From Manhattan with Love (4in1)

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MITTERNACHT IN MANHATTAN

Wie alles begann... Die Vorgeschichte zu Sarah Morgans Manhattan-Serie.Tagsüber ist Matilda eine schüchterne Kellnerin. Nachts erfindet sie Geschichten über eine mutige Frau, die ihren Traum lebt. Matilda dagegen scheint nichts zu gelingen. Nachdem sie ein Dutzend Partygäste versehentlich mit Champagner bespritzt hat, wird sie zu ihrer Verzweiflung auch noch entlassen. Doch als sie auf den charmanten Millionär Chase Adams trifft, sieht sie ihre Chance gekommen: Sie schlüpft in die Rolle ihrer Romanheldin und verbringt eine traumhafte Nacht an seiner Seite. Kann ein mitternächtlicher Ausflug zu Tiffany's ihren größten Traum vielleicht wahr werden lassen?

SCHLAFLOS IN MANHATTAN

Nette Freunde, ein riesiges Apartment, ein toller Job. Die Liste der Dinge, die eine junge Frau in New York erreicht haben sollte, hat Paige in allen Punkten abgehakt. Bis sie plötzlich von der Karriereleiter stürzt. Auf einmal ist der beste Freund ihres Bruders der Einzige, der ihr Leben wieder in Ordnung bringen kann. Schon früher hat Paige vergeblich für den Draufgänger Jake geschwärmt - und je mehr Zeit sie mit ihm verbringt, desto klarer wird ihr, was auf ihrer New-York-Liste noch fehlt: die perfekte Liebesgeschichte …

"Dieses Buch ist großartig geschrieben, voller Liebe, Träumen und auch Drama. Herrlich!" (bookreviews.at)

"Ein romantisches Erlebnis."
Publisherʼs Weekly

"Herzklopfen in der Stadt die niemals schläft und ein super Roman. Einfach lesenswert"
ReiseTravel

"Romantiker finden in diesem Roman eine wunderbare Liebesgeschichte."
Fränkische Nachrichten

EIN SOMMERGARTEN IN MANHATTAN

Pflanzen sind Frankie die liebsten Lebewesen. In New York verschönert sie als Event-Floristin die Feste der Reichen und Schönen mit kostbaren Gestecken. Doch ihre wahre Liebe gilt den Dachgärten der Stadt. Als der attraktive Bruder ihrer besten Freundin sie für ein exklusives Gartenprojekt einspannen will, stimmt sie zu - ohne zu wissen, dass es ihre Gefühle bald auf eine harte Probe stellen wird …

"Humorvoll-romantische Lesestunden sind garantiert!" IN

"Ein romantisches Erlebnis." Publisher's Weekly

"Mit dem zweiten Buch der Manhattan-Serie gelingt Sarah Morgan erneut der perfekte Spagat zwischen Romantik und Sinnlichkeit." Booklist

LICHTERZAUBER IN MANHATTAN

Eva ist eine hoffnungslose Romantikerin und sieht nur die guten Seiten des Lebens. Kein Wunder, dass sie Weihnachten in New York liebt wie kein anderes Fest im Jahr. Um ihr Konto aufzustocken, tritt die New Yorker Food-Bloggerin eine Stelle bei dem erfolgreichen Horror-Autor Lucas Bale an. Womit sie nicht gerechnet hat: Der grimmige Brite kann die Feiertage nicht ausstehen. Mit Tannenschmuck und Plätzchenduft will Eva ein kleines Weihnachtswunder an ihm wirken - mit mehr als frostigem Ergebnis. Warum nur fühlt sie sich zu ihm hingezogen, obwohl sie unterschiedlicher kaum sein könnten?

"Das magische Finale von Sarah Morgan packt seine Leser von Seite eins an." RT Book Reviews

"Eine süß-verschneite Interpretation von "Gegensätze ziehen sich an", die den Optimismus hochleben lässt." Publishers Weekly

"Morgan gelingt die perfekte Mischung zwischen süß und sexy." Booklist


  • Erscheinungstag 20.08.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783955769390
  • Seitenanzahl 1296
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Sarah Morgan

From Manhattan with Love (4in1)

MIRA® TASCHENBUCH

Copyright © 2017 by MIRA Taschenbuch
in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der englischen Originalausgabe:
Midnight at Tiffany's
Copyright © 2015 by Sarah Morgan

Covergestaltung: büropecher, Köln
Coverabbildung: Harlequin Books S.A., DRogatnev / Shutterstock
Redaktion: Eva Wallbaum

ISBN E-Book 9783955767822

www.harpercollins.de
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E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

1. KAPITEL

„Ein Glas Champagner?“

Matilda bahnte sich einen Weg durch die glamouröse Menge, während sie versuchte, ihr Tablett gerade zu halten. Dabei ermahnte sie sich, nicht zu der funkelnden Skyline von Manhattan hinüberzuschauen. Es würde sie ablenken, und sie durfte sich nicht ablenken lassen. Das Letzte, was sie heute Abend gebrauchen konnte, war ein weiterer Gast, der sich Champagner von der teuren Kleidung wischen musste. Ihre Chefin hatte sie schon nach dem letzten Missgeschick scharf ermahnt. Und obwohl dieses Desaster – rein technisch gesehen – nicht ihre Schuld gewesen war, würde sie beim nächsten Vorfall dieser Art gefeuert werden, so viel war klar. Also hatte beschlossen, jetzt genau das zu tun, was ihr gesagt wurde: sich völlig unauffällig zu verhalten. Was ihr nicht weiter schwerfallen sollte, schließlich war es ihre große Spezialität.

In einer Welt, in der extrovertiertes Verhalten geschätzt wurde, war sie schon immer introvertiert gewesen. Ihr gesamtes Leben hatte sie damit verbracht, sich möglichst unsichtbar zu machen. Zuerst auf dem Schulhof, wo sie sich hinter Büchern versteckt hatte, die von anderen verfasst worden waren. Und später auf dem College, wo sie begonnen hatte, selbst zu schreiben. Sobald sie sich eine Geschichte ausdachte, verschwand sie in ihrer Fantasiewelt, wurde eins mit ihren Heldinnen, denen sie immer die allerbesten Eigenschaften verlieh. Genauer gesagt: Sie verlieh ihnen exakt die Eigenschaften, die sie selbst so gern besessen hätte. Ihre Heldinnen waren mutig. Sie konnten problemlos mit fremden Menschen reden. Und vor allem besaßen sie ein ganz hervorragendes Koordinationsvermögen.

Ihre neueste Erfindung war Lara Striker. Lara stammte aus einer Kleinstadt, in die sie nun endlich zurückkehren würde. Bei den Bewohnern des Städtchens sorgte das allerdings für einige Aufregung. Denn Lara eilte der Ruf voraus, ein Bad Girl zu sein.

Matilda starrte auf die Gäste des Events, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Ihre Gedanken gingen sich in eine ganz andere Richtung.

Wie es sich wohl anfühlte, ein Bad Girl zu sein? Eine Frau, die Abenteuer liebte, wilde Affären mit Männern hatte und die exotischsten Länder kannte? Eine Frau zu sein, die nur den Raum betreten musste, damit alle flüsterten: „Das ist sie.“

„Matilda?! Matilda!“

Sie blinzelte und kehrte unsanft in die Realität zurück.

Es gab nur eine Person, die in einem so ätzenden Tonfall mit anderen Menschen sprach. Cynthia. Ihre Chefin in der Event-Agentur.

Die Frau, die ihr das Leben zur Hölle machte.

Matilda umklammerte das Tablett fester.

Über Cynthias Schulter hinweg konnte sie ihre Kollegin Eva erkennen, die eine Grimasse zog und mit den Händen eine Haifischflosse imitierte. Matilda fühlte sich sofort ein wenig aufgeheitert.

Sie richtete den Blick zurück auf Cynthia. Ihre Chefin hatte wieder das berüchtigte Lächeln aufgesetzt, das sie bei jedem Event zur Schau trug – gemeinsam mit ihrem Business-Kostüm. Das Lächeln saß auf Cynthias Gesicht wie ein Fremdkörper und erreichte niemals ihre Augen.

Das hier, schoss es Matilda durch den Kopf, war die Realität. Das echte Leben, in dem sie leider kein Bad Girl war. Ja, okay – ab und zu dachte sie ein paar sehr böse Dinge über Cynthia. Aber das war auch schon alles.

„Konzentriere dich“, zischte ihr Cynthia zwischen zusammengebissenen Zähnen zu. „Du bist hier, um zu arbeiten. Ich bezahle dich nicht dafür, dass du herumstehst und in der Gegend herumstarrst.“

Lara Striker hätte jetzt ausgeholt und Cynthia mit einem linken Haken das falsche Lächeln aus dem Gesicht geschlagen. Dann hätte Lara sich abgewandt, stolz darauf, der langen Liste ihrer Verbrechen ein weiteres hinzugefügt zu haben.

Matilda dagegen nickte nur stumm.

In der Welt der Fantasie war es möglich, der eigenen Chefin einen linken Haken zu verpassen und damit durchzukommen.

Im echten Leben führte so eine Aktion leider dazu, dass man den Job verlor. Was bedeutete, dass man sich sieben Tage pro Woche von Tütensuppen ernähren musste, anstatt nur vier Tage. Das waren eben die Fakten, dachte Matilda. Und wenigstens erlaubte ihr dieser Job, weiterhin Geschichten zu schreiben.

Ihre Kollegin Eva stand noch immer hinter Cynthia. Jetzt formte sie einige Worte mit den Lippen. Matilda konnte nicht erkennen, was genau Eva sagte. Aber es war tröstlich zu wissen, dass jemand ihr beistand.

Abgesehen von Cynthia war das ganze Team von Star Events großartig. Das war ein weiteres Argument dafür, dass diese Idee mit dem linken Haken vielleicht doch nicht so gut war. Sie liebte es, mit Eva, Frankie und Paige, der Leiterin ihres Teams, zusammenzuarbeiten. Deshalb durfte sie ihren Job nicht aufs Spiel setzen. Sobald Cynthia die Agentur verließ, hatten sie sehr viel Spaß. Vor allem aber hatte Matilda zum ersten Mal im Leben das Gefühl wirklich dazuzugehören. Nicht zu der Agentur, aber zu der Gruppe von Frauen, die ihre Kolleginnen waren. Und ihre Freundinnen, rief sie sich ins Gedächtnis. Es fiel ihr schwer, auf andere Menschen zuzugehen – gerade deshalb war diese Freundschaft kostbarer für sie als alle Juwelen, die hier auf dem Event zu sehen waren.

„Mir ist klar, dass heute Abend einige sehr berühmte Persönlichkeiten anwesend sind.“ Cynthia schaffte es zu sprechen und gleichzeitig weiterzulächeln. „Aber damit musst du umgehen können – und zwar auf professionelle Weise. Ich habe dich nicht mitgenommen, damit du mit offenem Mund herumstehst wie ein Goldfisch.“

Lara Striker hätte Cynthia erklärt, wohin sie sich ihren Goldfisch stecken konnte.

Matilda jedoch nickte nur, ohne irgendetwas zu erwidern. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass man einer Chefin wie ihrer einfach schweigend zustimmen musste – ganz egal, was sie mal wieder sagte. Denn es gab nur eine Methode, die sicherstellte, dass man den Job bei Star Events nicht verlor. Und diese Methode bestand darin, unterhalb von Cynthias Radar zu fliegen. Was gar kein schlechtes Bild war, dachte Matilda. Vielleicht konnte sie daraus sogar eine neue Geschichte entwickeln. Vor ihrem inneren Auge erschien ein Bild von ihr selbst: Unbemerkt von allen anderen flog sie in einem Tarnkappenflugzeug durch das Leben. Schade war nur, dass sie dabei brav auf dem Passagiersitz saß. Denn Lara Striker wäre natürlich die Pilotin gewesen und hätte das Flugzeug höchstpersönlich gesteuert – mit enormer Ruhe und Konzentration.

„Ich bin stehengeblieben, weil ich dann das Tablett gerade halten kann, Cynthia.“ Ihre motorischen Probleme qualifizierten sie nicht wirklich für den Job als Kellnerin, den sie bei diesem Event ausübte. Trotzdem hatte sie sich sofort bereiterklärt, die Aufgabe zu übernehmen. Denn dadurch konnte sie die Menschen beobachten, die heute Abend hier versammelt waren – und zwar völlig ungestört. Verborgen hinter einem Schutzwall aus Champagnergläsern konnte sie alles genau verfolgen, ohne sich direkt ins Geschehen einmischen zu müssen.

Wer waren diese Leute? Welche Geheimnisse lauerten unter den Seidenhemden, den Samtkleidern und den vielen teuren Juwelen? Was geschah, wenn diese perfekt gestylten Menschen irgendwann nach Hause kamen und die Masken absetzten, die sie bei gesellschaftlichen Anlässen trugen?

Matilda liebte es, über solche Fragen nachzudenken. Das war der Grund, warum sie diesen Job angenommen hatte.

Das, und die Tatsache, dass sie dadurch Zutritt zu der geheimnisvollen Welt der New Yorker High Society bekam. Ihre Arbeit führte sie an Orte, die sie sonst niemals kennengelernt hätte.

Wie zum Beispiel heute Abend.

Die Dachterrasse, auf der das Event stattfand, bot einen atemberaubenden Blick über Manhattan. Von hier oben aus betrachtet, waren die breiten Straßen nur noch schmale, glitzernde Bänder. Der Lärm der Stadt hatte sich in ein leises Rauschen verwandelt. Selbst die schwüle New Yorker Sommerhitze, die in wenigen Wochen ihren Höhepunkt erreichen würde, wurde durch eine leichte Brise äußerst erträglich gemacht. Überall auf der Terrasse waren winzige Lichter angebracht. Das Funkeln erinnerte an die Schaufenster bei Tiffany’s – auch wenn es weitaus intensiver war. Leuchtende Schnüre schlängelten sich durch die Pflanzen, die das Dach in einen Garten verwandelten. Über ihnen am Himmel waren die Sterne zu sehen, die aber fast ein wenig matt im Vergleich zu dem Lichtermeer unter ihnen wirkten. Nachts glich New York einer einzigen großen Party. Die Stadt der Träume.

Es waren die Träume anderer Menschen, die hier wahr wurden. Aber das störte Matilda nicht. Ihr eigenes Leben bestand vor allem aus viel harter Arbeit, für die sie selten irgendeine Art von Lob erhielt. Doch das war nun mal die Realität, daran ließ sich nichts ändern. Sie hatte auch gar nicht das Bedürfnis, das zu tun. Schließlich lebte sie sowieso die meiste Zeit in ihrer Fantasiewelt.

Sie unterdrückte ein Seufzen. Am liebsten wäre sie noch stundenlang ganz still hier stehengeblieben und hätte diesen Anblick in sich aufgesogen. Aber vermutlich würde das Cynthia nicht gefallen. Wenn sie ihren Job nicht verlieren wollte, musste sie sich schleunigst wieder in Bewegung setzen.

Bevor sie den Arbeitsvertrag unterschrieben hatte, war sie gewarnt worden, dass Star Events als sehr rücksichtslose Firma galt – vor allem, was den Umgang mit den eigenen Angestellten betraf. Inzwischen wusste sie, dass das stimmte. Dazu kamen noch die schwierige ökonomische Situation und die Tatsache, dass es viele Frauen gab, die davon träumten, in einer erfolgreichen Event-Agentur zu arbeiten. Alles in allem stand sie deshalb vor der Wahl: Entweder sie erfüllte sämtliche Forderungen, die Cynthia an sie stellte. Oder sie fand sich auf der Straße wieder.

Und wenn es eines gab, was sie sich definitiv nicht leisten konnte, dann war es, ihren Job zu verlieren.

Unwillkürlich drückte Matilda bei diesem Gedanken ihr Tablett enger an sich.

„Ich gebe mein Bestes. Wirklich, Cynthia.“

„Das möchte ich doch schwer hoffen! Der heutige Abend ist sehr wichtig für Star Events. Es ist bereits die zweite Veranstaltung, die wir für die Adams Construction Group ausrichten. Das katapultiert uns in eine neue Liga. Wir müssen den Kunden begeistern! Er muss absolut hingerissen von uns sein. Denn Erfolg führt zu mehr Erfolg. Und dieser Klient wird in einem Jahr mehr wert sein, als all unsere anderen Kunden zusammen. Außerdem werde ich Chase Adams heute Abend zum ersten Mal persönlich gegenübertreten. Hast du den Artikel im Forbes Magazine über ihn gelesen? ‚Der Mann, der alles hat.‘ Er ist reicher als König Midas.“ Cynthia senkte ehrfurchtsvoll die Stimme. „Und er befindet sich irgendwo hier. Mitten unter uns.“

Vermutlich hatte er sich hinter einem Vorhang versteckt, um in Ruhe seine Millionen zu zählen, dachte Matilda spöttisch. Ob Cynthia wohl wusste, dass die Geschichte von Midas ein tragisches Ende genommen hatte? Denn alles, was er berührt hatte, war zu Gold geworden. Nur hatte Midas dann leider feststellen müssen, dass man Gold nicht essen konnte. Hoffentlich erging es Chase Adams nicht ebenso.

Sie erzählte Cynthia nicht, dass sie ebenfalls plante, heute mit dem Millionär zu sprechen. Wobei sie etwas ganz anderes mit ihm bereden wollte als ihre Chefin.

Chase Adams sammelte Bücher – wertvolle Erstausgaben, um genau zu sein. Er besaß sogar eine eigene Bibliothek in einem seiner Häuser. Sie hatte die Fotos im Internet gesehen und die Regale aus dunklem Eichenholz bewundert, in denen sich Buchrücken an Buchrücken reihte. Und hinter jedem davon verbarg sich eine neue, unentdeckte Geschichte. Es musste wunderbar sein, so viele Bücher zu besitzen!

Sie selbst war von einer eigenen Bibliothek leider meilenweit entfernt. Sobald sie auch nur zwei neue Taschenbücher in ihre winzige Wohnung mitbrachte, musste sie etwas anderes wegwerfen, um Raum zu schaffen.

Aber, egal. Der Grund, warum sie heute Abend Chase Adams treffen wollte, war sowieso nicht seine Bibliothek. Worum es ging, war sein Bruder. Brett Adams leitete einen kleinen, erfolgreichen Verlag. Schon seit Jahren träumte Matilda davon, eines ihrer Bücher dort zu veröffentlichen. Der bloße Gedanke an ihr Vorhaben brachte sie zum Zittern. Aber inzwischen war sie verzweifelt genug, um ihre Scheu vor fremden Menschen soweit zu bekämpfen, dass sie Chase Adams heute Abend ansprechen konnte. Jedenfalls hoffte sie das.

Um sich Mut zu machen, dachte sie an ihre Mutter.

Lass nie zu, dass die Angst dich von deinen Träumen abhält.

Matilda hob den Kopf und reckte das Kinn vor.

Sie hatte einen USB-Stick in der Tasche. Zudem befand sich eine ausgedruckte Version ihres Manuskripts in der Tüte, die sie in der Umkleide verstaut hatte.

„Ich hoffe, dass du ihn findest, Cynthia. Und dass er Star Events weiterhin viele Aufträge gibt.“ Fast hätte sie noch hinzugefügt, dass es vielleicht nicht besonders klug war, die Zukunft der Agentur von einem einzigen Kunden abhängig zu machen. Aber sie verbiss sich die Bemerkung im letzten Moment.

Lara Striker hätte das natürlich niemals getan. Sie hätte Cynthia völlig unverblümt die Meinung gesagt. Aber Lara hatte vor nichts und niemand Angst. Nicht einmal vor einem Mann, der so reich war, dass er eine eigene Bibliothek besaß.

Matildas Gedanken begannen, sich selbständig zu machen: Lara gehörte zu ihren absoluten Lieblingsfiguren. Aber vielleicht sollte sie sie noch weiter ausarbeiten? Wie wäre es, wenn Lara beispielsweise ein paar übernatürliche Fähigkeiten hätte? Oder – ganz im Gegenteil – wenn sie noch einige Schwächen hätte, die sie menschlicher wirken ließen? Zum Beispiel könnte sie etwas tollpatschig sein. Nein, korrigierte Matilda sich im nächsten Moment. Tollpatschigkeit gehörte zu jenen Eigenschaften, die sie nicht mal ihrer schlimmsten Feindin andichten würde.

Apropos schlimmste Feindin: Sie blickte auf und bemerkte, dass Cynthia sie mit gerunzelter Stirn betrachtete. „Stimmt etwas nicht?“, fragte sie nervös.

„Dein Rock! Was zum Teufel ist mit deinem Rock passiert?“

Alarmiert blickte Matilda an sich hinab. Aber ihr Rock sah noch immer genauso aus wie vor ein paar Stunden, als sie ihn in ihrem beengten Apartment übergestreift hatte. Star Events schrieb den Mitarbeiterinnen vor, was sie bei offiziellen Anlässen zu tragen hatten. Aber der Vorteil dieser ‚Uniform‘ bestand darin, dass sie komplett schwarz war. In ihrer schwarzen Bluse und dem schwarzen Rock unterschied sich Matilda daher nicht von den Kellnerinnen, die heute Abend für das Wohl der Gäste zu sorgen hatten. Na ja – abgesehen von der Tatsache, dass sie etwas größer und ungeschickter als ihre Kolleginnen war.

„Was ist denn mit meinem Rock?“

„Er ist wesentlich kürzer als vorgeschrieben. Du weißt doch, dass es verboten ist, den Rock hochzuziehen.“

Dieselbe Szene hatte sich schon hundertmal in ihrem Leben abgespielt. Aber das machte es auch nicht angenehmer.

Da sie mit beiden Händen das Tablett festhalten musste, konnte Matilda nicht mal den Saum herunterziehen. „Der Rock hat die vorgeschriebene Länge, Cynthia. Es ist nur so, dass ich sehr lange Beine habe. Normalerweise trage ich deswegen flachere Absätze. Das gleicht es dann wieder aus.“

In der Schule hatten die anderen sie ‚Giraffe‘ genannt. Irgendwann hatte sie daher begonnen, sich hinzusetzen, wann immer es möglich war, um nicht durch ihre bloße Größe den Spott auf sich zu ziehen. Sobald sie dann saß, hatte sie eilig nach einem Buch gegriffen und sich darin vertieft. Denn in Büchern kamen nie die Dinge vor, die schüchternen, schlaksigen Teenager-Mädchen im echten Leben zustießen.

„Das ist ja kaum noch anständig zu nennen. Du musst sofort etwas dagegen tun.“

„Gegen meine Beine?“ Matilda war ehrlich verblüfft. „Die sind … ähm … leider an mir festgewachsen.“

Lara Striker hätte gewusst, wozu man lange Beine verwenden konnte. Sie hätte nämlich eines dieser Beine angehoben und Cynthia einen Tritt verpasst – und zwar nach allerfeinster Kampfsportart. Bevor Cynthia auch nur den Hauch einer Chance gehabt hätte, ihr Gleichgewicht wiederzuerlangen, hätte Lara sie gegen die nächste Wand gepresst und ihr nachdrücklich erläutert, dass sie in Zukunft nie wieder Kritik an den Körpern fremder Menschen üben würde.

Matilda entschied sich für einen anderen Lösungsweg. Sie versuchte, sich kleiner zu machen, indem sie sich zusammenkrümmte. Die Haltung war sehr unvorteilhaft, das war ihr klar. Denn dadurch musste sie ihren Po herausstrecken. Aber was sollte sie sonst tun?

In ihren Geschichten hatten die Heldinnen immer eine ganz normale Größe. Und zierlich waren sie auch. Daher kannten sie solche Probleme nicht.

Cynthias Lächeln verschwand für einen Moment. „Beim nächsten Event trägst du gefälligst einen längeren Rock. Und wenn du heute Abend Chase Adams über den Weg läufst, dann sprich ihn nicht an. Verstanden? Außerdem möchte ich dir nicht raten, Champagner über ihn zu schütten. Okay, du wirst dich jetzt unauffällig nach ihm umsehen, und sobald du ihn entdeckt hast, gibst du mir ein Zeichen.“ Cynthia wandte sich ab und stolzierte davon.

Tja, dachte Matilda. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie Chase Adams inmitten der Menschenmenge ausfindig machen konnte, war leider sehr gering. Seine Bibliothek hätte sie sofort wiedererkannt. Aber den Mann selbst hatte sie noch nie gesehen.

Sie blickte sich um – auf der Suche nach jemandem, der Cynthias Beschreibung entsprach. Vermutlich war Chase Adams alt und verschimmelt.

Der Mann, der alles hatte.

Sie hatte den Artikel im Forbes Magazine gelesen. Aber leider war kein Foto von dem berühmten Baulöwen abgedruckt worden. Nur lauter Bilder von irgendwelchen Konstruktionen aus Glas und Stahl, die er erschaffen hatte. Und natürlich das Bild von der Bibliothek in seinem Haus.

Gemäß diesem Artikel hatte Chase die Firma seines Vaters übernommen und sie dann um ein Zehnfaches vergrößert. Er war skrupellos und tat alles, um seine Ziele zu erreichen. Diese Charakterzüge hatte Matilda schamlos gestohlen und sie einer ihrer Heldinnen verpasst.

Warum auch nicht? Wieso sollten es immer nur Männer sein, die entschlossen und kampfbereit waren? Frauen konnten ebenso kämpferisch sein. Das war eine weitere Sache, die ihre Mutter ihr beigebracht hatte.

Das Einzige, was nur Männer besitzen, ist ein Penis.

Paige kam zu ihr hinüber. „Danke für den tollen Job, den du machst, Matilda. Ich weiß, wie viele Überstunden du in der Vorbereitungsphase angesammelt hast. Ohne dich hätten wir das niemals so gut hingekriegt. Wir haben sehr viel Glück, dich in unserem Team zu haben.“

Matilda spürte, wie ihre Schultermuskeln sich leicht entspannten.

Paige war das genaue Gegenteil von Cynthia. Besser gesagt: Sie was der Grund dafür, dass die Hälfte aller Mitarbeiter bei Star Events nicht längst gekündigt hatte. Paige lobte andere und beruhigte sie im Krisenfall. Sie hatte viel Energie und stets sämtliche Abläufe im Blick. Nichts konnte sie aus der Bahn werfen. Und noch kein einziges Mal hatte sie den Druck, den sie garantiert von ihren Vorgesetzten bekam, an das Team weitergegeben. Im Gegensatz zu Cynthia. Denn die überschüttete ihr Team mit so viel Stress, dass die Mitarbeiter einzugehen drohten – wie Gras, das dauerhaft saurem Regen ausgesetzt war.

„Sie hasst mich.“

„Cynthia hasst jeden.“ Nun war auch Eva neben ihr aufgetaucht und lächelte ihr zu. „Du solltest sie in einer deiner Geschichten unterbringen und sie ermorden.“

„Das ist nicht die Art von Büchern, die ich schreibe.“

„Solltest du aber. Es wäre eine Wohltat für uns alle. Ich kann gern herausfinden, welche Waffe am geeignetsten wäre. Vielleicht könnten wir es so aussehen lassen, als wäre sie auf natürliche Art gestorben. Frankie kennt viele giftige Pflanzen. Und ich könnte einen sehr leckeren Muffin backen. Es ist überhaupt kein Problem, den Geschmack von Arsen in Backwaren zu tarnen.“ Eva unterbrach den begeisterten Vortrag und musterte Matilda. „Leidest du unter Verstopfung? Dagegen kenne ich nämlich ein hervorragendes Rezept.“

Peinlich berührt verzog Matilda das Gesicht. „Weshalb denkst du, dass ich unter Verstopfung leiden würde?“

„Weil du so seltsam dastehst“, erläuterte Eva. „Als wärst du kurz davor, dich auf die Toilette zu setzten.“

„Ich versuche, mich kleiner zu machen.“

„Warum solltest du dich kleiner machen wollen?“

„Weil Cynthia denkt, dass ich zu groß bin. Beziehungsweise, dass mein Rock zu kurz ist. Ich bin nicht sicher, was genau sie mir vorwirft.“

„Deine Größe ist doch perfekt“, erwiderte Paige. „Du könntest jederzeit als Model arbeiten, wenn du das willst.“

„Das glaube ich kaum. Models müssen sich elegant bewegen. Und ich kann nicht mal ganz simpel einen Fuß vor den anderen setzen, ohne sofort hinzufallen.“ Wenn jemand sie gefragt hätte, welche ihrer Eigenschaften sie am liebsten ändern würde, dann wäre es das gewesen: ihre Tollpatschigkeit. Sie war zu ungelenk, sie war zu groß. Überall stieß sie an. Paige bewegte sich mit der Anmut einer Ballerina. Eva machte diese kleinen Hüpfer beim Gehen, und Frankie marschierte entschlossen voran. Aber keine von ihnen stolperte ständig.

„Sieh es doch mal so“, sagte Eva und rückte eilig das Tablett wieder zurecht, um einen erneuten Unfall zu verhindern. „Deine Größe ermöglicht es dir, über die Köpfe all dieser super gestylten Frauen hinweg den großen Männern direkt in die Augen zu sehen. Jeder Nachteil hat auch seine Vorteile.“

„Ignoriere sie einfach“, kommentierte Frankie, die sich zu ihnen gesellt hatte. „Ev ist der Typ Mensch, für den das Glas immer halbvoll ist. Echt nervig.“

Matildas Glas war auch immer halbvoll. Denn die andere Hälfte des Inhalts hatte sie spätestens nach zwei Sekunden verschüttet. Außerdem fand sie, dass Eva der netteste und liebevollste Mensch war, den sie jemals getroffen hatte. Aber natürlich hatte Frankie nur einen Scherz gemacht. Eva, Paige und sie liebten sich über alles, und manchmal beneidete Matilda sie um diese Freundschaft. Die drei kannten sich seit ihrer Kindheit. Sie waren gemeinsam auf einer kleinen Insel aufgewachsen, die vor der Küste Maines lag. Paige behauptete immer, dass sie typische Landeier waren, die es in die Großstadt verschlagen hatte. Was sich angeblich auch daran zeigte, dass keine von ihnen alleine leben wollte, weshalb sie sich ein Haus in Brooklyn teilten. Paiges älterer Bruder wohnte ebenfalls dort. Matilda war diesem Bruder – Matt – nur ein Mal begegnet. Aber danach hatte sie ihrem neuen Helden sofort seine Züge verliehen.

Auch ihre Freundinnen hatten schon als Vorlage für einige Figuren gedient – was Matilda jedoch lieber für sich behielt. Lara zum Beispiel war eine Mischung aus allen drei Frauen. Und das Ergebnis war eine Heldin, die ebenso tough wie sexy war.

Sie hatte entschieden, dass Lara das flammendrote Haar von Frankie bekommen sollte. Jetzt allerdings fragte sie sich, ob es nicht spannender gewesen wäre, ihr die goldblonden Locken von Eva zu verpassen. Blondinen wurden sehr oft unterschätzt. Und es wäre ein großer Spaß, zu sehen, was passierte, wenn jemand ausgerechnet Lara unterschätzen sollte. Ja, dachte Matilda. Die Szene würde sie mit dem größten Vergnügen schreiben.

„Cynthia hat gesagt, dass ich nach Chase Adams Ausschau halten soll. Aber ich habe keine Ahnung, wie er aussieht.“ Rein literarisch gesehen, war das eine höchst interessante Frage: Wie sah ein Mann wohl aus, der alles hatte?

Den eigentlichen Grund, warum sie Chase Adams treffen wollte, erwähnte Matilda nicht. Sie hatte geringe Aussichten auf Erfolg. Das war ihr nur zu bewusst.

Eva blickte sich um. „Ich weiß, wie Chase aussieht. Nämlich verdammt attraktiv. Aber ich denke nicht, dass er hier ist. Allerdings sehe ich dort drüben Jake Romano. Und der kann Chase auf jeden Fall das Wasser reichen – in jeder Hinsicht.“

Matilda folgte ihrem Blick und entdeckte einen Mann, der so gut aussah, dass es verboten gehörte. Er war einer dieser großen, dunkelhaarigen Typen. Und natürlich befand sich an seiner Seite das perfekte Accessoire: eine unglaublich schöne Frau, die zu ihm aufsah, während sie gemeinsam über irgendetwas lachten.

Sie seufzte. „Die beiden scheinen schrecklich verliebt zu sein.“ Sie sah zu Paige hinüber, in der Erwartung, ein zustimmendes Nicken zu sehen. Doch Paige nickte nicht. Und für eine Sekunde war da irgendetwas in ihren Augen, dass Matilda fast wie Schmerz vorkam.

„Jake Romano liebt nur einen einzigen Menschen. Nämlich sich selbst.“

Das leichte Schwanken in Paiges sonst so beherrschter Stimme machte Matilda endgültig klar, dass sie soeben verbotenes Terrain betreten hatte.

Kannten Paige und Jake sich näher? Gab es da irgendeine Geschichte?

Das Letzte, was Matilda wollte, war Paige zu verletzen. Also öffnete sie den Mund, um zu fragen, was es mit der ganzen Sache auf sich hatte. Bevor sie dazu kam, sah sie allerdings, dass Eva sie bedeutungsvoll anblickte und den Kopf schüttelte. Hastig schloss sie den Mund wieder und schluckte die Frage hinunter.

„Du willst also Chase Adams treffen“, wechselte Eva das Thema. „Angeblich soll er eiskalt sein, wusstest du das? Eine Geldmaschine auf zwei Beinen. Ein Mann, der kein Herz und keine Seele hat. Verlieb dich bloß nicht in ihn.“

Das hatte sie auch keineswegs vor, dachte Matilda. Alles, worum es ihr ging, war die E-Mail-Adresse seines Bruders. Aber um die zu bekommen, musste sie Chase Adams trotzdem erst einmal treffen.

„Er taucht bestimmt noch auf“, sagte sie. „Wer würde denn so viel Geld für eine Party ausgeben, nur um dann zu Hause zu bleiben?“

Paige grinste. Inzwischen schien sie ihre gute Laune zurückgewonnen zu haben. „Vielleicht jemand, der ahnt, dass Cynthia ihn verfolgen wird?“

Also war er keineswegs alt und verschimmelt, schoss es Matilda durch den Kopf. Verdammt attraktiv. Eiskalt. Das waren genau die richtigen Eigenschaften, um eine sehr spannende Geschichte daraus zu entwickeln. Eine ihrer Heldinnen könnte einem Mann wie Chase Adams begegnen und das Herz an ihn verlieren. Nicht Lara. Denn die hielt nichts von konventionellen Beziehungsregeln. Sie legte keinen Wert darauf, erobert zu werden. Lara war auch in sexueller Hinsicht äußerst selbstbewusst und nahm sich, was sie wollte. Schüchternheit, Scham und Reue kannte sie nicht.

Aber war sie nicht gerade deshalb die perfekte Gegenspielerin für einen eiskalten Millionär? Ja, dachte Matilda. Natürlich. Die Beiden mussten aufeinandertreffen.

Chase Adams hielt sich vielleicht für einen Mann, der alles hatte. Aber eine Frau wie Lara hatte er nie gehabt. Sobald sie in sein Leben trat, würde er begreifen, was er verpasst hatte. Lara würde eine einzige Nacht mit ihm verbringen. Aber das war die Nacht, die Chase Adams nie mehr vergessen würde.

2. KAPITEL

Chase Adams stand hinter einer Säule auf der Dachterrasse und ließ den Blick über die Skyline von Manhattan gleiten. Dann betrachtete er das Gebäude genauer, das sich direkt vor ihm befand: vierundfünfzig Stockwerke aus glänzendem Glas und Metall, die drei der erfolgreichsten Unternehmen dieses Landes beherbergten.

Er kannte jede einzelne Stahlschraube.

Seine Fima hatte den Bürokomplex gebaut. Genau wie vier weitere Gebäude, die ihm sofort ins Auge fielen, wenn er den Kopf hob.

Bauen war seine Leidenschaft. Sein Leben.

Als Kind hatte er mit Lego gespielt. Aber dies hier war weitaus befriedigender. Er erschuf etwas von Dauer. Etwas, das ein Teil der Stadt wurde, die er liebte.

„Chase! Da bist du ja“, riss ihn eine weiche, weibliche Stimme aus den Gedanken. Der Moment der Ruhe war vorüber.

Resigniert drehte er sich um. „Victoria.“

„Ich habe dich überall gesucht. Und da bin ich nicht die Einzige. Die Leute wollen mit dir sprechen, Chase.“

Aber nicht, weil sie sich für ihn interessierten. Sie wollten etwas von ihm.

Die Leute wollten immer etwas von ihm.

Manchmal hatte er das Gefühl, dass sämtliche Beziehungen in seinem Leben auf Heuchelei beruhten. Es gab kein echtes Interesse, keine echten Gefühle. Und das galt auch für die Beziehung zu Victoria.

Seine Eltern erklärten bei jeder Gelegenheit, dass Victoria die ideale Partnerin für einen erfolgreichen Mann war.

Und es stimmte – Victoria wusste genau, wie man sich auf dem gesellschaftlichen Parkett bewegte. Sie war schön. Sie war selbstbewusst. Bei Events wie diesem hier würde sie an seiner Seite stehen und höflich mit allen Gästen plaudern – ganz egal, ob es der Polizeichef oder der Präsident höchstpersönlich war.

Es gab nur ein Problem bei der ganzen Sache.

Ihm wurde eiskalt bei der Vorstellung, die nächsten fünfzig Jahre neben Victoria aufwachen zu müssen. Er hatte sie nie anders als perfekt zurechtgemacht gesehen. Kein einziges Mal hatte er gehört, dass sie irgendetwas Unbedachtes von sich gab. Hin und wieder hatte er daher schon überlegt, sie zu kitzeln – nur um zu prüfen, ob sie zu spontanem Gelächter fähig war.

Auch ein paar andere Fragen ließen ihm keine Ruhe: Wie sah Victoria eigentlich aus, wenn sie nicht den halben Tag lang geschminkt und geföhnt worden war? War ihr Haar manchmal zerwühlt? Schlief sie in ihrem Makeup?

Was sogleich zu den nächsten Fragen führte. Nämlich: Wie würde der Alltag einer Ehe mit einer derartigen Frau ablaufen? Würde sie jeden Morgen eilig im Bad verschwinden, bevor er aufwachte? Und was war mit dem Essen? Trug sie jedes gemeinsame Dinner mehrere Wochen vorher im Kalender ein? Und galt das auch für Sex – würde er da ebenfalls vorab einen Termin bei ihr buchen müssen? Eines war jedenfalls klar: Alles in einer Ehe mit Victoria würde strikt geregelt sein. Sein ganzes Leben würde nur noch aus Kalendereinträgen und Erinnerungs-Mails bestehen. Irgendwann würde er dann anfangen, immer öfter auf Geschäftsreise zu gehen, weil er es nicht mehr ertragen konnte. Besser gesagt: weil er Victoria nicht mehr ertragen konnte.

Nicht gerade die beste Voraussetzung für eine Ehe.

„Ich habe nur kurz die Aussicht genossen.“

Victoria lachte. Ihr Gelächter war perfekt, nicht zu laut und nicht zu leise. Sie trat neben ihn und hakte sich bei ihm unter – eine Geste, die jedem Beobachter zeigen sollte, wie nahe sie sich waren, wie eng miteinander verbunden.

Chase ließ es geschehen. Aber noch nie hatte er sich so weit entfernt von dieser Frau gefühlt wie in diesem Moment.

„Du bist lustig, Chase. Dein eigenes Apartment hat eine wunderbare Aussicht auf ganz Manhattan. Trotzdem stehst du hier draußen und starrst in die Luft, während drinnen deine Gäste auf dich warten. Du musst dich unter die Leute mischen und wenigstens etwas Smalltalk halten. Das erwarten sie von dir.“

Smalltalk.

Wenn er eines hasste, dann das. Die Aussicht auf solche sinnlosen Gespräche war mindestens so deprimierend wie der Gedanke daran, den Rest seines Lebens mit Victoria verbringen zu müssen.

Wobei das vielleicht nicht ganz fair ihr gegenüber war. Wenn Victoria und er sich trafen, dann meist bei Events wie diesem hier. Sie waren nie allein. Und es gab nie Zeit, in Ruhe miteinander zu reden.

„Lass uns von hier verschwinden, Vic.“

„Entschuldigung?“ Als er ihren Namen abgekürzt hatte, hatte sie die Stirn einen Moment lang in Falten gelegt. Was vermutlich bedeutete, dass ihr das nicht gefiel. Unwillkürlich fragte er sich, wie in aller Welt er sie nennen sollte, falls sie beide es jemals bis ins Bett schaffen würden.

„Lass uns gehen.“

„Aber wohin denn?“

„Keine Ahnung. Das können wir spontan entscheiden. Lass uns einfach losgehen und sehen, wo es uns gefällt.“

„Du meinst: zu Fuß? Und du willst deine eigene Party verlassen?“ Wieder lachte sie. Diesmal klang ihr Lachen allerdings ein wenig atemlos – als hätte er ihr gerade etwas ziemlich Obszönes vorgeschlagen. Zum Beispiel, dass sie beide sich nackt ausziehen und auf den Tischen tanzen sollten. „Das ist ein Scherz, oder?“

„Nein, das meine ich ernst. Lass uns diese albernen Klamotten gegen Jeans und T-Shirts tauschen. Wir gehen spazieren. Vielleicht im Central Park. Dann können wir reden. Richtig reden, weißt du? Nicht über den Immobilienmarkt oder irgendwelche Events, sondern über das Leben. Ich brauche dringend frische Luft. Ich muss …“

Ich muss herausfinden, ob ich dich wirklich mag.

Und er musste herausfinden, wie sehr er sich selbst noch mochte, wenn er mit ihr zusammen war.

Sie zog ihre Hand von seinem Arm. Ihr Lächeln war jetzt kühler. „Ich besitze gar keine Jeans. Und diese albernen Klamotten, wie du sie nennst, wurden von einem exklusiven Schneider nach speziellen Entwürfen für mich angefertigt. Mir war klar, dass dieser Abend sehr wichtig für dich ist, Chase. Deshalb habe ich mir natürlich ganz besondere Mühe gegeben.“ Ihr Lächeln war vielleicht nur etwas kühler, aber ihrer Stimme klirrte vor Kälte. „Ich gehöre nicht zu diesen Frauen, die andauernd gelobt werden müssen. Aber das heißt nicht, dass ich mich über ein Kompliment nicht freuen würde.“

„Du siehst großartig aus“, erklärte er. „Aber ich möchte Zeit mit dir verbringen, nicht mit deinem Kleid.“ Unwillkürlich fragte er sich, wie lange sie wohl gebraucht hatte, um sich für den Abend zurechtzumachen.

„Du willst Zeit mit mir verbringen? Das freut mich, Chase. Ich möchte das auch – hier und jetzt.“ Ihre Stimme hatte wieder einen heiteren Klang angenommen. „Du weißt ja selbst, dass heute Abend einige sehr einflussreiche Leute zu deiner Feier gekommen sind. Und sie möchten gerne mit dir sprechen.“

Aber er hatte keine Lust, mit ihnen sprechen.

„Mal angenommen, diese Leute wären nicht gekommen. Und all das hier würde plötzlich verschwinden.“ Er machte eine ausholende Armbewegung. „Würdest du immer noch mit mir zusammen sein wollen?“

Victoria starrte ihn so verständnislos an, als würde er eine völlig fremde Sprache sprechen. „Chase, dein Geschäft boomt. Daddy meinte, er hätte noch nie jemanden getroffen, der einen so guten Instinkt hat wie du, wenn es um Geld geht. Du hast die Firma deines Vaters übernommen und ein millionenschweres Unternehmen daraus gemacht. Alle bewundern dich. Was du hast, wird niemals verschwinden.“

„Aber was, wenn ich etwas ganz anderes machen würde? Wenn ich zum Beispiel Feuerwehrmann wäre oder bei der Polizei? Oder wenn ich eines Tages wieder Lust hätte, selbst auf der Baustelle zu stehen, statt nur für die Finanzierung der Projekte verantwortlich zu sein – würdest du dann noch mit mir zusammen sein wollen?“ Am Anfang hatte er das gemacht. Er hatte selbst mitgebaut. Und wenn er dann abends von der Baustelle nach Hause gekommen war, hatte er Bücher über Nachhaltigkeit und ökologische Bauweise gelesen. Das war sein Plan gewesen: eine neue Bauweise zu entwickeln und umzusetzen. Doch der Herzinfarkt seines Vaters hatte diesem Traum ein jähes Ende bereitet.

„Hast du getrunken, Chase?“ Victoria verzog das Gesicht genau so lange, bis ihr wieder einfiel, dass man davon Falten bekam. „Du klingst nicht wie du selbst.“

Das war das Problem, dachte Chase. Eben hatte er versucht, Victoria zu zeigen, wer er wirklich war. Aber die Leute wollten nicht wissen, was er dachte. Sie wollten die Fassade sehen. Den CEO der Adams Construction Group. Besser gesagt: den Mann mit dem Geld.

Er hatte das Gefühl zu ersticken.

In gewisser Weise war es fast schon komisch: Er war der Mann, der alles hatte. Alles, bis auf die Dinge, auf die es im Leben wirklich ankam.

Sollte er morgen sein Vermögen verlieren, würde er von einer Sekunde auf die nächste ganz allein dastehen.

Er hob den Kopf. Victorias Anwesenheit hatte die Leute auf der Terrasse auf ihn aufmerksam werden lassen. Ein paar von ihnen sahen hinüber. Andere hatten sich bereits auf den Weg zu ihm gemacht. Jetzt begann der harte Teil des Abends.

„Chase!“ Zwei Männer und eine Frau waren die ersten, die ihn erreicht hatten. Sie lächelten strahlend. Doch bevor sie die unvermeidlichen Phrasen loswerden konnten, ertönte hinter ihnen ein lautes Klirren und Geschepper. Eine der Kellnerinnen musste ihr Tablett mit den Champagnergläsern fallengelassen haben. Einen kurzen Moment lang herrschte geschocktes Schweigen. Dann war das Schrillen einer Frauenstimme zu vernehmen.

„Sie hat mein Kleid ruiniert!“

Wie auf Befehl drehten sich alle Köpfe. Die Leute wollten das Drama beobachten, das sich vor ihren Augen abspielte. Ein paar ganz Neugierige begannen sogar, sich in Richtung Unfallort in Bewegung zu setzen. Chase wunderte sich mal wieder über diese dunkle Seite der menschlichen Psyche. Woher kam das Verlangen, sich am Unglück anderer zu weiden?

Er wandte sich ab, nicht gewillt, durch sein Starren die Situation für die Kellnerin noch peinlicher zu machen. Stattdessen richtete er seinen Blick auf die glitzernden Schluchten, die unter ihm lagen. Der Broadway und die 7th Avenue. Und dahinter der große Schatten des nächtlichen Central Parks – die grüne Oase, die den New Yorkern eine Welt jenseits von Stahl und Beton bot.

Momentan lebte er in einem Penthouse auf dem Wolkenkratzer, den seine Firma vor ein paar Monaten fertiggestellt hatte. Es war kein Zuhause, nur ein Ort, an dem er eine Zeitlang schlief und aß, bevor er weiterzog. Die Presse hatte das Gebäude gefeiert, und sämtliche Wohn- und Büroeinheiten in dem riesigen Komplex waren schon lange vor dem offiziellen Eröffnungstermin verkauft worden.

Auch das Penthouse würde er demnächst zum Verkauf anbieten. Allerdings hatte er noch nicht entschieden, wo er als nächstes hinziehen wollte. Er hatte in den letzten Wochen und Monaten so viel gearbeitet, dass ihm keine Zeit geblieben war, darüber nachzudenken.

Noch immer waren die Blicke aller Gästen gebannt auf den Unglücksort gerichtet. Das war seine Chance, hier unbemerkt zu verschwinden, dachte Chase. Er drehte sich um und verließ die Terrasse.

Ein Anruf würde genügen, damit sein Wagen vor der Tür stand, sobald er mit dem Fahrstuhl im Erdgeschoss angekommen war. Aber er sehnte sich nach frischer Luft. Er wollte nicht im Auto sitzen. Also würde er nach Hause laufen. Allein.

Es war besser, allein zu sein, als irgendeine Rolle spielen zu müssen, nur weil ein Haufen Fremder das von ihm erwartete.

Denn das waren all die Leute hier, selbst Victoria: Fremde. Sie kannten ihn nicht. Und sie waren auch gar nicht daran interessiert, ihn kennenzulernen.

Ohne dass es jemandem aufgefallen wäre, verließ Chase Adams seine Party. Und er warf keinen einzigen Blick zurück.

Matilda entdeckte ihre Tasche und holte das Notfall-Kleid heraus, das sie immer bei sich trug. Mühsam zog sie es über den Kopf und zerrte es sich über ihre triefend nassen Beine. Das Kleid war im Grunde nur ein überlanges T-Shirt. Aber es hatte den Vorteil, dass es sich zusammenrollen ließ und in jeder Tasche Platz fand. Daher war es perfekt für genau diese Art von Situation.

Der Champagner war angeblich irgendein besonders toller Jahrgang gewesen und daher extrem teuer. Einen Moment lang war Matilda versucht, sich hinunter zu beugen und ihre eigenen Beine abzulecken. Denn das hier war schätzungsweise das letzte Mal in ihrem Leben, dass sie einen so edlen Tropfen schmecken konnte.

Gefeuert.

Sie war gefeuert worden.

Verdammter Mist!

Es war schlimm genug, dass sie ihren Job verloren hatte. Noch viel schlimmer war allerdings die Tatsache, dass sie jetzt auch keine Chance mehr hatte, Chase Adams zu treffen. Damit würde ihr Manuskript wohl nie auf dem Schreibtisch seines Bruders landen. Sie hatte alles ruiniert.

Wie hatte das nur passieren können? Vermutlich war es nicht so schlau gewesen, sich derart in die Szene hineinzusteigern, in der Lara und Chase Adams gemeinsam im Bett landeten. Denn während sie sich eine raffinierte Verführungsmethode nach der anderen ausgedacht hatte, hatte sie nicht auf ihre Umgebung geachtet. Deshalb hatte sie erst viel zu spät diese Frau bemerkt. Besser gesagt: das Kleid dieser Frau, das absurderweise mit langen Federn geschmückt war. Die Federn und das Tablett hatten sich ineinander verhakt. Und dann waren die Champagnergläser umgekippt – eins nach dem anderen. Wie Dominosteine. Nur wesentlich nasser.

Die Wut der Frau war fast so groß gewesen wie die von Cynthia. Was vermutlich auch daran gelegen hatte, dass das Kleid der Frau in nassem Zustand durchsichtig geworden war und einen ungestörten Blick auf ihre Unterwäsche mit Stützfunktion ermöglicht hatte. Dem erbosten Geheul nach zu urteilen, war die Frau nicht gerade stolz darauf gewesen, dass sie ihren Körper mit Hilfe von viel Draht und Elastan in Form bringen musste.

Matilda bückte sich, hob ihre feuchte Arbeitskleidung vom Boden auf und steckte sie in eine Tüte – genau wie Cynthia es ihr befohlen hatte. Es war ein schmähliches Ende ihrer Zeit bei Star Events. Ein würdeloser Abgang.

Sie wusste, dass Paige und die anderen nach ihr Ausschau halten würden. Aber sie konnte es nicht ertragen, ihnen jetzt gegenüberzutreten. Dafür schämte sie sich zu sehr. Am schlimmsten war, dass sie nicht nur sich selbst, sondern auch Paige in Schwierigkeiten gebracht hatte. Paige hatte sie eingestellt, als niemand anderes ihr eine Chance geben wollte. Aber das Vertrauen in sie hatte sich nicht ausgezahlt – ganz im Gegenteil. Sie hatte sich und die anderen blamiert. Und alles nur, weil sie ständig vor sich hinträumte und ihre Ungeschicklichkeit nicht in den Griff bekam.

Mit hängenden Schultern schleppte sie ihren nassen Körper zum Aufzug. Als die Türen sich öffneten, trat sie mit gesenktem Kopf in die Kabine. Wenigstens war sie jetzt allein, dachte sie erleichtert.

Aber, nein. Nicht einmal diese kleine Gnade schien das Schicksal ihr gönnen zu wollen. Denn gerade, als sich die Türflügel schlossen, erschien eine Männerhand und drückte sie auseinander.

Mürrisch beobachtete Matilda, wie die Tür brav wieder aufging. Wenn sie versucht hätte, den Aufzug zu stoppen, hätte das garantiert nicht geklappt. Statt geräuschlos wieder aufzugleiten, hätte sich die Aufzugtür gnadenlos geschlossen. Dann wäre das Knacken von Knochen zu hören gewesen. Und die restliche Nacht hätte sie in der Notaufnahme verbracht, weil sie ihre Hand gebrochen hatte.

Aber, gut. Manche Menschen wussten eben, was sie taten. Und der Besitzer der Hand schien einer von ihnen zu sein.

Er betrat den Aufzug, und Matildas desinteressierter Blick verwandelte sich in ein ungläubiges Starren. Seine Haare waren dunkel – mitternachtsschwarz hätte sie es in einer ihrer Geschichten genannt. Und seine Augen hatten die Farbe des Ozeans. Der teure Anzugsstoff schmiegte sich an seinen Körper und betonte die muskulösen Oberschenkel und die breiten Schultern.

Dieser Mann war einfach umwerfend.

Vor allem aber war er perfektes Helden-Material.

Am liebsten hätte Matilda jetzt ihr Notizbuch hervorgezogen, um alle Einzelheiten in einer Liste festzuhalten.

Markantes Kinn. Messerscharfe Wangenknochen. Energisch wirkender Mund und sinnlich geschwungene Lippen. Muskeln … überall.

Ob sie wohl unauffällig ein Foto von ihm machen konnte?

Nein. Zu gefährlich.

Als hätten die Götter ihn nicht ohnehin schon großzügig bedacht mit seinem guten Aussehen und der beneidenswerten Koordination, war er auch noch groß. Bestimmt einen Kopf größer als sie, wenn nicht mehr. Was ungewöhnlich war. Normalerweise musste sie auf Männer hinunterblicken oder befand sich zumindest auf Augenhöhe mit ihnen. Dadurch fühlte sie sich unbeholfen und linkisch – selbst wenn sie zufällig gerade mal nichts heruntergeworfen hatte.

Dieser Mann musste über 1,90 Meter groß sein. Und seine Kleidung ließ darauf schließen, dass er von der Party kam, die sie soeben verlassen hatte. Ob er wohl einer der unglücklichen Menschen war, die sie mit Champagner übergossen hatte?

Sie wich zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Wand stieß. Dann blickte sie zu Boden, als würde es dort etwas sehr Interessantes zu sehen geben. Ihr war klar, dass ihr Haar feucht von den Champagnerspritzern war und sich zu locken begann.

Bitte, lieber Gott – mach, dass er mich nicht erkennt!

Sie sah ihn nicht an. Aber sie konnte die Gereiztheit spüren, die von ihm ausging. Es war kein sehr angenehmes Gefühl, in einer engen Fahrstuhlkabine gefangen zu sein, mit einem Mann, der eindeutig schlechte Laune hatte. Sie hob leicht den Kopf und riskierte einen weiteren Blick. Jetzt bemerkte sie, was ihr eben entgangen war: Brauen, die unheilverkündend zusammengezogen waren. Und Lippen, die eine so gerade Linie bildeten, dass nicht mal der größte Optimist das noch als ein Lächeln bezeichnet hätte. Ja, er gehörte wohl zu den Leuten, die in Champagner gebadet hatten. Und seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hegte er gerade ein paar ziemlich mörderische Gedanken.

Er hob die Hand und zog sich mit einem Ruck die Fliege vom Hals – als drohte sie, ihn zu erwürgen. Dann öffnete er den obersten Hemdknopf und …

Matildas Gedanken kamen abrupt zum Halten.

Sie sah die glatte, bronzefarbene Haut und den Anflug von dunklen Haaren, die sich darauf kräuselten. Und plötzlich konnte sie nur noch still dastehen und diesen Mann anstarren. Die Lähmung war allerdings rein äußerlich, denn in ihrem Inneren herrschte ein enormer Tumult. All ihre Organe schienen in Aufruhr zu sein. Ihr Herz pochte wie wild und ihr Magen zog sich zusammen.

Verdammt!

Sie schluckte mühsam. Okay. Dieser Typ schien kein sonniges Gemüt zu haben. Aber wen kümmerte es? Sie jedenfalls nicht. Einen Mann mit einem solchen Körper hätte sie selbst dann nicht von der Bettkante gestoßen, wenn er mit der finstersten Miene aller Zeiten in ihrem Schlafzimmer aufgetaucht wäre.

Apropos Schlafzimmer: Lara hätte jetzt zwei große Schritte nach vorn gemacht. Dann hätte sie das Hemd des Fremden gepackt und es einfach zerrissen, um sich davon zu überzeugen, dass sein restlicher Körper ebenso attraktiv war wie dieser kleine Ausschnitt. Sie hätte den Mann skrupellos benutzt, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Und natürlich hätte sie keine Gnade gekannt. Sie hätte den Mann so hart rangenommen, dass er irgendwann …

„Sie waren auch auf der Party?“ Seine tiefe, samtige Stimme holte sie mit einem Schlag aus ihren nicht ganz jugendfreien Fantasien zurück.

„Wie?“ Verflixt, selbst seine Stimme war sexy. Inzwischen war ihr Verlangen so stark, dass sie kaum noch Luft bekam. „Meinen Sie mich?“

„Ja. Wen denn sonst? Ich habe gesehen, wie Sie zum Fahrstuhl gegangen sind. Außerdem kann man nicht übersehen, dass Sie sich gerade umgezogen haben.“

„Wieso kann man das nicht übersehen?“

„Weil Ihre Haare noch halb im Kleid stecken. Außerdem hat sich das Kleid hinten in Ihrer … Wäsche verfangen.“

„Oh.“ Sie spürte, wie ihr Gesicht plötzlich so heiß wie ein Pizzaofen wurde. Hastig zerrte sie ihre Haare aus dem Kragen und zog das Kleid hinunter. Wie peinlich! Aber, na ja. Wenigstens hatte sie kein Klopapier an ihren Schuhen hängen. Das passierte ihr nämlich ständig. Und inzwischen hatte sie gelernt, für jeden Unfall dankbar zu sein, der ihr nicht zustieß.

„Waren Sie auch in dieses Champagner-Fiasko verwickelt?“

So viel zum Thema ‚Unfälle, die ihr nicht zustießen‘. „Ich … ähm … habe wohl ein paar Spritzer abbekommen.“ Sie spürte, wie ihr ganzer Körper sich versteifte, als sie auf seine Erwiderung wartete.

Aber er runzelte nur kurz die Stirn. „Warum fühlen sich die Leute immer von den Katastrophen anderer angezogen? Was ist so toll daran, jemanden zu beobachten, der in Schwierigkeiten steckt? Das habe ich noch nie verstanden.“

Das letzte, was sie von diesem Mann erwartet hatte, war Mitgefühl. „Ich glaube, das liegt einfach in der Natur des Menschen. Wie im Mittelalter, wenn die Leute in Scharen zu den Hinrichtungen gegangen sind.“

„Kann sein. Trotzdem finde ich es widerlich.“ Er steckte die Fliege in die Tasche seiner Anzughose. „Also, wem wollen Sie aus dem Weg gehen?“

„Entschuldigung?“

„Als Sie zum Fahrstuhl gegangen sind, haben Sie ein paarmal über Ihre Schulter nach hinten gesehen. Als wären Sie auf der Flucht. Außerdem wirken Sie auf mich wie eine Frau, die etwas verbirgt.“

Eine Frau mit einem Geheimnis? Das klang so viel glamouröser als die Wahrheit. „Ich … Nun ja …“

„Verschwenden Sie keine Zeit mit Ausreden. Ich tue nämlich genau dasselbe. Ich flüchte. Der Champagner-Unfall hat uns beiden die Möglichkeit gegeben, unbemerkt zu entkommen. Wenn Sie mich nicht verraten, werde ich Sie auch nicht verraten. Es kann unser gemeinsames Geheimnis sein.“ Er lächelte. Dieses unerwartete Lächeln schockierte Matilda so sehr, dass sie den Mann mit halb geöffneten Mund anstarrte. Wenn Cynthia jetzt hier gewesen wäre, hätte sie ihr völlig zurecht vorwerfen können, dass sie sich wie ein Goldfisch benahm.

Hastig schloss sie den Mund. Dann erwiderte sie sein Lächeln. „Keine Sorge, ich werde schweigen wie ein Grab. Ihr Geheimnis ist sicher bei mir.“

Nur zu gern hätte sie noch weitere seiner Geheimnisse entdeckt. Speziell von der Sorte, die sich unter seiner Kleidung verbargen. Da gab es sicher eine Menge höchst interessanter Dinge, die sich fühlen und schmecken ließen.

Lara hätte den Aufzug gestoppt und gleich hier und jetzt Sex mit diesem Fremden gehabt. Aber sie war nicht Lara. Leider.

„Wie gut kennen Sie sich in diesem Gebäude aus?“ Er warf einen Blick auf seine Uhr. „Ich muss einen Seitenausgang finden.“

„Wieso? Was ist denn das Problem mit dem Haupteingang?“

„Wie gesagt: Ich befinde mich ebenfalls auf der Flucht.“ Dieses Mal erreichte das Lächeln sogar seine Augen. „Die Leute sollen nicht sehen, dass ich gehe.“

Sie fragte sich, vor wem jemand wie er wohl flüchtete. Vor einer Frau? Oder vor mehreren? Ja, natürlich. Das musste es sein. Er war so attraktiv, dass er garantiert für Aufsehen sorgte. Und noch dazu musste er ziemlich reich sein, wenn er von der Party da oben kam. Kurz gesagt: Er war ein sehr guter Fang für die Frauen auf der Dachterrasse. Vermutlich verfolgten sie ihn.

Matilda, die ebenfalls vor einigen der Frauen da oben flüchtete – zum Beispiel vor Cynthia – verspürte Mitleid mit ihm. „Ja, es gibt noch einen Notausgang. Man muss mit dem Fahrstuhl in den Keller fahren und dann nach links …“

„Zeigen Sie es mir.“

„Äh … ich?“

„Sie sind diejenige, die weiß, wo der Ausgang ist. Klingt logisch, oder?“

„Vermutlich schon.“ Wenn sie dabei erwischt wurde, wie sie mit einem Gast aus dem Notausgang kroch, würde es ein Riesentheater geben. Aber andererseits war sie ja schon gefeuert worden. Was konnte ihr also noch passieren?

Sie drückte auf den Knopf für das Kellergeschoss. Als sich die Tür öffnete, traten sie beide gleichzeitig einen Schritt vor.

Plötzlich war sie ihm so nahe, dass sie ihn riechen konnte: ein teures Aftershave, vermischt mit dem Geruch nach Seife und einem sexy Mann. Völlig benommen von dem sinnlichen Erlebnis blieb Matilda stehen. Sie wollte den Moment auskosten und sich alles genau einprägen, damit sie später darüber schreiben konnte. Am liebsten hätte sie ihr Gesicht an seine Brust gepresst und tief eingeatmet.

Lara hätte das natürlich getan. Sie hätte die störende Kleidung beseitigt und ihre Zunge genüsslich über seine Brust gleiten lassen. Und dabei wäre es ihr nicht darum gegangen, die letzten Champagnertropfen aufzulecken.

Der Fremde war jetzt ebenfalls stehengeblieben. Sein großer, muskulöser Körper hinderte die Fahrstuhltüren daran, sich zu schließen. „Nach Ihnen …“

Männer, die Kavaliere waren, gab es viel zu selten, dachte Matilda. Sie trat an ihm vorbei. Dabei schoss ihr die Frage durch den Kopf, ob er sich im Bett wohl auch wie ein echter Gentleman verhielt. Nicht, dass sie in derartigen Dingen eine Expertin war. Aber sie würde wetten, dass er keine Frau unbefriedigt gehen ließ.

Sie sah auf. Ihr Blick begegnete seinem.

Tief in ihr breitete sich Hitze aus. Ihre Nervenenden begannen zu vibrieren. Er sah nicht weg, sondern hielt ihren Blick fest, bis ihre Knie so weich wurden wie Eiscreme, die zu lange der heißen Sonne ausgesetzt gewesen war.

Irgendwann gelang es ihr schließlich, sich auf wackeligen Beinen in Bewegung zu setzten. Sie folgte den großen Rohren, die an den Kellerwänden entlangführten, bis sie schließlich die Treppe zum Notausgang erreicht hatte.

Oben angelangt, versuchte sie ungeschickt, die schwere Eisentür zu öffnen, die nach draußen, zur Straße, führte. Er trat hinter sie und drückte die Tür auf.

Sein Körper war ganz dicht an ihrem. Matilda schloss die Augen.

Mit dem Arm drückte er gegen die Tür, und sie konnte die Wärme spüren, die Muskeln. Unter diesem Jackett steckte ein sehr durchtrainierter Körper – so viel war klar.

Die Berührung war nur zufällig, keine erotische Absicht steckte dahinter. Doch das änderte nichts daran, dass ihr der Atem stockte. Sie konnte sich nicht von der Stelle rühren. Wenn er sie nicht irgendwann sanft vorwärtsgeschoben hätte, wäre sie bis in alle Ewigkeit hier stehengeblieben.

„Woher wissen Sie von diesem Ausgang?“

Es war der Ausgang, den die Mitarbeiter benutzten. Aber das wollte sie ihm nicht sagen. „Es gehört zu meinem Job, solche Dinge zu wissen.“

„Also arbeiten Sie im Security-Bereich?“

Security. Matilda lächelte. Das klang so glamourös. Sie könnte beim FBI arbeiten. Bei der CIA. Oder sie könnte eine verdeckte Operation durchführen. Wobei … Letzteres war dann doch ein wenig unrealistisch, wenn man bedachte, dass sie in den letzten Monaten nichts Schwereres als ein Tablett mit Gläsern angehoben hatte. Aber zum Beispiel könnte sie eine Undercover-Agentin sein. Nein, entschied sie gleich darauf. Undercover kam für sie leider nicht infrage. Sie würde im entscheidenden Moment stolpern und den Feinden in die Hände fallen. „Ich kann Ihnen das nicht sagen.“

Seine Augen funkelten. „Weil Sie mich sonst töten müssten?“

„So ähnlich.“

Auf gar keinen Fall würde sie ihm die Wahrheit über ihren Job verraten. Es hätte zwar keine tödlichen Konsequenzen zu befürchten, wenn er davon erfuhr. Aber dadurch würde die Stimmung total zerstört werden. Und das wollte sie unbedingt vermeiden. Außerdem war sie ja Expertin darin, die Spannung aufrecht zu erhalten. Sie war Schriftstellerin. Das war momentan leider ihr einziger Job. Was bedauerlich war, weil sie mit dem Schreiben nämlich kein Geld verdiente.

„Okay. Sie sind also eine Frau mit einem Geheimnis.“

Matilda öffnete den Mund, um etwas zu erwidern. Dann schloss sie ihn wieder.

Warum sollte sie nicht geheimnisvoll sein? Wenigstens für einen kurzen Moment in ihrem Leben? Nach dem heutigen Abend würde sie diesem Mann sowieso nicht wieder begegnen. Was war schon dabei?

„Wie gesagt: Ich kann leider nicht über meinen Job sprechen.“ Was nicht gelogen war. Sie konnte wirklich nicht über ihren Job sprechen. Weil dieser Job nämlich vor wenigen Minuten in einer Champagnerlache ein jähes Ende gefunden hatte.

In der Straße vor dem Gebäude drängten sich die Leute. So nahe am Broadway herrschte immer ein riesen Getümmel. Wobei es zumeist Touristen waren, die sich hier durch die Menge zu schieben versuchten. Die echten New Yorker kannten das Problem seit Jahren, und mieden die Straßen rings um den Times Square. Die Zahl der Touristen würde im Verlauf des Sommers weiter ansteigen, bis es irgendwann fast unmöglich war, den Times Square zu überqueren.

Matilda umrundete eine Tüte mit Abfall und versuchte einem Paar auszuweichen, das mitten auf der Straße plötzlich stehenblieb, um sich zu küssen. Sie musterte die beiden interessiert, wie sie es mit allen Menschen tat. Was sie nicht daran hinderte, sich der Anwesenheit des Mannes neben ihr sehr bewusst zu sein.

„Auf diesem Weg habe ich das Gebäude noch nie verlassen. Wie komme ich von hier aus zum Central Park?“

„Die nächste Straße rechts. Und dann einfach geradeaus.“

Er blieb stehen und drehte sich zu ihr um. „Begleiten Sie mich.“ Sein Blick glitt zu ihrem Mund. „Dann kann ich mich nicht verirren.“ Die Art, wie er sie ansah, ließ sie befürchten, dass ihre Kleidung gleich ganz von selbst abfallen würde, bis sie nackt vor ihm stand.

„Ich, ähm … Sie leben also nicht in New York?“

„Doch, das tue ich. Aber ich habe selten die Gelegenheit, zu Fuß zu gehen.“

„Wirklich? Ich gehe fast immer zu Fuß.“ Was vor allem daran lag, dass sie pleite war und sich die öffentlichen Verkehrsmittel nicht leisten konnte.

„Dann sind Sie ja genau die richtige Person, um mir den Weg zu zeigen.“

Sie fragte sich, ob sie ihn vielleicht missverstanden hatte. „Sie möchten, dass ich Sie zum Central Park bringe?“

„Warum nicht?“

Es gab ungefähr eine Million gute Gründe, das nicht zu tun. Beispielsweise, dass er ein völlig Fremder war. Matilda wusste, dass es dumm war, mit einem Mann, den sie nicht kannte, in einem weitläufigen Park herumzuspazieren. Also würde sie sich für die sichere Variante entscheiden und die Einladung ablehnen. Dann würde sie nach Hause gehen und ganz allein in ihrem winzigen Apartment sitzen, dessen Wände jedesmal zu zittern begannen, wenn die S-Bahn vorbeifuhr. Sie würde sich eine Tütensuppe zubereiten und beim Essen darüber nachdenken, wie zum Teufel sie jetzt einen Job finden konnte, um sich zu ernähren.

So sah Matildas Leben aus. Aber sie hatte es satt, Matilda zu sein.

Eine spannungsgeladene Pause entstand, während sie versuchte, sich zwischen Realität und Fiktion zu entscheiden. Zwischen Sicherheit und Abenteuer.

Sie senkte leicht den Kopf. Eine der champagnerfeuchten Haarsträhnen fiel ihr ins Gesicht. Er streckte die Hand aus und strich sie zurück.

Seine Berührung war wie ein elektrischer Schlag. Matilda schnappte nach Luft. Ihr ganzer Körper begann zu prickeln.

„Ich finde, das ist eine gute Idee“, hörte sie sich selbst sagen. Er lächelte – es war ein sinnliches Lächeln, das eine Hitzewelle in ihrem Inneren auslöste.

„In diesem Fall sollten wir zumindest das Geheimnis um unsere Namen lüften. Ich bin …“ Er zögerte kurz und streckte ihr dann die Hand entgegen. „Alex.“

Alex, dachte sie. Ein kurzer prägnanter Name. Irgendwie kraftvoll. Vielleicht sollte sie ihren derzeitigen Helden in Alex umbenennen. Momentan hieß er Charles. Aber wenn sie jetzt so darüber nachdachte, schien dieser Name nicht wirklich zu seinem Charakter zu passen.

Sie stellte sich Lara vor, die ‚Alex‘ murmelte, während sie sich seinen muskulösen Oberkörper entlangküsste.

„Alex.“

„Genau. Und jetzt bist du dran.“

Benommen sah Matilda ihn an. Sie war dran? Womit denn?

Dann bemerkte sie, dass er die Augenbrauen fragend erhoben hatte. Ach ja, fiel ihr ein. Er hatte ihr seinen Namen genannt. Das war es, worauf er wartete – nicht darauf, dass sie irgendwelche verbotenen Dinge mit seinem Körper anstellte.

„Ich heiße …“ Sie verstummte und sah ihn an. Die Luft zwischen ihnen schien zu vibrieren. Ihr Herz klopfte schmerzhaft gegen ihre Rippen.

Ich heiße Matilda.

Matilda.

„Lara“, sagte sie. Ihre Stimme klang belegt. „Mein Name ist Lara. Lara Striker.“ Das Bad Girl, das vor nichts zurückscheute. „Freut mich, dich kennenzulernen.“

3. KAPITEL

Chase musterte die Frau, die vor ihm stand. Es kam selten vor, dass er nicht erkannt wurde. Und in diesem Fall war es ganz besonders merkwürdig – schließlich hatte er gerade sein eigenes Event verlassen. Kurz schoss ihm der Verdacht durch den Kopf, dass sie vielleicht irgendein absurdes Spiel mit ihm spielte. Aber inzwischen hatte er jahrelange Erfahrung in Verhandlungsführung. Er erkannte Heuchelei sofort. Und ein Blick auf ihr Gesicht verriet ihm, dass diese Frau tatsächlich nicht wusste, wer er war.

Sie kam zu seiner Party, ohne ihn zu kennen? Interessant, dachte er spöttisch. In der nächsten Sekunde verspürte er eine ungeheure Wut auf sich selbst.

War das der Preis des Erfolgs? War er so ein arroganter, selbstverliebter Bastard geworden, dass er dachte, jeder müsse ihn sofort erkennen? Er schüttelte den Kopf, angewidert und desillusioniert, während er gleichzeitig erleichtert darüber war, dass sie keine Ahnung hatte, wer Chase Adams war.

Mit ihr würde es keinerlei Gespräche über Investments geben. Sie würde ihn nicht dazu drängen, ihr Tipps in Sachen Immobilien-Kauf zu geben. Nein, sie beide waren zwei ganz normale Menschen – ohne irgendwelche versteckten Absichten.

Die Situation war so neu und erfrischend für ihn, dass er im ersten Moment kaum wusste, wie er damit umgehen sollte.

„Okay, Lara. Vielleicht verrätst du mir, wieso du die Party verlassen hast? Weil du dich gelangweilt hast? Weil du das Essen nicht mochtest? Oder lag es daran, dass du mit Champagner bespritzt worden bist?“ Er sah, wie sie zögerte. „Du kannst ganz ehrlich sagen, was du denkst. Wie du weißt, bin ich ja ebenfalls gegangen.“

Sie senkte den Kopf und sah zu Boden. „Es lief nicht so, wie es sollte.“

„Was hat denn nicht geklappt? Wolltest du jemanden treffen?“

„Ich wollte Chase Adams kennenlernen. Aber er war nicht da. Komisch, oder? Er gibt eine Party, aber taucht dann gar nicht auf.“

Chase erstarrte.

Was sie ihm eben mitgeteilt hatte, zwang ihn, alle Barrikaden wieder aufzurichten, die er gerade abgebaut hatte. Verdammt, er hatte gedacht, dass sie anders war als die Leute auf der Party da oben.

Aber da hatte er sich offenbar getäuscht.

„Ach ja – und wieso wolltest du Chase kennenlernen?“ Sein Tonfall war deutlich kühler geworden. Überrascht hob sie den Kopf.

„Findest du das merkwürdig?“

„Nein. Alle möglichen Leute wollen ihn treffen. Deshalb sind sie ja zu dem Event gekommen: weil sie denken, es lohnt sich, ihn zu kennen.“

„Und das findest du nicht in Ordnung?“

„Ich finde, dass du nicht der richtige Typ Frau für so etwas bist.“ Er beobachtete, wie ihre Wangen sich röteten.

„Okay, es missfällt dir also. Aber bevor du mich jetzt mit deinem Blick – der ehrlich gesagt ziemlich finster ist – in ein Häufchen Asche verwandelst, solltest ich dir vielleicht erst mal die Hintergründe erläutern: Ich wollte Chase Adams nämlich nur treffen, um durch ihn seinen Bruder kennenzulernen.“

„Seinen Bruder?“ Wenn sie ihm vorgeschlagen hätte, sich nackt auszuziehen und auf dem Times Square zu tanzen, hätte er nicht verblüffter sein können.

„Was willst du denn von seinem Bruder?“

Sie hielt seinem Blick beharrlich stand. „Das kann ich dir leider nicht sagen. Sonst müsste ich dir nämlich mein geheimnisvolles Geheimnis verraten. Und wir beide kennen uns gerade mal seit fünf Minuten.“

„Wir kennen uns seit mindestens zehn Minuten. Also verrate mir dein geheimnisvolles Geheimnis.“

„Versuchst du immer, deinen Willen durchzusetzen?“

„Ja, immer.“

„Du wirst mich auslachen.“

„Ich werde nicht lachen.“

„Na gut. Aber du musst versprechen, es keiner Menschenseele zu verraten.“

„Ich verspreche es.“

Sie holte tief Luft. „Ich bin Schriftstellerin.“ Nachdem sie einmal angefangen hatte, gab es kein Halten mehr. Die Worte sprudelten nur so aus ihr hervor. „Na ja, besser gesagt: Ich bin eine unveröffentlichte Schriftstellerin. Bisher konnte ich keine meiner Geschichten an einen Verlag verkaufen. Aber ich weiß, dass der Bruder von Chase Adams einen kleinen, unabhängigen Verlag leitet. Und mein neuer Text würde dort ganz hervorragend ins Programm passen.“

Er runzelte die Stirn. „Du hast ein Buch geschrieben?“

„Ich habe eine ganze Reihe von Büchern geschrieben. Aber das letzte davon ist mein bester Text bisher.“

Sie hatte ein Buch geschrieben. Und Chase Adams fand sie weder wichtig noch interessant. Sie hatte ihn nur treffen wollen, um seinen Bruder kennenzulernen. Tja, dachte Chase. Er hatte ja mit Vielem gerechnet. Aber damit nun wirklich nicht.

Dass er laut lachte, merkte er erst, als sie ihn böse anstarrte.

„Du hast versprochen, nicht zu lachen.“

„Ich lache nicht über dich, sondern über die Situation.“

„Weil du es komisch findest, wenn man sich seinen Traum erfüllen will?“

„Nein.“ Plötzlich war ihm gar nicht mehr nach Lachen zumute. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er ebenfalls einen Traum gehabt. Aber sein Traum war zerstört worden. Und er hatte zugelassen, dass das passierte. „Weshalb schickst du deine Geschichte nicht einfach per Mail an den Verlag?“

„Weil sie keine unverlangt eingesandten Manuskripte prüfen. Aber ich weiß, dass meine Geschichte perfekt für sie ist. Deshalb muss ich es irgendwie schaffen, dass sie sie lesen, um sich selbst davon zu überzeugen.“

„Du könntest es auch selbst veröffentlichen. Als E-Book.“

„Ja, klar. Aber wenn es bei einem Verlag erscheint, wird mein Buch gedruckt und steht in den Regalen der Buchhandlungen. Ich will, dass so viele Leute wie möglich es lesen können. Das ist mein Traum.“

Er kannte sie nicht mal eine Stunde. Aber sie hatte ihm ihren Traum anvertraut. Und zwar ohne jeden Hintergedanken, weil sie gar nicht wusste, wer er in Wahrheit war. Wie viele seiner Bekannten hätten etwas so Persönliches mit ihm geteilt?

„Ich möchte ja ungern der Überbringer schlechter Nachrichten sein – aber Chase und sein Bruder stehen sich nicht besonders nahe.“

„Du kennst Chase Adams?“ Ihre Augen wurden groß, und er konnte die Hoffnung darin schimmern sehen. „Erzähl mir von ihm. Ich habe natürlich die Gerüchte gehört: dass er kalt und herzlos ist. Eine Geldmaschine auf zwei Beinen. Aber dass er nicht mal seinem Bruder nahesteht, finde ich ziemlich traurig.“

Chase dachte an Brett und spürte, wie sich irgendetwas in seinem Inneren regte. „Ja, das ist traurig.“

„Du widersprichst nicht den Gerüchten, dass er kalt und herzlos ist? Dann magst du ihn wohl nicht besonders.“

Wie sollte er diese Frage beantworten? „Es gibt Momente, da mag ich ihn wirklich nicht besonders“, sagte er schließlich. „Manchmal habe ich das Gefühl, dass er vom Weg abgekommen ist und gar nicht mehr weiß, wer er wirklich ist.“

„Aber das hat dich nicht daran gehindert, zu seiner Party zu kommen und seinen Champagner zu trinken?“ Ihr missbilligender Tonfall brachte ihn zum Lächeln.

„Dachtest du, dass all diese Leute auf der Dachterrasse ihn mögen? Dass sie deshalb zu seiner Feier gekommen sind?“

„Nein. Wahrscheinlich nicht. Ich bin keine Expertin in solchen Dingen. Aber mein Eindruck war, dass es da oben vor allem um Schleimerei und Networking geht.“

Das brachte es genau auf den Punkt. „Aber du warst auch dort. Und dein Plan war, dich bei Chase Adams einzuschleimen. Stimmt doch, oder?“

„Ich würde sagen, dass es in meinem Fall eher Networking war.“ Jetzt waren ihre Wangen fast so rot wie Tomaten. „Außerdem bin ich ja sehr schnell gegangen.“

„Ohne von dem teuren Champagner zu trinken.“

Sie brach in Gelächter aus. „Nein, ich habe kein einziges Glas getrunken. Du?“

„Ich auch nicht.“

„Also muss sich keiner von uns beiden schuldig fühlen. Wir haben Chase Adams nicht ausgenutzt. Aber, was ich dich schon die ganze Zeit fragen wollte: Warum bist du eigentlich zu dieser Party gekommen?“

„Aus geschäftlichen Gründen.“

„Aber du bist früh gegangen. Daraus schließe ich, dass du dich auch nicht wirklich wohl gefühlt hast bei dieser ganzen Angelegenheit.“ Sie lächelte ihn an, als könnte sie das nur zu gut verstehen. „Wie lange kennst du ihn denn schon?“

„Chase?“ Es war das erste Mal, dass er eine Unterhaltung über sich selbst führte. „Schon ewig. Wir sind zusammen aufgewachsen.“ Es war leichter, bei den Lügen so dicht wie möglich an der Wahrheit zu bleiben.

„Also hast du ihn gekannt, bevor er so reich wurde? Wie war er damals?“

Chase versuchte, sich an den Menschen zu erinnern, der er irgendwann einmal gewesen war. „Er war wie jeder andere. Ein Junge mit Hoffnungen und Träumen.“

„Und hat er sich sehr verändert?“

Er sah zu Boden, während er über sein Leben nachdachte. „Ja, ich denke schon. Er hat sich ziemlich stark verändert. Manchmal habe ich das Gefühl, ihn kaum noch wiederzuerkennen.“ Wie zum Teufel hatte er sich nur in dieses Gespräch verwickeln lassen? Er wollte das Thema gerade abwürgen, als er ihre Hand auf seinem Arm spürte. Bei der sanften Berührung wäre er fast zusammengezuckt.

„Es macht dich traurig, darüber zu reden. Du vermisst den Menschen, der Chase damals war. Das kann ich verstehen. Es ist schwer, jemanden zu verlieren, den man geliebt hat.“ Ein Schatten schien über ihr Gesicht zu gleiten, aber gleich lächelte sie wieder. „Und wo, glaubst du, hat Chase heute Abend gesteckt? Ich habe schon ein paar Theorien entwickelt. Aber zuerst will ich deine hören.“

Er wollte viel lieber etwas anderes hören. Nämlich wer das war, den sie verloren hatte. Was hatte eben diese Traurigkeit in ihrem Gesicht hervorgerufen? Aber, gut. Manchmal kam man seinem Ziel auf Umwegen näher. „Erzähl mir deine Theorien.“

Sie blickte sich um, als wolle sie überprüfen, dass niemand sie belauschte. Dann kam sie noch ein Stück näher an ihn heran.

Er konnte die Wärme ihres Atems spüren. Ein paar Haarsträhnen streiften leicht sein Gesicht.

„Ich glaube, dass er auf der Party war. Aber verborgen hinter einer dieser Türen. Er hat sich da versteckt und atemberaubenden, wilden, superheißen Sex mit einer Frau gehabt, die er fünf Minuten zuvor kennengelernt hat. Deshalb hat er nicht mal ihren Namen gekannt.“ Ihre langen, dichten Wimpern senkten sich, und verbargen das herausfordernde Funkeln in ihren Augen. Fassungslos stand der da, während Hitze durch seinen ganzen Körper schoss. Wie konnte das sein? Vor einer Minute war sie noch ein nettes, unbedarftes Mädchen gewesen, und im nächsten Moment sagte sie die schmutzigsten Dinge. Er unterdrückte ein Stöhnen. Ihre Stimme hatte plötzlich so verrucht geklungen. Extrem sexy. Und dann dieser Blick …

Wer zur Hölle war diese Frau? Er wünschte, er hätte sich die Gästeliste genau angesehen, als sein persönlicher Assistent sie ihm geschickt hatte.

Geschockt über die eindeutige Reaktion seines Körpers wich Chase einen Schritt zurück. „Wie, äh … kommst du denn darauf?“

„Na ja. Ist doch logisch: Er soll sehr attraktiv sein. Ein Frauenheld. Und er war auf seiner eigenen Party nirgends zu sehen. Außerdem ist mir aufgefallen, dass einige sehr schöne Frauen heute Abend anwesend waren. Das lässt insgesamt nur einen Schluss zu, denke ich.“ Auf ihren Wangen wurden zwei Grübchen sichtbar, als sie jetzt lächelte. „Was denkst du?“

Was er dachte, war Folgendes: Wäre hier irgendwo eine geeignete Tür gewesen, dann hätte er sie jetzt hindurchgezerrt und genau das Szenario in die Tat umgesetzt, das sie ihm eben geschildert hatte. Aber es gab keine Tür. Er war nicht sicher, ob er darüber erleichtert oder betrübt sein sollte. Auf jeden Fall versprach der Abend sehr viel interessanter zu werden, als er es erwartet hatte.

„Chase ist jemand, der sehr strategisch denkt. Er handelt nicht spontan.“

„Wenn es um seine Arbeit geht. Man wird nicht Millionär, wenn man rein impulsiv handelt – das ist mir klar. Aber in Beziehungsdingen?“ Sie legte den Kopf zur Seite, während sie scharf nachzudenken schien. „Ein Mann wie er ist selbstbewusst genug, Risiken einzugehen.“

„Aber was, wenn die Frauen um ihn herum auch Strategen sind? Wenn sie jeden Schritt genau geplant haben, weil es um sehr viel Geld geht?“

„Du denkst, sie schlafen mit ihm, nur weil sie an sein Geld herankommen wollen? Ugh.“ Sie verzog das Gesicht. Dann hellte sich ihre Miene wieder auf. „Moment, das kann nicht stimmen: Ein Mann wie er ist schlau genug, um Echtes von Falschem zu unterscheiden. Er würde wissen, wenn eine Frau ihm etwas vorheuchelt. Also gäbe es in dieser Hinsicht kein Problem.“

„Es sei denn“, gab Chase zu bedenken, „dass er sein ganzes Leben lang niemals echte Zuneigung kennengelernt hat. Dann hätte er trotzdem ein Problem.“

„Okay“, gab sie sich geschlagen. „In dem Fall würde er mir sehr leidtun. Plötzlich beneide ich ihn gar nicht mehr so sehr für seinen Lebensstil.“

„Du hast ihn beneidet?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Es wäre nett, sich keine Sorgen mehr machen zu müssen, woher das Geld für die nächste Miete kommt. Es ist auch kein besonders schönes Gefühl, jeden Job annehmen zu müssen. Aber wenigstens weiß ich, dass niemand mit nur deswegen mir zusammen ist, weil er Geld von mir will.“

Während des Gesprächs hatten sie sich wieder in Bewegung gesetzt und waren bis zur nächsten Straßenkreuzung gelaufen. Jetzt blieben sie stehen, während die Autos und Menschenmassen an ihnen vorbeiströmten. Als Chase klar wurde, wie leicht ihn jemand erkennen könnte, zog er das Jackett seines Anzugs aus.

Sie grinste amüsiert. „Hast du das getan, um weniger aufzufallen? Das hat dann nämlich leider nicht geklappt. Du siehst immer noch wie jemand aus, der es wert ist, sofort ausgeraubt zu werden.“

„Aber ich bin mit dir zusammen, und du arbeitest als Security. Daher muss ich mir keine Sorgen machen.“ Ihm war klar, dass das nicht stimmte. Sie hatte keineswegs einen Job im Security-Sektor. Aber warum sagte sie ihm nicht, was sie in Wahrheit tat – neben ihrer Schriftstellerei? Die Leute, denen er sonst begegnete, konnten es kaum erwarten, ihm etwas über ihre Jobs zu erzählen. Tja. Wahrscheinlich lernte er immer dieselbe Art von Leuten kennen. Und jeder wusste, wer er war.

Jeder, bis auf diese Frau.

„Du warst also auf der Party, wegen irgendwelchen geschäftlichen Dingen“, nahm sie das Thema wieder auf. „Aber weswegen bist du so früh gegangen? Sie hob die Hand und zog die Spange aus ihrem Haar. Die glänzende, dunkle Pracht fiel herab. Er verspürte das Bedürfnis, die Hände in den Locken zu vergraben, die ihr über die schmalen Schultern bis hinab zur Mitte des Rückens fielen. Er würde diese seidigen Strähnen durch die Finger gleiten lassen, ihre Weichheit spüren. Und dann würde er ihren Kopf ein wenig nach hinten ziehen, bis ihr Mund sich im perfekten Winkel für seinen Kuss befand.

„Ich habe mich gelangweilt.“ Aber jetzt war er ganz und gar nicht gelangweilt. Er war fasziniert von ihr. „Und du? Du bist gegangen, ohne mit Chase zu sprechen?“

„Ja. Ich konnte ihn nirgends finden. Übrigens hoffe ich, dass er nicht herausfindet, dass du dich von der Party weggeschlichen hast. Sonst wirst du in Zukunft vielleicht nicht mehr eingeladen.“ Sie schaute zu ihm auf. Ihre Augen waren kornblumenblau, die Wimpern hatten die gleiche dunkle Farbe wie ihr Haar. Sie war eher hübsch als schön. Und ihr Lächeln wirkte nicht gekünstelt, sondern hatte eine natürliche Süße.

„Chase hasst diesen ganzen Mist ebenfalls.“

„Warum sollte er Partys veranstalten, wenn er sie hasst?“

„Weil es von ihm erwartet wird. Es ist Teil des Jobs.“

„Ernsthaft? Ich hätte gedacht, dass jemand, der so viel Geld und Einfluss hat wie er, sich nicht mehr darum kümmern muss, was andere von ihm erwarten. Raub mir bitte nicht meine Illusionen, indem du sagst, dass selbst Chase Adams andauernd irgendwelche Dinge tun muss, die er hasst.“

Seine Illusionen waren ihm bereits vor vielen Jahren geraubt worden.

Chase schaute auf eine Gruppe von Touristen, die mit ihren Kameras wild in der Gegend herumknipsten. „Wie weit ist es von hier bis zum Central Park?“

„Du kennst New York nicht sehr gut, oder?“

Oh doch, das tat er. Aber er wollte mehr Zeit mit ihr verbringen. „Wie gesagt – ich bin selten zu Fuß unterwegs.“

„Dabei ist das doch der beste Weg, die Stadt kennenzulernen. Speziell bei Nacht. Und es kostet noch nicht mal irgendetwas.“

„Du läufst nachts alleine durch die Gegend?“

„Es ist ziemlich sicher, wenn man weiß, welche Ecken man meiden muss. Und ich liebe das. Ich liebe New York, selbst diese Touristen-Gebiete wie den Times Square. Bei Nacht hat diese Stadt etwas Magisches. Es fühlt sich an, als wäre alles möglich. Als könnten Wunder plötzlich wahr werden. Und manchmal tun sie das auch.“

„Zeig es mir. Zeig mir dieses New York, das du so sehr liebst.“

Eine Nacht seines Lebens würde er mit jemandem verbringen, der nichts von all dem Geld wusste. Jemand, der ihn einfach nur als Mensch sah.

Das an sich war schon ein Wunder.

4. KAPITEL

Matilda stand auf dem Times Square – mit einer gefühlten Million Touristen und dem heißesten Typen auf dem gesamten Planeten. Sie musste sich genau einprägen, wie sich das alles anfühlte, damit sie es später für ihr Buch verwenden konnte. Aber jetzt ging es erstmal nicht um irgendwelche Geschichten, jetzt ging es einfach nur darum, die Realität zu genießen. Sie konnte kaum glauben, dass dieser Abend, der so mies begonnen hatte, plötzlich einen so schönen Verlauf nahm.

Am meisten verblüffte sie, wie einfach es war, mit Alex zu reden. Normalerweise war ihr in der Gegenwart von Fremden unbehaglich zumute. Aber etwas an ihm gab ihr das Gefühl, dass sie ihm selbst ihre wichtigsten Geheimnisse anvertrauen konnte. Vielleicht lag es daran, wie er auf diese Sache mit der Champagner-Dusche reagiert hatte. Seine Bemerkung dazu hatte sie ebenso überrascht wie beeindruckt. Schade war nur, dass sie ihn nicht schon früher getroffen hatte. Dann hätte er vielleicht bei Cynthia ein gutes Wort für sie einlegen können.

Die Menge schob sich enger zusammen, und sie wurde gegen ihn gedrückt. „Ups. Tut mir leid.“

„Kein Problem. Unglaublich, wie viele Leute hier sind.“

„Ja, das ist immer so.“ Bei Nacht war der Times Square ein Gewirr von Stimmen und Farben. Lichter funkelten, und hoch über den Köpfen der Leute erstrahlten die gigantischen elektronischen Werbetafeln. Es war New York von seiner protzigsten, angeberischsten Seite, und doch wurde man von dem Anblick sofort verzaubert.

„Was machst du, wenn du nachts durch die Stadt läufst?“

„Ich beobachte die Leute.“ Menschen zu verstehen war ihr wichtig.

„Und das ist interessant?“

„Klar. Schließlich bin ich Schriftstellerin. Ich brauche Inspiration für meine Figuren. Und davon mal ganz abgesehen, sind Menschen ungeheuer faszinierend, findest du nicht? Was bringt einen Menschen dazu, sich in einer bestimmten Situation auf eine ganz bestimmte Weise zu verhalten? Während die Person nebenan ganz anders reagiert? Das ist doch eine sehr spannende Frage.“ Wieder stieß irgendjemand aus der Menge gegen sie und ließ sie stolpern, aber bevor sie fallen konnte, hatte er sie bereits am Arm gepackt und hielt sie fest.

„Erzähl mir mehr davon.“

Sie fragte sich, woher das kam, dass eine so simple Geste wie seine Hand auf ihrem Arm sie völlig außer Atem bringen konnte. „Na ja, die große Frage ist, was einen Menschen mehr beeinflusst: seine Gene oder sein Umfeld. Darüber denke ich oft nach.“

Inzwischen drängten sich so viele Menschen auf den großen Platz, dass es nicht mehr möglich war weiterzugehen. Sie waren in der Menge eingekeilt. Matilda blickte sich zu Alex um, aber im gleichen Moment drängte sich jemand von der Seite gegen sie. Sie geriet ins Straucheln und stieß Alex gegen die Brust.

Zu ihrer Verblüffung schlang er schützend den Arm um sie und zog sie noch näher an sich heran. Sie spürte seine Muskeln, diese Hitze, die von ihm ausging. Sämtliche Gedanken über Gene und Umfeld waren mit einem Mal verschwunden. In ihrem Kopf herrschte gähnende Leere. Sie konnte nur noch fühlen.

Fast hätte sie die Augen geschlossen. Doch in der letzten Sekunde gelang es ihr, sich zusammenzureißen. Peinlich berührt richtete sie sich auf und versuchte, einen Schritt zurückzutreten. Aber es ging nicht. Nirgends war Platz. „Entschuldigung.“

„Alles in Ordnung.“ Er lachte. Es klang ein wenig atemlos. „Hätte ich gar nicht gedacht, dass eine nächtliche New-York-Tour so ein intimes Erlebnis ist.“

Es war ein Scherz. Vermutlich hätte sie jetzt auch lachen und irgendetwas Lustiges erwidern sollen. Nur brachte sie dummerweise keinen Ton hervor. Einen Moment lang stand sie einfach nur stumm da, völlig benommen von ihren eigenen Gefühlen. Das, schoss es ihr durch den Kopf, war also sexuelle Anziehungskraft. So fühlte es sich an, wenn man das in der Realität erlebte.

Sie versuchte, die richtigen Worte zu finden, um zu beschreiben, was sie gerade erlebte. Doch nichts schien der ungeheuren Macht des Gefühls gerecht zu werden. Da sie etwas kleiner als er war, befanden sich ihre Augen auf Höhe seines Halses. Sie sah die glatte, leicht gebräunte Haut. Wenn sie ihren Blick etwas senkte, konnte sie die Haare erkennen, die sich auf seiner Brust kräuselten. Sie wollte die Lippen gegen diese Haut pressen und sie schmecken. Sie wollte …

„Lara?“ Sein Mund war ganz dicht neben ihrem Ohr. Unwillkürlich schloss sie die Augen, als sie Wärme seines Atems auf ihrer Wange spürte.

Er hielt sie so eng an sich gedrückt, dass sie jede Senkung und Erhebung seines Körpers spüren konnte: die Härte der breiten Brust. Die Muskeln in den Armen und den Oberschenkeln. Und apropos Erhebung: Sie war hier offenbar nicht die Einzige, die diese sexuelle Anziehungskraft verspürte. Denn dass er erregt war, war nicht zu verkennen. Das Pulsieren und diese Art, wie er sich gegen sie presste, ließen einen köstlichen Schauder nach dem nächsten ihr Rückgrat entlanglaufen. Sie standen auf einem öffentlichen Platz, umgeben von Hunderten von Menschen. Aber es war, als ob sie beide ganz allein auf der Welt wären. Lara hätte jetzt ihre Lippen gegen die nackte, männliche Haut gepresst und genüsslich die Zunge …

Mit einem Schlag fiel es ihr wieder ein: Heute Abend war sie Lara. Sie konnte all das, was sie sich gerade vorgestellt hatte, in die Tat umsetzen.

„Lara?“, wiederholte er im selben Moment, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Seine tiefe, sexy Stimme, die leicht belegt klang, steigerte ihr Verlangen noch.

„Mhm?“ Benommen vor Lust blickte sie auf und begegnete seinem Blick.

Einen Moment lang schwieg er. Dann lächelte er ein wenig bedauernd.

„Hier sind zu viele Menschen. Lass uns gehen.“

Er klang ungeduldig, fast schon barsch. Und das war der Beweis. Sie spürte, wie ihr Herz zu rasen begann.

Er wollte sie.

Sie wollte ihn.

Einen Mann, den sie gerade erst getroffen hatte.

Einen Mann, der nicht wusste, wer sie war.

Während er sie weiter eng an sich gepresst hielt, bahnte er sich energisch einen Weg durch die Menge. Irgendwann gelang es ihnen, den Times Square hinter sich zu lassen, und sie gingen die 5th Avenue entlang. Noch immer hielt er sie fest. Der Arm, den er besitzergreifend um ihre Schulter geschlungen hatte, zeigte jedem, der vorbeiging, dass ein intimes Verhältnis zwischen ihnen bestand.

„Also“, sagte er nach einer Weile. „Was ist denn nun wichtiger: die Gene oder das Umfeld? Was macht einen Menschen zu dem, was er ist?“

Es war nicht ganz leicht, sich zu konzentrieren, während er seinen muskulösen Arm auf ihrer Schulter legte und seine Fingerspitzen verführerisch sanft über ihre Haut streichen ließ. „Ich würde sagen, dass einiges tatsächlich durch die Gene bestimmt wird. Aber dass die Art, wie wir aufwachsen, ebenfalls eine große Rolle spielt. Die Erfahrungen, die wir im Leben machen, formen uns.“ Darüber dachte sie oft nach – besonders, wenn sie sich eine neue Figur ausdachte. Was hatte diese Figur in ihrer Kindheit erlebt? „Wer war der Mensch, der dich am meisten geprägt hat, als du jung warst?“

„Mein Vater.“ Er schien gar nicht erst nachdenken zu müssen, seine Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. Und etwas in seinem Tonfall ließ sie aufhorchen.

Sie sah ihn an. „Steht ihr euch nahe?“

„Kommt darauf an, was man darunter versteht. Mein Vater und ich haben viel Zeit zusammen verbracht. Das tun wir immer noch. Er hat angefangen, mich mit in die Firma zu nehmen, als ich acht war.“

„Das ist ein sehr junges Alter.“

„Er wollte, dass ich das Geschäft lerne – und zwar von Grund auf. Damit ich die Familientradition weiterführen kann.“

Matilda spürte einen Anflug von Neid. Sie hatte ihren Vater nie gekannt.

„Also bist du der älteste Sohn?“

Er runzelte die Stirn. „Ja, woher weißt du das?“

„Es war nur eine Vermutung. Aber du wirkst wie jemand, der sehr früh eine große Verantwortung übernommen hat. Du bist derjenige in der Familie, der sich anpassen musste. Von dem erwartet wurde, dass er den Druck aushält. Ich würde wetten, dass du jüngere Geschwister hast. Und mindestens einer von ihnen ist ein Rebell.

Ein freudloses Lächeln spielte um seine Mundwinkel. „Ich habe einen Bruder. Er ist seinen eigenen Weg gegangen. Ob ihn das schon zum Rebell mach, da bin ich mir nicht so sicher. Aber er hat meinem Vater auf jeden Fall klipp und klar gesagt, dass er keineswegs daran interessiert ist, die Firma zu übernehmen.“

„Und darin besteht der Konflikt zwischen euch.“

Seine Augen wurden schmal. „Bist du Psychologin?“

„Wie gesagt: Menschen interessieren mich. Deiner Miene nach zu urteilen, habe ich voll ins Schwarze getroffen – richtig?“

„Wir haben seit fünf Jahren kein Wort mehr miteinander gewechselt.“

Sie hatte so etwas bereits vermutet. Trotzdem war sie schockiert. Ihr Leben lang hatte sie sich Geschwister gewünscht. Wenn sie einen Bruder oder eine Schwester gehabt hätte, dann hätte sie alles dafür getan, dass der Kontakt nicht abbrach.

„Warum? Gab es einen größeren Streit?“

„Ja.“ Er zögerte. „Die Sache ist kompliziert.“

„Besser gesagt: Du willst nicht darüber sprechen.“

„Richtig. Ich kann und will das nicht.“

„Aber ich habe dir bereits mein geheimnisvollstes Geheimnis anvertraut. Also kannst du mir auch deins erzählen.“

„Es ist kein Geheimnis. Eher ein verdammtes Chaos. Lass es mich so sagen: Ich habe mich damals ziemlich arrogant verhalten und dachte, dass ich es besser weiß. Als mir dann aufgefallen ist, dass das nicht stimmt, war es schon zu spät. Und leider wusste ich nicht, wie ich die Dinge wieder einrenken soll.“

Dass er so ehrlich war, machte ihn noch attraktiver. „Aber was hält dich davon ab, dich jetzt mit deinem Bruder zu versöhnen?“

„Es ist zu spät.“

„Es ist nie zu spät.“

„Es gibt Dinge, die lassen sich nicht aus dem Weg räumen. Das hier ist das echte Leben, kein Roman – weißt du?“

„Ach ja? Und was sind diese Dinge, die sich nicht aus dem Weg räumen lassen? Dein Stolz, zum Beispiel?“

„Autsch.“ Seine Mundwinkel zuckten. Du kannst ganz schön hart sein, Lara.“

„Ich würde das nicht hart nennen, sondern ehrlich. Es gibt keine Hindernisse, die man nicht überwinden kann, wenn man jemanden wirklich liebt und ihn vermisst.“

„Ich habe nicht gesagt, dass ich ihn vermisse.“

„Aber deine Stimme verrät dich. Ich kann es hören.“

Er blieb stehen und drehte sich zu ihr um. Der Ausdruck in seinen blauen Augen war schwer zu interpretieren. „Gut, okay. Vielleicht hast du recht. Als Kinder waren wir uns sehr nahe. Wir sind immer zusammen segeln gegangen. Es gab ein altes Boot, das wir gemeinsam wieder in Schuss gebracht haben. Im Grunde haben wir fast alles gemeinsam getan.“ Das Lächeln auf seinem Gesicht verriet ihr, dass es glückliche Zeiten waren, an die er sich jetzt erinnerte.

„Und mit wem gehst du jetzt segeln?“

„Gar nicht mehr.“ Das Lächeln verschwand aus seiner Stimme und aus seinem Gesicht. Er drehte sich um und begann weiterzugehen. Seine Schritte waren jetzt schneller. Sie fragte sich, ob er vor ihr oder der Vergangenheit fliehen wollte. Und zum ersten Mal in ihrem Leben war sie dankbar für ihre langen Beine.

Nachdem sie sich ein ganzes Stück vom Times Square entfernt hatten, drängten sich nicht mehr so viele Menschen auf den Straßen.

„Du bist der erste Mann, der längere Beine hat als ich“, sagte sie leicht atemlos.

Er warf einen Blick nach unten. „Deine Beine sind unglaublich.“

„Unglaublich gut oder unglaublich hässlich?“

„Unglaublich schön.“ Er grinste, und sein Tonfall war jetzt wieder weicher. „Gehst du hier oft entlang?“

„Ja. Ich sehe mir die Schaufenster an.“ Vor allem liebte sie es, in die Fenster von Geschäften zu schauen, die sie niemals betreten würde. „Das hier gehört zu meinen absoluten Favoriten.“

Sie blieben vor Tiffany’s stehen und betrachteten gemeinsam die funkelnden und geheimnisvoll glitzernden Schmuckstücke.

„Also magst du Diamanten?“

„Ja“, murmelte sie, ein wenig verlegen. „Aber das ist nicht der Grund dafür, dass ich immer hier anhalte. Es ist einfach ein sehr romantischer Ort.“

„Es ist ein Laden.“

„Ein Laden, der Träume verkauft. Am liebsten komme ich abends hierher. Dann herrscht hier diese ganz gewisse Stimmung.“ Sie schüttelte den Kopf und deutete auf ein Paar, das links von ihnen stand. Die beiden hielten sich an den Händen. „Siehst du das Gesicht der Frau?“, flüsterte sie. „Sie ist so glücklich.“

„Natürlich ist sie glücklich. Weil er sehr viel Geld für sie ausgeben wird.“

Das Paar drehte sich um und ging eng umschlungen davon. Matilda seufzte.

„Das ist nicht der Grund, warum die Frau so glücklich ist“, sagte sie dann. „Sie hat so strahlend gelächelt, weil sie mit ihm zusammen ist. Der Mann macht sie glücklich, und sie haben zusammen etwas ausgesucht, das der ganzen Welt zeigt, wie sehr sie sich lieben. Ich stelle mir immer vor, wie viel Spaß es machen muss, hier zu arbeiten. Die Paare zeigen sich von ihrer besten Seite.“

„Ich weiß nicht – der Mann wirkte etwas panisch. Jedenfalls war er ziemlich blass um die Nase. Wenn man hier arbeitet, muss man wahrscheinlich Kenntnisse in Erster Hilfe besitzen. Denn manche von den zukünftigen Ehemännern fallen vermutlich in Ohnmacht, wenn sie erfahren, was diese liebevolle Geste kostet.“

Sie lachte. „Du bist kein Romantiker, oder?“

„Ich bin Realist. Aber zurück zu dir: Ich weiß bisher nur, dass du gerne Menschen beobachtest. Und dass du als Schriftstellerin arbeitest, was allerdings ein Geheimnis ist. Außerdem hast du einen zweiten Job, der aber noch ein größeres Geheimnis ist. Jedenfalls erzählst du mir nichts darüber. Würdest du sagen, dass du insgesamt ein relativ verschlossener Mensch bist?“

„Verschlossen würde ich nicht sagen.“ Sie zögerte, fuhr dann aber fort: „Ich fühle mich in größeren Gruppen nicht immer so wohl. Lieber konzentriere ich mich ganz auf einen einzigen Menschen.“

„Und heute Abend konzentrierst du dich ganz auf mich?“

Die Luft zwischen ihnen schien vor sexueller Spannung zu vibrieren. Das war ein völlig neues Gefühl – spannend, erregend. Die Frage war nur, dachte Matilda, was sie jetzt tun sollte.

Lara hätte das natürlich gewusst. Sie liebte es zu flirten. Und sie zwang Männer mit einem einzigen Lächeln in die Knie. Wäre sie in dieser Situation gewesen, hätte sie Alex gezeigt, wie das aussah, wenn sie sich ganz auf einen Mann konzentrierte.

Ja, Lara hätte den ersten Schritt gemacht.

Aber wenn Matilda einen Schritt machte – ob es der erste war oder nicht – dann fiel sie für gewöhnlich hin. Sie war ungeschickt und neigte zu Unfällen. Andauernd stieß sie gegen irgendwelche Türen oder blieb irgendwo hängen. Mehr als einmal war sie aus Versehen gegen die Wand gelaufen oder mit ihrem Kopf gegen einen Balken gestoßen. Der einzige Unfall, von dem sie bisher verschont geblieben war, war ein gebrochenes Herz.

Aber hier ging es nicht um Liebe, oder? Es ging um Spaß. Und einfach nur Spaß mit jemandem zu haben, konnte ja wohl kaum ein Fehler sein.

Warum also fühlte sie sich, als würde sie am Rand einer hohen Felsklippe stehen und überlegen, ob sie ins Wasser springen sollte oder nicht?

Leider war sie nicht besonders mutig. Das war sie noch nie gewesen.

In dieser riesengroßen Stadt lebte sie ein kleines, überschaubares Leben – eine schwach flackernde Kerze, die von all den strahlend hellen Lichtern in den Schatten gestellt wurde.

Sie gingen am Plaza vorbei und erreichten den Rand des Central Parks.

Der Himmel hatte sich verdunkelt. Jetzt standen Wolken vor den Sternen, und die ersten Regentropfen fielen herab. Die Temperatur war leicht gesunken, und die Luft roch wunderbar frisch. Matilda spürte, wie ihr Kleid feucht wurde, zum zweiten Mal an diesem Abend.

Wenn sie es tun wollte, dann musste es jetzt sein. Genau jetzt.

Aber sie tat es nicht. Konnte es nicht.

Sie war nicht Lara, sie war Matilda.

„Tja, hier sind wir also.“ Sie bemühte sich, ihre Stimme leicht und heiter klingen zu lassen. Er sollte nicht mitbekommen, wie sehr ihr eigenes Verhalten sie enttäuschte. „Der Central Park. Du hast dein Ziel erreicht. Wo wohnst du eigentlich?“

Momentan wohne ich in einem Apartment, ein paar Blocks von hier entfernt.“

Es war unmöglich, nicht beeindruckt zu sein. „Wow. Wenn du dir leisten kannst, in dieser Gegend zu wohnen, dann musst du sehr gut in deinem Job sein.“

Der Regen war stärker geworden. Große Tropfen prasselten jetzt auf die Blätter der Bäume herab und auf den Wegen bildeten sich erste Pfützen.

„Und wo wohnst du?“

Sie dachte an ihre beengte Wohnung und holte tief Luft. „Ich wohne in New York. Das ist es, was für mich zählt. Lieber lebe ich hier in einem winzigen Zimmer als in einer großen Wohnung irgendwo anders auf der Welt.“ In der finanziellen Situation, in der sie sich momentan befand, hätte sie sich nirgendwo auf der Welt eine große Wohnung leisten können. Aber im Prinzip stimmte es, was sie gesagt hatte.

Sie legte den Kopf in den Nacken und blickte hinauf zu den Wolkenkratzern, welche die riesigen Bäume des Central Parks weit überragten. Regentropfen fingen sich in ihrem Haar und liefen ihr Gesicht hinab. Matilda lächelte. „Ich liebe diese Stadt. Sie gibt mir das Gefühl, jederzeit könnte etwas völlig Unerwartetes geschehen.“

„Etwas völlig Unerwartetes?“, fragte er leise. In der nächsten Sekunde zog er sie an sich. „Wie das hier zum Beispiel?“

Bevor sie nachfragen konnte, was ‚das hier‘ heißen sollte, hatte er bereits seine Hände um ihr Gesicht gelegt. Dann senkte er den Kopf und küsste sie.

5. KAPITEL

Er nahm nichts mehr wahr außer den Regen und den Geschmack ihres Mundes.

Sie hatte ihn völlig in ihren Bann gezogen. Schon jetzt war ihm klar, dass es ihm nicht genügen würde, sie nur zu küssen. Er wollte mehr. Viel mehr, wie er zu seiner eigenen Überraschung feststellte.

Sie war eine Frau, die aus lauter Widersprüchen bestand. In der einen Sekunde wirkte sie sexy und selbstbewusst. In der nächsten war sie verletzlich und unsicher. Sie hatte ihm bereitwillig ihren großen Traum anvertraut. Aber sie weigerte sich, über etwas so Simples wie ihren Job zu sprechen.

Solche Frauen brachten Probleme mit sich. Deshalb hätte er sie in ein Taxi setzen und sie nach Hause schicken sollen. Das wäre die sichere Variante gewesen, für sie und für ihn. Doch stattdessen stand er nun hier und erforschte ihren Mund mit heißen Küssen, die ihren Körper erschaudern ließen.

Noch immer hielt er ihr Gesicht umfasst. Er konnte die weiche Haut an seiner Handfläche spüren, während er die Süße ihres Munds schmeckte. Und mit jeder weiteren Bewegung seiner Lippen wurde das Verlangen nach ihr stärker. Er zog sie enger an sich. Sie konnte ihm gar nicht nah genug sein. Er sehnte sich danach, dass sie die Leere in ihm ausfüllte – genau wie er diese Leere ausfüllen wollte, die sie zu empfinden schien.

„Komm mit.“

Sie hatte die Hände in seinen Haaren vergraben, und ihre Lippen suchten seine. „Wohin?“, murmelte sie dicht an seinem Mund.

„Zu mir. In mein Apartment. Wir haben noch keinen einzigen Schluck Champagner heute Abend getrunken. Das sollten wir schleunigst ändern. Ich habe eine Flasche im Kühlschrank liegen.“

Sie lehnte sich ein kleines Stück zurück und sah ihn an. „Du lädst mich in deine Wohnung ein, weil du dort Champagner mit mir trinken willst?“

„Unter anderem.“

„Bist du immer so impulsiv?“

„Ich neige dazu, Entscheidungen schnell zu treffen.“

Er wartete darauf, dass sie ihm eine Absage erteilte.

Die ganze Sache war völlig verrückt, das war ihm klar. Er hatte diese Frau erst vor wenigen Stunden kennengelernt. Und normalerweise überlegte er es sich gut, bevor er irgendeine Art von Beziehung einging. Es gab mehr als genug Frauen, die Zeit an seiner Seite verbringen wollten. Daher konnte er sich erlauben, seine Wahl sehr sorgfältig zu treffen und sämtliche Pro- und Kontra-Argumente genau abzuwägen. Zu vorschnellen Entscheidungen ließ er sich grundsätzlich nicht hinreißen. Das brachte nur Ärger mit sich. Das Leben hatte ihn gelehrt, dass es ein Fehler war, zu schnell zu vertrauen. Aber diese Sache mit Lara war etwas anderes. Einerseits war es eine neue Erfahrung, eine Frau zu treffen, die nicht wusste, wer er war. Und zum anderen lief irgendetwas Seltsames zwischen ihnen ab. Es war, als würden sie sich auf ganz vielen Ebenen gleichzeitig kennenlernen.

Trotzdem könnte er es verstehen, wenn sie jetzt Nein sagte. Es wäre verdammt unvernünftig von ihr, mit einem Mann mitzugehen, den sie nicht kannte. Es wäre …

„Wie weit ist dein Apartment von hier entfernt?“

Ihre Blicke hielten einander fest. Er sah eine Mischung aus nervöser Anspannung und Erregung in ihren Augen.

Und dann entdeckte er da noch etwas. Etwas, das ihn dazu brachte, nach ihrer Hand zu greifen und sofort mit ihr den Park zu verlassen. Der Regen war inzwischen so heftig, dass sie die kurze Strecke bis zu seiner Wohnung rennend zurücklegten. Sie wichen Leuten aus, die mitten auf dem Gehweg stehengeblieben waren, um in ihren Taschen nach Schirmen zu suchen. Das Wasser, das von den vorbeifahrenden Autos aufspritzte, machte sie noch nasser, als sie ohnehin schon waren. Aber sie liefen immer weiter, Hand in Hand.

Schwer atmend kamen sie schließlich in der Lobby des Apartmentblocks an. Von ihrer Kleidung tropfte Wasser auf den Marmorboden, und ihr Gelächter hallte laut in der Stille wider, die in diesem Gebäude immer zu herrschen schien. Der Portier war zum Glück in ein Gespräch mit irgendeiner Frau vertieft. Daher begrüßte er Chase nicht mit seinem Namen, wie er es sonst immer tat. Unbemerkt gelangten sie zum Aufzug.

Kaum hatten sich die Türen hinter ihnen geschlossen, küssten sie sich wieder.

Chase ließ seine Zungen in ihren Mund gleiten. Nichts und niemand hatten ihm jemals so gut geschmeckt wie sie, schoss es ihm durch den Kopf.

Sie stöhnte leise und drängte sich an ihn. „Normalerweise tue ich so was nicht.“

„Normalerweise tue ich so was auch nicht.“

Aber jetzt taten sie es. Und zwar alle beide. Keiner von ihnen schien genug vom anderen bekommen zu können. Kuss für Kuss, Berührung für Berührung steigerte sich ihr Verlangen, bis es so stark war, dass es fast an Verzweiflung grenzte.

Das klatschnasse Kleid klebte an ihrem Körper, sodass jede ihrer verführerischen Kurven gut sichtbar war. Als sich die Aufzugtüren öffneten taumelten sie ineinander verschlungen in sein Apartment hinein. Er zog ihr das Kleid bis zur Hüfte hoch, und fuhr mit den Händen die glatte Haut ihrer Beine entlang. Etwas fiel mit einem lauten Knall zu Boden – es war ihre Handtasche, wie er mit einem kurzen Blick nach unten feststellte. Als er wieder aufsah, hob sie die Arme, und er zog ihr das Kleid über den Kopf. Jetzt stand sie in ihrer vollen Schönheit vor ihm.

Einen Moment lang erlaubte er sich, ganz still stehenzubleiben und ihren Anblick zu genießen. Dann hob er sie auf seine Arme. Er begehrte diese Frau so sehr, dass er kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte.

Wieder fiel etwas zu Boden. Diesmal waren es ihre Schuhe. Er stieg darüber, als er in Richtung Schlafzimmer mit ihr ging.

Aber das Schlafzimmer schien ihm plötzlich viel zu weit entfernt zu sein. Er wollte sie jetzt, sofort. Schließlich entschied er sich für das Sofa im Wohnzimmer.

Ungeduldig zerrte sie an seinen Kleidern, bis er ebenfalls nackt war. Immerhin war er noch klar genug im Kopf, um schnell nach seinem Geldbeutel zu greifen.

Er zog ein Kondom hervor und fummelte ungeschickt mit der Verpackung herum, während sie ihre unglaublich langen Beine um seine Hüfte schlang und ihn drängte, zu ihr zu kommen.

Er fluchte leise. „Warte. Gleich, Lara.“

Sie zuckte leicht zusammen und sah ihn an.

Hatte er etwas Falsches gesagt? Ihm fiel nicht ein, was das gewesen sein sollte. Und es war unmöglich, darüber nachzudenken, wenn sie ihre Brüste so aufreizend über seinen Oberkörper gleiten ließ.

Mit einem Stöhnen drang er in sie ein. Er versuchte, behutsam zu sein. Es langsam anzugehen. Aber die brennendheiße Lust vernichtete sofort alle guten Vorsätze. Er hörte, wie Lara keuchte und ihn leise anspornte. Sie umklammerte seine Schultern und strich mit ihren Lippen über seinen Mund. Der Kuss begann sanft, aber wurde dann immer wilder und erotischer. Verdammt, dachte er, sie durften nicht in diesem Tempo weitermachen, sonst war gleich alles vorbei. Schließlich gelang es ihm, sich für einen kurzen Moment von ihren Lippen zu lösen. Er holte tief Luft und versuchte, die Dinge wieder unter Kontrolle zu bekommen. Doch noch immer konnte er ihren honigsüßen Geschmack auf seiner Zunge spüren. Und er wollte mehr davon. Viel mehr. Sie war wie eine Droge, die sofort süchtig machte.

Ungeduldig reckte sie ihm die Hüften entgegen und flüsterte ihm zu, dass er nicht aufhören sollte, dass sie mehr wollte – jetzt, sofort. Das war eine Aufforderung, der er nur zu gern nachkam. Er ließ die Hände über ihren Körper gleiten, um die zarten Kurven zu erforschen, während er gleichzeitig das Gefühl genoss, tief in ihr zu sein. Sie roch nach Sommer, nach Blumen in voller Blüte. Es war ein berauschender Duft, der ihn zusammen mit dem Gefühl ihrer weichen Haut fast wahnsinnig machte.

Sein Verlangen nach ihr trieb ihn gnadenlos voran. Er zog sich leicht zurück, dann drang er wieder in sie ein, härter, tiefer. Begierig küsste er das lustvolle Stöhnen von ihren Lippen, während er ihre Leidenschaft schmeckte, die seiner eigenen in nichts nachstand. Bei seinem nächsten Stoß schrie sie auf und schlang ihre langen Beine fester um seine Hüften. Er konnte spüren, wie ihre Muskeln sich in immer kürzeren Abständen um seinen Schaft zusammenzogen, als sie auf den Höhepunkt zustrebte. Noch einmal stieß er tief in sie hinein. Dann ließ er den Kopf auf ihre Schulter sinken, während sein Körper ebenfalls heftig zu erschaudern begann.

Sein letzter klarer Gedanke war, dass er es nicht fassen konnte: Lara war eine Frau, die ihm so viel Lust schenkte, dass er sie schon jetzt wieder begehrte.

Matilda lag auf dem Sofa, mit dem Kopf auf seiner Brust.

Nie im Leben hätte sie gedacht, dass sie sich so unbefangen fühlen konnte, wenn sie vollkommen nackt war. Aber in den vergangenen Stunden hatte Alex ihren Körper so genau und lustvoll erkundet, dass es sowieso keine Stellen mehr gab, die er noch nicht gesehen hatte.

Ihre schüchternen Momente hatte er schlicht und einfach ignoriert. Und nachdem ihr erst mal klar geworden war, dass er ihre langen Beine wirklich sexy fand, hatte sie aufgehört, sich zu schämen.

Stattdessen hatte sie das Gefühl gehabt, perfekt zu sein.

Er hatte sie dazu gebracht, sich perfekt zu fühlen.

Bei diesem Sex-Marathon eben hatte er ihr immer wieder gesagt, wie schön er sie fand, wie faszinierend, und dass ihn noch nie eine Frau so sehr erregt hatte wie sie. Prompt hatte sie ihre Beine auch ganz annehmbar gefunden und sie dazu benutzt, sie um seine Hüften zu schlingen und ihn noch näher an sich zu ziehen.

„Ich muss mich bei dir entschuldigen.“ Seine Stimme klang belegt. Matilda hob das Kinn, um ihn anzublicken. Sogleich wurde ihr wieder bewusst, dass er der attraktivste Mann war, den sie je gesehen hatte.

„Wieso musst du dich bei mir entschuldigen?“

„Ich habe dich hierher gebracht, um mit dir Champagner zu trinken. Aber dann bin ich kurzfristig abgelenkt worden.“

Sie musste lächeln. „Kurzfristig? Ja, so könnte man das auch nennen.“

„Bei körperlicher Anstrengung muss man darauf achten, genug zu trinken.“ Er gab ihr einen Kuss und stand auf. „Lauf nicht weg. Ich bin gleich zurück.“ Sie schaute ihn an und fügte der langen Liste seiner besten Eigenschaften noch einen flachen Bauch und muskulöse Oberschenkel hinzu.

„Du solltest immer nackt herumlaufen“, sagte sie.

Er grinste. Dabei verzog er die Mundwinkel auf eine so sinnliche Weise, dass sie ihn am liebsten gepackt und sofort zu sich zurückgezogen hätte. „Jederzeit gerne. Aber dann musst du das auch tun, Lara.“

Lara.

Der Name, der sie daran erinnerte, dass alles nur eine Lüge war. Plötzlich fühlte sie sich, als hätte jemand einen Eimer eiskaltes Wasser über ihr ausgegossen.

Zum Glück hatte er sie eben nicht so genannt. Sonst hätte sie womöglich im Eifer des Gefechts „Wer?“ gefragt, und alles wäre aufgeflogen.

Irgendwann in den letzten Stunden hatten sich in ihrem Kopf Realität und Fiktion vermischt. Sie war nicht mehr ganz Matilda und nicht ganz Lara gewesen, sondern einfach nur eine Frau, die begehrt wurde und begehrte.

Als er zu der Tür hinüberging, die wahrscheinlich in die Küche führte, richtete sie sich auf den Ellbogen auf und sah sich um. Vorhin, als sie das Apartment betreten hatten, waren sie so damit beschäftigt gewesen, sich zu küssen, dass sie nur einen flüchtigen Blick auf ihre Umgebung geworfen hatte. Jetzt bemerkte sie die riesigen Fenster, die eine einmalige Sicht auf die Stadt boten, das teure Eichenparkett und die Bilder an den Wänden, die vermutlich alle Originale waren.

Das Apartment war spektakulär. Normalerweise hätte sie versucht, sich das alles einzuprägen, damit sie es in einer ihrer Geschichten verwenden konnte. Aber dieses Mal interessierten sie die Details der Einrichtung nicht. Denn sie war gedanklich viel zu sehr mit dem Besitzer dieses Apartments beschäftigt.

Sie wusste nicht, wer er war und was er tat. Aber eines war klar: Wenn er in einer Wohnung wie dieser lebte, dann hatte er sehr viel Einfluss und Geld.

Niemand, der sich von Tütensuppen ernährte.

Wahrscheinlich sollte sie ihm schleunigst sagen, wer sie wirklich war. Aber spielte das eine Rolle? Warum konnte sie nicht in einer zauberhaften Geschichte leben statt in der grauen Realität – nur für eine Nacht? Alles, was sie wollte, war diese eine Nacht, an die sie sich ihr Leben lang erinnern würde. Das galt auch für ihn: Sie wollte, dass er diese Nacht mit ihr ebenfalls unvergesslich fand. Sie wusste nicht genau, wie sie das anstellen sollte. Doch sie würde auf jeden Fall ihr Bestes geben.

Als sie ihn mit zwei Gläsern und einer Flasche in einem Eiskübel zurückkommen sah, beugte sie sich vor, um ihr Kleid vom Boden aufzuheben.

Doch er war schneller. Bevor sie nach dem Kleid greifen konnte, hatte er es schon mit dem Fuß zur Seite geschoben. „Wenn du dich anziehst, muss ich dich nur wieder ausziehen. Und ich verschwende ungern Zeit.“ Er zog den Korken mit einer geübten Handbewegung aus der Flasche. Dann schenkte er die perlende Flüssigkeit ein und reichte Matilda ein Glas. „Champagner ist ein Getränk, das man ausschließlich mit Freunden trinken sollte, findest du nicht?“

„Ja, stimmt.“ Matilda hatte nicht wirklich eine Meinung zu diesem Thema. Warum auch? Sie konnte sich Champagner gar nicht leisten. Aber Lara hätte das bestimmt richtig gefunden. Sie wartete, bis er die Flasche zurück in den Kühler gestellt hatte, und hob dann ihr Glas. „Auf … Worauf sollen wir anstoßen?“

„Lass uns auf einen Abend ohne Heuchelei und Lügen anstoßen.“

Sie verspürte einen Anflug von schlechtem Gewissen, als sie ihr Glas sanft gegen seines stieß und einen Schluck trank. Der Champagner lief kühl und prickelnd ihre Kehle hinab, und plötzlich breitete sich eine köstliche Wärme in ihrem ganzen Körper aus. Es war eine erfreuliche Abwechslung, das Getränk nicht servieren zu müssen, sondern es selbst genießen zu können.

„Du bist wunderschön.“ Seine Stimme war leise, und er sah ihr direkt in die Augen. Sie wollte den Kopf schütteln und ihn darauf hinweisen, dass sie ganz bestimmt nicht schön war. Doch gerade noch rechtzeitig fiel ihr ein, dass sie Lara und nicht Matilda war. Und Lara hätte keinesfalls irgendwelche Selbstzweifel geäußert.

„Danke.“ Es war gar nicht so schwer, ein Kompliment entgegenzunehmen, dachte sie. Dann hörte sie schlagartig auf zu denken, als er sich vorbeugte und sie küsste – langsam und genüsslich, als ob er die letzten Champagnertropfen von ihren Lippen trinken wollte.

Verlangen schoss durch ihre Adern. Unwillkürlich stöhnte sie auf und drängte sich ihm entgegen. Doch leider erwischte sie bei diesem Manöver den Eiskübel mit dem Ellbogen. Es folgte ein lautes Krachen, und plötzlich war alles voll von Champagner und Eis. Er stieß einen Fluch aus und sprang auf.

„Oh Gott, es tut mir so leid!“ Ihr Gesicht glühte vor Scham. Hastig begann sie, die Eiswürfel einzusammeln und sie zurück in den Kühler zu werfen. Dann benutzte sie ihr Kleid, um die Champagnerpfützen vom Sofa zu wischen. Es war das zweite Mal an diesem Abend, dass sie das teuerste Getränk der Welt großzügig über sich und ihre Umgebung verteilt hatte.

Warum war sie nur so ungeschickt? Warum?

Aus dem Augenwinkel warf sie ihm einen vorsichtigen Blick zu. Aber in seiner Miene zeigte sich keine Wut, wie sie verblüfft feststellte. Stattdessen lachte er, als er den Kübel außerhalb ihrer Reichweite stellte und das Glas wieder vollgoss.

„Entspann dich. Meine Chancen, Kinder zu kriegen, sollten nach wie vor sehr gut sein. Du hast keine essentiellen Teile getroffen.“

Kinder?

Vor ihrem inneren Auge erschien das Bild von zwei süßen kleinen Gestalten, die das dunkle Haar und den scharfen Verstand ihres Vaters geerbt hatten.

Sie blinzelte mehrmals und verscheuchte hastig das Bild aus ihrem Kopf. Es gab Träume. Und dann gab es noch völlig unrealistische Wahnvorstellungen. Worauf es ankam, war, zwischen den beiden Varianten unterscheiden zu können.

„Ab jetzt bin ich der Champagner-Verantwortliche.“ Er zog ihr das Glas aus der Hand. Seine Augen funkelten herausfordernd. „Leg dich hin.“

„Aber …“

„Tu es, Lara.“

Sie war sich ziemlich sicher, dass Lara nicht zu den Frauen gehörte, die Befehle einfach befolgten. Aber Matilda gehörte zu den Frauen, die alles umwarfen. Daher ließ sie sich auf das Sofa zurücksinken. Dann konnte sie wenigstens nicht wieder irgendeinen Unfall verursachen.

„Was willst du denn …“

„Shh.“ Er hielt das Glas über sie und kippte es dann ganz leicht, sodass winzige Tropfen von Champagner auf ihren Körper herabregneten.

„Das hätte ich doch auch …“

„Ja. Aber du hättest das hier nicht tun können.“ Er kniete sich über sie und leckte von Champagnertropfen zu Champagnertropfen über ihre Haut. Matilda begann, leise zu stöhnen und sich unter den gekonnten Berührungen seiner Lippen und Hände zu winden. Sie spürte die sinnlich-heiße Spur seiner Zunge, als er sich von ihren Brüsten zu ihrem Bauch hinabbewegte und dabei jeden Zentimeter ihres Körpers genau erforschte. Zum Glück lag sie bereits, schoss es ihr durch den Kopf. Denn wenn sie jetzt gestanden hätte, hätten ihre Knie unter ihr nachgegeben.

Sie seufzte und gab unwillkürlich einen Protestlaut von sich, als er sie umdrehte, sodass sie nun auf dem Bauch lag. Seine Zunge strich ihr Rückgrat entlang. Dann legte er die Hände um ihre Hüften, zog sie hoch und brachte sie in Position.

All ihre Sinne konzentrierten sich plötzlich auf einen einzigen Punkt ihres Körpers. Sie spürte, wie er in sie eindrang und mit einer Reihe langsamer, kontrollierter Stöße tiefer in sie glitt. Es fühlte sich so unglaublich gut an, dass es fast schon unerträglich war. Sie drückte ihre Hüften weiter nach oben und hörte ihn laut aufstöhnen, als sie sich ihm hemmungslos darbot.

Als die Anspannung in ihrem Körper immer größer wurde, krallte sie die Hände in das Sofapolster. Er beugte sich über sie und legte eine Hand auf ihre. Seine Finger verschränkten sich fest mit ihren, während seine andere Hand sie auf intime Weise berührte. Er erforschte sie, nahm jeden Teil von ihr in Besitz. Sie spürte, wie wilde Lust sie durchzuckte. Seine Stöße wurden immer schneller. Und dann, nur wenige Sekunden nachdem er zum letzten Mal tief und fordernd in sie eingedrungen war, dass sie sie spürte, wie er seine Erlösung fand, erreichte auch sie einen Höhepunkt, der so intensiv war, dass er alle Gedanken in ihr auslöschte.

Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren. Aber irgendwann spürte sie, dass er sich auf dem Sofa ausstreckte. Er zog sie an sich, und seine Umarmung war genauso intim, wie der Sex, den sie gerade gehabt hatten.

Matilda schloss die Augen und versuchte, sich alles genau einzuprägen, was sie eben erlebt hatte. Sie besaß ja ziemlich viel Fantasie. Aber auf eine solche Sex-Szene wäre sie nie im Leben gekommen. Auch nachdem sie jetzt wusste, wie sich das anfühlte, war sie nicht ganz sicher, dass sie später die passenden Worte finden würde, um so viel Nähe, Vertrauen und Intimität zu schildern.

Sie hatte sich ihm vorbehaltlos hingegeben, ohne jede Scheu. Wenn sie mit ihm zusammen war, schien sie ein ganz anderer Mensch zu sein.

Und das war sie ja auch, gewissermaßen. Sie war nicht die Frau, für die sie sich ausgegeben hatte.

Sie war nicht Lara. Sie war eine Lüge.

6. KAPITEL

Chase rief bei einem Lieferservice an. Sie teilten sich eine Pizza, die sie direkt aus dem Karton aßen, während sie zusahen, wie der Tag anbrach. Die Sonne ließ den Himmel über Manhattan erröten. Es wirkte fast, als würde New York sich ein wenig schämen für das wilde Spektakel gestern Nacht.

War das nicht perfekt?, dachte Chase, als sie später zusammen im Bett lagen. Zuzuschauen, wie die Sonne über der Stadt, aufging, die er liebte. Zusammen mit einer Frau, die er …

Er starrte auf die Wolkenkratzer, die den Central Park umrahmten.

Eine Frau die er … Ja, was denn?

Die er erst wenige Stunden kannte?

Von der er weder wusste, wie sie mit Nachnamen hieß, noch wo sie arbeitete?

Aber, okay. Ein paar Dinge wusste er. Zum Beispiel, dass die davon träumte, ihr Buch zu veröffentlichen. Außerdem war ihr ihre Körpergröße peinlich. Und sie trug niemals Weiß, weil sie nämlich die Angewohnheit hatte, sich ständig vollzukleckern. All das waren persönliche Dinge, die man einem anderen Menschen normalerweise nur dann verriet, wenn man ihm vertraute.

Er runzelte die Stirn. Hatte Victoria eigentlich irgendeinen Traum?

Gab es etwas, das ihr peinlich war?

Er hatte keine Ahnung. Sie kannten sich seit Jahren, aber er wusste nicht, ob sie vielleicht Höhenangst hatte oder sich vor Spinnen fürchtete. Victoria würde niemals eine Schwäche oder einen Fehler eingestehen und sich dadurch verletzlich machen. Und weil sie das nicht tat, kannte er sie nach all der Zeit nur sehr oberflächlich. Das traf auch auf die anderen Menschen zu, die ihn umgaben. Sie waren ihm fremd. Es gab nur eine Ausnahme, und das war sein Bruder.

Brett. Der Mann, mit dem er seit fünf Jahren kein Wort gewechselt hatte.

Er erinnerte sich daran, wie Brett und er die Segel gesetzt hatten. Wie sie gelacht hatten, als eine große Welle sie einmal über Bord befördert hatte. Abends hatten sie oft gemeinsam am Strand gesessen, mit einem Bier in der Hand, während sie aufs Wasser hinaussahen und einvernehmlich schwiegen.

Der Schmerz, den er bei diesen Erinnerungen spürte, war so stark, dass er kurz die Luft anhalten musste. Er hatte etwas sehr Kostbares besessen. Und dann hatte er es verloren. Er hatte nicht einmal darum gekämpft.

Sie schmiegte sich enger an ihn. „Was denkst du gerade?“

„Nichts.“

„Du hast dich an irgendetwas erinnert. Und das hat dich traurig gemacht.“

Er drehte den Kopf, damit er sie ansehen konnte. Der Ausdruck ihrer Augen war warm und verständnisvoll. „Woher weißt du das?“

„Weil du in dem einen Moment gelächelt hast. Und im nächsten nicht mehr.“

Sie schien sich wirklich dafür zu interessieren, was er dachte und fühlte. Plötzlich hatte er keine Lust mehr, alles immer nur in sich hineinzufressen. „Ich habe gerade an meinen Bruder gedacht.“

Sie ließ die Hand über seinen Rücken gleiten. „Du solltest ihn anrufen.“

Er dachte an diese Worte die damals gefallen waren und an die Zeit, die seitdem vergangen war. „Es ist zu spät.“

Sie schüttelte den Kopf. „Es ist nie zu spät, Alex. Ich habe vor fünf Jahren meine Mutter verloren. Und ich würde alles dafür geben, ihr noch einmal sagen zu können, wie sehr ich sie liebe. Lass dich nicht von deinem Stolz daran hindern, die Dinge zu tun, die du tun willst.“

Wollte er es tun? Wollte er mit Brett sprechen? All die ungewohnten Gefühle, die plötzlich auf ihn hereinprasselten, verwirrten ihn. Er wechselte das Thema. „Erzähl mir etwas über deine Mutter.“ Im nächsten Moment fragte er sich, ob es ein Fehler gewesen war, sie darum zu bitten. Das war eine sehr persönliche Sache, und falls Lara sich jetzt weigerte, konnte er das verstehen. Aber sie legte den Kopf an seine Schulter. Ihre langen Locken breiteten sich wie ein seidiger Vorhang über seinem Oberkörper aus.

„Meine Mutter war ein großartiger Mensch“, sagte sie. „Stark. Tapfer. Sie hat für ihre Überzeugungen gekämpft und sich nie kleinkriegen lassen. Als sie schwanger wurde, war sie gerade mal achtzehn. Ihre Eltern – meine Großeltern – waren total entsetzt. Sie meinten, dass ein Baby ihre Karriere ruinieren würde. Mom wollte Jura studieren und Anwältin werden. Ihre Eltern waren der Ansicht, dass das mit einem Kind unmöglich ist. Aber Mom hat sich nicht beirren lassen und beschlossen, mich trotzdem zu bekommen. Als sie das erfahren haben, haben ihre Eltern den Kontakt zu ihr abgebrochen. Meine Mutter hat mir später mal erzählt, dass es ihnen peinlich war, eine Tochter zu haben, die alleinerziehend ist.“

Wie oberflächlich, dachte Chase. Das war die Art von Menschen, für die nur wichtig war, wie etwas nach außen hin wirkte. In seinem eigenen Bekanntenkreis gab es diese Leute auch – und zwar reihenweise.

„Also haben sie deine Mutter rausgeworfen, statt sie zu unterstützen.“

„Sie hat es allein hingekriegt. Meine Mom hatte drei verschiedene Jobs, um uns beide ernähren zu können. Wenn sie von der Arbeit kam, hat sie für ihren College-Abschluss gebüffelt und später dann Jura-Kurse belegt. Ich weiß nicht, wo sie die ganze Energie hergenommen hat, aber sie ist Anwältin geworden. Genau, wie sie es geplant hatte. Sie hat immer zu mir gesagt: ,Die Leute können es dir sehr schwer machen. Sie können dich demotivieren und dir Steine in den Weg legen. Aber der einzige Mensch, der deinen Traum endgültig zerstören kann, bist du selbst. Also gib niemals auf.‘“ Nach einer kurzen Pause fuhr Lara fort: „Ich wollte, dass sie stolz auf mich ist. Deshalb habe ich versucht, mutiger zu werden, weniger schüchtern. Aber ich glaube, manchmal hat sie sich gefragt, wie in aller Welt es sein kann, dass sie jemanden wie mich produziert hat.“

Chase spürte, wie sich sein Herz bei diesen Worten zusammenzog. Behutsam strich er ihr die Haare aus dem Gesicht. „Deine Mutter wäre stolz auf dich gewesen“, sagte er. „Du bist nach New York gezogen, weil du die Stadt liebst. Du hast eine eigenen Wohnung und einen Job, von dem du dich ernährst. Du lebst dein Leben genau so, wie du es willst.“

„Es ist eher ein winziges Zimmer als eine Wohnung, und …“

„Und?“

„Nichts.“ Sie schmiegte sich enger an ihn. „Erzähl mir mehr über dich.“

„Dein Körper macht mich völlig wild.“

Sie lachte und presste die Lippen an seine Brust. „Ich meinte, dass du mir etwas Persönliches erzählen sollst.“

„Das ist etwas sehr Persönliches.“ Er fuhr mit dem Handrücken über ihre Wange. „Was möchtest du denn wissen?“

„Sag mir, was du tust, wenn du nicht arbeitest.“

„Ich arbeite immer.“ Seine Tage verbrachte er in endlosen Meetings. Und abends ging er dann die Unterlagen durch, die diese Meetings produziert hatten. Irgendwann hatte die Arbeit begonnen, sein Leben aufzufressen.

„Du hast mir erzählt, wie gern du segeln gehst. Weshalb hast du damit aufgehört? Weil du deine Arbeit so sehr liebst, dass keine Zeit für andere Dinge übrigbleibt?“

Er liebte seine Arbeit nicht. Der Job war herausfordernd und stimulierend, aber er hatte ihn nur aus Pflichtgefühl übernommen. Sein Vater hatte nach dem Herzinfarkt jemanden gesucht, der die Firma leiten konnte. Da sein Bruder sich geweigert hatte, hatte er sich schließlich bereiterklärt. Aber er hatte immer das Gefühl gehabt, dass Brett ihn zu der Entscheidung gezwungen hatte. Und irgendwann hatten seine Wut und die Enttäuschung ihre Beziehung zerstört.

Er zog sie enger an sich. „Wann hast du angefangen zu schreiben?“

„Schon sehr früh. In der Schule wurde ich immer wegen meiner Größe gehänselt. Deshalb habe ich mir Figuren ausgedacht, die ganz anders waren als ich. In meinen Geschichten gab es lauter Heldinnen, die sehr tapfer und mutig waren. Und natürlich hatten sie nie zu lange Beine, sondern waren eher klein und zierlich. Na ja. So hat es angefangen, und dann habe ich einfach immer weitergeschrieben.“

„Und welche Art von Geschichten schreibst du jetzt?“

„Liebesgeschichten. Mit sehr viel Action.“

„Findet diese Action auch im Schlafzimmer statt?“

Sie lachte. „Unter anderem. Meine neue Heldin L…“, sie brach ab und fuhr dann fort, „übernimmt in allen Situationen das Kommando. Sie ist eine sehr starke Frau.“

„Hast du deine Geschichten schon mal an einen Verlag geschickt?“

„Nein.“ Ihre Haare glitten über seine Brust, als sie den Kopf schüttelte. „Deswegen wollte ich ja Chase Adams treffen. Ich dachte, dass das meine große Chance ist. Nur war er leider gar nicht auf der Party.“

Chase runzelte die Stirn. „Wo ist das Manuskript?“

„Ich habe einen Ausdruck. Und natürlich die Datei auf meinem Computer. Wieso?“

„Schick mir die Datei per Mail.“

Ihr Kopf schoss in die Höhe. „Auf gar keinen Fall! Dann liest du meine Geschichte, und sie gefällt dir vielleicht nicht.“

„Schick sie mir. Ich sorge dafür, dass Chase’ Bruder sie bekommt.“

„Wie? Du kennst Chase so gut, dass du ihn um einen Gefallen bitten kannst?“

Er zögerte. Plötzlich wurde ihm wieder bewusst, wie bizarr die ganze Situation war. Er wusste einige sehr intime Dinge über diese Frau, und sie über ihn. Aber trotzdem hatte sie keine Ahnung, wer er wirklich war.

„Er wird die Geschichte lesen. Ich regle das.“ Das würde ihm einen Anlass geben, sich bei seinem Bruder zu melden. Wie viele Jahre war es her, dass sie gemeinsam etwas trinken gegangen waren? Wann hatte er sich zum letzten Mal die Zeit dafür genommen?

Sein Leben bestand nur noch aus Arbeit. Aber das würde sich jetzt ändern.

Er würde seinen Stolz überwinden und mit seinem Bruder sprechen.

Ab jetzt würde er sich Zeit nehmen, für das, was er liebte. Für all die Dinge, die er aufgegeben hatte, weil seine Arbeit alle Kraft und Zeit auffraß.

Segeln, Autos, Freunde.

Diese Frau …

„Ich will dich wiedersehen, Lara.“ Er zog sie zurück an seine Brust und senkte den Kopf, um sie zu küssen. „Das hier ist nicht vorbei.“

In einer Geschichte wäre das hier der plot twist, dachte Matilda. Die überraschende Wendung, die alles veränderte.

Sie war dabei, sich zu verlieben. In einen Mann, der nicht wusste, wer sie war.

Obwohl … Sie runzelte die Stirn. Verlieben war vielleicht etwas weit gegriffen. So schnell verliebte man sich nicht. Jedenfalls nicht im echten Leben. Das passierte nur in Büchern, wenn sich Realität und Fiktion vermischten.

Draußen vor dem Fenster war das Morgenrot verblasst. Dafür schickte die Sonne jetzt einzelne Lichtstreifen quer über die Stadt. Matilda lag still da und beobachtete das Schauspiel. Das hier, wurde ihr bewusst, war einer der ganz seltenen Momente im Leben, in denen die Realität so schön war, dass sie einer Geschichte glich. Was es schwer machte, zwischen echt und unecht zu unterscheiden.

Mit Alex zusammen zu sein, kam ihr ganz einfach und natürlich vor. Sie hätte nie gedacht, dass so viel unbeschwerte Nähe mit jemandem möglich wäre, den sie erst ein paar Stunden kannte.

Sie hatten sich die ganze Nacht lang geliebt – hemmungslos, in allen möglichen Positionen. Und sie hatten über alle möglichen Themen geredet. Noch nie hatte sie sich einem anderen Menschen so tief verbunden gefühlt.

Das hier war Intimität.

Nicht Sex. Zwei Menschen konnten Sex haben, ohne sich wirklich zu kennen. Sie mussten nicht miteinander reden, sie mussten nicht mal wissen, wie der andere hieß. Nein, das hier ging weit über Sex hinaus, diese Nähe und das Vertrauen.

Irgendwann im Verlauf dieser Nacht hatte sie aufgehört, Lara zu sein. Sie hatte die Rolle verlassen, hinter der sie sich bis dahin versteckt hatte. Und trotzdem waren die Nähe und das Vertrauen geblieben.

„Ich will dich wiedersehen“, sagte er plötzlich. Seine tiefe Stimme klang bestimmt. Seine Worte erfüllten sie mit unglaublicher Freude, vermischt mit etwas Nervosität.

Sie musste es ihm sagen.

Sie musste ihm ihren echten Namen nennen und die ganze Sache erklären. Er würde lachen, sie würden gemeinsam lachen. Denn im Grunde war es doch eine witzige Geschichte, oder? Sie sah ihn an. „Ich möchte dich auch wiedersehen.“

Plötzlich war ihr so leicht zumute, dass sie am liebsten durch die ganze Wohnung getanzt wäre. Aber sobald sie tanzte, ging unweigerlich irgendetwas zu Bruch. Also begnügte sie sich mit einem Lächeln. „Ich bin gleich zurück.“

Sie stand auf und ging zum Badezimmer hinüber. Was sie jetzt brauchte, war ein kurzer Moment, in dem sie ungestört nachdenken konnte. Dann würde ihr bestimmt einfallen, wie sie Alex das alles erklären sollte.

„Diese Beine. Wirklich unglaublich“, hörte sie ihn hinter sich murmeln. Sie grinste, und ihr fiel auf, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben nicht versuchte, sich kleiner zu machen. Was daran lag, dass sie in seiner Gegenwart nicht das Gefühl hatte, ein Freak zu sein. Stattdessen fühlte sie sich fantastisch.

Sie drehte sich um, weil sie ihm das sagen wollte. Doch dann bemerkte sie, dass er eingeschlafen war. Sie ging zurück und blieb neben dem Bett stehen, um ihn zu betrachten. Einige dunkle Haarsträhnen fielen ihm ins Gesicht. Das ließ ihn jünger wirken, weniger streng.

Sie lächelte und wollte sich umdrehen. Dabei stieß sie mit ihrem Ellbogen prompt gegen den Geldbeutel, der auf dem Nachttisch lag. Der Geldbeutel fiel herunter, und der Inhalt verteilte sich über den Boden.

Sie verdrehte die Augen. Aber, okay. Das war nicht der schlimmste Unfall, den sie in ihrem Leben verursacht hatte. Es hätte auch etwas aus Glas sein können. Etwas Kostbares. Oder etwas Flüssiges und Rotes.

Sie bückte sich, um die Spuren ihres neuesten Malheurs zu beseitigen. Eines war klar, dachte sie: Kondome, würde sie in seinem Geldbeutel ganz bestimmt nicht finden. Die hatten sie heute Abend nämlich alle aufgebracht. Sie griff nach einer Kreditkarte, die am Boden lag, und erstarrte.

Benommen schüttelte sie den Kopf und las noch einmal den Namen, der auf der Karte stand. Chase Adams.

Chase Adams?

Sie überprüfte die nächste Karte und dann noch eine weitere. Aber der Name war auf allen Karten der gleiche.

Was nur eins bedeuten konnte.

Er war ein Dieb.

Der Mann mit dem sie die schönste Nacht ihres Lebens verbracht hatte, war ein Verbrecher. Und er hatte ausgerechnet Chase Adams bestohlen. Mit zitternden Händen versuchte sie, die Karten zurück in den Geldbeutel zu stopfen. Als sie nach der nächsten Karte griff, entdeckte sie das Foto.

Ihr Blick wanderte zwischen dem Foto und dem Mann auf dem Bett hin und her. Es war ein und dieselbe Person.

Er hatte Chase Adams nicht bestohlen. Er war Chase Adams.

Verdammt, verdammt, verdammt! Sie hatte wilden Sex mit Chase Adams gehabt. All ihre Hoffnungen und Träume hatte sie einem Mann anvertraut, der in einer völlig anderen Welt lebte. Und dann hatte sie auch noch eine ordentliche Ladung Eis und Champagner über ihm ausgekippt.

Über diesem Mann, der sie belogen hatte.

Ihre Verblüffung und der Schock verwandelten sich in Wut.

Warum hatte er ihr nicht die Wahrheit gesagt? Wieso hatte er vorgegeben, jemand zu sein, der er gar nicht war?

In ihrem Kopf lief die letzte Nacht noch mal im Schnelldurchlauf ab. All die Dinge, die er zu ihr gesagt hatte. Alles, was er über sich selbst erzählt hatte. Lügen, nichts als Lügen. Er hatte sie von vorn bis hinten belogen.

Aber sie hatte ihn auch belogen.

Das Wissen, dass ihre Empörung ziemlich heuchlerisch war, dämpfte die Wut ein wenig. Sie war in keinster Weise besser als er.

Wie absurd: Sie hatte den Abend damit begonnen, ihm etwas vorzuspielen – nur um herauszufinden, dass er ihr ebenfalls etwas vorgespielt hatte.

Vorsichtig legte sie den Geldbeutel zurück und griff nach ihren Kleidern.

Tja, dachte sie. Das hier war wohl doch kein plot twist. Es war Karma. Lara hätte dem Karma jetzt empfohlen, sich zum Teufel scheren. Aber sie war nicht Lara. Das war endgültig vorbei. Sie war sie selbst. Und ein paarmal hatte es sich heute Nacht sogar ziemlich gut angefühlt hatte, sie selbst zu sein. Weil er sie genau so gemocht hatte, wie sie war.

Also war alles, was sie jetzt tun musste, sich weiterhin zu mögen. Nur eben ohne ihn. Und dann musste sie noch die Tatsache ignorieren, dass sie sich fühlte, als ob ihr Herz aus dem Leib gerissen worden wäre.

7. KAPITEL

„Also wirst du an der Sommergala heute Abend nicht teilnehmen?“

„Genau.“ Chase hielt den Blick weiter auf seinen Computer gerichtet. „Ich werde stattdessen zum Strandhaus fahren. Dort werde ich schwimmen gehen und segeln. Ab jetzt tue ich nämlich all die Dinge, die mir Spaß gemacht haben, bevor ich vergessen habe, dass sie mir Spaß machen.“

Er hob den Kopf. Rick starrte ihn so fassungslos an, als hätte er verkündet, dass er das ganze Wochenende lang Drogen nehmen wollte. „Chase, ich … Ich bin jetzt seit fünf Jahren dein persönlicher Assistent. Und bisher habe ich gar nicht gewusst, dass du gerne segelst.“

„Tja, jetzt weißt du es.“

Rick trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. „Dein Vater erwartet, dich heute Abend auf dieser Gala zu sehen. Er möchte mit dir über den Turner-Hill-Deal sprechen. Und es gibt ein paar Leute, die er dir vorstellen will.“

Ein weiterer Abend, an dem es um Schleimerei und Networking ging. Jedenfalls hätte Lara das so genannt.

Lara. In Wahrheit hieß sie Matilda, wie er inzwischen wusste.

Er hatte den Namen auf dem Manuskript entdeckt, das sie in seinem Apartment vergessen hatte. Auf der ersten Seite hatte auch noch eine Mailadresse gestanden. Nur wo sie wohnte, wusste er nicht.

„Alle werden heute Abend da sein.“

Nicht alle. Es gab eine Person, die er wirklich treffen wollte. Aber die würde auch heute Abend nirgends zu finden sein.

Er hatte ihr drei Mails geschickt. Sie hatte nicht geantwortet.

Was immer sie für Alex empfunden hatte, empfand sie offenbar nicht für Chase Adams.

„Kann sein, dass alle möglichen Leute heute bei der Gala sind. Aber ich werde nicht dorthin gehen. Ich werde mich auf Long Island befinden, die Seeluft einatmen und mich erholen, nach einer verdammt anstrengenden Arbeitswoche. Ach ja, wo wir gerade beim Thema sind: Ich werde übrigens erst am Dienstag zurück sein. Wer bis in die Nacht hinein arbeitet, kann sich auch einen Tag frei nehmen.“

„Was ist mit dir passiert?“ Rick wirkte weiterhin fassungslos. „Du hast dich in den letzten Wochen sehr verändert.“

„Kann sein.“ Vielleicht hatte er sich wirklich verändert. Oder er hatte einfach nur den Mann wiederentdeckt, der er früher mal gewesen war.

Chase stand auf und trat ans Fenster. Er starrte auf die vielen Straßen, die kreuz und quer durch die Stadt verliefen. Irgendwo dort unten musste sie sein.

Warum hatte sie ihm nicht zurückgeschrieben?

Rick versuchte anscheinend immer noch, zu begreifen, was mit seinem Boss los war. „Du bist Dienstag zurück? Haben wir dann am Montag eine Telefonkonferenz?“

„Nein.“ Chase drehte sich zu ihm um. „Hat mein Bruder sich gemeldet?“, fragte er. „Wegen des Pakets, das ich ihm geschickt habe?“

„Du hast mich das vor zwei Stunden schon mal gefragt. Aber, nein, er hat sich in der Zwischenzeit nicht gemeldet.“

„Okay.“ Chase sah, dass Rick vor seinem Schreibtisch stehengeblieben war. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah er seinen Assistenten an. „Gibt es sonst noch etwas, das wir besprechen müssen?“

„Du wolltest doch, dass ich die Gästeliste von deiner Party checke.“

Chase spürte, wie sich seine Schultermuskeln anspannten. „Und?“

„Niemand mit dem Namen Lara ist eingeladen worden.“

Chase nickte. Nach allem, was passiert war, überraschte ihn das nicht. „Hast du auch überprüft, ob von den weiblichen Gästen irgendjemand Matilda hieß?“

„Ja, Chef. Es gab auch keine Matilda.“

Wie zum Teufel konnte das sein? Mit gerunzelter Stirn begann Chase, in seinem Büro auf und ab zu laufen. Wie hatte sie es geschafft, ohne Einladung auf die Party zu kommen? Hatte sie die Einladung von irgendjemand anderem benutzt? War das der Grund, weshalb sie seine Mails nicht beantwortete?

Er ging im Kopf seine Optionen durch. Was konnte er tun? Er lebte in einer Stadt mit mehreren Millionen Menschen. Sollte er einen Privatdetektiv beauftragen? Oder so lange die Straßen von Manhattan durchstreifen, bis jemand dafür sorgte, dass er in psychologische Behandlung kam?

Er hatte immer wieder versucht, sich zu sagen, dass es nur eine Nacht gewesen war. Dass er einen Schlussstrich ziehen und die Sache vergessen musste. Aber es funktionierte einfach nicht. Denn natürlich war es nur eine Nacht gewesen. Doch er hatte von dieser Frau etwas gewollt, was er noch nie von einer Frau gewollt hatte.

Matilda betrat das Foyer des charmanten alten Sandsteingebäudes, in dem sich der Hauptsitz von Phoenix Publishing befand. Ihre Beine zitterten, und ihre Handflächen waren schweißnass.

Die E-Mail war vor zwei Tagen in ihrem Posteingang aufgetaucht. Was bedeutete, dass Chase das Manuskript, das sie bei ihrer Flucht aus dem Apartment vergessen hatte, an seinen Bruder weitergeleitet haben musste.

Sie fragte sich, ob er das wohl persönlich getan hatte. Hatten die beiden nach all diesen Jahren wieder gesprochen? Das hoffte sie sehr. Sie selbst konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, als den Kontakt zu einem Familienmitglied zu verlieren. Und sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Chase einsam war und seinen Bruder schrecklich vermisste.

Die kurze, höfliche Mail war von einem Lektoratsassistenten geschrieben worden. In dem Schreiben wurde sie darum gebeten, im Verlag anzurufen und einen Termin für ein Treffen auszumachen.

Damit hatte sie überhaupt nicht gerechnet? Warum ein persönliches Treffen?

Vermutlich hieß das, dass ihnen die Geschichte gefallen hatte. Aber wieso hatten sie ihr das nicht in einer Mail gesagt oder bei einem Telefonat?

„Miss Meadow? Mr. Adams erwartet Sie.“

Leider war es der falsche Mr. Adams, dachte sie traurig.

Irgendwie seltsam: Noch vor wenigen Wochen hatte sie Chase Adams nur treffen wollen, um durch ihn an seinen Bruder heranzukommen. Und jetzt lernte sie seinen Bruder persönlich kennen. Dabei war alles, was sie wollte, Chase.

Sie betrat das Büro und erblickte einen Männerkopf mit dunklen Haaren. Ihr Herz schien für einen Schlag auszusetzen.

Dann schaute der Mann auf.

Es war nicht Chase, sondern Brett. Allerdings war die Ähnlichkeit groß genug, um alles in ihrem Inneren in Aufruhr zu versetzen.

Sie vermisste ihn so sehr.

Sie hatte nur eine Nacht mit ihm verbracht. Und trotzdem fehlte er ihr schrecklich. Wie war das nur möglich?

Manchmal war dieses Gefühl des Vermissens so stark, dass ihr gesamter Körper schmerzte. Egal, ob sie die Augen offen oder geschlossen hatte – sie sah immer ihn vor sich. Sein Lächeln. Die Art, wie er sich vorgebeugt und ihr konzentriert zugehört hatte. Seine Hände und sein Mund auf ihrem Körper …

Es erinnerte sie an einige der Szenen in ihren Geschichten. Aber die Geschichten, die sie schrieb, waren nicht die Realität.

Sie hoffte, dass es ihm gut ging. Dass er glücklich war und nicht zu viel arbeitete.

Sie hoffte, dass nicht irgendeine skrupellose Frau mit ihm schlief, nur weil er Geld und sehr viel Einfluss besaß.

„Miss Meadows? Wollen Sie sich nicht setzen?“ Brett deutete auf einen Stuhl und brachte durch diese Bewegung einen Papierstapel auf seinem Tisch zum Einstürzen. Blätter wirbelten durch die Luft und fielen zu Boden. Er sammelte sie wieder ein und lächelte. Es war ein charmantes, jungenhaftes Lächeln. „Sorry. Das wirkt vermutlich etwas chaotisch. Aber in Wahrheit weiß ich von jeder einzelnen Seite, wo sie sich befindet. Und wer sie geschrieben hat. Womit wir beim Thema wären: Ich habe Ihr Manuskript gelesen.“

Während sie versuchte, nicht schon wieder an Chase zu denken, setzte Matilda sich auf die Kante des Stuhls. „Wirklich? Sie haben meinen Text höchstpersönlich gelesen? Das überrascht mich.“

„Normalerweise prüfen meine Mitarbeiter die Manuskripte. Aber als ich entdeckt habe, dass das Paket von meinem Bruder kam, war ich natürlich ziemlich neugierig. Leider hat Ihre Geschichte einige Tage lang auf meinem Schreibtisch herumgelegen, weil ich außer Haus war. Londoner Buchmesse.“ Sein Tonfall machte deutlich, dass in seiner Welt jeder die Buchmesse in London kannte. Matilda nickte und versuchte so auszusehen, als hätte sie diese Messe auch schon diverse Male besucht.

Allerdings war sie noch nie in London gewesen. Genauer gesagt: Die weiteste Reise ihres Lebens hatte sie gerade mal bis nach New Jersey geführt.

Er griff nach einem Ordner, der aus seinem Schreibtisch lag. „Ihre Geschichte hat mir gut gefallen. Einige kleinere Korrekturen sind noch nötig. Aber an der Handlung selbst muss nichts geändert werden. Ich werde Sie gleich Mandy vorstellen – das ist die Lektorin, die Sie betreuen wird. Haben Sie einen Agenten, der Sie vertritt?“

„Einen …?“ Matilda starrte ihn benommen an. Einen Agenten? „Verstehe ich das richtig? Sie wollen mein Buch veröffentlichen?“

„Ja, klar. Habe ich das noch gar nicht erwähnt?“ Er schüttelte den Kopf. „Wie Sie in dem Anschreiben ja selbst erwähnt haben, passt der Text hervorragend in unser Liebesroman-Segment. Die Leserinnen werden begeistert von Lara sein, da bin ich mir sicher. Lara ist eine interessante, mehrdimensionale Figur. Eine Frau, die stark ist, aber viel Humor hat.“

„Ja, das stimmt.“ Matilda fragte sich, ob es normal war, eifersüchtig auf eine Figur zu sein, die man selbst erfunden hatte. Sie wünschte sich, auch so stark und mutig wie Lara zu sein. Denn dann hätte sie die Mails beantworten können, die Chase ihr geschickt hatte, um nach ihrer Adresse zu fragen. Sie hätte ihm geschrieben, dass die traumhafte Nacht, die sie zusammen verbracht hatten, nichts mit der Realität zu tun hatte. Und dass es besser war, sich die Erinnerung an ein paar wunderschöne Stunden zu bewahren, statt alles zu zerstören. Denn natürlich würde die Sache ein unschönes Ende nehmen, sobald Chase die Wahrheit über sie herausfand.

„Okay“, riss Brett sie aus ihren Gedanken. „All die Details können wir später noch klären. Erst mal: Herzlichen Glückwunsch! Ihr Buch ist eine interessante Ergänzung für unser Programm. Ich freue mich, dass Sie zu unseren Autoren gehören werden.“ Er zögerte. „Wie gut kennen Sie meinen Bruder?“, fragte er dann.

Matilda dachte an diese Nacht, an das Vertrauen, die Intimität. „Ich würde sagen, dass ich ihn ziemlich gut kenne“, erwiderte sie leise. „Warum fragen Sie?“

„Weil dem Manuskript ein Brief beigefügt war. Den soll ich Ihnen geben, wenn ich Sie sehe. Das kommt mir etwas seltsam vor. Haben Sie beide sich gestritten? Oder sind Sie umgezogen und haben jetzt eine neue Adresse?“

„Nein. Es ist … kompliziert.“ Sie spürte, wie ihr Herz rasend schnell zu schlagen begann. Chase hatte ihr geschrieben? Was wollte er ihr mitteilen? Es konnte doch nichts schaden, sich das kurz durchzulesen, oder? „Haben Sie den Brief hier?“

Er nickte und reichte ihr einen Umschlag, während er sie interessiert ansah. „Der Brief ist an Lara adressiert, ihre Heldin. Das ist vermutlich ein Insiderwitz zwischen Ihnen und meinem Bruder.“

„Ja.“ Ihr Mund wurde staubtrocken, während sie die energische Handschrift auf dem Umschlag betrachtete. „So könnte man das nennen.“

„Wenn Sie Chase so gut kennen, wissen Sie vermutlich, dass er und ich ein paar Jahre lang den Kontakt zueinander verloren hatten. Es war eine dieser Krisen, die manchmal in Familien vorkommen. Bedauerlicherweise. Aber dank Ihnen und Ihrem Manuskript sprechen wir jetzt wieder miteinander.“

„Das freut mich.“ Jetzt war ihr etwas leichter zumute. Chase brauchte Menschen um sich herum, denen er vertrauen konnte. Menschen, die sich dafür interessierten, wer er wirklich war.

Matilda stand auf. Während sie mit einer Hand den Briefumschlag umklammerte, griff sie mit der anderen nach ihrer Tasche.

Brett Adams sah sie erstaunt an. „Wollen Sie den Brief nicht lesen?“

„Später.“ Sie würde das garantiert nicht tun, wenn ihr jemand dabei zusah. Denn womöglich würde sie einen Heulkrampf bekommen oder irgendetwas in dieser Art. Außerdem vermutete sie, dass der Umschlag etwas Kostbares enthielt, das nur für sie bestimmt war. Ein Andenken. Irgendetwas, das sie immer an die Nacht erinnern würde, in der Fantasie und Wirklichkeit eins geworden waren.

Die folgenden Stunden vergingen wie im Flug. Sie lernte ihre Lektorin kennen und diskutierte mit ihr ein paar Ideen für ein neues Buch. Dann einigten sie sich auf einen Abgabetermin. Als Matilda irgendwann wieder nach draußen, in den strahlend hellen Sonnenschein trat, schwirrte ihr der Kopf.

Ihr Buch würde veröffentlicht werden.

Sie war eine Verlagsautorin.

Und das hatte sie Chase zu verdanken.

Es war ein bittersüßer Gedanke. Er war derjenige, der dafür gesorgt hatte, dass ihr Traum sich erfüllte. Chase Adams hatte an sie geglaubt und ihr geholfen.

Schließlich öffnete sie mit zitternden Händen den Umschlag.

Auf der Karte, die sich darin befand, standen nur drei Worte – geschrieben in der gleichen energischen Handschrift, die auch auf dem Umschlag zu finden war.

Mitternacht, bei Tiffany’s.

8. KAPITEL

Würde sie kommen?

Vermutlich nicht. Aber das hinderte ihn nicht daran, Nacht für Nacht vor Tiffany’s auf und ab zu tigern wie ein Wahnsinniger. Ein Mann mit gebrochenem Herz.

Er warf einen Blick in das Innere des Ladens und lachte. Es war ein humorloses, bitteres Lachen. Die Verkäuferinnen dachten vermutlich, dass er ein Dieb war, der seine Beute sondierte. Wahrscheinlich würde er demnächst verhaftet werden.

Sein Bruder hatte ihm versichert, dass sie den Umschlag bekommen hatte. Aber das hieß noch lange nicht, dass sie wirklich hier erscheinen würde.

Mitternacht, bei Tiffany’s.

Er hätte natürlich auch schreiben können: Ruf bitte in meinem Büro an. Doch das hätte sie eingeschüchtert.

Sie war ein zurückhaltender Mensch. Aber sie konnte auch sehr mutig sein. Auf dieser Party hatte sie mit Chase Adams sprechen wollen, um einen Verlagskontakt von ihm zu bekommen. Die große Frage war nur: Würde sie auch dann mit Chase Adams sprechen wollen, wenn es um etwas viel Persönlicheres ging?

Er hoffte es.

Das hier war ein Ort den sie kannte und liebte. Wenn sie nicht bereit war, sich mit ihm bei Tiffany’s zu treffen, würde er sie wohl nie wiedersehen.

Er senkte den Kopf. Plötzlich spürte er eine sanfte Berührung am Arm. Und dann hörte er eine vertraute Stimme.

„Chase?“

Was tat sie hier?

Sie beobachtete ihn bereits seit fünf Minuten. Aber erst jetzt hatte sie genug Mut zusammengekratzt, um zu ihm zu gehen.

Was sollte sie ihm sagen? Wo sollte sie anfangen?

Sie legte ihm die Hand auf den Arm. Er drehte sich um und sah sie an. Sein Blick war mit einer solchen Intensität auf sie gerichtet, dass sie spürte, wie sie errötete – von den Zehenspitzen bis hinauf zum Haaransatz. Wie konnte ein einziger Blick so eine Wirkung haben? Die eindeutige Reaktion ihres Körpers schockierte sie. Es war genau wie damals, in dieser Nacht.

„Matilda.“ Ein Lächeln spielte um seine Mundwinkel. „Nicht Lara.“

Sie sah in seine rauchblauen Augen und schluckte mühsam. Natürlich kannte er inzwischen ihren richtigen Namen. Jetzt gab es keine Möglichkeit mehr, sich hinter einer falschen Identität zu verstecken. „Chase“, erwiderte sie. „Nicht Alex.“

„Alex ist mein zweiter Vorname. Aber warum Lara? Weshalb hast du den Namen der Heldin deines Romans benutzt?“

Sie hatte damit gerechnet, dass er das Manuskript durchblättern würde, bevor er es an seinen Bruder schickte. Trotzdem fiel es ihr schwer, die Sache zu erklären.

„Ich … Wenn ich nicht in Laras Rolle geschlüpft wäre, dann hätte ich niemals den Mut gehabt, all das mit dir zu tun.“

Er zog die dunklen Brauen hoch. „Also war das in meinem Bett nicht Matilda? Es war die ganze Zeit Lara?“

„Na ja. Teilweise.“ Es war ein sehr persönliches Thema. Und sie waren hier nicht allein. Selbst um diese Uhrzeit, waren in New York noch viele Menschen unterwegs. Nicht umsonst wurde von der Stadt behauptet, dass sie nie schlief. „Am Anfang war es Lara.“

Er wirkte amüsiert. „Mit zwei Frauen gleichzeitig ins Bett zu gehen, war mir bisher immer zu heikel. Aber ich glaube, ich werde das noch mal überdenken.“ Er streckte die Hand nach ihr aus und zog Matilda an sich. „Entspann dich. Du siehst aus, als wärst du kurz davor, umzudrehen und wegzulaufen. Falls du das wirklich vorhast, muss ich dich allerdings warnen: Ich werde auf keinen Fall zulassen, dass ich dich ein zweites Mal verliere.“

Ihr Magen zog sich zusammen. „Chase …“

„Wieso hat es so lange gedauert, bis du gekommen bist? Mein Bruder hat dir den Brief bereits vor einer Woche gegeben.“

„Da stand: ‚Mitternacht, bei Tiffany’s‘. Aber ich wusste nicht, in welcher Nacht ich kommen soll. Also habe ich es heute einfach mal probiert.“

Er umfasste ihre Hand fester. „Ich habe hier jede Nacht auf dich gewartet, seit ich den Brief losgeschickt habe.“

„Was? Jede Nacht?“ Sie starrte ihn an, und er lächelte schwach.

„Ja, das Aufsichtspersonal bei Tiffany’s fand das auch etwas merkwürdig. Ich war kurz davor, verhaftet zu werden.“

„Aber warum hast du das getan?“

„Weil ich mein ganzes Leben darauf gewartet habe, jemanden wie dich zu treffen. Und ich will dich nicht verlieren.“ Seine Stimme klang rau. „Weißt du eigentlich, wie sich das angefühlt hat, als ich aufgewacht bin und du weg warst?“

Er dachte, dass er die Wahrheit über sie kannte. Aber da täuschte er sich. „Und weißt du, wie sich das angefühlt hat, als ich aufgestanden bin und herausgefunden habe, dass du Chase Adams bist?“

Seine Augen wurden schmaler. „Wie hast du das denn entdeckt?“

„Ich habe deinen Geldbeutel mit dem Arm erwischt. Dann ist er runtergefallen.“

„Und das war der Grund dafür, dass du gegangen bist?“

„Natürlich.“

„Mir kommt das keineswegs natürlich vor.“

„Ich …“ Sie zuckte hilflos mit den Schultern. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich dir das erklären muss.“

„Okay, lass mich raten: Du hast herausgefunden, dass ich Chase Adams bin. Die Geldmaschine, der kalte, herzlose Typ. Und dann bist du geflüchtet?“

Matilda wollte im Boden versinken. Vielleicht konnte sie einen der vielen Gullys nutzen, die es in New York gab? „Nein, Chase! So war das nicht. Und vergiss bitte alles, was ich damals über dich gesagt habe.“

„Warum? Es war doch eine sehr zutreffende Beschreibung.“

„Aber da wusste ich noch nicht, wer du bist.“

„Ich bin froh, dass du es nicht gewusst hast. Auf die Weise konnten wir uns ganz offen und unbefangen unterhalten. Du hast mir gesagt, was du denkst. Das hättest du nicht getan, wenn du geahnt hättest, wer ich bin.“

Offen und unbefangen. Nach und nach fielen ihr all die Dinge wieder ein, die sie über ihn gesagt hatte. Matilda blickte zu Boden. „Jetzt wäre ein perfekter Zeitpunkt für einen meiner Unfälle. Ich könnte zum Beispiel in eine Baugrube fallen. Aber so was passiert leider nie, wenn ich es mir wünsche.“

„Mir ist es lieber, wenn du auf der Erdoberfläche bleibst.“ Er lächelte, wurde aber gleich darauf wieder ernst. „Du hast mich auf einige wichtige Punkte hingewiesen. Zum Beispiel, dass ich ein ziemlich privilegiertes Leben führe. Und trotzdem fehlt etwas ganz Entscheidendes.“

„Wie meinst du das?“

„Du hast mich gefragt, was ich in meiner Freizeit mache. Als ich antworten wollte, ist mir aufgefallen, dass ich nichts mache. Weil ich nämlich gar keine Freizeit habe. Mir ist klar geworden, dass sich alles immer nur um meinen Job dreht. Dass ich viel Zeit mit Leuten verbringe, die ich nicht leiden kann. Und dass dieser Job noch nicht mal das ist, was ich wirklich machen will.“ Er schüttelte den Kopf. „Deine Mom wäre ganz sicher nicht stolz auf mich gewesen. Ich hatte auch mal einen Traum. Aber ich habe nicht darum gekämpft. Ich habe aufgegeben.“

„Was war denn dein Traum?“

„Ich habe mich schon immer für Gebäude und Bauen interessiert. Aber ich wollte an einer Neuausrichtung mitarbeiten. Was mich interessiert hat, waren Öko-Projekte und Nachhaltigkeit. In den Augen meines Vaters ist das neumodischer Schwachsinn. Aber ich war fest entschlossen, diesen Weg einzuschlagen. Bis mein Vater einen Herzinfarkt bekommen hat. Ich habe die Leitung der Firma übernommen, solange er krank war. Dabei habe ich festgestellt, dass die Zahlen gar nicht gut aussahen. Mein Vater hatte sehr viele Angestellte, die natürlich auf die Jobs angewiesen waren. Also habe ich gesagt, dass ich weitermache. Nur kurz, bis mit den Finanzen wieder alles in Ordnung ist. Aber irgendwie habe ich den Absprung verpasst, und plötzlich waren zehn Jahre vorbei.“

„Du hast versucht, zu helfen. Weil du deinen Vater liebst.“

„Ich hätte einen Weg finden müssen, seinen Traum zu retten, ohne meinen Traum zu begraben.“ Er zog sie enger an sich. „Ich habe meinem Bruder vorgeworfen, dass er egoistisch wäre. Aber inzwischen ist mir klar geworden, dass er im Gegensatz zu mir seinen Traum verteidigt hat.“

„Aber das konnte er nur, weil du eurem Vater geholfen hast, als er Hilfe brauchte.“ Sie legte ihm die Hand auf den Arm. Unter ihren Fingern konnte sie die Schwellung seiner Muskeln spüren. „Wie auch immer – ich bin jedenfalls froh, dass du dich mit deinem Bruder ausgesprochen hast.“

„Das bin ich auch. Aber genug von Brett und mir. Worüber ich eigentlich sprechen möchte, bist du.“

Tja, dachte Matilda. Damit waren sie nun bei dem Teil angelangt, vor dem sie sich gefürchtet hatte. Es gab keine Lara mehr, hinter der sie sich verstecken konnte. Die Zeit der schönen Geschichten war vorbei. Jetzt kam die Realität.

Sie entzog ihm ihre Hand. „Ich bin nicht die Frau, für die du mich hältst.“

„Denkst du ernsthaft, dass es für mich eine Rolle spielt, wie du heißt?“

„Es geht nicht nur um den Namen.“ Sie räusperte sich. „Du hast mich damals gefragt, wieso ich auf dem Event war. Und ich habe dir nicht wirklich eine Antwort gegeben, weil ich … gearbeitet habe.“

„Gearbeitet?“

„Für Star Events. Als Kellnerin. Bis dann das Desaster mit dem Tablett passiert ist und ich Champagner über deine Gäste gegossen habe.“

Er starrte sie an. „Das warst du?“

„Ja, das war ich. Ich könnte jetzt sagen, dass es eine einmalige Sache war. Nur ein dummer Zufall. Oder dass ich einen schlechten Tag hatte. Aber die Wahrheit ist, dass mir solche Dinge die ganze Zeit passieren. So bin ich, verstehst du?“

„Natürlich! Wie dumm von mir! Das erklärt, wieso ich deinen Namen nirgends auf der Gästeliste finden konnte.“

„Du hast die Gästeliste nach meinem Namen abgesucht?“

„Mehr als einmal.“ Er legte ihr die Hände auf die Schultern und schob Matilda ein kleines Stück von sich weg, sodass sie ihm direkt ins Gesicht sehen musste. „Wieso hast du mir nicht die Wahrheit gesagt?“

„Das kann ich genauso gut fragen: Wieso hast du mir nicht die Wahrheit gesagt?“, gab sie zurück.

„Weil ich nicht wollte, dass mein Name alles ruiniert. Eine Nacht lang wollte ich endlich mal ich selbst sein.“

„Siehst du: Und das ist der Punkt, in dem wir uns unterscheiden. Denn ich wollte eine Nacht lang endlich mal jemand anderes sein.“

„Also hast du dich in Lara verwandelt.“ Er schüttelte den Kopf, aber sie sah, dass seine Mundwinkel leicht zuckten, als würde er sich ein Lächeln verkneifen. „Du bist zu deiner eigenen Heldin geworden.“

„Wie viel von meinem Buch hast du gelesen?“

„Jedes Wort. Und alle Sexszenen habe ich zweimal gelesen. Da kamen ein paar Dinge vor, die wir noch nicht ausprobiert haben. Das sollten wir dringend ändern.“

In ihrem Bauch begann es zu kribbeln. „Ich bin nicht Lara. Sie ist nur ein Produkt meiner Fantasie. Aber nachdem ich gefeuert worden bin, habe ich …“

„Du bist gefeuert worden?“

„Natürlich.“

„Nur weil dir ein Missgeschick passiert ist? Wer war das? Wer hat dich entlassen, Matilda?“ Sein Blick war ebenso kalt wie seine Stimme.

Zum ersten Mal sah sie ihn von seiner anderen Seite. Das hier war ein Mann mit sehr viel Macht. Jemand, der gefährlich werden konnte, wenn man das angriff, was ihm am Herzen lag.

„Es war nicht das einzige Missgeschick. Ich …“ Sie zögerte kurz, aber fuhr dann fort: „Chase, ich bin ganz anders als Lara. Ich habe nur versucht, eine Nacht lang so zu sein wie sie. Weil ich ein Abenteuer erleben wollte. Ich wollte mutig sein und eine wilde Affäre mit einem gut aussehenden Mann haben. Aber im echten Leben bin ich keine raffinierte Verführerin. Ich bin tollpatschig. Mir passieren ständig irgendwelche Missgeschicke. Fremde Menschen schüchtern mich ein. Ich bin ängstlich und gehe allen Konfrontationen aus dem Weg. Und ich finde es schrecklich, dass ich so groß bin.“ Sie holte tief Luft. „Du hast eine andere Frau kennengelernt. In Wahrheit weißt du nicht, wer ich bin.“

„Doch, das weiß ich, Matilda“, erwiderte er. „Ich weiß das alles über dich. Wobei es einiges erklärt, dass du in die Rolle deiner Heldin geschlüpft bist. Jetzt verstehe ich, wieso du in der einen Sekunde so selbstsicher warst und in der nächsten eher schüchtern. Und wieso du mir nichts über dich erzählen wolltest, aber mir trotzdem dein geheimstes Geheimnis anvertraut hast.“

„Ich habe dir mein Geheimnis anvertraut und dich mit Champagner überschüttet“, sagte Matilda bitter. „Solche Unfälle sind meine große Spezialität.“

Er umfasste ihr Gesicht und lächelte. Sie konnte das Verlangen in seinen Augen sehen. „Ich finde das bezaubernd. Es macht dich menschlich, dass du nicht perfekt bist. Genau das liebe ich an dir.“

Jetzt war sie diejenige, die ihn verblüfft anstarrte. „Du findest meine Fehler gut?“

„Jeder Mensch hat Fehler. Aber die meisten Leute haben Angst davor, zu diesen Fehlern zu stehen. Sie tun alles, um sie zu verbergen.“

„Meine Fehler lassen sich leider nicht verbergen.“ Sie zog verlegen die Schultern hoch. „Du liebst es, dass ich tollpatschig bin?“

„Ich liebe alles an dir, Matilda. Ich liebe dich.“ Er sah ihr direkt in die Augen. „Mir ist klar, dass es viel zu früh ist, um dir das zu sagen. Ich weiß, dass es verrückt ist, also schau mich nicht so skeptisch an. Was du jetzt gerade denkst, habe ich auch schon gedacht. Aber Logik ändert nichts daran, was man fühlt. Weißt du, wie viele Menschen ich getroffen habe, die so sind wie du?“

„Nicht allzu viele, nehme ich an. Sonst hätten dich die Reinigungskosten längst in den Ruin getrieben.“

Er lachte. „Ja, das habe ich bereits mitbekommen, dass du manchmal etwas ungeschickt bist. Du hast mich mit Champagner übergossen, ein Stück Pizza auf meine Jacke fallen lassen, den Reißverschluss meiner Hose zerstört. Und du hast meine Hand in der Badezimmertür eingequetscht.“

Wäre sie auf einem Schleudersitz gesessen, dann hätte Matilda jetzt den Knopf gedrückt. „Es tut mir leid! Ich wollte, dass du eine Nacht erlebst, die du nie vergisst. Allerdings wollte ich das nicht erreichen, indem ich dir blaue Flecken verpasse.“

„Ich werde diese Nacht auch niemals vergessen, Matilda. Aber aus einem ganz anderen Grund: Das war die Nacht, in der ich endlich eine Frau getroffen habe, die mir sagt, was sie denkt. Das zwischen uns war nicht oberflächlich oder Heuchelei.“ Seine Stimme wurde weicher. „Und wir hatten Spaß, Matilda. Wir hatten verdammt viel Spaß. Du weißt, dass es so ist.“

„Aber wir waren nicht die Menschen, die wir im normalen Leben sind. Das alles war doch gar nicht echt.“

„Ach ja? Und was davon war nicht echt? Dass wir uns stundenlang geliebt haben? Dass wir den Sonnenaufgang zusammen angesehen haben? Das war alles echt! Ich habe mein Leben lang auf so etwas gewartet.“

„Aber du hast nicht gewusst, wer ich bin.“

„Doch, das habe ich.“ Er umfasste ihr Gesicht fester und legte seine Stirn an ihre. „Ich habe ganz genau gewusst, wer du bist. Du hast mir nicht verraten, wie du heißt und was dein Job ist. Aber das spielt keine Rolle, wenn es um den Charakter eines Menschen geht. Letzten Endes kommt es nicht darauf an, wie du heißt und was du tust. Es kommt darauf an, wer die Person ist, die unter der Oberfläche steckt. Und diese Person kenne ich.“

„Chase …“

„Ich weiß, dass dein großer Wunsch war, dein Buch zu veröffentlichen. Du hast dir das so sehr gewünscht, dass du einen völlig fremden Mann ansprechen wolltest, obwohl du dich vor ihm gefürchtet hast. Ich weiß, dass du den Kopf zur Seite neigst, wenn du konzentriert zuhörst. Ich weiß, dass du deine Beine hasst, weil sie so lang sind, dass du überall auffällst. Und ich weiß, dass deine Mutter schrecklich stolz auf dich wäre, weil du so hart für deinen Traum gekämpft hast. Ich habe die Widmung in deinem Buch gelesen. Mir hat das sehr gefallen. Und deine Mutter hätte sich darüber bestimmt gefreut. Jetzt verstehe ich, warum du möchtest, dass dieses Buch in allen Läden steht.“

Tränen brannten in ihren Augen, und ihr Hals wurde eng. „Ich …“

„Es gibt Leute, die ich jeden Tag treffe. Aber ich kenne sie längst nicht so gut wie dich. Und weißt du, warum? Weil sie sich hinter einer Fassade verstecken. Du hast dich nicht versteckt.“ Er strich mit dem Daumen über ihren Wangenknochen. „Dass ich dich getroffen habe, hat mein Leben verändert.“

„Weil ich dir Eis in den Schoß geschüttet habe?“

Seine Mundwinkel verzogen sich. „Nein, nicht deshalb.“ Das Lächeln verschwand. „Du hast mir Fragen gestellt und mich dazu gebracht, über mich und mein Verhalten nachzudenken. Zum Beispiel hast du bezweifelt, dass jemand wie Chase Adams bei der Arbeit ständig Dinge tun muss, die er hasst. Und du hattest völlig recht. Ich muss diese Dinge nicht tun. Ich dachte nur, ich müsste das. Bis ich dich getroffen habe. Du hast mir klar gemacht, dass ich vieles in meinem Leben vernachlässigt habe: Meine Interessen. Die Menschen, die mir wichtig sind. Aber das wird sich jetzt ändern.“

„Also keine Partys mehr?“

„Das kommt darauf an.“ Seine Worte klangen wie eine Frage. Sie spürte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann.

„Worauf?“

„Darauf, ob du mich zu diesen Partys begleitest.“ Er hob ihren Kopf leicht an, und für einen Moment berührten seine Lippen ihre. „Du hast mir nicht nur gezeigt, wer du bist, Matilda. Du hast mir auch gezeigt, wer ich bin. Du hast mich gezwungen, meine Prioritäten sehr gründlich zu überdenken.“

„Also erfindest du dich jetzt neu?“ Sie lächelte.

„Na ja. Es ist eher so, dass ich mich wiederentdecke. Der neue alte Chase Adams, sozusagen. Letztes Wochenende war ich mit meinem Bruder segeln. Wir haben über ein paar Dinge gesprochen, über die wir noch nie gesprochen haben. Das war nicht ganz leicht, aber es hat und gut getan. Ich denke, es wird noch einige Zeit dauern, bis es zwischen uns wieder so ist wie früher. Trotzdem werden wir das schaffen, da bin ich mir ganz sicher. Brett und ich wieder gemeinsam auf einem Boot – das habe ich mir sehr lange gewünscht. Aber ich habe eigentlich schon gar nicht mehr daran geglaubt. Bis mir dann irgendein sehr kluger Mensch gesagt hat, dass man niemals aufhören darf, um seine Träume zu kämpfen.“

„Das freut mich. Wirklich, Chase, das freut mich sehr für dich. Familie ist etwas, um das es sich zu kämpfen lohnt.“

„Ja, da hast du recht.“ Er sah ihr direkt in die Augen. „Okay, nachdem wir jetzt die Punkte ‚Arbeit‘ und ‚Familie‘ geklärt haben, bleibt eigentlich nur noch ein Punkt übrig. Und das ist mein Liebesleben.“

Matilda schüttelte stumm den Kopf.

Eine Nacht lang in einem Märchen zu leben, dachte sie, war wunderschön. Aber wenn diese Nacht vorbei war, musste man in die Realität zurückgehen. Denn sonst verwandelte sich diese zauberhafte Fantasie in etwas sehr Schmerzhaftes. Und sie hatte momentan schon genug Probleme – und zwar von der ernsthaften Sorte.

„Es würde niemals funktionieren, Chase. Das war nicht echt.“

„Nein?“, fragte er knapp. Dann senkte den er Kopf, und küsste sie. Diesmal hatte sein Kuss nichts Sanftes, sondern war wild und herausfordernd. Matilda spürte, wie sie zu zitternd begann und eine ungeheure Hitze ihren Körper erfasste, die jede Art von Widerstand zwecklos machte.

Wieso konnte er das?, fragte sie sich benommen. Wo konnte man lernen, so zu küssen? Unwillkürlich schmiegte sie sich an ihn. Er schlang die Arme fester um sie, und sie fühlte, wie sich sein Körper hart und verlangend gegen ihren presste.

Jemand ging an ihnen vorbei und stieß einen anerkennenden Pfiff aus. Matilda wich hastig zurück.

„Alex … Chase …“

Sein Blick hielt ihren eisern fest. „Küss mich noch mal, Matilda. Wenn du danach noch sagst, dass das alles nicht echt ist, dann glaube ich dir.“ Seine Stimme klang rau vor Leidenschaft.

„Du weißt, was ich meine“, stieß sie hervor.

„Nein. Das tue ich nicht. Es gibt keinen vernünftigen Grund dafür, dass wir nicht zusammen sein sollten.“

„Tja, wie wäre es denn damit: Du bist reich genug, um dir einen Kleinstaat kaufen zu können. Und ich besitze nicht mal eine eigene Wohnung. Genauer gesagt: Bald habe ich gar kein Dach mehr über dem Kopf und sitze auf der Straße. Nachdem ich jetzt arbeitslos bin, kann ich nämlich auch die Miete nicht mehr zahlen. Also musste ich meine Wohnung kündigen.“

„Du hast dein Apartment gekündigt? Sehr gut, dann wäre das schon mal geklärt. Zwei getrennte Wohnungen sind weder ökonomisch noch logistisch sinnvoll, wenn wir erst mal verheiratet sind.“

„Verheiratet?“ Sie schnappte nach Luft. „Bist du betrunken?“

„Nein. Ich neige nur dazu, Entscheidungen schnell zu treffen. Aber wenn du noch etwas Zeit brauchst, ist das natürlich okay. Solange es nicht allzu lange dauert. Ich bin relativ ungeduldig, wie dir vermutlich schon aufgefallen ist. Außerdem kann ich sehr hartnäckig und durchsetzungsfreudig sein, wenn ich etwas wirklich will.“

„Aber …“ Sie schüttelte benommen den Kopf. „Das kann nicht dein Ernst sein.“

„Soll ich dir zeigen, wie ernst es mir ist?“ Er ergriff ihre Hand, um dann mit ihr im Schlepptau zügig auf die Tür von Tiffany’s zuzumarschieren.

Matilda blieb stehen und zog an seiner Hand – halb lachend, halb schockiert. Ein paar Leute sahen neugierig zu ihnen hinüber. „Warte! Der Laden ist geschlossen.“

„Da täuschst du dich. Tiffany’s hat auch nachts geöffnet, wenn es einen speziellen Anlass gibt. Und das hier ist ein sehr spezieller Anlass: Ich werde nämlich der Frau meines Lebens einen Heiratsantrag machen.“

„Chase…“, sagte sie verzweifelt. „Du hast nur eine Nacht mit mir verbracht.“

„Die beste Nacht meines Lebens. Und ich werde dafür sorgen, dass ab jetzt jede Nacht unvergesslich ist. Weil du bei mir bist.“

Sie schüttelte den Kopf. „Bitte, versteh doch. Ich bin nicht so wie die Frauen, die du bisher getroffen hast.“

„Das stimmt. Und ich hoffe, es wird sich nie ändern.“

„Wir kommen aus völlig unterschiedlichen Verhältnissen.“

„Es spielt keine Rolle, wo wir herkommen, solange wir am selben Ort enden. Du warst doch diejenige, die gesagt hat, dass kein Hindernis unüberwindbar ist, wenn man jemanden wirklich liebt. Und du liebst mich. Ich weiß es. Ich kann es in deinen Augen sehen und in deinem Lächeln. Du hast es mir noch nicht gesagt. Aber dann muss ich das eben für uns beide sagen, bis du dazu bereit bist.“

Sie spürte, wie ein Lichtstrahl von Hoffnung in ihre Zweifel drang. „Aber du bist ein Mann, der alles genau überdenkt. Du überlegst dir, was …“

„Manche Dinge sind zu wichtig, um sie nur logisch zu betrachten.“ Er legte eine Hand um ihren Hinterkopf und zog ihren Kopf zu sich, sodass ihr Gesicht ganz nah an seinem war. „Ich liebe dich, Matilda. Ich will möchte glücklich machen. Ich werde dich glücklich machen. Wenn du mir vertraust und mit mir kommst, dann kann ich dir das beweisen.“

„Ich soll mitkommen? Wohin denn?“

Er lachte. Plötzlich wirkte er jung und unbekümmert. „Überallhin. Wir schauen uns die ganze Welt zusammen an. Aber als Erstes fahren wir zu meinem Strandhaus auf Long Island, würde ich vorschlagen.“

„Du hast ein Strandhaus auf Long Island?“

„Ja, in den Hamptons. Leider war ich in den letzten Jahren viel zu selten dort. Ich werde dir beibringen, wie man segelt. In dem Haus gibt es ein Zimmer mit direktem Strandblick, da kannst du ganz ungestört schreiben. Ach ja, und dann gibt es auch noch die Bibliothek.“

Die Bibliothek.

„Ich habe ein Bild von deiner Bibliothek gesehen. In der Zeitung.“

„Tja, jetzt kannst du sie dir in echt ansehen. Und bald werden auch deine eigenen Bücher in den Regalen dort stehen. Denn soweit ich weiß, hat mein Bruder nicht nur dein erstes Buch gekauft, sondern ist auch an einem zweiten interessiert.“

Ein schrecklicher Gedanke schoss ihr durch den Kopf. „Hast du ihm gesagt, dass er mein Buch kaufen soll?“

„Nein. Und wenn du meinen Bruder erst mal besser kennenlernst – wozu du mehr als genug Gelegenheit haben dürftest, bei all diesen Familienfeiern wie zum Beispiel am 4. Juli, Thanksgiving oder an Weihnachten – dann wirst du sehr schnell merken, dass er sich gar nichts vorschreiben lässt. Er ist genauso so stur wie ich.“

„Also hat ihm mein Buch wirklich gefallen.“

„Er liebt es. Und er will möglichst schnell ein neues Buch von dir. Daher habe ich mir das Ganze folgendermaßen gedacht: Tagsüber schreibst du, während ich mich um meinen Job kümmere. Danach treffen wir uns und stellen die ganze Nacht lang aufregende Dinge miteinander an. Ach ja – und wenn du dich von Zeit zu Zeit in eine deiner Heldinnen verwandelst, um neue Positionen auszuprobieren, dann bin ich damit völlig einverstanden. Wie klingt das?“

Es klang märchenhaft.

„Du hast ihm den Text geschickt. Du hast meinen Traum wahrgemacht.“

„Nein.“ Er küsste sie sanft. „Das hast du selbst gemacht.“

Sie rückte ein winziges Stück von ihm ab – nur so viel, dass sie sprechen konnte. „Dieses Apartment, in das du mich mitgenommen hast … Du hast gesagt, dass du dort nur eine Zeitlang bleiben möchtest …“

„Ja, stimmt. Bis jetzt bin ich nie lange genug an einem Ort geblieben, um wirklich sagen zu können, dass es mein Zuhause ist.“

„Aber das Apartment gehört dir.“

„Keine Sorge. Wir können es verkaufen, wenn es dir dort nicht gefällt. Im Grunde ist das sowieso die beste Lösung. Wir werden ein Familien-Haus brauchen.“

„Ach ja?“ Ihr war ein wenig schwindelig zumute. „Wieso denn?“

„Weil wir eine Familie sind. Und vielleicht bekommen wir irgendwann Nachwuchs. Lauter langbeinige Kinder, denen wir gemeinsam beibringen, wie man segelt.“

Tränen stiegen ihr in die Augen. „Chase …“

„Nicht weinen.“ Er strich mit dem Daumen über ihre Wange. „Du sollst nie weinen müssen. Ich werde Noppenfolie an allen scharfen Kanten im Haus anbringen, damit du dir nicht wehtun kannst.“

Sie lachte erstickt auf. „Dann stolpere ich über die Folie.“

„Wir haben gepolsterte Böden.“

Sie vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter. „Chase, ich kann nicht glauben, dass all das wirklich passiert“, murmelte sie. „Dass es real ist.“

„Warum nicht?“, erwiderte er, während er zärtlich über ihr Haar streichelte. „Das hier ist New York City. Die Stadt, in der alles möglich ist. Hier können Wunder wahr werden, und an jeder Ecke wartet ein neues Abenteuer. Du warst diejenige, die mir das beigebracht hat, Matilda. Und wenn du jetzt Ja sagst, können wir zu unserem eigenen Abenteuer aufbrechen. Wir können spannende Dinge erleben und heiße Affären haben – aber immer miteinander. Wie klingt das?“

„Wie ein Traum, der endlich wahr geworden ist. Sie schlang die Arme um seinen Hals. „Wann fängt unser neues Leben an?“

„Genau jetzt. Wenn wir durch die Tür zu Tiffany’s gehen.“

ENDE

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Sarah Morgan

Schlaflos in Manhattan

Roman

Aus dem Amerikanischen von Stefanie Kruschandl

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MIRA® TASCHENBUCH

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MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2017 by MIRA Taschenbuch
in der HarperCollins Germany GmbH
Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der amerikanischen Originalausgabe:
Sleepless in Manhattan

Copyright © 2016 by Sarah Morgan
erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln

Umschlaggestaltung: Büropecher, Köln

Redaktion: Eva Wallbaum

Titelabbildung: Harlequin Books S.A.

ISBN 978-3-95649-937-1

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

1. Kapitel

Auf der Karriereleiter musst du immer davon ausgehen, dass dir jemand unter den Rock schaut.

– Paige

„Beförderung. Ich glaube, das ist mein neues Lieblingswort.“ Paige Walker prüfte mit einem schnellen Seitenblick, ob ihre Freundinnen Eva und Frankie noch neben ihr waren. Dann ließen sich die drei von der Menschenmenge die Treppen des U-Bahn-Ausgangs hinaufdrängen. Draußen empfingen sie blauer Himmel und strahlender Sonnenschein. Weit über ihnen reckten sich die Hochhaustürme den munter dahintreibenden Wölkchen entgegen. Ganz Manhattan hatte sich in einen Wald aus Glas und Stahl verwandelt, der im Licht der Morgensonne geheimnisvoll funkelte. Die riesigen Gebäude schienen miteinander zu wetteifern: Empire State Building, Rockefeller Center – höher, größer, besser. Hier bin ich, schienen sie zu rufen. Schau mich an!

Paige schaute. Dann lächelte sie.

Heute war ihr Tag. Selbst das Wetter schien in Feierlaune zu sein.

New York war einfach großartig. Jedes Mal wieder verblüfften sie das schnelle Tempo und das Pulsieren dieser Stadt. Es war wie ein Rausch, wie ein Schuss Adrenalin direkt in die Venen.

Sie hatte ihren Job bei Star Events gleich nach dem College bekommen und ihr Glück kaum fassen können. Vor allem nachdem sie erfahren hatte, dass ihre zwei besten Freundinnen ebenfalls dort anfangen würden. Schon immer hatte sie davon geträumt, in einer der großen Event-Agenturen zu arbeiten, die sich in Manhattan befanden. Und der Traum hatte sich tatsächlich erfüllt. Jetzt arbeitete sie als Event-Managerin und lebte in einer Metropole. Hier konnte sie sein, wer immer sie wollte. Sie konnte ihr Leben leben, ohne fünfundzwanzigmal am Tag gefragt zu werden, wie es ihr ging und wie sie sich fühlte. Denn in dem atemlosen Gewühl, das sich New York City nannte, waren die Leute zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um über andere nachzudenken. Soziale Kontakte blieben oberflächlich und gingen nie besonders tief. Der einzelne Mensch verschwand in der Menge.

Und genau das, dachte Paige, gefiel ihr hier so gut. Sie wollte nicht auffallen, nicht anders sein und ständig im Mittelpunkt stehen. Nie wieder wollte sie ein leuchtendes Vorbild sein. Ganz besonders nicht, wenn es um tapferes Verhalten ging.

Jahrelang hatte sie sich das gewünscht: Anonymität, eine Menschenmenge, in der sie sich verbergen konnte. Und hier in New York war ihr das endlich gelungen.

Das Großstadtchaos bot ihr eine eigene Art von Privatsphäre. Alles bewegte sich schneller. Auch die Menschen, die hier lebten.

Wobei es auch Ausnahmen gab. Zum Beispiel ihre Freundin Eva, die nicht gerade eine Frühaufsteherin war.

Gerade gähnte Eva herzhaft und erklärte dann: „Beförderung ist ja schön und gut. Aber mein Lieblingswort ist Liebe.“ Schläfrig lief sie ein paar Schritte weiter, wurde dabei jedoch immer langsamer. „Oder Sex. Das ist immerhin die zweitbeste Sache auf der Welt. Glaube ich zumindest. Leider hatte ich ja schon so lange keinen mehr. Inzwischen frage ich mich, ob ich noch weiß, wie das funktioniert. Vielleicht sollte ich mir einen Sex-Ratgeber kaufen, falls jemals wieder ein Mann auftaucht, mit dem es so weit kommen könnte. Wieso finden eigentlich alle Leute in Manhattan, dass feste Beziehungen unglaublich altmodisch und überholt sind? Ich will keinen One-Night-Stand. Ich will jemanden finden, mit dem ich mein gesamtes Leben verbringen kann. Wie die Enten. Die leben doch auch in festen Beziehungen. Wenn die Enten so was hinkriegen, warum können wir das nicht?“ Sie blieb stehen und beugte sich hinunter, um ihren rechten Schnürsenkel zuzubinden. Die Bewegung ließ ihre blonden Locken nach vorne fallen – genau wie ihre Brüste, die in ihrer Form an Cupcakes oder ähnlich verführerische Dinge erinnerten. Prompt blieb ein Mann, der ihnen entgegengekommen war, wie angewurzelt stehen. Was dazu führte, dass vier weitere Männer in ihn hineinprallten.

Bevor es zu einer Massenkarambolage von noch größerem Ausmaß kommen konnte, ergriff Paige den Arm ihrer Freundin und zog sie ein Stück zur Seite. „Du solltest mit einem Warnschild versehen werden, weißt du das?“

„Was kann ich denn dafür, dass diese dummen Schnürsenkel immer aufgehen?“, murrte Eva, während sie weiter daran herumfummelte.

„Deine Schuhe sind hier nicht das Problem, Ev. Das Problem ist, dass du gerade halb Manhattan mitgeteilt hast, wie nötig du es zurzeit hast.“

„Das Problem liegt eher darin“, sagte Frankie und stellte sich eilig neben Paige, um die Sichtmauer zu erweitern, „dass sich hier gerade ein Dutzend Investmentbanker in Stellung bringen, um deine Aktivposten zu managen. Und damit meine ich nicht deine Finanzen. Also los, Sleeping Beauty. Du stehst jetzt auf, und dann bringe ich deinen Schuh in Ordnung.“

„Okay. Ich habe ja leider gar keine Finanzen, die irgendjemand managen könnte. Andererseits muss ich mich dann auch nicht schlaflos in meinem Bett herumwälzen und darüber nachgrübeln, wie die Zinsen und Erträge stehen oder wie die Dinger heißen. Das ist ein Bonus, finde ich. Wenn auch nicht die Art von Bonus, den diese Bankleute wahrscheinlich gewöhnt sind.“ Eva stand auf und rieb sich den letzten Schlaf aus den Augen. Vor zehn Uhr morgens fiel es ihr normalerweise schwer, sich auf irgendein Gesprächsthema zu konzentrieren. „Du musst mir nicht die Schuhe zuschnüren, Frankie. Ich bin nicht mehr sechs Jahre alt.“

„Aber mit sechs warst du auch noch nicht so gefährlich. Also, lass mich das mit dem Schuh machen. Ich verfüge nämlich nicht über Anlagen, die ein derartiges Sicherheitsrisiko darstellen. Und aus meinem Mund kommen auch nicht völlig ungefiltert alle möglichen Dinge raus. So, und jetzt geh endlich ein Stück zur Seite. Das ist New York. Falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte: Es gilt hier als schweres Verbrechen, Leute auf dem Arbeitsweg zu behindern.“

Frankie klang gereizt. Eva betrachtete sie mit gerunzelter Stirn, während sie ihrer Freundin das Bein entgegenstreckte.

„Also, ich glaube nicht, dass man verhaftet werden kann, nur weil man irgendwo stehen geblieben ist. Und überhaupt: Was ist los mit dir? Du wirkst heute Morgen etwas … angespannt.“

„Nichts. Mit mir ist überhaupt nichts los.“

Paige wechselte einen Blick mit Eva. Ihnen war klar, dass nichts in Wahrheit eine Menge hieß. Aber sie kannten Frankie gut genug, um zu wissen, dass es zwecklos war, bei ihr nachzubohren. Frankie äußerte sich, wenn sie bereit dazu war. Und keine Sekunde eher. Wobei es nicht ganz zutreffend war, im Zusammenhang mit dem komplizierten Innenleben ihrer Freundin von Sekunden zu sprechen. Denn normalerweise musste Frankie all ihre Gefühle erst einmal mehrere Tage mit sich herumschleppen, bevor sie ihren Freundinnen schließlich erzählen konnte, worum es ging.

„Leute auf dem Weg zur Arbeit zu behindern ist vielleicht kein Verbrechen. Aber es ist auf jeden Fall eine Provokation“, sagte Paige, um dem Gespräch wieder eine leichtere Wendung zu geben. „Und soweit ich mich erinnern kann, war unsere liebe Eva schon immer ein wandelndes Sicherheitsrisiko. Erinnerst du dich noch an ihren achten Geburtstag, Frankie? Damals wollte Freddie Major den armen Paul Matthew verprügeln, weil er gesagt hat, dass er Eva später heiraten will.“

„Freddie Major.“ Der Name zauberte die Andeutung eines Lächelns zurück auf Frankies Gesicht. „Ich habe ihm einen Frosch ins T-Shirt gesteckt.“

Eva erschauderte. „Du warst ein böses Mädchen.“

„Was soll ich sagen? Ich kann mit Männern eben nicht umgehen. Ganz egal wie alt sie sind.“ Frankie drückte Eva ihre Getränkedose in die Hand. „Da. Halt das. Und wenn du sie in den Mülleimer wirfst, ist unsere Freundschaft vorbei.“

„Unsere Freundschaft hat mehr als zwanzig Jahre überstanden. Ich gehe davon aus, dass sie nicht daran zerbrechen würde, wenn ich dein Zuckerwasser entsorge.“

„Irrtum.“ Frankie kniete sich hin. Dank ihres schmalen, athletischen Körpers wirkte die Bewegung mühelos und fließend. „Jeder Mensch hat eine Schwäche. Und meine ist eben ungesundes Essen.“

„Ungesund? Das kannst du laut sagen. Wirklich, Frankie: Eine Cola Light ist kein Frühstück! Wenn du schon nichts essen willst, lass mich dir wenigstens einen Smoothie machen. Zum Beispiel mit Grünkohl und Spinat. Das schmeckt ganz toll. Wieso probierst du es nicht einfach mal?“, flehte Eva.

„Ganz einfach: Weil ich mein Frühstück gern im Magen behalte, sobald es dort angekommen ist. Und weil meine Essgewohnheiten auch nicht lebensgefährlicher sind als deine Kleidungsgewohnheiten. Ich hatte heute eben einfach keine Lust zu frühstücken. Das ist ja wohl kein Drama.“ Frankie band die Schnürsenkel von Evas knallgrünen Chucks zu einer ordentlichen Schleife, während unzählige Menschen vorbeiliefen. Sie waren alle auf dem Weg zur Arbeit, auch wenn es eher so wirkte, als würden sie einen Marathon absolvieren. Als einer der Marathonläufer gegen sie stieß, stöhnte Frankie. „Wieso denkst du eigentlich nie daran, dir einfach Doppelknoten zu schnüren?“

„Weil ich noch schlafe, wenn ich mich anziehe.“

Frankie stand auf und zog Eva die kostbare Cola light so eilig aus der Hand, dass ihre flammend roten Haare über ihren Schultern schaukelten. „Autsch!“, stieß sie gleich darauf hervor. „Entschuldigung?“ Sie rückte ihre verrutschte Brille wieder zurecht. Dann warf sie einen scharfen Blick in Richtung des Anzugträgers, der hastig weiterlief. „Schon mal was von guten Manieren gehört? Es wäre nett, die Leute wenigstens zu narkotisieren, denen man mit seinem Aktenkoffer die Niere entfernen will“, grummelte sie. „Also echt. Es gibt Tage, da denke ich, dass ich lieber wieder in einer Kleinstadt leben würde.“

„Im Ernst? Du könntest dir vorstellen, zurück nach Puffin Island zu ziehen?“ Paige verlagerte ihre Tasche von einer Schulter auf die andere. „Komisch, mir geht das nie so. Nicht mal, wenn ich zwischen all den Menschen in der U-Bahn eingequetscht bin und das Gefühl habe, mich würde eine Boa constrictor umarmen. Es ist ja nicht so, als würde ich unsere Insel nicht schön finden. Denn das ist sie. Puffin Island ist wirklich wunderschön. Aber trotzdem ist sie eine Insel. Das sagt doch schon alles.“

Während sie sprach, stand ihr wieder dieses Bild vor Augen: die kleinen Häuser und das Meer, das sich bis zum Horizont erstreckte. Auf Puffin Island hatte sie sich eingeengt gefühlt, abgeschnitten von jeder Zivilisation durch das strömungsreiche Wasser der Penobscot Bay. Und vor allem hatte sie das Gefühl gehabt, nicht mehr richtig atmen zu können, weil die Liebe und die ständige Besorgnis ihrer Eltern sie zu ersticken drohten. Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich könnte mir nicht vorstellen, zurückzugehen. Ich finde es großartig, an einem Ort zu leben, wo meine Nachbarn nicht jedes Detail aus meinem Leben kennen.“

Auf Puffin Island glaubte sie manchmal, nicht zwei, sondern gleich Dutzende Eltern zu haben. Paige, zieh doch die Jacke an, sonst erkältest du dich noch. Paige, ich habe gesehen, dass letzte Woche der Helikopter gekommen ist, um dich wieder ins Krankenhaus zu bringen. Wie geht es dir denn jetzt? Ja, es war gut gemeint gewesen. Doch das dauernde Interesse und Mitgefühl hatten nur dazu geführt, dass sie sich immer weiter in sich selbst zurückzogen hatte und es kaum noch erwarten konnte, alldem endlich zu entfliehen.

Alles in ihrem Leben hatte sich darum gedreht, gesund zu bleiben, sich zu schonen und vor jeder Art von Gefahr beschützt zu werden. Mit der Zeit war es ihr immer schwerer gefallen, nicht laut zu schreien und mit dieser Frage herauszuplatzen, die in ihr brannte: Was bringt es, am Leben zu bleiben, wenn man nie richtig lebt?

Nach New York zu ziehen war der aufregendste und beste Moment ihres ganzen Lebens gewesen. Denn diese Stadt unterschied sich auf jede nur erdenkliche Weise von Puffin Island. In negativer Hinsicht, hätten manche Menschen vermutlich gesagt.

Aber das sah sie anders.

Paige sah ihre Freundin an. Frankie hatte die Stirn gerunzelt. „Quatsch. Natürlich will ich nicht zurück. Und selbst wenn ich es wollte, könnte ich es nicht. Ich würde ja sofort gelyncht werden. Klar, es gibt einige Dinge, die ich vermisse. Aber dass mich alle wütend anstarren, weil meine Mutter gerade mal wieder mit einem verheirateten Mann rummacht, gehört ganz bestimmt nicht dazu.“ Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht und trank ihre Cola aus, um die Dose dann in den Mülleimer zu feuern. Die Mischung aus Wut, Frustration und Kummer, die Frankie ausstrahlte, war schon greifbar, so deutlich war sie zu spüren. „Einen großen Vorteil hat Manhattan ja: Hier gibt es immerhin einige Männer, mit denen meine Mutter noch nicht im Bett gelandet ist. Obwohl es seit gestern einer weniger ist. Das wurde mir schriftlich bestätigt.“

„Schon wieder?“, fragte Paige. Jetzt verstand sie, warum ihre Freundin heute so angespannt und gereizt wirkte. „Sie hat dir eine SMS geschrieben?“

„Aber erst nachdem sie vierzehn Mal versucht hat, mich anzurufen, und ich nicht ans Telefon gegangen bin.“ Frankie zuckte mit den Schultern. „Du wunderst dich, Ev, warum mir der Appetit auf Frühstück vergangen ist? Dann hör dir das mal an: Ihr neuester Fang ist achtundzwanzig Jahre alt und knallt wie eine Scheunentür im Sturm. Als ich die Details gelesen habe, ist mir die Lust aufs Essen leider vergangen.“ Der spöttische Ton konnte nicht verbergen, wie verstört sie war. Paige ging zu ihr und hakte sich bei ihr ein.

„Es wird nicht lange dauern.“

„Natürlich wird es nicht lange dauern. Keine ihrer Beziehungen hat jemals länger gehalten. Aber bevor es vorbei ist, wird meine Mutter es noch schaffen, den Typen kräftig auszubluten. Woran er selbst schuld ist. Er will das ja genauso sehr wie sie. Was ich mich nur frage: Warum sind Männer eigentlich nie in der Lage, ihre Hosen auch mal anzubehalten? Warum können sie nicht einfach Nein sagen?“

„Nicht alle Männer sind so.“ Unwillkürlich musste Paige an ihre Eltern denken. Die beiden führten eine glückliche Ehe. Und das schon seit vielen Jahren.

„Aber alle, die meine Mutter aufgabelt, sind so. Meine größte Angst ist, einen von denen mal bei unseren Events zu treffen. Könnt ihr euch das vorstellen? Vielleicht sollte ich einfach meinen Namen ändern.“

„Komm schon, Frankie. Das wird nicht passieren. Dafür ist New York viel zu groß.“

Eva hakte sich ebenfalls bei Frankie ein. „Weißt du was? Eines Tages wird deine Mutter sich verlieben. Und dann sind all diese Probleme vorbei.“

„Oh, bitte! Nicht mal du kannst hier irgendeine Romanze wittern. Liebe hat mit der ganzen Sache gar nichts zu tun“, entgegnete Frankie bitter. „Männer sind für meine Mutter einfach nur ein Job. Ihr Einkommen. Sie ist die Geschäftsführerin eines Baukonzerns, auch bekannt als ‚Nimm dir alles‘.“

Eva seufzte. „Okay, sie hat ein paar Probleme.“

„Ein paar Probleme?“ Frankie blieb abrupt stehen. „Meine Mutter ist mindestens fünf Haltestellen an ‚ein paar Problemen‘ vorbeigefahren. Und können wir jetzt bitte über was anderes reden? Ich hätte gar nicht erst damit anfangen sollen. Das Thema verdirbt mir immer total die Laune. Außerdem ist es nicht das erste Mal, dass meine Mutter so etwas macht. Du hast recht, Paige: In New York zu leben hat eine ganze Menge Vorteile. Und der allergrößte davon ist, dass ich meiner Mutter die meiste Zeit über aus dem Weg gehen kann.“

Erneut wurde Paige klar, wie viel Glück sie mit ihren eigenen Eltern hatte. Ja, die beiden machten sich andauernd Sorgen um sie, und das war manchmal schwer zu ertragen. Aber verglichen mit Frankies Mutter waren ihre Eltern beruhigend normal.

Sie warf ihren Freundinnen einen Blick zu. „Das sehe ich auch so. In New York zu leben ist das Beste, was uns allen passieren konnte. Wie haben wir das vorher eigentlich ausgehalten – ohne Bloomingdales und die Magnolia Bakery?“

„Oder die Enten im Central Park. Es macht so viel Spaß, sie zu füttern“, fügte Eva mit einer Spur von Wehmut hinzu. „Früher habe ich das jedes Wochenende gemacht. Zusammen mit meiner Großmutter.“

Frankies Miene wurde weicher. „Sie fehlt dir sehr, oder?“ „Ach, es geht.“ Evas Lächeln war plötzlich nicht mehr so strahlend. „Einige Tage sind besser, andere schlechter. Aber es ist längst nicht mehr so schlimm wie vor einem Jahr. Sie war dreiundneunzig, da kann ich mich ja kaum beklagen. Es fühlt sich einfach nur so merkwürdig an, dass sie nicht mehr da ist. Großmutter war die eine Konstante in meinem Leben. Jetzt ist sie weg. Und ich habe niemanden mehr. Keine Verbindung zu irgendjemandem.“

„Du hast doch uns“, entgegnete Paige. „Wir sind deine Familie. Und wir sollten am Wochenende etwas mit dir unternehmen.“ Frankie nickte. „Wie wäre es zum Beispiel mit einer Einkaufstour? Zuerst gehen wir zu Saks Fifth Avenue, überfallen die Make-up-Abteilung, und danach gehen wir tanzen.“

„Tanzen?“ Eva klang auf einmal sehr viel munterer. „Oh, ich liebe Tanzen.“ Sie blieb stehen und vollführte einige Hüftschwünge, die so provokativ waren, dass es fast zu einer weiteren Massenkarambolage gekommen wäre.

Schnell versuchte Frankie, sie weiterzuziehen. „So viele Blasenpflaster werden weltweit gar nicht hergestellt, dass wir direkt nacheinander shoppen und tanzen gehen könnten“, wandte sie ein. „Außerdem ist Samstag unser Filmabend. Was haltet ihr von einem kleinen Horrorfestival?“

Eva zog eine Grimasse. „Bloß nicht! Dann kann ich wieder nicht einschlafen.“

„Also mein Fall ist das auch nicht“, sagte Paige. „Aber vielleicht ist Matt ja gnädig und genehmigt zur Feier meiner Beförderung ein paar romantische Komödien.“

„Vergiss es.“ Frankie rückte ihre Brille zurecht. „So wie ich deinen Bruder kenne, würde er eher vom nächsten Dach springen, als einen Abend lang Mädchenfilme mit uns zu ertragen. Zum Glück. Dieses Rumgesülze ist doch furchtbar.“

Eva zuckte mit den Schultern. „Und wenn wir statt Samstag heute Abend ausgehen? Ich lerne niemals jemanden kennen, wenn ich nicht vor die Tür gehe.“

Frankie seufzte. „Wir leben in New York. Die Leute kommen hierher, weil sie sich für Kultur interessieren, für die Atmosphäre dieser Stadt oder weil sie Geld verdienen wollen. Es gibt sehr viele Gründe. Aber den Partner fürs Leben zu finden steht bei den meisten Leuten nicht auf der Liste.“

„Ach ja? Dann verrat mir doch mal, warum du hergekommen bist.“

„Weil ich an einem Ort leben will, an dem es viele Menschen gibt. Oder zumindest genügend, um eine gewisse Anonymität zu haben. Wobei ich es natürlich sehr schön finde, dass wir drei uns jeden Tag sehen können“, räumte Frankie ein. „Ich liebe die High Line, den Botanischen Garten und diese Ecke von Brooklyn, in der wir wohnen. Und natürlich unser kleines Haus. Ich werde deinem Bruder für immer dankbar sein, Paige, dass er uns dort so günstig wohnen lässt.“

„Hast du das gehört?“ Eva stieß Paige mit dem Ellbogen an. „Frankie hat gerade etwas Positives über einen Mann gesagt.“

„Und?“, erwiderte Frankie prompt. „Matt ist einer der wenigen anständigen Männer auf diesem Planeten. Außerdem ist er ein Freund. Das ist alles. Ich jedenfalls bin mit meinem Single-Dasein äußerst zufrieden. Daran ist ja wohl nichts falsch, oder?“ Ihre Stimme klang plötzlich ziemlich energisch. „Ich bin unabhängig und stolz darauf. Ich verdiene mein eigenes Geld und muss mich vor niemandem rechtfertigen, wie ich mein Leben lebe. Single zu sein ist eine Entscheidung und keine Krankheit, Ev.“

„Und ich habe entschieden, möglichst bald kein Single mehr zu sein. Das ist ja wohl auch nicht falsch, oder? Also hör mit diesem Vortrag auf. Du findest das vermutlich albern. Aber mich macht es eben etwas unruhig, wenn ich daran denke, dass das Kondom in meinem Geldbeutel sein Haltbarkeitsdatum längst überschritten hat.“ Eva strich sich eine ihrer blonden Locken hinters Ohr. Dann begann sie, die Unterhaltung zügig vom Thema Beziehungen wegzulenken. „Ist es nicht großartig? Ich liebe den Sommer! Kurze Kleider, Flip-Flops, Shakespeare im Park, Segeln auf dem Hudson und lange Abende auf unserer Dachterrasse. Ich kann es noch immer nicht fassen, wie dein Bruder auf die Idee gekommen ist, die Terrasse zu bauen, Paige. Matt ist nicht nur nett und geschickt, er ist auch verdammt schlau.“

Das stimmt, dachte Paige.

Da er acht Jahre älter war, hatte ihr Bruder die Insel lange vor ihr verlassen. Er hatte beschlossen, sich als Landschaftsarchitekt selbstständig zu machen. Und das ausgerechnet in New York, mitten in der Stadt. Aber sein Plan war aufgegangen. Inzwischen war sein Geschäft sehr erfolgreich.

„Ich liebe unseren Dachgarten.“ Frankie beschleunigte ihren Schritt. „Paige, was ist eigentlich aus dem Auftrag in Midtown geworden? Du weißt schon, dieses große Projekt. Hat Matt das bekommen?“

„Soweit ich weiß, wartet er noch auf eine Entscheidung. Aber insgesamt läuft es für ihn wirklich sehr gut mit seinem Job.“

Und jetzt war sie an der Reihe.

Ihre Beförderung war der nächste Schritt in ihrem Lebensplan. Und hoffentlich auch der nächste Schritt in Richtung Unabhängigkeit. Ihre Eltern und ihr Bruder mussten endlich damit aufhören, sich ständig Sorgen um sie zu machen und sie vor allen möglichen Gefahren beschützen zu wollen.

Was sie diesem verflixten Herzfehler zu verdanken hatte, mit dem sie geboren worden war. Ihre Jugend hatte aus einer langen Reihe von Krankenhausbesuchen bestanden. Statt mit anderen Kindern zu spielen, war sie stets von Ärzten umringt gewesen. Und natürlich von ihrer Familie, die sich tapfer bemüht hatte, die eigene Angst nicht zu zeigen. Trotzdem hatte sie es mitbekommen und es gehasst: diese Panik, die Hilflosigkeit. Das Gefühl, dem Schicksal und irgendwelchen wildfremden Menschen völlig ausgeliefert zu sein. An jenem Tag, als sie das Krankenhaus nach ihrer hoffentlich letzten Operation verlassen hatte, hatte sie sich daher geschworen, das zu ändern. Sie würde ihr Leben von jetzt ab selbst in die Hand nehmen. Zum Glück hatte sie bis auf einige Routineuntersuchungen wirklich keine ärztliche Hilfe mehr gebraucht. Inzwischen ging es ihr gut. Ihr war klar, dass sie eine der wenigen war, die trotz dieser Krankheit ein normales Leben führen konnten. Weshalb sie den festen Entschluss gefasst hatte, aus jedem Tag das Beste zu machen.

Um unabhängig zu werden, hatte sie von Puffin Island und ihren Eltern wegziehen müssen. Das schien der einzig mögliche Weg zu sein. Also hatte sie es getan.

Und hier war sie jetzt. Sie führte ihr eigenes Leben, und die Dinge liefen gut.

„Los! Wir müssen uns beeilen, sonst kommen wir noch zu spät“, holte Eva sie unsanft aus ihren Gedanken.

Frankie verzog das Gesicht. „Sie kann uns doch wohl kaum die große In-Ihrem-Vertrag-steht-nichts-von-Teilzeit-Rede halten, wenn wir gestern alle bis weit nach Mitternacht geschuftet haben.“

Paige musste gar nicht erst fragen, um wen es ging. Sie war Cynthia, die Event-Direktorin und der einzige Minuspunkt an diesem sonst so wunderbaren Job. Wobei Cynthia ein ziemlich dicker Minuspunkt war, das ließ sich leider nicht leugnen. Sie war ein Jahr nach Paige zu Star Events gekommen. Und kaum war sie zum ersten Mal durch die Agentur stolziert, hatte sich die komplette Atmosphäre verändert. Es war, als hätte jemand toxischen Abfall in einen klaren Bergbach gekippt. Sofort war die gesamte Umgebung vergiftet worden.

„Ich kann immer noch nicht glauben, dass sie die arme Matilda gefeuert hat. Hat eine von euch beiden etwas von ihr gehört?“

„Ich habe versucht, bei ihr anzurufen. Mehrmals sogar“, sagte Eva. „Aber sie geht nicht ans Telefon. Ehrlich gesagt mache ich mir ziemliche Sorgen. Sie hat mir irgendwann mal erzählt, dass ihre Familie kaum Geld hat und es schlimm für sie wäre, wenn sie ihren Job verlieren würde. Leider habe ich ihre Adresse nicht, sonst würde ich heute Abend gleich nach der Arbeit hinfahren.“

„Vielleicht können wir die Adresse noch irgendwie raus finden. Bis dahin wäre es auf jeden Fall gut, wenn du weiter versuchst, sie zu erreichen. Und ich werde heute noch mal versuchen, Cynthia umzustimmen.“

„Okay, dann machen wir es so. Diese verdammte Cynthia! Ich würde gerne mal wissen, was eigentlich ihr Problem ist. Sie ist die ganze Zeit total gereizt. Wenn sie ihren Job dermaßen hasst, warum kündigt sie nicht einfach? Das wäre doch für alle Beteiligten das Beste. Seit sie bei Star Events ist, habe ich ständig das Gefühl, mich entschuldigen zu müssen, selbst wenn ich gar keinen Fehler gemacht habe. Sobald ich sie nur von Weitem sehe, habe ich sofort das Gefühl, dass gerade der weiße Hai auf mich zuschwimmt. Und ich bin nur eine dumme kleine Robbe, die sie gleich mit einem Happs verschlingen wird. Aber vielleicht geschieht ja doch noch ein Wunder, und sie kündigt demnächst.“

Paige schüttelte den Kopf. „Cynthia geht auf keinen Fall freiwillig. Das weiß ich genau. Ich muss ja leider direkt mit ihr zusammenarbeiten. Das ist auch einer der Gründe, warum ich unbedingt befördert werden möchte. Ich kann es kaum erwarten, meine eigenen Kunden zu haben. Dann muss ich nämlich nicht mehr jeden Tag bei Cynthia im Büro antanzen und mich wegen irgendwelcher Fehler rechtfertigen, die ich angeblich begangen habe.“

Mit einem eigenen Team und eigenen Kunden würde sie nicht nur mehr Abstand von Cynthia gewinnen. Sie würde zudem viele wichtige Erfahrungen sammeln. Und das wäre extrem hilfreich, wenn sie eines Tages eine eigene Event-Firma gründen würde, ihre eigene Chefin wäre und endlich die Kontrolle über ihr Leben zurückgewinnen würde.

Natürlich war das bisher nur ein Traum. Von einer eigenen Event-Firma war sie noch meilenweit entfernt. Aber sie würde sich nicht damit begnügen, nur davon zu träumen.

Sie hatte einen Plan.

„Du wirst eine tolle Teamleiterin werden“, sagte Eva in ihrer üblichen großzügigen Art. „Seit du diese Feier für meinen achten Geburtstag organisiert hast, war mir klar, dass du es noch weit bringen wirst. Wobei es natürlich nicht allzu schwer sein dürfte, eine bessere Chefin als Cynthia zu sein. Vor ein paar Tagen hat irgendjemand in der Firma behauptet, dass sie erst zufrieden ist, wenn sie jeden Einzelnen von uns mindestens ein Mal zum Weinen gebracht hat.“ Eva machte eine Vollbremsung vor dem nächsten Schaufenster. Alle Gedanken an Haie und Robben schienen plötzlich vergessen zu sein. Sehnsüchtig betrachtete sie das Einkaufsnirwana, das sich vor ihr erstreckte. „Das Oberteil würde mir doch bestimmt gut stehen, oder?“

„Bestimmt. Aber leider würde es auf keinen Fall mehr in deinen Kleiderschrank passen.“ Paige zog ihre Freundin weiter. „Du musst erst etwas aussortieren, bevor du dir wieder neue Sachen kaufen kannst.“

Eva folgte ihr widerstrebend. „Was kann ich dafür, dass ich sehr schnell eine emotionale Bindung zu Kleidung und anderen Dingen aufbaue?“

Während Paige Evas linken Arm umfasst hielt, übernahm Frankie die rechte Seite, um eine erneute Schaufenster-Vollbremsung zu verhindern. „Sehr interessant“, sagte sie. „Das musst du mir mal erklären. Wie kann man denn eine emotionale Bindung zu irgendwelchen Klamotten aufbauen?“

„Ganz einfach. Wenn irgendetwas Schönes passiert, während ich eine bestimmte Bluse oder einen Rock trage, dann ziehe ich die Sachen wieder an, wenn ich einen Glücksbringer brauche. Als positive Verstärkung sozusagen. Heute zum Beispiel trage ich mein allerbestes Glücks-Shirt, um sicherzustellen, dass Paige eine Beförderung plus eine fette Gehaltserhöhung bekommt.“

„Warum soll ausgerechnet dieses Oberteil Glück bringen?“ „Weil mir sehr schöne Dinge passiert sind, als ich es das letzte Mal getragen habe.“

Frankie seufzte. „Ich will es gar nicht genauer wissen.“ „Gut, denn ich werde es dir auch nicht erzählen. Du musst ja nicht alles über mich wissen. Ich habe eine geheimnisvolle Seite.“ Eva drehte den Kopf und versuchte, einen Blick auf das nächste Schaufenster zu erhaschen. „Könnte ich vielleicht …?“

„Nein, könntest du nicht“, erklärte Paige streng. „Außerdem bist du nicht geheimnisvoll, Ev. Du bist wirklich alles, nur nicht das. Bei dir weiß man immer sofort, was du denkst. Du bist ein offenes Buch.“

„Besser als grausam oder gemein zu sein. Außerdem haben wir doch alle unsere eigenen, persönlichen Süchte. Bei Frankie sind es Blumen und bei dir rote Lippenstifte, Paige.“ Sie blickte auf. „Schöne Farbe übrigens. Der ist neu, oder?“

„Ja, sie heißt Summer Success.“

„Wie passend. Das könnte unser neues Motto werden: ‚Ein erfolgreicher Sommer.‘ Wir sollten heute Abend gleich damit anfangen. Lasst uns ausgehen! Oder denkst du, dass Cynthia dich zur Feier deiner Beförderung zum Essen einlädt?“

„Cynthia vermeidet jeden privaten Kontakt zu ihrem Team.“ Paige hatte unzählige Stunden damit verbracht, ihre Chefin zu verstehen. „In all der Zeit habe ich noch kein einziges Mal mitbekommen, dass sie über jemanden gesprochen hätte, der nichts mit der Arbeit zu tun hat.“

„Glaubst du, sie hat ein Liebesleben?“

„Niemand von uns hat ein Liebesleben. Das ist Manhattan.

Da sind alle viel zu sehr beschäftigt, um noch Zeit für Sex zu haben.“

„Alle außer meiner Mutter“, murmelte Frankie bitter.

„Und Jake“, versuchte Eva schnell, das Thema in eine andere Richtung zu lenken. „Er war neulich auf dem Event für Adams Construction. Der heißeste Typ im ganzen Raum. Noch dazu ist er ziemlich intelligent. Jake ist jemand, der sich bestimmt nicht über mangelnde Streicheleinheiten beklagen muss. Kein Wunder, bei dem Aussehen. Ich kann gut verstehen, warum du als Teenager so verrückt nach ihm warst, Paige.“

Paige fühlte sich, als hätte ihr gerade jemand einen Schlag in den Magen versetzt. „Das ist lange her.“

Jake und sein Liebesleben sollten ihr inzwischen gleichgültig sein. Sollten.

„Die erste Liebe ist ein sehr einprägsames Erlebnis“, sagte Eva. „Das Gefühl vergisst man nie.“

„Das gilt auch für den ersten Liebeskummer. Dieses Gefühl vergisst man auch nie. Und sowieso: Ich war damals noch ein Teenager. Also kannst du jetzt damit aufhören, mich so anzusehen.“

Die ganze Angelegenheit war nicht einfach. Manchmal wünschte sie sich, Jake Romano wäre nicht der beste Freund ihres Bruders.

Wenn er einfach irgendein Junge aus ihrer Highschool gewesen wäre, hätte sie alles längst hinter sich lassen können, darüber gelacht und es einfach vergessen, anstatt diese verflixte Geschichte immer noch hinter sich herzuschleppen wie ein Gefangener, dem eine Eisenkugel ans Bein gekettet wurde.

Selbst jetzt, viele Jahre später, zuckte sie immer noch bei dem Gedanken daran zusammen, was sie zu Jake gesagt hatte. Schlimmer noch: was sie getan hatte.

Unter anderem in unbekleidetem Zustand.

Bei der Erinnerung wäre sie am liebsten im Boden versunken.

Dachte Jake manchmal daran? Sie jedenfalls tat es. Leider viel zu häufig.

Evas Stimme holte sie zurück aus ihren Gedanken.

„Ich wette, er steht bei einer Menge Frauen ganz oben auf dieser Liste der Dinge, die sie unbedingt noch erleben wollen.“

Frankie schüttelte ungläubig den Kopf. „Wenn Leute solche Listen machen, dann geht es um unvergessliche Erlebnisse. Zum Beispiel solche Sachen wie eine Reise zum Machu Picchu oder einen Fallschirmsprung, Ev.“

„Ich wette, ein Kuss von Jake Romano ist ein ziemlich unvergessliches Erlebnis. Besser als ein Fallschirmsprung. Aber ich bin da vielleicht voreingenommen, weil ich unter Höhenangst leide.“

Paige zwang sich, ganz normal weiterzugehen.

Sie würde es nie rausfinden.

Selbst nachdem sie sich ihm in die Arme geworfen hatte, war Jake nicht einmal ansatzweise in Versuchung geraten, sie zu küssen.

Sie hatte davon geträumt, ein wildes Verlangen in ihm zu entfachen. Stattdessen hatte er sie sanft, aber bestimmt ein Stück zurückgeschoben. Um sich dann ebenso lässig von den letzten klammernden Gliedmaßen zu befreien, als würde er ein paar Blätter zur Seite wischen, die der Wind ihm entgegengeweht hatte. Zack und weg. Ganz einfach, ganz leicht.

Am schlimmsten war seine Freundlichkeit gewesen. Die größte Demütigung von allen. Er hatte nicht gegen seine Lust gekämpft, er hatte gegen sie gekämpft. Auch wenn er versucht hatte, das zu überspielen.

Es war das erste Mal gewesen, dass sie „Ich liebe dich“ zu einem Mann gesagt hatte. Und auch das einzige Mal. Sie war sich absolut sicher gewesen, was Jakes Gefühle für sie betraf. Weshalb ihr Irrtum sie umso härter getroffen hatte. Was Männer anging, vertraute sie ihren Instinkten seitdem nicht mehr.

Sie war eine Frau, die sehr, sehr gut auf ihr Herz aufpasste. Sie trieb Sport, aß jeden Tag fünf Portionen Obst und Gemüse. Und ansonsten konzentrierte sie sich auf die Arbeit. Was sowieso viel spannender war, als die wenigen Beziehungen, die sie bisher gehabt hatte.

Vor ihr tauchte ein bekanntes Gebäude auf, und sie blieb stehen. Star Events. Nun war es also so weit. Sie atmete tief durch. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, waren irgendwelche Gedanken an Jake Romano – vor dem wichtigsten Meeting ihres gesamten Arbeitslebens. Denn leider führten Gedanken an diesen Mann gerne mal zu weichen Knien und einem ebenso weichen Hirn, das sie sich heute definitiv nicht leisten konnte.

Eva und Frankie waren neben ihr stehen geblieben. „Da wären wir“, sagte Paige. „Kein Gelächter mehr und kein Gekicher. In dieser Firma sieht man nicht gerne, dass irgendein Mitarbeiter Spaß hat.“

Prompt fingen die beiden an zu kichern. Doch das endete abrupt, als sie die Tür öffneten und sich Cynthia gegenübersahen.

Die Event-Direktorin erwartete sie am Empfang.

Paige zuckte irritiert zusammen.

Es musste doch möglich sein, dass diese Frau wenigstens ein Mal lächelte. War das denn so schwierig – noch dazu an einem Tag wie heute?

Zumindest würde sie sich um Cynthias Launen bald nicht länger kümmern müssen. Und sowieso – trotz ihrer chronisch schlecht gelaunten Chefin war das hier ihr Traumjob. Sie liebte ihre Arbeit. Es war jedes Mal wieder eine Herausforderung, sämtliche Details im Blick zu behalten und ein Event für den Kunden zu etwas ganz Besonderem zu machen. Denn darauf kam es an – jedenfalls ihrer Meinung nach: dass der Kunde am Ende glücklich war. Bereits als Kind hatte sie es geliebt, Partys für ihre Freundinnen zu organisieren. Und jetzt war daraus ihr Job geworden. Ein Job, der innerhalb der nächsten Stunden um einiges größer und verantwortungsvoller werden würde.

Der Gedanke an die neue Verantwortung machte sie nervös. Gleichzeitig wusste sie, dass sie bereit für diesen Schritt war. Sie spürte, wie sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete, während sie schwungvoll den Empfangsraum durchquerte.

Senior-Event-Managerin.

In den letzten Wochen hatte sie sich alles genau überlegt.

Ihr Team würde hart arbeiten. Aber nicht weil ihre Mitarbeiter Angst vor Zurechtweisungen hatten, ganz im Gegenteil: Ihre Leute würden Spaß an der Arbeit haben. Dafür würde sie sorgen. Und als Allererstes würde sie einen Weg finden, wie sie der armen Matilda wieder einen Job verschaffen konnte.

Sie blieb vor Cynthia stehen. „Guten Morgen!“

„Soweit ich weiß, steht in Ihrem Vertrag nichts von einer Teilzeitstelle.“

Keine Begrüßung, kein freundliches Wort. Paige spürte, wie all ihre Vorfreude sich in Luft auflöste.

„Das Event für die Lebensversicherung hat gestern noch ziemlich lange gedauert. Die letzten Gäste sind bis weit nach Mitternacht geblieben. Und heute Morgen waren die U-Bahnen total überfüllt. Also dachten wir …“

„Also dachten Sie, dass Sie die Situation ausnützen können.“ Cynthia warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. Dabei wusste sie haargenau, wie spät es war. „Sie kommen jetzt bitte sofort mit in mein Büro, damit wir diese ganze Angelegenheit schnellstmöglich klären können.“

Ungläubig sah Paige sie an. Die ganze Angelegenheit schnellstmöglich klären? So nannte es Cynthia also, wenn sie jemanden beförderte?

Neben ihr versuchten Eva und Frankie, sich möglichst unauffällig aus dem Staub zu machen. Paige konnte noch hören, wie Eva leise die Titelmelodie aus „Der weiße Hai“ pfiff.

Plötzlich war ihre gute Laune zurück.

Eva und Frankie immer in ihrer Nähe zu wissen war einer der großen Vorteile an ihrem Job.

Während sie Cynthia in Richtung Büro folgte, kam sie an Alice vorbei, die seit einigen Monaten als Junior-Account-Managerin bei Star Events arbeitete.

Überrascht registrierte Paige die geröteten Augen des Mädchens und blieb stehen.

„Alice? Was ist los? Geht es dir …“

Aber Alice lief wortlos an ihr vorbei. Paige nahm sich vor, später noch einmal bei ihr vorbeizugehen und mit ihr zu sprechen. Irgendetwas musste passiert sein.

Vielleicht ein Problem mit ihrem Freund?

Oder irgendetwas bei der Arbeit?

Sie wusste, dass vor allem die jüngeren Mitarbeiter von Star Events noch immer völlig schockiert darüber waren, dass Cynthia Matilda gefeuert hatte. Wegen eines simplen Missgeschicks. Ein Tablett voller Champagnergläser, ein kurzes Stolpern – und schon war Matilda ihren Job los gewesen. Seitdem ging in der Firma die Angst um. Heimlich fragte sich jeder, wen es als Nächsten treffen würde.

Paige folgte ihrer Chefin ins Büro und schloss die Tür hinter sich.

Zum Glück würde sie bald ein eigenes Team haben. Dann konnte sie Cynthia und diesen ganzen Wahnsinn endlich vergessen. Statt Angst zu verbreiten, würde sie ihre Mitarbeiter fair behandeln, damit sie gern zur Arbeit kamen. Ja, genau das würde sie tun. Aber zunächst würde sie den Moment genießen, auf den sie so lange so hart hingearbeitet hatte.

Bitte lass es eine ordentliche Gehaltserhöhung sein!

Eva hatte völlig recht. Nachher mussten sie feiern gehen.

Erst mal etwas trinken, das kühl war und prickelte. Und dann vielleicht tanzen. Sie waren schon ewig nicht mehr tanzen gegangen.

Cynthia griff nach einem Ordner und schlug ihn auf. „Also, Paige: Wie Sie wissen, ist es wichtig, dass Star Event effizient arbeitet. Wir brauchen engagierte Mitarbeiter, müssen dabei aber sehr genau auf die Kosten achten. Wie Ihnen bekannt sein dürfte, befinden wir uns in einem hart umkämpften Markt.“

„Ja, das weiß ich. Und ich habe mir auch schon einige Gedanken zu dem Thema gemacht.“ Paige griff nach ihrer Tasche, aber Cynthia schüttelte den Kopf und hob die Hand.

„Sie müssen gehen, Paige.“

„Gehen? Wohin denn?“ Sie war wie vor den Kopf geschlagen. Der Gedanke, dass ihre Beförderung einen Ortswechsel mit sich bringen könnte, war ihr noch gar nicht in den Sinn gekommen. Paige schluckte. Star Events hatte nur eine einzige Filiale. Und die befand sich in Los Angeles, auf der anderen Seite des Landes. Damit hatte sie wirklich nicht gerechnet. Sie liebte New York City, liebte es, hier zu leben und jeden Tag zusammen mit ihren Freundinnen verbringen zu können. „Ich dachte, ich könnte hierbleiben. In Los Angeles zu leben wäre eine große Umstellung für mich.“ Obwohl sie vermutlich auch bereit sein musste, sich auf eine neue Situation einzulassen, wenn sie eine Beförderung wollte. Vielleicht sollte sie um etwas Bedenkzeit bitten. Das wäre doch verständlich, unter den Umständen, oder etwa nicht?

Cynthia blätterte eine Seite in dem Ordner um. „Wie kommen Sie darauf, dass Sie nach Los Angeles ziehen sollen, Paige?“

„Sie haben doch gesagt, dass ich gehen soll.“

„Richtig. Star Events muss sich leider von Ihnen trennen.“ Paige starrte ihre Chefin an. „Wie bitte?“

„Wir verkleinern uns, um Personalkosten zu sparen.“ Cynthia blätterte weiter in ihrem Ordner und vermied es geflissentlich, Paige anzusehen. „Um es ganz direkt zu sagen: Unsere Auftragslage fällt. Das betrifft alle Event-Firmen. Überall werden jetzt Mitarbeiter gehen müssen.“ Gekündigt.

Sie wurde nicht befördert und auch nicht nach Los Angeles geschickt.

Sie musste gehen.

Plötzlich war da dieses Rauschen in ihren Ohren. „Aber“, brachte Paige mühsam hervor, „ich habe in den letzten sechs Monaten acht neue Klienten an Land gezogen. Dadurch konnte die Firma den Umsatz steigern. Außerdem …“

„Wir haben Adams Construction als Klienten verloren.“ „Was?“, fragte Paige schockiert.

Chase Adams war der Eigentümer der größten und erfolgreichsten Baufirma in Manhattan. Außerdem war er einer der wichtigsten Kunden von Star Events. So wichtig, dass bei einem Event für ihn nichts – aber auch gar nichts – schiefgehen durfte. Deshalb war die arme Matilda ja gefeuert worden. Weil sie in Cynthias Augen den unverzeihlichen Fehler begangen hatte, ausgerechnet auf einer Veranstaltung für Chase Adams mit ihrem Tablett voller Champagnergläser zu stolpern.

So war das eben mit dem Karma: Erst hatte Cynthia dafür gesorgt, dass Matilda ihren Job verlor. Und kurz darauf hatte Cynthia selbst einen der wichtigsten Kunden verloren.

Dumm nur, dass sie diejenige war, die jetzt den Preis für diese kosmische Gerechtigkeit zahlen musste.

„Leider fehlten mir die Argumente, um Chase davon zu überzeugen, bei uns zu bleiben“, fuhr Cynthia fort. „Dafür hat dieses Mädchen gesorgt. Wie kann man nur so unachtsam sein!“

„Chase Adams hat sich von uns getrennt, weil Matilda gestolpert ist? Das war seine Begründung? Eine einzige Panne, und schon wechselt er die Agentur?“

„Nun“, entgegnete Cynthia kühl. „Ein umgestoßenes Glas könnte man vielleicht noch als Panne bezeichnen. Aber ein ganzes Tablett? Das ist keine Panne mehr, sondern die reinste Katastrophe. Chase hat darauf bestanden, dass das Mädchen verschwindet. Natürlich habe ich versucht, ihn noch umzustimmen. Aber darauf hat er sich nicht eingelassen. Dem Mann gehört halb Manhattan. Er ist einer der mächtigsten Männer der Stadt.“

„Und trotzdem hatte er es nötig, Matildas Existenz zu zerstören?“ Paige spürte, wie sie so langsam richtig wütend wurde. Sie presste die Lippen zusammen, damit ihr kein falsches Wort entschlüpfte. Matilda traf gewiss keine Schuld.

„Wie auch immer. Das ist vorbei. Selbstverständlich werden wir Ihnen sehr gute Referenzen für Ihren nächsten Job ausstellen.“

Für den nächsten Job?

Das hier war der Job, den sie wollte. Es war der Job, den sie liebte und für den sie alles gegeben hatte.

Ihr Mund war so trocken, dass es ihr schwerfiel, überhaupt ein Wort hervorzubringen. Gleichzeitig konnte sie spüren, wie ihr Herz gegen den Brustkorb hämmerte und sie unbarmherzig daran erinnerte, wie leicht ein Leben zu zerstören war. Heute Morgen hatte sie das Gefühl gehabt, sie würde die Welt in ihren Händen halten. Und jetzt drohte ihr die Kontrolle über ihr Leben zu entgleiten.

Es war dieses vertraute Gefühl: Andere Menschen entschieden über ihre Zukunft. Hinter geschlossenen Türen hatten Gespräche stattgefunden, von denen sie nichts wusste. Und wenn ihr schließlich irgendwann das Ergebnis mitgeteilt wurde, erwarteten alle von ihr, dass sie vernünftig reagierte und sich in ihr Schicksal fügte, ohne aufzubegehren oder durchzudrehen.

Bisher hatte sie das auch immer getan. Inzwischen war sie schon Expertin darin. Wie ein Computer, der automatisch in den Schlafmodus schaltete.

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