Für immer an Eurer Seite, Hoheit

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Jahrelang hat Gabrielle vor jedem geheim gehalten, dass sie die Prinzessin von Mirinez ist. Sie genießt ihr zurückgezogenes Leben fernab den urteilenden Blicken der Öffentlichkeit und liebt ihren Job als Ärztin. Doch ausgerechnet, als es endlich zwischen ihr und ihrem Kollegen, dem smarten Dr. Sullivan Darcy, funkt, bekommt Gabrielle die erschütternde Nachricht: Ihr Bruder hat abgedankt, und von heute auf morgen muss sie ein Land regieren! Für ihre junge Beziehung mit Sullivan bedeutet das die Feuerprobe …


  • Erscheinungstag 24.08.2021
  • Bandnummer 172021
  • ISBN / Artikelnummer 9783733718961
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Es ist ein Notfall, Sullivan. Wirklich.“

Sullivan lachte auf, schüttelte den Kopf und fuhr sich mit den Fingern durch sein feuchtes Haar. Mit dem Mobiltelefon am Ohr ließ er den Blick ziellos über die Innenwand des khakifarbenen Zeltes streifen. „Es ist immer ein Notfall, Gibbs.“

Jetzt lachte auch Gibbs. „Dieses Mal wirklich. Asfar Modarres ist zusammengebrochen. Der Darm. Wir haben ihn gerade noch rechtzeitig ausfliegen lassen.“

Angespannt begann Sullivan, auf und ab zu schreiten. „Geht es ihm gut?“ Er mochte Modarres. Der iranische Arzt hatte zeitgleich mit ihm bei Ärzte ohne Grenzen angefangen. Sie waren nie gemeinsam auf einem Einsatz gewesen, aber Sullivan kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er seinen Job mit Leidenschaft machte.

„Ich denke schon. Er wurde vor ein paar Stunden operiert.“ Gibbs holte tief Luft. Sullivan lächelte. Jetzt kommt’s.

„Jedenfalls dauert der Einsatz noch zwei Wochen, und ohne ihn ist jetzt nur noch ein Arzt vor Ort. Wir befinden uns in einer kritischen Phase. Die Infektionsrate mit der multiresistenten Form von Tuberkulose ist in Narumba beunruhigend hoch. Wir brauchen noch eine helfende Hand.“

Sullivan schüttelte den Kopf und lief weiter im Zelt herum. „Ich bin Chirurg, Gibbs, kein Internist. Mit Tuberkulose hatte ich das letzte Mal im Medizinstudium zu tun. Ich weiß so gut wie nichts über diese Krankheit – und erst recht nichts über die resistenten Formen.“

Das war kein Scherz. Ginge es um einen chirurgischen Einsatz, würde er keine Sekunde zögern. Als Militärchirurg hatte er die schrecklichsten Verletzungen behandelt, oft unter extremen Bedingungen. Niemand hatte jemals seine Fähigkeiten infrage gestellt. Das konnte er mit Stolz behaupten.

Aber wenn man ihn ins kalte Wasser warf?

„Wir brauchen einen Arzt, Sullivan. Und du bist einer. Es gibt sowieso niemand anderen, den ich hinschicken kann.“ Gibbs zögerte. „Und da wäre noch etwas.“

„Was?“

„Narumba kann … schwierig sein.“

Sullivan runzelte die Stirn. „Spuck’s aus, Gibbs.“

„Die Ärztin ist Gabrielle Cartier. Lucy Propan und Estelle Duschanel sind die beiden Krankenschwestern, und die Apothekerin heißt Gretchen Koch.“

Sullivan stöhnte auf. Vier Frauen auf sich allein gestellt.

Die Stämme von Narumba waren sehr traditionell. Einige der Stammesanführer würden mit den Frauen aus dem Westen wahrscheinlich nicht einmal sprechen wollen. Das Sicherheitsrisiko war real: Vor ein paar Monaten hatte eine Kollegin von Feindseligkeiten auf einem Einsatz berichtet.

Er musste nicht länger überlegen. Auf keinen Fall würde er die vier zwei Wochen lang allein lassen. Sein Vater hätte die eigenen Kollegen niemals einem Risiko ausgesetzt. Verantwortungsgefühl hatte Sullivan von ihm gelernt. Ganz ohne Worte.

„Na gut. Überredet. Wann kannst du den Transport organisieren?“

„Ich sende dir unsere aktuellen Informationen und Protokolle zur Tuberkulose.“ Gibbs klang erleichtert und sprach jetzt schneller. „Du kannst sie unterwegs lesen. Der Helikopter holt dich in fünfzig Minuten ab.“

Die Verbindung brach ab. Sullivan starrte auf sein Handy.

Fünfzig Minuten. Offensichtlich hatte Gibbs den Piloten schon losgeschickt, bevor er ihn, Sullivan, angerufen hatte.

Es schien fast so, als hätte er gewusst, dass zu Hause niemand auf Sullivan wartete.

Vor drei Jahren war sein Vater gestorben. Sullivan hatte die Nachricht in Afghanistan erhalten, während eines Einsatzes mit den US-Streitkräften. Er war nach Hause geflogen und dabei gewesen, als sein Vater mit militärischen Ehren beerdigt wurde. Er war ein herausragender Pilot gewesen.

Als der Einsatz in Afghanistan abgeschlossen war, hatte Sullivan seine Militär-Karriere beendet und war Ärzte ohne Grenzen beigetreten.

Seither war er gerade einmal neunzehn einzelne Tage lang zu Hause gewesen. Er hatte immer noch nicht die Schränke seines Vaters ausgeräumt oder irgendetwas zusammengepackt.

Sullivan warf das Handy auf seine Pritsche und nahm die Tasche vom Schrank herunter.

Er brauchte nicht viel Gepäck.

Sobald der Helikopter wieder in den blauschwarzen Nachthimmel abhob und die Luftverwirbelungen der Rotorblätter die Bäume um Sullivan flachdrückten, hörte er die Musik.

Er neigte den Kopf und versuchte herauszufinden, aus welcher Richtung sie kam. Vom Landeplatz aus führte nur ein Pfad zwischen den Bäumen hindurch.

Er folgte diesem Weg, während die Musik mit jedem Schritt lauter wurde, bis er schließlich auf die Lichtung mit den Zelten kam. In genau einem solchen Zelt hatte er sich auch vor drei Stunden aufgehalten, einige hundert Kilometer entfernt von hier.

Sullivan schaute sich um. Der Aufbau der Camps war an jedem Einsatzort nahezu gleich. Ein Küchenzelt. Waschräume und Duschen. Ein Operationszentrum und Schlafzelte für die Mitarbeiter.

Der Eingang zu einem der Zelte stand offen, von hier schien die Musik zu kommen. Sullivans Neugier war geweckt.

Eine Frau stand mit dem Rücken zu ihm, und sein Blick fiel direkt auf ihre nackten, gebräunten Beine. Sie trug ein rosafarbenes T-Shirt, das über ihren Hüften zusammengeknotet war und ihre wohlgeformte Taille betonte. Ihr dunkles Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und hüpfte bei jeder ihrer Bewegungen mit. Die khakifarbenen Shorts fielen ihm sofort ins Auge – den fransigen Rändern nach zu urteilen waren sie einmal eine lange Hose gewesen.

Die Füße der Frau steckten in einem Paar schwerer schwarzer Militärstiefel und bewegten sich im Takt der Musik. Jetzt wippte sie auf den Zehenspitzen. Sie tanzte nicht nur zu dem Song von Justin Timberlake, sie sang auch noch lauthals dazu. Und die Schritte, die sie machte, waren eine richtige Choreografie.

Er stellte seine Tasche auf dem Boden ab, verschränkte belustigt die Arme vor der Brust und sah dabei zu, wie sie von einer Seite zur anderen glitt und exakt so tanzte wie Justin Timberlake in seinem Musikclip. Sie hatte Rhythmusgefühl. Und sie hatte Stil.

Und seine volle Aufmerksamkeit.

Sein Herzschlag beschleunigte sich. Dieser Notfalleinsatz hatte eben begonnen, interessant zu werden.

Er konnte fast spüren, wie die Hormone durch seinen Körper strömten. Er musste lächeln. Zum ersten Mal seit langer Zeit regte sich wieder etwas in ihm. Er genoss das Gefühl.

Wer war sie noch einmal? Er ging die Namen, die Gibbs ihm genannt hatte, im Kopf durch. Gabrielle vielleicht? Seit drei Jahren war er schon bei Ärzte ohne Grenzen, aber bei über 30.000 Mitarbeitern in 70 Ländern war es unmöglich, jeden kennenzulernen.

Ärzte ohne Grenzen ermöglichte eine medizinische Versorgung bei bewaffneten Konflikten, Epidemien, Naturkatastrophen und anderen Krisensituationen. Es gab auch Langzeitprojekte, um Gesundheitskrisen zu bewältigen und den Menschen zu helfen, denen sonst niemand helfen konnte.

Jeder Tag war anders. Sullivan hatte gerade drei Monate an einer Station für Brandopfer gearbeitet. Davor war er in Haiti und Syrien im Einsatz gewesen.

Jetzt hob die junge Frau ihre Hände über den Kopf, sodass noch mehr von ihrer Taille und ihren geschwungenen Hüften zu sehen war. Sein Lächeln wurde breiter.

Dieses Mädchen wusste, wie man sich bewegte. Rhythmisch schob sie die Hüften hin und her, wippte mit dem Kopf von einer Richtung zur anderen – sie tanzte mit vollem Körpereinsatz.

Wären sie jetzt in einem Club, hätte er vermutlich der Versuchung widerstehen müssen, sich hinter sie zu stellen, seinen Körper gegen ihren zu drücken und mitzumachen. Aber sie waren nicht in einem Club. Sondern mitten im Dschungel von Narumba.

Nun überkreuzte sie die Füße in den klobigen Stiefeln und drehte sich. Offenbar sollte es eine ganze Umdrehung werden, aber als sie die ihr unbekannte Person hinter sich erblickte, zuckte sie zusammen und verlor auf halbem Weg das Gleichgewicht.

Instinktiv trat er einen Schritt nach vorn, fing sie am Ellenbogen auf, bevor sie auf dem Boden landen konnte, und zog sie zu sich hoch.

Sie hatte schöne große Augen, und ihre Haut fühlte sich weich an. Ein blumiger Duft umgab sie. Die Hand, die sie ausgestreckt hatte, um den Sturz abzufangen, lag nun auf seiner Brust.

Einen Augenblick lang standen sie beide wie erstarrt da. Die Musik lief in voller Lautstärke weiter, und die schwüle Luft zwischen ihnen war wie elektrisch geladen.

Ihre Augen waren so dunkel, dass sie fast schwarz wirkten. Sie passten zu ihrer gebräunten Haut und ihrem dunklen Haar. Für den Bruchteil einer Sekunde schien die Wärme ihrer Handfläche durch den dünnen Stoff seines T-Shirts bis in seinen Körper zu dringen.

Dann schnappte sie nach Luft und trat einen Schritt zurück.

„Gabrielle?“

Als ob es nicht schon genug wäre, dass plötzlich ein Unbekannter vor ihr stand, der aussah wie ein Filmstar. Nein, der Klang seiner tiefen rauen Stimme durchfuhr sie wie ein Blitz, der direkt in ihr wild klopfendes Herz schoss.

Sie brauchte einen Augenblick, um wieder zu Atem zu kommen.

Verdammt. Er lächelte sie an. Ein perfektes strahlend weißes Lächeln.

Ihre Hand kribbelte dort, wo sie eben noch seine festen Brustmuskeln gespürt hatte. Der Mann war groß, schlank und kräftig. Bestimmt war sein ganzer Körper so muskulös wie seine Brust.

Er trug khakifarbene Hosen im Army-Style und ein dünnes dunkelgrünes T-Shirt. Mit seinen kurz geschorenen Haaren, seinem Auftreten und der selbstbewussten Ausstrahlung wirkte er wie jemand, der beim Militär gewesen war.

Er streckte ihr die Hand hin. „Darf ich um diesen Tanz bitten?“

Sie brauchte einen Moment, bis sie wieder klar denken konnte. Dann drehte sie sich um, um die Musik leiser zu drehen.

Lieber Himmel. Wie musste sie ausgesehen haben?

Bei der Arbeit trug sie zwölf Stunden lang hochgeschlossene Kleidung, die ihren gesamten Körper bedeckte. Nicht einmal die Knöchel schauten hervor. Wenn sie ins Lager zurückkehrte, brauchte sie sofort eine Dusche, etwas zu essen und luftige, bequeme Sachen.

Sie holte tief Luft, drehte sich wieder zu ihm um und lächelte ihn an, während sie ihm die Hand entgegenstreckte. „Ja, ich bin Gabrielle. Leider weiß ich nicht, wer du bist.“

Er runzelte die Stirn. „Hat Gibbs dir nicht Bescheid gesagt?“

Sie nickte und stemmte die Hände in die Hüften. „Oh doch, das hat er.“ Sie formte mit den Fingern Anführungszeichen in der Luft. „Ich kann euch Mädels dort nicht alleine lassen. Ich werde euch jemanden schicken.“ Dann neigte sie den Kopf zur Seite. „Ich schätze, dieser Jemand bist du.“

Kurz schaute er sich im Zelt um und blickte dann nach draußen, um sich einen Überblick über das Camp und die Umgebung zu verschaffen. Dann wandte er sich wieder ihr zu. „Genau. Ich bin Sullivan Darcy.“

Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Gibbs hat mir meinen persönlichen Mr. Darcy geschickt?“

Er sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an, während sie weiterredete, mit ihrem melodischen Akzent: „US Army?“

Er nickte. „Ja, früher. Jetzt bin ich bei Ärzte ohne Grenzen.“

Sie nahm ein paar Dokumente vom Tisch. „Was ist dein Schwerpunkt? Medikamente? Infektionskrankheiten?“

Er schnitt eine Grimasse. „Es wird dir nicht gefallen.“

Sie verspürte ein mulmiges Gefühl in der Magengrube. „Wieso nicht?“

„Ich bin Chirurg.“

„Oh.“ Ihr Magen drehte sich beinahe um. Unter anderen Umständen wäre ein Chirurg toll gewesen, aber im Moment war er wohl leider nicht der Mann, den das Team brauchte.

Sie biss sich auf die Unterlippe und suchte nach den richtigen Worten.

Er machte einen Schritt auf sie zu. „Aber wenn es dich beruhigt, ich habe einen Auffrischungskurs gemacht und auf dem Weg hierher alle Protokolle gelesen. Ich brauche nur ein paar Anweisungen und muss wissen, welche Medikamente ich verschreiben soll. Dann stehe ich dir voll und ganz zu Diensten.“

Er breitete die Arme aus, als wollte er sie einladen.

Und Gabrielle spürte ein Kribbeln im Bauch.

Die Einsätze waren anstrengend, die Pausen zwischendrin nur kurz. Gabrielle wusste nicht, wann sie das letzte Mal auch nur daran gedacht hatte, mit jemandem zu flirten. Oder jemanden zu umarmen.

Auch wenn er nur ein Chirurg war: Ihr persönlicher Mr. Darcy kam ihr gerade wie gerufen …

Sie hatte wirklich Glück. Anders als ihr Bruder hatte sie nie unter dem Druck gestanden, den perfekten Partner zu finden, zu heiraten, eine Familie zu gründen und ein Land zu regieren. Sechzehn Jahre lang als Prinzessin von Mirinez im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, hatten ihr gereicht.

Danach war sie an die Cambridge University gegangen, um Medizin zu studieren. Seitdem kam sie nur zu Hochzeiten, Beerdigungen und ein paar weiteren Veranstaltungen nach Hause. Das größte Glück aber war: Mirinez hatte das Interesse an ihr verloren. Schon seit Jahren tauchte sie nicht mehr in der Presse auf. Sie war frei! Und so sollte es auch bleiben.

Er blickte sie mit seinen grünen Augen an. „Dein Akzent … ist er französisch?“

Gabrielle zuckte mit den Achseln. „So ähnlich.“

Schnell zog sie einen Stuhl vom Tisch und bedeutete ihm, sich hinzusetzen, bevor er sie noch weiter ausfragte. „Konzentrieren wir uns auf das, was in den nächsten zwei Wochen ansteht.“

Sie lächelte ihm zu. Er trat näher, bis seine Brust nur ein paar Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt war. Ein verführerischer männlicher Duft stieg ihr in die Nase. Es war eine Kombination aus Seife, Deodorant und Aftershave, die ihre Sinne benebelte.

Ihm schien die Nähe nichts auszumachen. Sie hatte den Eindruck, dass es ihm sogar gefiel. Der dünne Stoff seines T-Shirts, der seine breite Brust bedeckte, streifte ihren Arm, als er sich setzte. „Also, wie gesagt. Sag mir, was ich tun soll, und ich bin dein Mann.“

Schnell schob sie die Gedanken beiseite, die ihr in den Sinn kamen, und holte eine Karte hervor. Mit dem Finger umkreiste sie einzelne Gebiete. „Hier, hier und hier sind wir schon fertig. In den nächsten zwei Wochen müssen wir uns um dieses Gebiet hier kümmern und um das nördlich des Flusses. Wir rechnen mit etwa siebenhundert Patienten am Tag.“

Sie war froh, dass er nicht zurückschreckte, als sie ihm diese große Zahl nannte.

Er griff nach der Karte, um sie sich genauer anzusehen, streifte dabei mit den Härchen auf seinem Arm ihre Hand.

Oops. Sie zuckte kaum merklich zusammen.

„Wie laufen die Behandlungen ab?“, wollte er wissen.

„Die Tuberkulosebehandlung ist hart. Wir teilen die Aufgaben untereinander auf. Wir haben zwei Krankenschwestern, ein paar einheimische Freiwillige …“, sie runzelte die Stirn, „… und nur einen Dolmetscher.“

Er machte eine Handbewegung. „Mein Persisch ist ganz passabel, und Narumbi ist sehr ähnlich, das kriege ich schon hin.“

„Du bist also ein Sprachtalent?“

Er sah sie belustigt an. „Überrascht dich das?“, fragte er herausfordernd. Seine Augen funkelten.

Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.

„Ich spreche zehn Sprachen.“

„Zehn?“ Sie blinzelte.

„Ich war bei der Marine“, erwiderte er achselzuckend. „Da kommt man viel rum. Sprachen habe ich immer schnell aufgeschnappt. Das musste man auch, sonst war man außen vor.“

Sie presste die Lippen aufeinander und schob die Papiere zusammen.

Interessant, dachte Sullivan. Offensichtlich hatte er bei ihr einen wunden Punkt getroffen.

„Lucy und Estelle kümmern sich hauptsächlich um die Patienten. Gretchen gibt die Medizin aus. Die Freiwilligen kümmern sich um die Organisation und werten die Tests aus.“

Sie klappte einen Laptop auf. Eine Tabelle erschien auf dem Bildschirm. Gabrielle fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und spürte, dass er sie aufmerksam beobachtete. Es lenkte sie mehr ab, als es sollte.

„Wir nehmen an, dass sechzig Prozent der Bevölkerung an einer Form von Tuberkulose erkrankt ist. Manche zeigen Symptome, manche nicht. Und einige Formen der Krankheit …“, sie seufzte, „… sind multiresistent.“

„Wie hoch ist der Anteil?“

Sie nickte langsam. Anscheinend hatte er tatsächlich etwas von der Information gelesen, die Gibbs ihm geschickt hatte. „Ungefähr zwölf Prozent.“

„So viele?“ Er konnte seine Verwunderung nicht verbergen. Er hatte gewusst, dass die Wirkstoffresistenz überall auf der Welt stieg. Aber dieser Wert war höher, als er erwartet hatte.

„Sag mir, was ich machen soll.“ Sullivan spürte, dass er nervös wurde. Und er war normalerweise nicht der Typ, der nervös wurde. Normalerweise war Sullivan Darcy der Experte, der sein Fachgebiet in- und auswendig kannte. Doch der süße blumige Duft, der von Gabrielle ausging, ließ seine Konzentration schwinden.

Gabrielle nickte und fuhr sich wieder mit der Zunge über ihre rosafarbenen Lippen. Sie zog eine Schublade neben sich auf und nahm eine Art Kühlakku heraus. Er sah zu, wie sie ihn auseinanderfaltete und der größte Schokoriegel zum Vorschein kam, den er je gesehen hatte.

Sie lächelte ihn frech an. „Ich mag keine geschmolzene Schokolade.“ Sie brach ein Stück ab und reichte es ihm. Automatisch streckte Sullivan die Hand aus und nahm es.

„Ich hätte dich nicht für einen Schokoladen-Junkie gehalten.“

Sie zuckte mit den Achseln, ihre braunen Augen glänzten im künstlichen Licht, das das Zelt erhellte. „Ich habe viele Geheimnisse. Du musst nur geduldig sein, dann wirst du sie erfahren.“

Beinahe verschluckte er sich an der Schokolade, die er sich gerade in den Mund geschoben hatte.

Dann lehnte er sich zurück und streckte den Arm aus, um die Musik wieder lauter zu drehen. „Ich sehe schon, Justin und ich werden noch richtig gute Freunde.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und lächelte sie an.

2. KAPITEL

Normalerweise schlief Gabrielle wie ein Baby. Diese Fähigkeit hatte sie sich innerhalb der letzten sechs Jahre während der Arbeit für Ärzte ohne Grenzen angeeignet. Und es war eine geradezu grundlegende Fähigkeit für ihre Arbeit. Niemand brauchte eine übermüdete, schlecht gelaunte Ärztin.

Heute lag sie jedoch schon seit vier Uhr dreißig wach. Sie lauschte auf Sullivans Atem im Zelt nebenan.

Das war nicht normal. Das konnte nicht normal sein.

Die meisten Männer, denen sie bisher begegnet war, hatten einen Zweck erfüllt. Gabrielle war sehr wählerisch. Sie wollte keinen, der Geschichten an die Presse verkaufte. Keinen, der insgeheim mit einer Prinzessin zusammen sein wollte. Sie bevorzugte Männer, die an eher kurzen Affären interessiert waren. Maximal sechs Monate. Genug Zeit, um sich ein bisschen kennenzulernen und miteinander intim zu werden. Keine Versprechen, keine Heiratsabsichten und keine unnötigen Streitereien.

Immer war sie diejenige gewesen, die alles unter Kontrolle gehabt hatte.

Noch nie war sie auf Anhieb von jemandem so hingerissen gewesen. Normalerweise war ein unschuldiges Flirten genau nach ihrem Geschmack.

Aber mit Sullivan Darcy war es anders. Er löste eine ganze Welle von Gefühlen in ihr aus, denen sie sich ausgeliefert fühlte. Und für eine Frau, die es gewohnt war, die Kontrolle zu behalten, war das extrem verwirrend.

Sie war sauer auf sich selbst. Ihre Tanzeinlage sprach in seinen Augen sicher nicht gerade für ihre Professionalität. Gibbs hatte ihr nichts über den Arzt erzählt, den er schicken wollte, und gestern Abend hatte sie ohnehin noch nicht mit ihm gerechnet.

Als Ärztin hatte sie mit vielen Kollegen zusammengearbeitet, die Experten auf ihrem Gebiet waren, genauso wie sie. Aber noch nie hatte sie einen Mann getroffen, der klüger zu sein schien als sie.

Das Sprachgenie kam ihr wie eine Art Bedrohung vor. Und das bereitete ihr Bauchschmerzen. Sie war nicht sicher, ob es einfach nur die Anziehungskraft war – oder vielleicht doch ein kleines bisschen Neid?

Sie klappte ihren Laptop auf, um die Patientenliste für heute zu überprüfen, überflog die Tabelle. Nie nahm die Arbeit ein Ende. Tuberkulose war eine gnadenlose Krankheit.

„Alles fertig.“ Die Apothekerin Gretchen erschien im Zelteingang. Sie lächelte. „Ich habe gerade unseren neuen Arzt kennengelernt.“ Sie blinzelte Gabrielle zu. „Der ist ja zum Anbeißen.“

Gabrielle lachte. Gretchen und sie arbeiteten schon seit sechs Jahren bei Ärzte ohne Grenzen zusammen. Dies war nicht der erste Einsatz, bei dem sie gemeinsam gegen Tuberkulose kämpften.

„Ich weiß nicht, wovon du redest“, behauptete Gabrielle. „Ich bin viel zu beschäftigt mit der Arbeit, um mir Gedanken über einen neuen Arzt zu machen.“

Gretchen hob tadelnd den Finger. „Vielleicht wäre es keine schlechte Idee, sich mal ein wenig Abwechslung zu gönnen.“

„Gretchen!“ Die Angesprochene duckte sich gerade rechtzeitig, um dem Papierball auszuweichen, den Gabrielle nach ihr warf.

Plötzlich ertönte ein tiefes Lachen hinter ihnen. Sullivan stand mit dem zerknüllten Ball in der Hand da. „Gibt es etwas, das ich wissen sollte?“

Gabrielle spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Sie fühlte sich wie ein ertappter Teenager. Schnell stand sie auf und schnappte sich Laptop und Rucksack. „Nein, nichts. Kommen Sie, Dr. Darcy. Gehen wir an die Arbeit.“

Lächelnd schüttelte er den Kopf und warf sich seinen Rucksack über die Schulter. „Nichts lieber als das.“

Als sie bei ihrem ersten Stopp angekommen waren und alles aufgebaut hatten, nahm sie ihn beiseite. „Du weißt, wie der Laden läuft. Eine normale Tuberkulose ist schon schlimm genug. Jedes Jahr sterben mehr als eine Million Menschen daran. Und weitere neun Millionen sind infiziert, vor allem in Entwicklungsländern wie Narumba. Das Problem ist, dass sich immer mehr multiresistente Erreger ausbreiten. Unsere normalen Medikamente sind dagegen wirkungslos. Und weil TBC beim Husten und Niesen übertragen wird, ist es praktisch unmöglich, die Ausbreitung zu stoppen.“

Gabrielle war ganz in ihrem Element. Sie sprach einerseits mit Begeisterung, andererseits aber auch mit Wut über die Krankheit.

„Seit hundert Jahren wird der immer gleiche, unzuverlässige Test benutzt. Es gibt einen neuen, aber der ist leider nur für Erwachsene geeignet, mit Kindern müssen wir den alten machen und können, wenn nötig, noch den Brustkorb röntgen. Hauptsächlich schauen wir uns aber die Symptome und den Krankheitsverlauf an.“

Er nickte. Er hatte noch mehr Notizen gelesen, in der vergangenen Nacht, als er wieder einmal nicht schlafen konnte.

Jetzt redete sie schneller. „Die Symptome kennst du, oder? Anhaltender Husten, Fieber, Gewichtsverlust, Schmerzen in der Brust und Atemnot. Bevor du etwas verschreibst, musst du den Patienten erstmal untersuchen.“ Sie zeigte auf einen Stapel Blätter. „Wir haben eine Liste für Erwachsene und eine für Kinder.“

Er blinzelte und schaute auf die Listen. „So viele Patienten hast du am Tag?“

Sie nickte. Ihr braunes Haar war zu einem Zopf zusammengebunden. Trotz der brütenden Hitze trug sie ein hochgeschlossenes, langärmliges Hemd und lange Hosen. Er hingegen hatte kurze Hosen und ein T-Shirt an, doch trotzdem rannen ihm Schweißtropfen über den Rücken.

„Dann mal los“, sagte er.

Sie nickte. „Fangen wir an. Wir müssen so viele Menschen wie möglich behandeln.“

Es war erst sieben Uhr morgens, und draußen standen die Patienten schon Schlange.

Vier Stunden später hatte er bereits so viele Kinder untersucht, dass er sie nicht mehr zählen konnte. Trotz pausenloser Arbeit wurde die Schlange draußen immer länger.

Er mochte es, wenn viel zu tun war. Lange Tage waren ihm lieber als lange Nächte. Vielleicht würde er heute Abend so erschöpft sein, dass er nachts ein paar Stunden schlafen konnte.

Die nächste Person kam herein. Es war eine Frau. Sie hielt ihr Kind an die Brust gedrückt.

Er nickte ihr zu und sagte in der Landessprache: „Ich bin Mr. Darcy, einer der Ärzte. Wie heißen Sie? Und wie heißt Ihr Sohn?“

Als sie hörte, dass er ihre Sprache beherrschte, lächelte sie ihm unsicher zu. „Ich bin Chiari. Das ist Alum. Er ist krank.“

Sullivan nickte und streckte die Hände nach dem kleinen Jungen aus, um ihn auf den Arm zu nehmen. „Wie alt ist er?“

„Vier“, antwortete die Frau.

Sullivan blinzelte. Der Junge sah aus wie ein Zweijähriger. Durch die Krankheit hatte er sehr viel Gewicht verloren. Sullivan nahm sein Stethoskop und hörte vorsichtig die Brust des Kindes ab. Das Rasseln war eindeutig, und die Lymphknoten an seinem Hals waren geschwollen. Sullivan wandte sich wieder an die Mutter. „Hat noch jemand aus der Familie Symptome?“

Die Gesichtszüge der Frau verhärteten sich. „Mein Mann ist letzten Monat gestorben.“

Er nickte mitfühlend. Ein plötzliches Schmerzgefühl überwältigte ihn. Er kannte den Ausdruck in ihren Augen. Er hatte ihn oft genug in seinen eigenen Augen gesehen, wenn er in den Spiegel schaute. Doch jetzt war keine Zeit dafür. Er musste sich auf die Arbeit konzentrieren.

„Und Sie? Wurden Sie getestet?“

Die Frau schüttelte den Kopf und sah besorgt zu ihrem Sohn. „Ich habe keine Zeit, um mich testen zu lassen. Ich muss mich um Alum kümmern.“

Sullivan legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm.

„Das verstehe ich. Wirklich. Das mit Ihrem Mann tut mir sehr leid. Aber wir müssen sichergehen, dass es Ihnen gut genug geht, um sich um Alum zu kümmern. Wir können Sie beide gleichzeitig behandeln.“ Er warf einen Blick nach draußen. „Ich sage einer der Schwestern, dass sie einen Test mit Ihnen machen soll. Es ist ein neuer Test, das Ergebnis haben wir schon in ein paar Stunden. Dann können wir sofort mit der Behandlung beginnen.“

Er schickte ein Stoßgebet gen Himmel in der Hoffnung, es möge keine multiresistente Tuberkulose sein. Denn wenn es eine war, hatte ihr Sohn sie mit großer Wahrscheinlichkeit auch. In dem Fall wäre die Behandlung belastend und langwierig.

„Was ist mit Alum? Isst er normal? Hat er nachts Schweißausbrüche?“

Autor

Scarlet Wilson

Scarlet Wilson hat sich mit dem Schreiben einen Kindheitstraum erfüllt, ihre erste Geschichte schrieb sie, als sie acht Jahre alt war. Ihre Familie erinnert sich noch immer gerne an diese erste Erzählung, die sich um die Hauptfigur Shirley, ein magisches Portemonnaie und eine Mäusearmee drehte – der Name jeder Maus...

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