrabungen vom Vortag abdecken, bevor sie sich mit Wasser füllen würden. „Erst letzte Woche waren wir in ihrem Palazzo, nicht wahr?“

„Diesmal ist es anders“, entgegnete Sir Walter. „Auf der Karte werden Amateurtheaterszenen erwähnt. Und Lady Riverton bietet ihren Gästen stets ein ausgezeichnetes Buffet an. Diese köstlichen Hummertörtchen auf der letzten Party …“

Lachend schüttelte Clio den Kopf. „Denkst du nur noch an deinen Magen, Vater? Aber wenn du willst, gehen wir hin.“

„Vielleicht darf ich bei den Theaterszenen mitwirken.“ Thalia schenkte sich noch etwas heiße Schokolade ein. „Wie gern würde ich meinen ‚Antigone‘-Text vor einem Publikum erproben! Ich bin mir nicht sicher, ob ich die einzelnen Wörter richtig betone. Im Amphitheater klingt das alles sehr gut. Allerdings fürchte ich, in einem geschlossenen Raum wäre es zu dramatisch.“

„Hast du jemanden für die Rolle des Hämon gefunden?“, fragte Clio.

„Nein, die Sizilianer sprechen zu schlecht Englisch, und den Engländern fehlt die nötige Leidenschaft. Keine Ahnung, was ich tun soll … Wäre eine Vorstellung auf Griechisch besser? Das scheint hier jeder zu beherrschen.“

„Sicher kann Lady Riverton dir helfen, Liebes“, meinte Sir Walter. „In dieser Gegend scheint sie jeden zu kennen.“

„Und sie macht sich furchtbar wichtig“, ergänzte Thalia. „Überall mischt sie sich ein. Niemals würde ich ihr erlauben, meinen Bühnenauftritt zu inszenieren. Aber ich werde sie besuchen und fragen, ob ich auf ihrer Party auftreten kann. Begleitest du mich, Clio?“

Besorgt schaute Clio aus dem Fenster. Der Himmel hatte sich inzwischen noch verdunkelt. „Ja, wenn du heute Nachmittag hingehst“, antwortete sie und trank hastig ihre Teetasse leer. „Am Vormittag muss ich etwas erledigen. Entschuldigst du mich, Vater?“

Sir Walter las eine weitere Einladung und nickte geistesabwesend.

Während Clio aus dem Frühstücksraum eilte, hörte sie ihre Schwester Cory quengeln: „Darf ich auch auf Lady Rivertons Party gehen? Bitte! Seit wir hier angekommen sind, war ich auf keiner einzigen Party. Ich bin fast fünfzehn.“

„Erst im Oktober“, betonte Thalia, „und du hast noch nicht debütiert. Sei froh! Da du keine gesellschaftlichen Pflichten erfüllen musst, kannst du machen, was du willst.“

An der Haustür vertauschte Clio ihre Schuhe mit festen Stiefeln. Dann ging sie an der Kathedrale vorbei zum Hauptplatz, wo die Händler gerade ihre Marktstände öffneten. Aus den geöffneten Türen der Bäckerei und der Konditorei wehten verlockende Düfte. Lachende, schwatzende Dienstmädchen holten Wasser am Brunnen. Das wuchtige geschnitzte Kirchentor war geschlossen, solange die Morgenmesse stattfand.

Noch war die Luft kühl. Doch es würde nicht lange dauern, bis sie sich erwärmte und die Gerüche des Markts intensivierte – nach salzigem Fisch, würzigen Kräutern, süßem Kuchen. Die Stadt würde zum gewohnten Leben erwachen, englische Touristen würden die Tempel besichtigen. Hier kümmerte man sich nicht um die Weltpolitik. König Ferdinand, der Sizilien regierte, lebte mit seiner jungen Gemahlin im fernen Neapel. Und der Zusammenbruch des sizilianischen Feudalsystems nach dem Rückzug der britischen Truppen spielte in Santa Lucia keine große Rolle. Noch nicht. Vorerst ging das Leben seinen üblichen Gang.

Marie, die Bäckersfrau, beugte sich aus dem Fenster und reichte Clio ein frisches Brötchen. „Heute sollten Sie daheimbleiben, Signorina. Bald wird es regnen.“

Lächelnd bedankte sich Clio. „Das geht nicht, ich habe zu tun.“

Wenig später eilte sie an Lady Rivertons stattlichem Palazzo vorbei. Die Fensterläden waren noch geschlossen. In absehbarer Zeit würden sie sich öffnen, und die Hausherrin würde alles beobachten, was in der Stadt geschah.

Clio besuchte die Partys der jungen Witwe nur notgedrungen, weil sie sich lieber ihren Studien widmete, statt höfliche Konversation zu machen oder dem Klavierspiel unbegabter Mädchen zu lauschen. Aber einige Gäste interessierten sich für Altertümer, und so kam es manchmal zu interessanten Diskussionen.

Am Stadtrand erhob sich der Palazzo der Baronin Picini. Bei der Ankunft der Familie Chase in Santa Lucia hatte er leer gestanden, denn die Besitzerin hielt sich in Neapel auf, am Hof der neuen Königin. Aber an diesem Tag war das Hoftor geöffnet, und Clio beobachtete zahlreiche Dienstboten, die Truhen und Möbel ins Haus schleppten.

Noch mehr Gäste für Lady Riverton, dachte sie. Wer mochte in dem muffigen alten Gemäuer wohnen? Doch sie hatte etwas Besseres zu tun, als ihre Neugier zu stillen, und so folgte sie dem steilen Pfad ins Tal hinunter.

Während die ersten Regentropfen herabfielen, erreichte sie die Ruine des Bauernhauses. Das Kellergeschoss roch nach feuchter Erde, als sie hinabstieg. Hier hatte sie Tonkrüge und – amphoren ausgegraben. In diesen Gefäßen waren vor all den Jahrhunderten Wein und Öl verwahrt worden. Clio schüttelte eine geteerte Plane aus, spannte sie über die Kelleröffnung und band sie an Mauervorsprüngen fest.

Nun würden sich ihre Ausgrabungsschächte nicht mit Regenwasser füllen. Allzu viel hatte sie bisher nicht gefunden, nur die Krüge und die Amphoren, einen kleinen Terrakotta-Altar und einen verbeulten Kelch. Doch sie hoffte, Münzen zu entdecken, edle Gefäße, Geschirr, vielleicht sogar Schmuckstücke. Solche Schätze wollte sie ihrem Vater und seinen Freunden zeigen und ihnen beweisen, sie hätte ihre Zeit keineswegs in einer unbedeutenden Ruine verschwendet.

Jetzt begann es stärker zu regnen. Clio setzte sich auf eine Decke aus Segeltuch und lauschte den Tropfen, die über ihrem Kopf auf die Teerplane prasselten. Ein seltsam tröstliches Geräusch, dachte sie und malte sich aus, wie die Felder und Obstgärten bewässert wurden. Gewiss hatten die Menschen, die in alter Zeit hier lebten, der gütigen Demeter, der Göttin des Erdsegens, für Regengüsse mit Opfergaben gedankt und auf eine reiche Ernte gehofft.

Seit der Kindheit stellte sie sich das Leben in jener fernen Vergangenheit vor. In ihrer Familie hatte sie der Geschichte des klassischen Altertums kaum entrinnen können. Ihr Großvater hatte eine weltweit anerkannte Abhandlung über Archäologie geschrieben, der Vater diese wissenschaftlichen Neigungen geerbt. Und ihre Mutter war die Tochter eines französischen Comtes gewesen, der eine berühmte hellenistische Silbersammlung besessen hatte. Die Eltern nannten ihre Töchter nach den Musen. Immer wieder hörten die Mädchen all die Geschichten über alte Götter, Schlachten und Liebespaare.

Für Clio war das Altertum so real wie das alltägliche Leben in den Londoner Straßen – sogar noch vitaler und wahrhaftiger. Jene Geschichten nahm sie viel ernster als ihre Schwestern, was sie des Öfteren in Schwierigkeiten brachte – bis die Liliendiebin ein schreckliches Ende fand.

„Wie konntest du nur?“, hatte Calliope entsetzt gefragt, als sich herausstellte, dass Clio die Liliendiebin war.

Eindringlich hatte sie beteuert, jene Taten nur begangen zu haben, um kostbare Altertümer vor unrechtmäßigen Besitzern zu retten. Gemeinsam mit ihrem Freund Marco, der diese Kunstwerke nach Italien zurückgebracht hatte …

Niemals hatte sie ihre Schwester verletzen wollen. Von ganzem Herzen liebte sie ihre temperamentvolle, exzentrische Familie. Doch sie fühlte sich oft allein, sogar inmitten ihrer Angehörigen.

Nach Cals Hochzeit hatte sie sich mit der Schwester versöhnt. Und jetzt, in Sizilien, erholte sie sich allmählich von jenen beklemmenden Ereignissen.

Natürlich konnte sie nicht alles vergessen. Nachts, wenn sie ins Bett sank, von ihrer Arbeit erschöpft, wurde sie von qualvollen Träumen heimgesucht, spürte wieder die Lippen des Dukes of Averton auf ihren, seinen warmen Atem, der ihre Haut streifte, bis sie ihn mit aller Kraft von sich stieß, seinen Blick, der in die Tiefen ihrer Seele zu dringen schien …

Über ihrem Kopf krachte ein Donnerschlag, so laut wie ein Kanonenschuss, und Clio zuckte verwirrt zusammen. In Erinnerungen versunken, hatte sie beinahe vergessen, wo sie sich befand.

Sie schaute zur Teerplane hinauf, die sie vor dem heftigen Regen schützte, und wartete, bis sich das Donnergrollen entfernte. Dann setzte sie ihre Brille auf, ergriff den kleinen Spaten und begann in ihrer neuesten Ausgrabung zu arbeiten, nahe den Resten der steinernen Treppe, die einst zum Erdgeschoss des Hauses hinaufgeführt hatte.

Nach einer Weile bemerkte sie etwas Seltsames, eine kleine Grube, die ihr zuvor nicht aufgefallen war. Hatte jemand anderer an dieser Stelle gegraben? Sie schob ihre Brille zum Haaransatz hinauf und beugte sich hinab, um ihre Entdeckung genauer zu betrachten. Und da hörte sie ein Geräusch, das ihr den Atem nahm.

Hufschläge.

Sofort beschleunigte sich Clios Puls. Über ihren Rücken rann ein Schauer. So war ihr nicht mehr zumute gewesen, seit die Liliendiebin zu existieren aufgehört hatte.

Wenn sie in ihrer Ausgrabungsstätte arbeitete, kam normalerweise niemand hierher. Zu abgeschieden lag das alte Bauerngehöft, und die Touristen fanden es unbedeutend. Natürlich war sie vor Banditen und Dieben gewarnt worden. Doch sie hatte noch nie einen gesehen.

Sorgsam legte sie den Spaten beiseite und tastete unter ihre Röcke. Oberhalb eines Stiefels war eine Scheide befestigt, aus der sie ihren Dolch zog – keine kunstvoll verzierte Antiquität, sondern ein scharf geschliffenes, robustes Messer. Das hatte ihr der Ehemann der sizilianischen Köchin gegeben, die für die Familie Chase arbeitete. Die beiden meinten, auf ihren einsamen Wanderungen würde sie eine Waffe brauchen. Anfangs waren die Dienstboten entsetzt gewesen, weil Clio sich ganz allein in die Berge wagte. Sizilianische Mädchen aus gehobenen Kreisen wurden noch strenger bewacht als Engländerinnen. Aber Clio hatte auf ihrer Absicht bestanden, und so resignierte das Ehepaar.

Sie wusste, wie man einen Dolch benutzte. Hoffentlich würde sie ihre Fähigkeiten nicht beweisen müssen.

Die Hufschläge näherten sich. Vermutlich würde ein Tourist an der Ruine des Bauernhauses vorbeireiten, auf dem Weg zu bedeutsameren Sehenswürdigkeiten. Trotzdem – sie musste vorsichtig sein. Lautlos schlich sie einige der Steinstufen hinauf, stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte durch eine Ritze am Rand der Teerplane.

Inzwischen regnete es nicht mehr. Auf den Blumen und den Blättern der Bäume glitzerten Wassertropfen. Der Himmel war immer noch grau, aber zwischen den Wolken schimmerten ein paar milchige Sonnenstrahlen. Das Pferd sprengte auf der alten, von Unkraut überwucherten Straße hinter dem Bauernhaus heran.

Den Dolch in einer Hand, schob Clio die Plane ein wenig zur Seite. „Oh Gott“, flüsterte sie. War sie auf dem Kellerboden eingeschlafen? Wurde sie von einem Albtraum gepeinigt?

Ein glänzender Rappe – vielleicht ähnlich einem der Tiere, die Hades’ Streitwagen gezogen hatten, als er mit der unglücklichen Persephone in die Unterwelt gefahren war – galoppierte auf die Ruine zu. Und im Sattel saß der Mann, der viele Hundert Meilen entfernt sein müsste. Zumindest hatte sie das gehofft. Averton. Das lange goldene Wikingerhaar flatterte hinter ihm her, zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. In seinem schwarzen Reitanzug schien er mit dem Hengst zu verschmelzen.

Wie ein Zentaur. Oder wie der gebieterische Hades, ein gefährlicher, attraktiver Lord, der sich nahm, was er wollte, ohne Rücksicht auf die Folgen.

Am Rand der Ausgrabung zügelte er sein Pferd, und Clio sah sein markantes Gesicht, während er sich umschaute.

Heller Zorn stieg in ihr auf. Wie konnte er es wagen, hier zu erscheinen – nach allem, was in England geschehen war?

Sie zerrte die Teerplane beiseite, eilte die restlichen alten Stufen hinauf, den Dolch in der Hand.

„Was machen Sie hier?“, rief sie. „Hier befinden Sie sich auf privatem Grund und Boden. Und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sofort verschwinden würden!“

Ausdruckslos erwiderte er ihren Blick. Nur selten änderte sich seine kühle Miene, zeigte höchstens arrogante Verachtung. Nur ein paar Mal hatte sie eine wilde, furchterregende Leidenschaft in seinem Gesicht gelesen.

Jetzt hob er die Brauen, nur ein wenig, und sie sah eine weiße Narbe auf seiner Stirn.

„Oh, schützen Sie seit Neuestem privates Eigentum, Clio Chase?“, fragte er spöttisch. „Wie faszinierend …“

„Was wollen Sie?“ Clio umklammerte den Griff des Dolchs noch fester und bekämpfte vehement den Impuls, die Flucht zu ergreifen.

„Nun, ich möchte mit Ihnen sprechen“, erklärte er in sanftem Ton. „Das ist alles, ich schwöre es.“

„Also gut, reden Sie.“

Autor

Amanda McCabe
Amanda McCabe schrieb ihren ersten romantischen Roman – ein gewaltiges Epos, in den Hauptrollen ihre Freunde – im Alter von sechzehn Jahren heimlich in den Mathematikstunden.
Seitdem hatte sie mit Algebra nicht mehr viel am Hut, aber ihre Werke waren nominiert für zahlreiche Auszeichnungen unter anderem den RITA Award.
Mit einer...
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