Geächtet

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Rick Mofinas neuer Jack-Gannon-Thriller: Eine verzweifelte Mutter und ein unerbittlicher Reporter im Fadenkreuz einer tödlichen Verschwörung.

Eine Bombenexplosion in einem Café in Rio …
Zehn Menschen sterben, darunter zwei Journalisten. Waren sie unschuldige Opfer - oder Ziel des Anschlags, weil sie zu viel wussten? Der Reporter Jack Gannon recherchiert den Fall.

Ein Autounfall in Wyoming …
Eine Frau klettert aus dem brennenden Wrack. Sie meint zu sehen, wie jemand ihr Kind aus den Flammen zieht. Doch dann wird sie ohnmächtig - und ihr Sohn verschwindet spurlos.

Eine Karibikkreuzfahrt mit grausigem Ende …
Verzweifelt fahnden die Ärzte nach dem Grund für die Todesqualen eines Passagiers und fördern Unglaubliches zutage: Jemand missbraucht ein Virus aus dem Genlabor - als tödliche Waffe gegen die Menschheit. Und während eine Mutter ihr Kind und Jack Gannon die Wahrheit sucht, beginnt ein gnadenloser Wettlauf gegen die Zeit …


  • Erscheinungstag 01.05.2011
  • ISBN / Artikelnummer 9783862780464
  • Seitenanzahl 528
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Big Cloud, Wyoming

Emma Lane sprach ein leises Gebet für ihren kleinen Sohn Tyler, der auf der Rückbank des Autos vergnügt in seinem Kindersitz brabbelte.

Das kleine Wunder, das ihr widerfahren war.

Während der vergangenen Tage war er blass und fiebrig gewesen.

„Es ist nur eine leichte Erkältung. In einem Tag ist das ausgestanden“, hatte der Arzt sie getröstet, weil sie in heller Aufregung gewesen war.

Doch nun waren ihre Sorgen verflogen. Lächelnd griff sie hinter sich und schnallte den Sicherheitsgurt ein wenig enger, während der Geländewagen durch die hügelige Landschaft von Wyoming rollte.

„Alles in Ordnung?“, erkundigte sich ihr Ehemann Joe, der hinter dem Steuer saß.

„Alles in Ordnung.“ Emma streichelte Joes kräftige Schultern und küsste seinen Nacken.

„Wofür ist denn das?“

„Dafür, dass du es mit mir aushältst.“

„Habe ich denn eine Wahl?“ Er lachte glucksend.

Vor ihnen erstreckten sich die gewaltigen Rocky Mountains. Beim Anblick der eindrucksvollen Bergkette wurde ihr bewusst, dass einige Dinge für die Ewigkeit geschaffen waren, während andere schnell wie Sternschnuppen verglühten. Nach den Schwierigkeiten, die sie durchmachen musste, Tyler zu bekommen, war für Emma nichts mehr selbstverständlich. Das Leben gab auf nichts eine Garantie. Es verhielt sich ebenso gleichgültig wie die gewaltigen Berge am fernen Horizont.

Seltsam, wie ihr Traum, den sie seit Jahren gehegt hatte, auf unerwartete Weise für sie Wirklichkeit geworden war. Sie hatte einen Mann – und einen Sohn. Sie konnte sie beide berühren, in den Arm nehmen und von ganzem Herzen lieben – bis in alle Ewigkeit. Dafür war sie unendlich dankbar.

An diesem Tag wollten sie an einem romantischen Platz nördlich der Stadt am Grizzly Tooth River ein Picknick machen. Eine willkommene Pause für Joe, der seit drei Wochen jeden Tag praktisch ununterbrochen zwölf Stunden am Stück gearbeitet hatte, um Häuser in einem neu erschlossenen Baugebiet von Big Cloud zu errichten.

Natürlich konnten sie das Geld, das er mit seinen Überstunden verdiente, sehr gut gebrauchen. Doch die Sorgen, die sie sich wegen dieser Mehrbelastung um Joe machte, und die Angst um Tyler hatten ihr in letzter Zeit ziemlich zu schaffen gemacht.

Am Montag endeten ihre zweiwöchigen Ferien, und sie würde an die Rocky Ridge-Grundschule zurückkehren, in der sie die Kinder der ersten beiden Klassen unterrichtete. Obwohl sie ihren Beruf und die Schüler liebte, dachte sie bereits jetzt mit Schrecken daran, dass sie dann nicht mehr den ganzen Tag bei Tyler sein konnte.

Joe steuerte den Wagen über den verlassenen Highway. Die kurvenreiche Strecke war nur wenig befahren. Abgesehen von einigen Autos, die sie vor wenigen Minuten überholt hatten, gehörte die Straße ihnen allein. Das monotone Surren der Reifen auf dem Asphalt hatte etwas Beruhigendes. Emmas Gedanken schweiften zu anderen Dingen – den merkwürdigen Anrufen, die sie seit einigen Monaten erhielten. Sie waren zu allen möglichen Zeiten gekommen – am Nachmittag, wenn Emma mit Tyler allein zu Hause war, und sogar mitten in der Nacht. Der Anrufer hatte kein Wort gesagt, sondern immer sofort aufgelegt. Und seine Nummer war nie im Display aufgetaucht.

Als ob uns jemand kontrolliert, überlegte sie.

Joe hatte die Angelegenheit mit einem Achselzucken abgetan. „Wahrscheinlich hat sich bloß jemand verwählt“, hatte er sie beruhigt.

Schließlich hatte auch Emma sich keine weiteren Gedanken darüber gemacht. Bis zu jenem Zwischenfall mit dem geheimnisvollen Wagen.

Die weiße Limousine war ihr vergangene Woche auf dem Weg ins Einkaufszentrum in der Stadtmitte aufgefallen. Zwischen ihr und dem Wagen fuhren zwar noch andere Autos, aber sie hatte irgendwie den Eindruck, dass sie verfolgt wurde.

Als sie auf den Parkplatz des Einkaufszentrums bog, lag der weiße Wagen noch ein paar Fahrzeuge hinter ihr. Doch nachdem Emma geparkt und Tyler in den Kinderwagen gesetzt hatte, fiel er ihr erneut auf. Er stand weit abseits in einer Ecke und war immer noch da, als sie zurückkehrte und den Parkplatz verließ. Ob er ihr danach noch gefolgt war, konnte sie nicht mit Sicherheit sagen, da der Feierabendverkehr zu dicht geworden war.

Am nächsten Tag, als sie mit Tyler einen Spaziergang zum Park machte, stand dieselbe weiße Limousine am Ende ihrer Straße.

„Kann es sein, dass du ein bisschen paranoid bist?“, fragte Joe, nachdem sie ihm davon berichtet hatte. „Wahrscheinlich ist es nur der schützende Mutterinstinkt, der bei dir etwas zu stark ausgeprägt ist.“

Weil sie nicht über seine Neckerei lachte, stand er vom Küchentisch auf, der übersät war von zahlreichen Rechnungen und Kostenkalkulationen, und legte ihr den Arm um die Schulter.

„Hör mal“, sagte Joe, „in Big Cloud leben neuntausend Menschen. Den meisten davon begegnen wir alle zwei Tage. Wahrscheinlich hast du jemanden beobachtet, der neu zugezogen ist.“

Sie drückte die Wange gegen seinen kräftigen Brustkorb und nickte.

„Außerdem bist du einer der furchtlosesten Menschen, die ich kenne“, fuhr er fort. „Wehe, irgendetwas oder jemand stellt sich zwischen dich und Tyler. Selbst wenn es ein Grizzly wäre, hätte ich Angst um ihn.“

Emma musste lächeln, als sie sich jetzt an seine Worte erinnerte, und schaute ihren Mann von der Seite an. Nach allem, was er für sie durchgemacht hatte, war er ihr Fels in der Brandung; ihr Beschützer, ihr Held.

Sie hatten Tyler nicht auf natürlichem Weg bekommen.

Joe war ein stolzer Mann, und ihr diesen Gefallen zu tun, war nicht leicht für ihn gewesen. Aber er hatte ihr Glück vor das seine gestellt, und egal, was auch passierte: Emma würde ihn deswegen immer lieben.

Für alle Zeit.

Sie betrachtete Joes stoppeliges Kinn. Genauso mochte sie es. Sie musterte die kleinen Falten in seinen Augenwinkeln, die sich kräuselten, wenn er lachte oder konzentriert auf den Horizont schaute wie in diesem Moment.

Emma wollte Joe gerade sagen, dass sie ihn liebte, aber die Worte kamen ihr nicht mehr über die Lippen. Das laute Dröhnen der Hupe ließ sie zusammenfahren. Joe sah auf einmal ganz überrascht aus. Ein entgegenkommendes Fahrzeug hatte unvermittelt auf ihre Spur gewechselt. Ein Frontalzusammenstoß schien unvermeidlich.

„Halt dich fest, Em.“

Joe riss das Steuer herum, um der Kollision auszuweichen.

„Joe!“

Der Geländewagen flog durch die Luft. Die Welt um sie herum begann sich zu drehen. Glas splitterte, Metall kreischte, Funken flogen, während das Auto sich mehrfach überschlug und über den Boden rollte, bis alles um sie herum schwarz wurde.

Als Emma wieder zu sich kam, lag sie neben dem Auto, das Gesicht in die Erde gedrückt. Sie nahm alles nur verschwommen war. In ihren Ohren lag ein lautes Dröhnen. Die Hupe gellte unentwegt.

Irgendwo schrie Tyler, aber Emma konnte ihn nirgendwo entdecken.

Dafür sah sie Joe.

Sein Kopf ragte aus der Windschutzscheibe heraus. Emma kroch zu ihm hinüber, streckte ihren Arm aus und nahm seine Hand.

„Bleib bei mir, Joe. Verlass mich nicht.“

Emma fiel in Ohnmacht, kam wieder zu sich, verlor erneut das Bewusstsein. Immer wieder schwanden ihr die Sinne.

Die Zeit blieb stehen.

Emma roch Benzin, verbranntes Gummi, sie hörte ein zischendes Geräusch; Autotüren, die zugeschlagen wurden, Leute, die angelaufen kamen, lautes Stimmengewirr. Jemand begutachtete den Schaden. Alles war wie in eine undurchdringliche Nebelwolke gehüllt.

Laut rauschte Emma das Blut in den Ohren.

„Beeilt euch!“, schrie sie.

Ein Motor heulte auf.

„Mein Baby. Suchen Sie mein Baby!“

Bevor man sie gewaltsam von ihm losriss, spürte Emma, wie Joes Puls langsamer wurde.

„Holen Sie sofort meinen Mann da raus! Suchen Sie bitte mein Baby!“

Die Welt um sie herum verwandelte sich in ein flammendes Inferno. Eine riesige, unsichtbare Faust schlug ihr ins Gesicht, und der Geländewagen explodierte in einem gewaltigen Feuerball.

Jemand rettete Tyler. Emma sah, wie er in Sicherheit gebracht wurde.

Zumindest glaubte sie das.

Wo war ihr Baby?

Himmel, hilf! Tyler musste in Sicherheit sein. Ganz gewiss, denn er schrie nicht mehr.

Doch Emma konnte nicht aufhören zu schreien.

2. KAPITEL

Rio de Janeiro, Brasilien

Einen Tag später griff Gabriela Rosa, Reporterin bei der World Press Alliance im Korrespondentenbüro in Rio, zum Telefon, um einen Anruf entgegenzunehmen.

Alo, Gabriela Rosa, WPA.“

„Eu tenho que falar a …“ Die Stimme der Frau ging im Straßenlärm unter. Vermutlich rief sie aus einer Telefonzelle an.

„Bitte sprechen Sie lauter.“

„Ich muss unbedingt mit einem Reporter von Ihrer Nachrichtenagentur reden. Es geht um eine ganz große Story.“

„Ich bin selbst Reporterin“, erwiderte Rosa. „Um was handelt es sich denn?“

„Nicht am Telefon. Wir müssen uns treffen.“

„Dann geben Sie mir bitte Ihren Namen.“

„Das geht nicht.“

„Können Sie vielleicht in unser Büro kommen?“

„Nein. Ich möchte Sie irgendwo draußen treffen. Ich habe Dokumente. Die müssen so bald wie möglich an die Öffentlichkeit gelangen.“

Die Stimme der Frau klang verängstigt und verzweifelt – so, als habe sie ihren ganzen Mut zusammennehmen müssen, um diesen Telefonanruf zu tätigen. Rosa musste eine schnelle Entscheidung treffen. Ihren Bericht über zunehmende Gewaltdelikte in der Metro von Rio hatte sie fast beendet. Danach wollte sie eigentlich noch mit einem Polizisten sprechen, aber diesen Termin konnte sie auch verschieben.

Ein guter Reporter würde wohl niemals leichtfertig einen Informanten ignorieren.

Rosa beschloss, sich mit der Anruferin zu treffen. Aber sie musste vorsichtig sein.

„Na gut“, sagte Rosa schließlich. „Unser Büro ist mitten in der Stadt auf der Rua do Riachuelo in der Nähe der Redaktion des O Dia. Kennen Sie die Gegend?“

„Ja.“

„Fünf Blocks westlich von uns auf der Rua do Riachuelo ist das Café Amaldo. Dort treffen wir uns um Punkt vierzehn Uhr. Ich heiße Gabriela Rosa, habe braune Haare, trage eine Sonnenbrille, eine rosafarbene Bluse und eine weiße Hose. Ich werde das Jornal do Brasil lesen und lege meine weiße Handtasche auf den Tisch. Ich werde allein sein. Kommen Sie auch allein?“

„Ja.“

„Sagen Sie mir Ihren Namen.“

„Keinen Namen. Ich werde Sie schon erkennen.“

„Gut. Dann also bis zwei Uhr. Ich gebe Ihnen meine Handynummer, falls Ihnen etwas dazwischenkommt. Wollen Sie mir auch Ihre Nummer geben?“

„Nein. Ich bin um zwei Uhr dort.“

„Können Sie mir denn in etwa sagen, worum es bei dieser Geschichte geht?“

„Das erzähle ich Ihnen, wenn wir uns treffen.“

Nachdem Rosa ihren Artikel beendet hatte, ließ sie ihren Blick durch das leere Büro schweifen. Der Büroleiter hielt sich außerhalb der Stadt auf. Der freie Mitarbeiter, der nur stundenweise arbeitete, war mit dem Fotografen auf einem Termin. Die Redaktionsassistentin hatte frei. Rosa war allein. Sie dachte über das Telefongespräch nach – und über die Regeln von WPA, die einzuhalten waren, wenn man sich mit unbekannten Informanten traf: „Sag den Kollegen, wo du hingehst und wen du triffst. Geh niemals allein.“

Rio war eine der schönsten Städte der Welt. Aber auch eine der gefährlichsten. Gewalttaten, Drogenhandel und Bandenkriege – diese Verbrechen waren in den Favelas, den übervölkerten Elendsvierteln über den Hügeln der Stadt, an der Tagesordnung.

Wie alle Reporter in Rio war sich auch Rosa dieser Risiken bewusst. Journalisten, die angekündigt hatten, die Netzwerke und Machenschaften der Verbrecher zu enthüllen, waren von ihnen entführt und getötet worden. Sie würde auf keinen Fall allein zu dem Treffen mit ihrer Informantin gehen. Sie griff zum Handy und wählte eine Nummer.

Alo, Verde“, meldete sich ein Mann.

„Marcelo, hier ist Gabriela. Kommst du bald zurück? Ich brauche dich für einen Job.“

„Ich verlasse Santa Teresa in diesem Augenblick. In New York werden sie über die Fotos jubeln, die ich geschossen habe. Aber ich muss erst mal etwas essen.“

„Vergiss es. Wir treffen uns auf der Straße vor dem Café Amaldo. Ich gebe dir ein Essen aus.“

„Einverstanden. Worum geht’s denn?“

„Ich treffe mich mit einer Informantin. Ich brauche dich als Rückendeckung. Sei um halb zwei dort. Komm nicht zu spät. Ruf mich an, falls etwas dazwischenkommt.“

Ehe Rosa das Büro verließ, versuchte sie, ihren Ehemann John Esper zu erreichen, der auch der Büroleiter war. Vermutlich befand er sich gerade auf dem Rückflug von São Paulo, wo er die Kollegen bei der Berichterstattung über den bevorstehenden Besuch des amerikanischen Vize-Präsidenten unterstützt hatte. Rosa hinterließ eine Nachricht auf Johns Mailbox, in der sie ihm mitteilte, dass sie sich mit einer unbekannten Frau im Café Amaldo traf und von Marcelo begleitet wurde.

Auf dem Weg zum vereinbarten Treffpunkt genoss Rosa das geschäftige Treiben im Zentrum von Rio, mit seinen prächtigen Kolonialbauten, die zwischen Hochhäusern, Ladenlokalen und Bürotürmen eingezwängt standen. An manchen Tagen war die zunehmende Aufregung in der Stadt, deren Einwohner sich auf die Fußballweltmeisterschaft und die Sommerolympiade freuten, geradezu mit Händen greifbar. Als sie nun auf das Lokal zusteuerte, dachte sie jedoch nur über den Anruf nach, den sie bekommen hatte.

Natürlich konnte etwas wirklich Wichtiges dahinterstecken. Oft genug handelte es sich allerdings nur um heiße Luft. Manchmal steckte nur der Racheakt eines Unzufriedenen, Enttäuschten oder Betrogenen, der einem verhassten Gegner die Presse auf den Hals hetzen wollte, dahinter. Selbst wenn das dieses Mal auch der Fall sein sollte, wäre die Zeit nicht vollkommen verschwendet: Wenigstens würde sie im Café Amaldo zu Mittag essen können und John etwas zu berichten haben.

Marcelo wartete bereits in der Nähe des Restaurants auf sie. Bevor er sich als einer der besten Zeitungsfotografen Brasiliens einen Namen gemacht hatte, lebte er in den Tag hinein, verbrachte die meiste Zeit am Strand und posierte gelegentlich als Bodybuilder.

„Ich treffe mich hier in einer halben Stunde mit der besagten Frau“, erklärte Rosa. „Du weißt ja, was du zu tun hast. Am besten setzt du dich da drüben hin.“ Sie deutete mit dem Kopf zu einer Kneipe auf der anderen Seite der belebten Straße.

„Gut.“ Er wedelte mit der Hand. „Aber du hast mir ein Mittagessen versprochen.“

Schmunzelnd drückte Rosa ihm ein paar Geldscheine in die Hand.

„Aber ich will eine Quittung und das Wechselgeld, Freundchen.“

Marcelo zwinkerte Rosa zu und verschwand. Sie setzte sich an einen Tisch an der Straße, wo Marcelo sie gut im Auge behalten konnte, legte ihre Tasche darauf, setzte die Sonnenbrille auf und las ihre Zeitung.

Zwanzig Minuten später hielt ein Taxi in der Nähe des Lokals, was ein wütendes Hupkonzert der nachfolgenden Autofahrer auslöste. Während die Frau den Fahrer bezahlte, fuhr ein Motorrad, auf dem zwei Männer saßen, mit lautem Geknatter am Taxi vorbei. Nachdem die Frau die belegten Tische in Augenschein genommen hatte, steuerte sie zielstrebig auf Rosa zu und blieb vor ihr stehen.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte Rosa.

„Gabriela?“

„Ja.“

„Ich habe Sie angerufen.“

Sie hielt den Henkel ihrer Handtasche fest umklammert und rieb sich nervös mit dem Daumen über die Fingerknöchel, während sie misstrauisch in das geschäftige Restaurant spähte. Rosa legte ihre Zeitung beiseite.

„Setzen Sie sich doch.“

Marcelo richtete sein Objektiv auf die beiden Frauen. Gerade als er schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite seinen ersten Schuss vorbereitete, fuhr ein großer Lastwagen vor und versperrte ihm die Sicht. Marcelo stieß einen Fluch aus, ließ das Geld für seinen Drink auf dem Tisch liegen, griff nach seiner Tasche und schlenderte auf das Café Amaldo zu. Dabei kam er an der Einmündung einer düsteren Gasse vorbei.

Er bemerkte das Motorrad nicht, das kurz zuvor das Taxi überholt hatte und nun so weit zurück in der Gasse stand, dass man es von der Straße aus nicht sehen konnte. Zwei Männer standen neben der Maschine und ließen das Lokal nicht aus den Augen. Der Fahrer sprach leise in sein Handy. Der Sozius, der wie ein Bankangestellter gekleidet war, überprüfte seine Frisur im Rückspiegel. Er setzte eine dunkle Sonnenbrille auf, ehe er eine braune Lederaktentasche von dem Gepäckträger des Motorrades löste.

Im Lokal fand Marcelo einen Tisch unmittelbar neben dem großen geöffneten Fenster, von dem aus er den Vorplatz des Restaurants überblicken konnte. Er mochte das Amaldo und hatte es schon oft zusammen mit anderen Reportern für ähnlich konspirative Zwecke genutzt. Es bot einen eigenen WLAN-Hotspot an, sodass er die Fotos von der Speicherkarte seiner Kamera sofort in die Redaktion senden konnte.

Marcelo bestellte ein Sodawasser und ein Sandwich und arbeitete so unauffällig, dass es für Unbeteiligte so aussah, als säubere er nur die Linse, während er in Wirklichkeit seine Fotos schoss.

Rosa klopfte mit dem Kugelschreiber auf ihr Notizbuch und wartete darauf, dass die Frau mit ihrer Geschichte begann. Sie war etwa zwanzig, recht hübsch und hatte eine gute Figur. Sie wirkte gebildet und selbstsicher, aber ihre Hand zitterte, als sie die Sahne in ihren Kaffee goss und dabei ein paar Tropfen neben der Tasse landeten.

„Entschuldigen Sie bitte, ich bin ein wenig nervös.“

„Weswegen?“

„Sie könnten mich beobachten.“

„Wer sind ‘sie’?“

„Lassen Sie mir einen Moment Zeit. Ich werde Ihnen alles erzählen. Aber ich muss zuerst kurz auf die Toilette.“

Rosa war eine erfahrene Reporterin, weder leicht zu täuschen noch einzuschüchtern. Bei dieser Frau hatte sie das Gefühl, dass sie kein Spiel trieb, und sie war froh, als sie einige Minuten später wieder zurückkehrte.

„Wollen Sie mir jetzt erzählen, worum es geht?“ Aufmunternd blickte Gabriela ihr Gegenüber an.

„Kein Mensch wird mir das glauben. Es geht weit über Brasilien hinaus. Deshalb habe ich mich an Ihre Nachrichtenagentur gewandt. Sie müssen es der ganzen Welt berichten.“ Die Frau zog einen braunen Umschlag aus ihrer Tasche. „Bitte lesen Sie das und machen Sie es publik.“

„Was soll ich publik machen?“

„Das werden Sie sehen, wenn Sie diese Unterlagen durchgesehen haben.“

In diesem Moment bahnte sich ein Mann in einem Anzug und mit dunkler Sonnenbrille seinen Weg zwischen den Tischen des überfüllten Cafés. Er griff in die Innentasche seines Jacketts und zog seine Brieftasche heraus, die zu Boden fiel.

Als er sich bückte, um sie aufzuheben, fiel niemandem auf, dass er seine braune Ledertasche unter einen Stuhl schob, auf dem nur einige Einkaufstüten abgestellt waren. Der Stuhl wurde offenbar für jemanden freigehalten, der noch nicht erschienen war.

Der Mann wischte seine Brieftasche ab, betrat das Restaurant und verließ es sofort wieder unbemerkt durch eine Seitentür. Er steuerte die nächste Straßenkreuzung an und wählte dabei eine Nummer auf seinem Handy. Ein Motorrad hielt neben ihm. Der Mann setzte sich einen Helm auf und erklomm den Sitz hinter dem Fahrer.

An ihrem Tisch blätterte Gabriela durch die Unterlagen, während ihre Informantin ihre Geschichte erzählte.

Zwei Tische weiter nahmen einige elegant gekleidete Frauen die Einkaufstüten vom Stuhl, als ihre Freundin schließlich eintraf. Dabei fiel die braune Ledertasche unter dem Stuhl um.

Die Frau, die ihr am nächsten war, schaute die anderen fragend an.

Eine von ihnen bückte sich und griff danach, aber die Tasche verschwand in einem grellen, heißen Lichtschein. In der nachfolgenden Druckwelle zerbarsten die Fensterscheiben des Restaurants und in den benachbarten Gebäuden. Blut, Leichenteile und Trümmer regneten auf die Straße und die Menschen herunter, die sich in unmittelbarer Nähe befanden.

Ein gigantischer Feuerball schoss zum Himmel.

3. KAPITEL

New York City

Die Zentrale der World Press Alliance befand sich in der West Side von Manhattan.

Auf dem Weg dorthin kam Jack Gannon am Betriebshof der Long-Island-Eisenbahngesellschaft vorbei, wo die Dreiunddreißigste Straße in eine trostlose Gegend direkt am Hudson River mündete. Von hier aus konnte er die Hubschrauber beobachten, die am Heliport an der Dreißigsten Straße starteten und landeten.

Jenseits davon erstreckte sich New Jersey.

Schon wieder vibrierte sein Handy. Eine weitere SMS:

Wo stecken Sie?

Bin in zehn Minuten zurück, antwortete er.

Fast im Laufschritt kam er an der von Graffiti übersäten Wand eines Versandlagers vorbei, vor der ein paar Obdachlose mit Einkaufswagen Blechdosen sortierten, die sie am Morgen gesammelt hatten. Ein Mann mit Dreadlocks und einem verblichenen Obama-T-Shirt zerlegte einen Fernseher in seine verwertbaren Einzelteile.

„Wollen Sie einem armen Mitmenschen nicht helfen? Ich habe Hunger.“

Gannon griff in seine Tasche, in die er das Wechselgeld von dem Hotdog, den er zu Mittag gegessen hatte, hineingesteckt hatte, und zog eine zerknitterte Fünf-Dollar-Note heraus.

„Gott segne Sie und beschere Ihnen ein langes Leben.“

Gannon war neu in der Stadt. Deshalb war sein Herz noch nicht verhärtet gegenüber den Außenseitern und Pechvögeln, die ihm hier jeden Tag über den Weg liefen.

Seitdem er Buffalo verlassen hatte, um seinen Job bei der WPA anzutreten, hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, durch die Straßen New York zu laufen, wann immer es ihm möglich war. Heute hatte er Bereitschaftsdienst in der Nachrichtenredaktion. Da er die Mittagspause allein verbringen wollte, hatte er sich entschlossen, einen Spaziergang in diese verlassene Gegend zu machen.

Er musste nachdenken.

Jetzt arbeitete er schon seit fünf Monaten in seinem Traumjob bei einer der größten Nachrichtenagenturen der Welt, und noch immer hatte er keine gute Geschichte an Land ziehen können.

Bis heute hatte er lediglich über einen Mord berichtet. Und erst bei einer Reportage über eine Schießerei an einer Schule in Kalifornien, dann an dem Artikel über einen Busunfall in der Nähe des Grand Canyon mitgearbeitet. Er hatte lokale Aspekte in die Artikel eingearbeitet, die aus den WPA-Korrespondentenbüros in aller Welt geliefert wurden. Darüber hinaus war er zu Nachtschichten eingeteilt worden, bei denen er die Schlussredaktion für die Berichte aus der Inlands- und den Auslandsredaktionen übernommen hatte. Ziemlich schnell konnte er dabei herausfinden, dass er nicht bei allen WPA-Reportern wohlgelitten war. Das wurde ihm besonders deutlich, als er neulich nachts eine Unterhaltung von zwei Nachrichtenredakteuren aus der Reportageabteilung mitbekam.

„Was hältst du eigentlich von Jack Gannon?“

„Bis jetzt habe ich noch nichts Tolles von ihm gelesen. Er scheint nicht gerade zu den Top-Reportern zu gehören.“

„Haben sie ihn beim Buffalo Sentinel nicht gefeuert oder so was Ähnliches? Ich hab das nicht so richtig mitbekommen.“

„Er ist eine von Melody Lyons Entdeckungen. Sie hat ihn eingestellt, nachdem er mit der Story über den Polizisten aus Buffalo und die verschwundenen Frauen groß rausgekommen war.“

„Die war nun wirklich nicht schlecht.“

„Wenn du mich fragst, hat Gannon mehr Glück als Talent. Was hat er denn seitdem geleistet?“

„Nicht viel.“

„Eben. Und du hast recht, beim Sentinel haben sie ihn rausgeschmissen – genau wie seinen Ressortleiter. Das war eine ziemlich undurchsichtige Angelegenheit. Soweit ich weiß, waren O’Neill und Stone gegen Gannons Einstellung, aber Melody hat sich durchgesetzt. Ein paar Leute haben wohl schon zugegeben, dass sie sich in ihm getäuscht haben, und man munkelt, dass sie ihn wieder entlassen wollen.“

„Wirklich?“

„Es ist nur ein Gerücht. Aber ich finde auch, dass sie ihn wieder nach Buffalo zurückschicken sollten.“

„Ist er für seine Story über den Flugzeugabsturz und den durchgeknallten russischen Piloten nicht mal für den Pulitzer-Preis vorgeschlagen worden?“

„Einer in der Redaktion vom Sentinel, der Russisch konnte, hat mit den Leuten in Moskau geredet. Gannon hat sich praktisch alles nur diktieren lassen.“

Was für ein dämliches Geschwätz!

Gannon, unsichtbar für die beiden auf der anderen Seite der Aktenschränke, war stinksauer gewesen.

Sie hatten ja keine Ahnung.

Überhaupt keine Ahnung, dachte er jetzt erneut, als er zu einem Fußgängerüberweg hastete, um die Grünphase noch zu erwischen. Diesen Job bei WPA hatte er sich wirklich verdient. Er war durch die Hölle gegangen, um nach New York zu kommen. Er gehörte hierhin, und das würde er allen noch beweisen.

Gannon betrat das neunzehn Stockwerke hohe WPA-Gebäude, legte seinen Ausweis auf das magnetische Kontrollfeld, um das Sicherheitsdrehkreuz zu passieren, und stieg in den Aufzug.

Er kontrollierte sein Handy. Vor neunzehn Minuten hatte Melody Lyon, die stellvertretende Chefredakteurin und Nummer zwei bei WPA nach Beland Stone, ihn zum ersten Mal zurückbeordert.

Wir müssen sofort mit Ihnen sprechen.

Im fünfzehnten Stock verließ er den Aufzug. Erneut empfand er jenes Hochgefühl, als er am Empfang vorbeilief, an dessen Wänden Fotografien hingen, die einige der wichtigsten Momente in der hundertjährigen Geschichte von WPA dokumentierten.

Die World Press Alliance gehörte zu den größten Nachrichtenagenturen der Welt. In jeder größeren amerikanischen Stadt gab es ein Korrespondentenbüro – und weitere zweihundert Auslandsbüros in fünfundsiebzig Ländern. Die Kollegen produzierten einen nie versiegenden Strom von schnell und korrekt recherchierten Informationen für Tausende von Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehstationen, Vertragspartnern und Online-Abonnenten überall auf der Welt.

Die hervorragende Arbeit, die WPA von ihren Mitarbeitern verlangte, hatte der Agentur nicht nur zweiundzwanzig Pulitzer-Preise, sondern auch den Respekt der Konkurrenz eingebracht – der Associated Press, Reuters, Agence France Presse, der Deutschen Presse-Agentur, Bloomberg, der chinesischen Agentur Xinhua und Russlands schnell an Bedeutung gewinnender Interfax-Nachrichten-Agentur.

Mit einer düsteren Vorahnung betrat Gannon den Nachrichtenraum.

Über die Flachbildschirme flimmerten Videos und Tickermeldungen aus aller Welt. Eine davon hatte die Aufmerksamkeit von WPA erregt. Einige Reporter wirkten schockiert, andere waren aufgestanden und umarmten sich.

„Hast du Gabriela gekannt? Der arme John.“

Einige Redakteure stießen leise Flüche aus, während sie auf ihre Tastaturen einhämmerten.

Gannon wollte auf Melody Lyons Büro zusteuern, als er von einem Redaktionsassistenten aufgehalten wurde.

„Jack, sie sind alle im Konferenzraum. Am besten Sie gehen sofort rein.“

Eine Telefonkonferenz war in vollem Gange. Chefredakteure und Redaktionsleiter saßen mit ernsten Gesichtern rund um den auf Hochglanz polierten Tisch. Melody Lyon, die heute diese Konferenz leitete, warf Gannon über den Rand ihrer Gleitsichtbrille einen Blick zu und deutete auf einen leeren Stuhl neben sich. Gannon hatte sich kaum hingesetzt, schon legte eine Sekretärin eine Mappe vor ihn auf den Tisch.

„Unterschreiben Sie das.“ Mit dem Kugelschreiber klopfte sie auf die Linie, auf die Gannon seinen Namen setzen sollte. Er las die Worte Consulado-Geral do Brasil em Nova York – Antrag auf ein Visum. Auf einem Notizzettel, der daran befestigt war, stand der Vermerk „Dringend“.

George Wilson, dritter Stellvertreter nach Lyon und entsprechend einflussreich, war verantwortlich für die WPA-Auslandsbüros. Er musterte Gannon, checkte sein Blackberry und sprach für alle deutlich hörbar zu dem Anrufer: „Noch mal für alle! Reuters hat gerade eine Nachricht abgesetzt, dass zwei Journalisten unter den Opfern sind. Keine weiteren Einzelheiten. Frank, gehen wir die Sache noch mal von Anfang an durch.“

Frank Archer, der Mann am anderen Ende der Leitung und Leiter des WPA-Büros in São Paulo, ließ sich seine Gefühle nicht anmerken. Er war nach Rio de Janeiro geflogen und sofort an den Tatort geeilt. Im Hintergrund konnte man Sirenen hören.

„John Esper war auf dem Rückweg nach Rio von São Paulo, wo er die Kollegen bei der Berichterstattung über den bevorstehenden Besuch des amerikanischen Vize-Präsidenten unterstützte“, erklärte Archer. „Vor etwa vier Stunden ist John in Rio gelandet und hat von dem Bombenattentat vor dem Café Amaldo erfahren. Etwa zur gleichen Zeit hat er Gabrielas Nachricht erhalten, in der sie ihm mitteilte, dass sie mit Marcelo Verde auf dem Weg zu dem Lokal war.“

Gannon las die Notiz, die Lyon ihm zuschob.

„John Esper ist der Büroleiter in Rio de Janeiro. Die Reporterin Gabriela Rosa ist seine Frau. Marcelo Verde ist Fotograf im WPA-Büro in Rio.“

„John dachte zuerst, Gabriela und Marcelo seien auf dem Weg, um über das Attentat zu berichten“, fuhr Archer fort. „Aber als er sie nicht erreichen konnte, sah er sich die Nachricht über eine Informantin, die sie im Café treffen wollte, noch einmal genauer an. In dem Moment wurde ihm klar, dass sie bereits dort gewesen sein mussten, als die Bombe explodierte. Das ist das Letzte, was ich von John gehört habe, bevor ich zum Flughafen gefahren bin. Im Moment kann ich ihn nirgendwo erreichen.“

„Frank, ich bin’s, George“, meldete Wilson sich zu Wort. „John hat uns eine SMS geschrieben, dass er ins Krankenhaus gefahren ist, in das die meisten Opfer gebracht wurden.“

„Moment mal“, unterbrach Archer ihn. „Ein Kollege vom Globo hat mir gerade mitgeteilt, dass die Polizei Marcelo Verdes Brieftasche und Gabriela Rosas Handtasche zwischen den Trümmern und den Toten gefunden hat.“

„Oh mein Gott.“ Melody Lyon schlug die Hände vors Gesicht. „Es stimmt also.“

Gannons Magen verkrampfte sich.

„Bis jetzt gibt es sieben Tote und mehrere Schwerverletzte.“ Archer stockte. „Es ist also mit weiteren Opfern zu rechnen. George, wir brauchen dringend Unterstützung hier unten.“ Archer bemühte sich hörbar, nicht die Fassung zu verlieren. „Unser Büro in Rio ist … George, wir brauchen unbedingt Hilfe.“

„Wir kümmern uns darum, Frank. Ich habe einige Leute von Buenos Aires und Caracas geschickt. Ihr bekommt auch Unterstützung aus New York.“

Wilson warf Gannon einen Blick zu.

„Hier spricht Melody, Frank. Hat sich schon jemand zu dem Anschlag bekannt? Irgendeine Idee, wer hinter dem Attentat stecken könnte?“

O Dia schreibt, es handele sich um Drogenbanden aus den Favelas, aber das sind nur Spekulationen. Ich muss jetzt los.“

„Halten Sie uns auf dem Laufenden, Frank.“

George Wilson setzte seine Brille ab, rieb sich die Augen und ließ seinen Blick durch die Runde schweifen, bis er bei Melody Lyon angelangt war. Sie übernahm in dieser Runde heute eindeutig die Führungsrolle.

„Jesus, Mel, ich fürchte, wir haben gerade zwei unserer Leute verloren. Haben Sie Beland schon informiert?“

„Er ist in Washington. Wir haben ihn angerufen, als die ersten unbestätigten Meldungen eintrafen. Seitdem stehe ich in Kontakt mit ihm.“

Es klopfte leise an der Tür. „Entschuldigen Sie bitte, Melody?“ Die Sekretärin war zurückgekehrt.

„Was gibt’s, Rachel?“

„Melissa ist mit dem Taxi zum brasilianischen Konsulat gefahren und kümmert sich um Jacks Visum. Unser Verbindungsmann im Konsulat hat sein Beileid ausgesprochen und sich bereiterklärt, Jacks Antrag sofort zu bearbeiten.“

„Vielen Dank, Rachel.“

„Jack.“ Lyon wandte sich an Gannon. „In fünf Stunden geht ein Direktflug der TAM vom John-F.-Kennedy-Flughafen; Ankunft um halb neun morgen früh in Rio de Janeiro.“

„Sie schicken mich nach Brasilien?“

„Sie müssen unsere Kollegen unterstützen.“

Gannons Herz begann schneller zu schlagen.

„Natürlich“, antwortete er. „Aber ich gebe zu bedenken, dass ich noch nie dort war und weder Portugiesisch noch Spanisch spreche.“

„Unsere Leute vor Ort werden Ihnen helfen“, sagte Lyon. „Gehen Sie nach Hause und packen Sie.“

An George Wilsons Schläfe pochte eine Ader, als er Gannon mit seinen stahlgrauen Augen fixierte.

„Ich will Ihnen nicht verhehlen“, begann er, „dass ich Sie nicht für den Richtigen halte, um zu dieser Zeit an diesem Ort zu sein.“

„Bitte, George“, fiel ihm Lyon ins Wort. „Das haben wir doch schon alles besprochen.“

„Melody ist der Boss, Gannon, und sie glaubt, dass ein frischer Blickwinkel, wie sie es nennt, von Vorteil sein könnte.“

„Ich werde mein Bestes tun“, versprach Gannon.

„Sie tun, was man Ihnen sagt“, entgegnete Wilson barsch. „Ihre Anweisungen erhalten Sie aus New York und von meinen Korrespondenten da unten, die mehr Auslandserfahrung haben, als Sie beim Buffalo Sentinel jemals sammeln konnten, und Sie werden den anderen verdammt noch mal nicht im Weg stehen.“

Das werde ich ganz bestimmt nicht.

Gannon warf Lyon einen Hilfe suchenden Blick zu, aber sie war in die Betrachtung des Empire State Buildings sowie der Skyline von Manhatten versunken und mit ihrem Kummer beschäftigt. Jeder muss jetzt hier seine Wunden lecken, dachte er. Aus Gründen des Respekts verkniff er sich eine Antwort und beschloss, Wilsons beleidigende Worte zu ignorieren.

„Ich werde mein Bestes tun, George“, wiederholte er stattdessen leise.

4. KAPITEL

Rio de Janeiro, Brasilien

Gannons Maschine landete pünktlich auf dem Galeão-Flughafen.

Noch während er durch die Ankunftshalle lief, blinkte das Satellitentelefon, das ihm das New Yorker Büro zur Verfügung gestellt hatte. Die Nachricht kam von George Wilson.

Wenn Sie angekommen sind, gehen Sie ins WPA-Büro, Rua do Richuelo, Stadtmitte. Kontaktieren Sie Frank Archer.

Gannon holte seinen Koffer, ließ seinen Pass bei der Grenzkontrolle abstempeln und tauchte ein in die schwüle subtropische Luft. Suchend sah er sich nach einem Taxi um. Der Fahrer nickte, nachdem er die Adresse gelesen hatte, die Gannon ihm zeigte. Als sie über eine Schnellstraße nach Süden fuhren, klingelte sein Satellitentelefon.

„Gannon.“

„Hier ist Melody aus New York. Wo sind Sie?“

„In einem Taxi Richtung Zentrum.“

Sie räusperte sich. „Jack … gestern Abend haben wir die offizielle Bestätigung erhalten. Gabriela und Marcelo sind unter den Todesopfern.“

„Das tut mir leid.“

„Wir laufen hier alle neben der Spur. Wilson trifft es besonders hart.“

„Ich verstehe.“

„Das ist ein schwerer Verlust für uns. Bitte denken Sie daran, wenn Sie mit den Kollegen da unten zusammenarbeiten.“

„Selbstverständlich.“

„Sie haben Gabriela und Marcelo nicht gekannt. Sie gehen daher ohne Trauer und Wut an die Sache heran. Ich brauche Sie, um herauszufinden, wer hinter dem Attentat steckt und was seine Motive sind. Wir müssen an dieser Geschichte dranbleiben, Jack, egal, was dabei herauskommt. Auf diese Art erweisen wir unseren Toten die letzte Ehre.“

Adrenalin schoss durch Gannons Adern, als sich das Taxi einen Weg durch den Verkehr bahnte und Rio de Janeiro vor ihm auftauchte. Er holte tief Luft, während sein Blick über das ausufernde Stadtgebiet streifte. Die prächtige Skyline von Rio bildete einen scharfen Kontrast zu den Favelas mit ihren baufälligen Hütten, die sich wie ein Geschwür in die Hügel rings um die Stadt hineingefressen hatten. Die Elendsviertel in Sichtweite des Atlantiks waren berüchtigt für ihre Drogenkriege und Schießereien.

Hatte Wilson recht? Konnte Gannon die Geschichte stemmen?

Durch das geöffnete Fenster des Taxis strömte warme, salzige Luft. Er sah die azurblauen Flecken der Guanabara-Bucht, und die Landkarte, die er sich während des Fluges eingeprägt hatte, füllte sich allmählich mit Leben, als er auf der Fahrt ins Zentrum die weltberühmten Sehenswürdigkeiten entdeckte.

Das Büro lag in einem hohen Gebäude mit einer Glasfront, in der sich die Wolken spiegelten.

Sorgfältig studierte der Portier in der Empfangshalle Gannons Ausweis und Visitenkarte, bevor er einen Anruf tätigte. Kurz darauf stieg ein Mann, der höchstens Anfang zwanzig war, aus dem Aufzug, um ihn die Schranke passieren zu lassen und ihn zu begrüßen.

„Willkommen in Rio, Mr. Gannon. Ich bin Luiz Piquet. Folgen Sie mir bitte.“ Er nahm Gannons Koffer. Im Aufzug erkundigte er sich: „Hatten Sie einen angenehmen Flug, Sir?“

„Nennen Sie mich Jack. Ja, Luiz, der Flug war angenehm.“

Der Aufzug fuhr sehr langsam. Gannon drehte sich zu Luiz.

„Arbeiten Sie auch für WPA?“

„Ich bin Redaktionsassistent. Vor Kurzem habe ich an der Universität meinen Abschluss in Journalismus gemacht. Ich werde Sie unterstützen.“

Der Aufzug hielt im zehnten Stock. Auf dem Messingschild an der gegenüberliegenden Wand stand Aliança da Imprensa do Mundo – World Press Alliance. Luiz öffnete die Glastür zu einem großen Raum, der nur von dem Tageslicht erhellt wurde, das durch die deckenhohen Fenster an einer der Stirnseiten fiel.

Das Großraumbüro verfügte über die typische Einrichtung einer Nachrichtenagentur – ein halbes Dutzend Schreibtische, auf denen jeweils ein Monitor und eine Tastatur sowie ein Telefon standen. Daneben stapelten sich Zeitungen, Schnellhefter, Dokumente und Kaffeetassen.

Gannons Blick fiel auf die gegenüberliegende Wand: Zwei Großbildschirme hingen von der Decke und zeigten ununterbrochen aktuelle Nachrichtensendungen. Der Ton war stummgeschaltet und die Wand gepflastert mit vergrößerten Pressefotos von Kindern in Slums, Spezialeinheiten und Gewaltopfern, die in ihrem Blut auf der Straße lagen; dem Papst, der in einem Stadion der Menge zuwinkte, Mädchen in Bikinis am Strand.

Der einzige Anwesende im Büro beendete gerade ein Telefongespräch. Er wandte Luiz und Gannon den Rücken zu.

„Frank Archer em WPA. Você tem o número!“, sagte er, ehe er den Hörer auflegte und einen Fluch auf Englisch ausstieß.

Er beugte sich in seinem Stuhl nach vorn, stützte die Ellbogen auf seine Knie und den kahlen Schädel in die Hände.

Gannon war sich nicht sicher, ob er von ihrer Ankunft Notiz genommen hatte. „Frank Archer?“, fragte er.

Der Mann fuhr in seinem Stuhl herum.

Archer war ebenso alt wie Gannon – Anfang dreißig. Er trug Jeans und ein weißes Hemd. Er wirkte mürrisch.

„Jack Gannon. Ich komme gerade aus New York.“

Nach einem ungemütlichen Schweigen erhob sich der Mann. Er war etwa einen Meter achtzig groß und von mittlerer Statur – ebenfalls wie Gannon.

„Frank Archer.“ Die beiden Männer reichten sich die Hand. „Gannon, ich will offen mit Ihnen sein. Ich habe keine Ahnung, warum Sie hier sind.“

„Bei Ihrem gestrigen Telefongespräch sagten Sie, Sie bräuchten Unterstützung.“

„Die habe ich inzwischen. Die Kollegen aus unseren Büros in Caracas und Buenos Aires sind eingeflogen und beschäftigen sich mit der Story. Unsere Freien sind ebenfalls darauf angesetzt. Alle sprechen Portugiesisch und Spanisch und haben eine Menge Erfahrung. Wilson sagte, Sie sind von … Rochester oder so ähnlich?“

„Buffalo.“

„Richtig.“

„Frank, man hat mich hierhergeschickt, um zu helfen. Also lassen Sie mich helfen.“

Archer blätterte durch einige Unterlagen und rieb sich das Gesicht.

„Gabriela und Marcelo waren meine Freunde.“

„Ich verstehe.“

„Gestern Abend war ich mit John im Krankenhaus, als sie ihm sagten, dass Gabriela tot sei. Marcelo ist im Krankenwagen gestorben. Ich habe schon eine Menge Scheiße erlebt, aber das war einer der schlimmsten Momente meines Lebens.“

Gannon nickte stumm, ohne Archer zu unterbrechen.

„John hat Gabriela in Miami kennengelernt, als sie Korrespondentin bei Reuters war. Ich war auf ihrer Hochzeit. Im Moment ist er mit Gabrielas Vater im Konsulat. Er ist von Miami hergeflogen. Sie kümmern sich um die Formalitäten der Überführung nach Florida. Dort soll sie in ein paar Tagen beigesetzt werden. Marcelos Familie ist ebenfalls mit den Vorbereitungen für sein Begräbnis beschäftigt.“

„Es ist wirklich schlimm.“

„Ich habe Freunde in Afghanistan verloren und in Afrika, aber das hier trifft mich besonders schwer.“

„Hat die Polizei schon irgendwelche Hinweise, wer hinter dem Anschlag steckt?“

„Die naheliegendste Theorie besagt, dass es sich um einen Rauschgiftkrieg handelt. Eines der Opfer ist laut einem Bericht der Fernsehanstalt Globo die Tochter eines kolumbianischen Drogenbosses. Angeblich war sie das Ziel eines Racheakts eines Drogennetzwerkes aus Rio. Aber das alles sind reine Spekulationen.“

„Was hat Gabriela in dem Lokal gewollt?“

„Das ist bislang noch ein Geheimnis.“

„Soviel ich weiß, hat sie John eine Nachricht hinterlassen, dass sie eine Informantin treffen wollte.“

„Das stimmt.“ Archer wandte sich zum Telefon und drückte ein paar Tasten. „John hat mir seinen Zugangscode gegeben. Es ist nicht viel. Hören Sie selbst. Es ist auf Englisch.“

Nach einigen Tönen klangen Gabriela Rosas letzte Worte an ihren Mann aus dem Lautsprecher. Ihre Stimme klang durch das stille Büro.

„Hallo, ich bin’s. Die Story über die Taschendiebe in der Metro ist fertig, die kannst du haben. Gerade habe ich einen Anruf von einer unbekannten Frau bekommen, die behauptet, eine heiße Story und entsprechende Dokumente für uns zu haben. Ich habe mich für heute Nachmittag im Café Amaldo mit ihr verabredet; Marcelo kommt als Rückendeckung mit. Hoffentlich war’s schön in São Paulo. Hast du Archer meine Grüße bestellt? Sag ihm, dass ich eine Frau für ihn gefunden habe. Ich wünsche dir einen guten Rückflug; wir sehen uns später. Ich liebe dich.“

Gannon fischte seinen kleinen Digitalrekorder aus seiner Laptoptasche, und Archer spielte die Nachricht noch einmal ab, damit er sie aufnehmen konnte.

„Glauben Sie, dass Gabrielas Informantin ihr einen Hinweis auf einen geplanten Kampf zwischen Drogenbanden geben wollte? Und dann ist etwas mit dem Timing schiefgelaufen?“, fragte Gannon.

„Ich habe keine Ahnung. Klingt aber eher unwahrscheinlich, da Gabriela den Treffpunkt ausgewählt hat.“

„Ist aus diesem Büro kürzlich irgendetwas an die Öffentlichkeit gegangen, das einem der kriminellen Netzwerke nicht in den Kram passen könnte?“

„Nicht wirklich – die Banden konzentrieren sich normalerweise auf die Lokalpresse.“

Archer schaute auf seine Uhr. „Nach Ihrem Nachtflug möchten Sie Ihr Gepäck doch bestimmt ins Hotel bringen, sich ein bisschen frisch machen und eine Kleinigkeit essen, oder?“

„Ich könnte einen Kaffee und eine heiße Dusche gebrauchen.“

„Wir haben Ihnen ein Zimmer im Nine-Palms-Hotel besorgt. Es ist ein ordentliches Hotel und ganz in der Nähe.“ Archer überreichte Gannon einen großen Umschlag. „Hier ist die Adresse. Sagen Sie dem Taxifahrer einfach Hotel de nove palmas. Haben Sie etwas Kleingeld? Soll Luiz Sie begleiten?“

„Ich habe Geld und eine WPA-Kreditkarte.“ Gannon schaute in den Umschlag. „Ich komme schon alleine klar.“

Archers Telefon klingelte. Er nahm den Hörer ab und sagte sehr schnell etwas auf Portugiesisch, ehe er die Hand auf die Sprechmuschel legte.

„Jack, ich muss mit einem Informanten von den Sicherheitskräften reden und anschließend mit dem Besitzer des Lokals. Kommen Sie in neunzig Minuten wieder hierhin. Bis dahin habe ich etwas für Sie.“

Das Nine-Palms-Hotel lag drei Kilometer entfernt und versteckt in einer engen, mit Kopfstein gepflasterten Straße abseits einer viel befahrenen Durchgangsroute. Büsche und Bäume wuchsen so dicht, dass Gannon das Hotel, das hinter einem schmiedeeisernen Tor lag, beinahe übersehen hätte.

Das vor Kurzem modernisierte Haus war im Kolonialstil des neunzehnten Jahrhunderts errichtet – mit Fensterläden, Deckenventilatoren und dunklen Mahagoniböden. Gannon bezog sein Zimmer und bestellte eine Mahlzeit, die gebracht wurde, nachdem er geduscht hatte – Obst, frisches Brot, Saft und Kaffee.

Es machte ihn wieder munter.

Während er aß, versuchte er, sich durch die Berichte in den Tageszeitungen von Rio zu kämpfen, die sich mit dem Attentat auf das Café Amaldo befassten. Die Sprachbarriere machte es ihm nicht unbedingt leichter, weshalb er froh war, als es an seine Tür klopfte. Durch den Spion sah er Luiz Piquet.

„Entschuldigen Sie die Störung, Jack, aber Mr. Archer hat mich geschickt. Er musste seine Pläne ändern, weil er noch ein paar Anrufe tätigen muss, um seinen Artikel zusammen mit den anderen WPA-Kollegen zu Ende bringen zu können. Ich soll Ihnen ausrichten, dass Beland Stone und Melody Lyon zum Begräbnis von Gabriela nach Miami fliegen und George Wilson nach São Bento do Norte, um Marcelos Familie beizustehen.“

„Und was soll ich jetzt tun?“

„Frank möchte, dass ich Sie zum Café Amaldo bringe. Sofort.“

„Dem Tatort?“

„Ja. Ich werde Ihnen bei den Gesprächen mit den Hauptermittlern helfen; Sie sollen sie mit Fragen löchern. Anschließend sollen Sie sofort ins Büro kommen, um den Artikel zu aktualisieren.“

„Dann wollen wir mal los.“

5. KAPITEL

Eine unheimliche Stille herrschte rund um das Lokal.

Der Verkehr durch die Innenstadt von Rio wurde um den Ort der Verwüstung, oder wie die Zeitungen schrieben, „A Zona de Matança“, geleitet.

„Das heißt soviel wie ‘Die Zone des Gemetzels’„, übersetzte Luiz für Gannon, als sie aus dem Taxi stiegen und zum Tatort liefen.

Zahlreiche Streifenwagen mit blinkenden Signalleuchten sicherten die Straße. Weiter unten, wo die Übertragungswagen der Fernsehanstalten und Nachrichtenagenturen standen, war die Straße mit Bändern und Barrikaden abgesperrt. Dahinter hatten sich mehrere Dutzend Schaulustige versammelt und schauten den Ermittlern zu.

Gannons Blick fiel auf die Bürogebäude und Läden jenseits der Absperrungen, die von der Druckwelle beschädigt worden waren. Die Markise einer Boutique hing über einer zerborstenen Fensterscheibe. Teile von Stühlen und Tischen sowie andere Trümmer lagen auf der Straße. Der Schriftzug über dem Lokal war entzweigebrochen. Die beiden Teile schwankten im Wind – ein deprimierendes Symbol für die verheerenden Wirkungen des Attentats.

Konzentriere dich auf das Wesentliche, lass dein Notizbuch in der Tasche und beobachte. Gannon wusste, wie man sich an einem Tatort zu verhalten hatte.

Beim Näherkommen gab er Luiz ein Zeichen, ihm ans Ende der Absperrungen zu folgen – weit weg von den Kollegen der anderen Medien.

Von dort aus beobachteten sie die Ermittler der Spurensicherung, die in ihren weißen Overalls, mit gelben Schuhüberzügen und Latexhandschuhen ausgerüstet, in den Trümmern auf dem Gehweg und auf der Terrasse nach Beweisstücken suchten. Andere fotografierten das Ausmaß der Zerstörung, maßen Abstände, machten sich Notizen. Ein Polizeihund, die Nase dicht am Boden, schnüffelte sich durch den Schutt, während eine leichte Brise Ascheflocken und Papierfetzen durch die Straßen und Gassen vor sich hertrieb.

„Não aqui! Você deve mover-se!“ Ein grimmig dreinblickender uniformierter Polizist baute sich vor ihnen auf.

„Er möchte, dass wir verschwinden und zu den anderen Reportern gehen“, übersetzte Luiz.

„Sagen Sie ihm, dass ich Reporter bei der World Press Alliance aus New York bin und zwei meiner Kollegen hier ermordet wurden. Gabriela Rosa und Marcelo Verde. Sagen Sie ihm, dass ich mit dem Leiter der Ermittlungen sprechen möchte, um möglicherweise Informationen auszutauschen. Die Betonung liegt auf möglicherweise.“

Während Luiz übersetzte, hielt Gannon seinen Presseausweis hoch. Nachdem der Polizist zugehört und den Ausweis kontrolliert hatte, sprach er in sein Funkgerät.

Nach einer kurzen Pause drang eine Antwort durch das Knacken und Rauschen.

Gannon entdeckte einen anderen uniformierten Beamten mitten im Gewühl in sein Funkgerät sprechen; anschließend wandte er sich an die beiden Männer in Polohemden und Jeans neben ihm. Einer schaute von seinem Notizbuch auf und zu Gannon hinüber und winkte ihn durch. Gannon vermutete, dass die Männer in Zivil ebenfalls Polizisten waren. Der erste streckte seine behandschuhte Hand aus und redete ihn auf Englisch an.

„Geben Sie mir bitte Ihren Ausweis.“

Sorgfältig studierte der Mann den Pass und notierte seine Nummer, während sein Partner mit einer kleinen Kamera ein Foto von Gannon machte.

„Sie haben also Informationen über dieses Verbrechen, Mr. Jack Gannon?“

Verstohlen musterte Gannon die Plakette, die der Polizist an einer Kette um den Hals trug und auf der Polícia und Roberto irgendetwas Investigador stand. Er blickte so ernst, als laste das Gewicht der ganzen Welt auf seinen Schultern. Über seine linke Wange schlängelte sich eine kleine Narbe. Die Augen unter den schweren Lidern ruhten abschätzig auf Gannon.

„Ich würde mich gerne erst mit Ihnen unterhalten“, entgegnete Gannon.

„Keine Unterhaltung. Wenn Sie Informationen über dieses Verbrechen haben, müssen Sie mir das mitteilen.“ Der Detective hielt Gannons Ausweis so, dass auch sein stämmiger Partner mit dem pockennarbigen Gesicht die Registriernummer lesen konnte. Dann sagte er rasch etwas auf Portugiesisch. Sein Partner nickte und wählte eine Telefonnummer. „Wenn Sie uns bei unseren Ermittlungen in die Quere kommen, können wir Ihr Visum für ungültig erklären lassen und Sie zurück nach New York schicken.“

„Wie bitte?“

„Oder wir können Sie festnehmen.“

„Moment mal …“

„Also wissen Sie etwas über dieses Verbrechen?“

Gannon hörte, wie sein Partner während des Telefonats seinen Namen erwähnte, und ihm wurde mulmig zumute. Dies hier war kein Tatort wie in Buffalo. In was war er nur hineingeraten? Schweiß lief ihm über den Rücken. Der Kopf schwirrte ihm, als er an die Berichte dachte, die er im Flugzeug gelesen hatte. Zahlreiche Mitglieder der brasilianischen Polizei galten als korrupt und wurden wegen ihrer Brutalität gefürchtet. Menschenrechtsgruppen warfen ihnen außerdem vor, Verdächtige einfach hinzurichten.

Ein New Yorker Detective hätte vermutlich ein paar Worte des Beileids gefunden, wenn Gannon Kollegen verloren hätte. Nicht jedoch dieser Roberto, der mit Gannons Pass ungeduldig auf seine Handfläche klopfte.

„Ich warte auf Ihre Antwort.“

Gannon studierte die Polizeimarke des Mannes. „Sie sind Roberto Estralla?“

„Ja.“

„Der leitende Detective?“

Estralla nickte.

„Kann ich meinen Pass zurückhaben?“

„Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet.“

Nach kurzer Überlegung sagte Gannon: „Können wir uns unter vier Augen unterhalten?“

Estralla hörte auf, mit Gannons Pass auf seine Handfläche zu trommeln. „Soll das ein Bestechungsversuch werden? Das wäre nämlich eine Straftat.“

„Nein.“

„Sagen Sie mir, was Sie wissen, ehe ich von meiner Befehlsgewalt Gebrauch machen muss.“

„Ich vermute, dass Gabriela und Marcelo sich hier mit einer Informantin treffen wollten.“

„Und wie ist der Name dieser Informantin?“

„Ich weiß es nicht.“

„Was hatten sie mit dieser Informantin zu besprechen?“

„Das weiß ich auch nicht.“

Estralla sagte etwas auf Portugiesisch zu seinem Partner, ehe er sich wieder an Gannon wandte: „Woher wollen Sie wissen, dass es eine Verabredung gewesen sein soll?“

„Wir haben es in der WPA-Zentrale in New York erfahren, ehe man mich nach Rio de Janeiro geschickt hat.“

Estralla musterte Gannon mit eisigem Blick.

„In welchem Hotel wohnen Sie?“

„Nine Palms.“

Estralla deutete mit dem Kopf auf Gannons Handy.

„Ihre Telefonnummer?“

Gannon gab sie ihm, und kaum hatte Estralla sie notiert, klingelte sein Handy. Er gab Gannon den Pass zurück. „Sie können gehen“, sagte er und grüßte einen uniformierten Polizisten, ehe er den Anruf annahm.

„Warten Sie“, protestierte Gannon. „Ich habe noch einige Fragen.“ Mit einer ungeduldigen Geste forderte Estralla Gannon zum Gehen auf, doch der rührte sich nicht vom Fleck. „Haben Sie schon Verdächtige oder Spuren? Wie steht es mit einem Motiv? Wissen Sie etwas über die Art der Bombe?“

Estralla und sein Kollege ließen ihn stehen. Ein uniformierter Polizist packte Gannon am Arm und führte ihn zu den Absperrungen, wo er sich unvermittelt dem Blitzlicht der Pressefotografen gegenübersah.

„Jack Gannon.“ Eine attraktive Frau mit makellosem Make-up, einem maßgeschneiderten Hosenanzug und ausgesprochen wichtiger Miene winkte ihn zu sich. Sie hielt ein Mikrofon in den Händen. Hinter ihr stand ein Mann mit einer Kamera auf der Schulter. „Sie arbeiten für die WPA?“, wollte die Frau wissen.

Der Polizist nickte bejahend, und etwa zwei Dutzend Reporter und Fotografen scharten sich um Gannon.

„Ich bin Yasmin Carval vom Globo“. Die Ringe an ihren Fingern funkelten, als sie Gannon das Mikrofon hinhielt. „Hat die Polizei Ihnen gesagt, wer für den Anschlag verantwortlich ist?“

„Nein. Ich bin sicher, Sie wissen da mehr als ich.“

„Zwei Ihrer Kollegen von WPA wurden getötet. Können Sie uns etwas dazu sagen?“

Die Scheinwerfer der sechs oder sieben Fernsehkameras, die um ihn herumstanden, blendeten ihn. Gannon bemerkte Luiz, der am Rande der Pressemeute stand. Der Geruch von Yasmin Carvals aufdringlichem Parfüm stieg ihm in die Nase, als sie einen Schritt näher trat.

„Mr. Gannon, welche Folgen hat das Attentat für die WPA?“, wollte Yasmin Carval wissen.

„Der Verlust ist ein schwerer Schlag für unsere Agentur.“

„Glauben Sie, dass Gabriela und Marcelo die Zielscheiben des Anschlags waren?“

„Zielscheiben?“

„Hat Gabriela an einer Geschichte über Drogenbanden gearbeitet?“

„Das weiß ich nicht.“

„Es gibt Gerüchte, nach denen Rauschgiftbanden hinter dem Anschlag stecken.“

„Ich weiß überhaupt nichts. Ich kann Ihnen nicht mehr sagen. Ich muss jetzt gehen.“

Gannon bahnte sich einen Weg durch die Menge. Als er Luiz erreichte, machten sie sich auf den Weg ins Büro, das nur ein paar Blocks entfernt lag.

„Was zum Teufel war denn das?“, fragte Gannon. „Woher wussten die meinen Namen … und alles andere?“

„Als sie Sie in dem abgesperrten Bezirk entdeckten, haben sie gedacht, man würde Sie bevorzugt behandeln und sich bei dem anderen Polizisten beschwert. Der hat ihnen gesagt, dass Sie bei der WPA arbeiten.“

„Bevorzugt behandeln?“ Gannon schüttelte den Kopf. Er warf einen Blick über seine Schulter und stellte erleichtert fest, dass ihnen niemand folgte. „Dieser Detective hat mich ganz und gar nicht bevorzugt behandelt.“

„Roberto Estralla?“

„Genau.“

„Er gehört zu den angesehensten Ermittlern in Rio, aber er hasst Reporter. Die Kollegen an den Absperrungen waren schwer beeindruckt, dass er Sie das Gelände hat betreten lassen und mit Ihnen geredet hat.“

Andere Städte, andere Regeln, überlegte Gannon, während er seinen Blick noch einmal über den Ort des Geschehens schweifen ließ. Da war noch irgendetwas.

Irgendetwas, das er übersehen hatte.

6. KAPITEL

Als sie in das Büro zurückkehrten, entdeckte Gannon sich auf einem der Flachbildschirme.

Der Ton war immer noch abgestellt.

Frank Archer befand sich mit zwei anderen Leuten in der Redaktion. Ein Mann saß an einem Schreibtisch und sprach leise auf Spanisch in sein Handy, während Archer mit einer Frau zusammenarbeitete, die in ihre Tastatur hämmerte.

„Sie sind wirklich erstaunlich, Jack“, meinte Archer. „Kaum sind Sie in Brasilien gelandet, werden Sie schon zum offiziellen Sprecher für die World Press Alliance und helfen gleichzeitig den Kollegen in Rio bei ihren Recherchen.“

„Wie bitte?“

„Globo und SBT haben Live-Interviews von Ihnen gesendet. Man kann Sie schon den ganzen Tag im Fernsehen bewundern. Gute Arbeit, Gannon.“

„Die Sender erreichen etwa einhundert Millionen Menschen“, schaltete sich die Frau ein, ohne Gannon eines Blickes zu würdigen.

„Entschuldigen Sie, kennen wir uns?“, fragte er sie.

Die braungebrannte Frau mit den kurzen blonden Haaren war Anfang dreißig. Sie trug ein bedrucktes T-Shirt und eine weiße Hose. Ihre Hand war kühl, als Gannon sie ergriff.

„Sally Turner, Büro Caracas. Der Griesgram am Telefon ist Hugh Porter von unserer Zweigstelle in Buenos Aires.“

Porter streckte eine Hand aus, ohne sein Telefongespräch zu unterbrechen. Gannon schüttelte sie, und in dem Moment begann auf dem zweiten Bildschirm die Nachrichtensendung.

„Jack“, sagte Archer, „Sie kennen doch den Verhaltenskodex der WPA bezüglich Reportern, die anderen Reportern Interviews geben?“

Gannon schüttelte den Kopf, ohne den Blick von den Bildschirmen zu nehmen.

„Wir kommentieren Nachrichten nicht“, fügte Archer hinzu.

„Nun, jetzt sind wir eben die Nachricht, Frank. Ich habe nichts Falsches gesagt. Außerdem lauteten Ihre Anweisungen, zum Tatort zu gehen und die leitenden Ermittler zu befragen. Genau das habe ich getan.“

„Und was haben Sie von Estralla erfahren?“, wollte Porter wissen, nachdem er sein Telefonat beendet hatte.

„Seinen Standpunkt.“

„Irgendetwas, das unsere Story voranbringt?“, hakte Archer nach.

Gannon antwortete nicht. Gebannt verfolgte er die Nachrichten auf den Großbildschirmen, auf denen er gerade im Gespräch mit den Polizisten zu sehen war. Archer drehte am Lautstärkeregler, und Gannon hörte seine eigenen Worte, die simultan ins Portugiesische übersetzt wurden. Dabei wurde sein Name am unteren Rand des Bildes eingeblendet: Journalista de Jack Gannon, Aliança da Imprensa do Mundo.

Konzentriert starrte er auf den Fernsehschirm. Erneut hatte er das Gefühl, dass ihm irgendetwas entging.

„Jack“, riss Archer ihn aus seinen Gedanken. „Haben Sie etwas für unsere Story herausbekommen? Wir müssen sie nach New York schicken.“

„Nein.“

„Ich habe auch nichts erwartet.“ Archer wandte sich an die anderen. „Porter?“

„Meine Quelle in Bogotá sagt, dass es sich bei einem der Opfer um Angella Roho-Ruiz handelt, der Tochter von Paulo Roho-Ruiz, hochrangiges Mitglied eines mächtigen kolumbianischen Kartells.“

„Das deckt sich mit dem, was ich herausgefunden habe“, sagte Turner. „Es ist ein Vergeltungsschlag. Entweder ein Schuldenstreit oder ein Rachefeldzug gegen eine Bande aus einer der Favelas.“

„Angella Roho-Ruiz muss Gabrielas Informantin gewesen sein“, mutmaßte Porter.

„Sind Sie sich da sicher?“, fragte Gannon.

„Noch nicht.“

„Wissen Sie mit Bestimmtheit, dass Gabriela diese Angella überhaupt jemals getroffen hat?“

„Was soll das, Gannon?“

„Damit schließen Sie andere Möglichkeiten von vornherein aus – zum Beispiel diese Informantin, die Gabriela treffen sollte oder aber doch nicht getroffen hat.“

„Was wissen Sie denn überhaupt?“, fragte Porter gereizt. „Wie lange sind Sie jetzt hier? Gerade mal ein paar Stunden, oder?“

„Lass gut sein, Hugh“, beschwichtigte Archer, ehe er sich an Gannon wandte. „Jack, wir haben doch schon darüber gesprochen. Gabriela ist nicht in dieses Lokal gelockt worden. Sie hat den Treffpunkt ausgewählt. So machen wir es immer, wenn wir uns mit Informanten treffen. Gut möglich, dass Angella Roho-Ruiz verfolgt und während ihrer Unterhaltung mit Gabriela zur Zielscheibe wurde.“

„Das sind reine Vermutungen. Sie wissen noch gar nicht, ob Gabriela ihre Informantin überhaupt getroffen hat, wer diese Informantin ist oder war. Nur weil Angella Roho-Ruiz unter den Opfern ist, heißt das noch lange nicht, dass sie der Anlass war und das Ganze der Vergeltungsschlag einer Rauschgiftbande.“

„Aber im Moment deutet alles auf den Angriff einer Drogengang hin, Jack“, wandte Archer ein. „Angella Roho-Ruiz stammt aus einem mächtigen Kartell. Beim derzeitigen Stand der Ermittlungen können wir zumindest sagen, dass dieser Anschlag deren Handschrift trägt.“

„Tatsächlich?“, fragte Gannon.

„Jawohl“, bekräftigte Porter. „Aber das können Sie natürlich nicht wissen, da Sie gerade erst aus Buffalo gekommen sind.“

„Sie können mich mal.“

„Hey!“, rief Archer. „Regt euch ab, alle zusammen! Wir sind alle am Boden zerstört und wütend wegen Gabriela und Marcelo. Also schalten wir jetzt alle wieder einen Gang zurück und arbeiten weiter.“

Archer gab Gannon Namen und Telefonnummern von Angestellten aus den Büros und Geschäften in der Nähe des Tatorts. In den meisten konnte noch gearbeitet werden. Derweil konzentrierten sich Archer und die anderen wieder auf ihren Artikel.

Unterstützt von Luiz, verbrachte Gannon den Rest des Tages damit, die Liste abzuarbeiten. Aber die Mehrzahl der Zeugen hatte nur die Explosion gehört und das nachfolgende Chaos gesehen. Keiner hatte etwas Ungewöhnliches bemerkt. Allmählich gewann Gannon den Eindruck, dass Archer ihn nur aus dem Weg haben wollte.

Nachdem Archer, Porter und Turner ihren Artikel gesendet hatten, verließen sie das Büro, um Sicherheitsbeamte und andere Quellen nach neuen Informationen zu befragen. Am Ende des Tages kehrten sie zurück und schickten eine aktualisierte Version ihrer Geschichte in die Zentrale. Anschließend luden sie Gannon zu einem frühen Abendessen in Santa Teresa ein. Das Restaurant lag in einem im Kolonialstil errichteten Gebäude in einer gewundenen, von Palmen gesäumten schmalen Straße. Beim Essen ließen sie ihre Handys und Blackberrys eingeschaltet, und danach tranken alle noch etwas.

Außer Gannon. Er mochte keinen Alkohol.

„Interessiert es Sie eigentlich nicht“, wandte Porter sich nach dem vierten Bier an Gannon, „warum Sie von den Kollegen so gepiesackt werden?“

Gannon zuckte mit den Achseln.

„Hier unten müssen wir für unsere Storys bluten. Wir haben alle schon mal in die Mündung einer Waffe geschaut. Man hat uns mit Gefängnis gedroht, mit Entführung, mit Gewalt, Einschüchterungen und Prügel.“

„Die Sache ist nämlich die“, fuhr Turner fort. „Wir wissen alle um die Umstände Ihrer Einstellung Bescheid. Und um den Ärger, den Sie beim Buffalo Sentinel hatten.“

„Wirklich?“

Turner nickte, bedingt durch den Alkohol, ein wenig schwerfällig.

„Sie können von Glück sagen, dass Sie da nicht mehr arbeiten“, meinte Porter. „Mit den Printobjekten geht es nämlich bergab. Aber die WPA wird überleben – als eine der größten Nachrichtenagenturen für Onlinedienste weltweit … ich schweife ab.“

„Das tust du in der Tat“, bestätigte Archer.

„Jack.“ Porter legte den Arm um Gannon. „Wir haben von Ihrer kleinen abenteuerlichen Geschichte mit dem Cop in Buffalo gehört. Melody war so sehr davon beeindruckt, dass sie Sie eingestellt hat – obwohl alle dagegen waren. Und nach allem, was wir gehört haben, war da mehr Glück als Können dabei.“

Gannon schüttelte den Kopf und lächelte über ihre alkoholbedingte Überheblichkeit.

„Ihr Jungs seid wirklich klasse.“

„Das können Sie laut sagen.“ Porter lachte glucksend. Er zeigte auf Archer, Turner und sich. „Allesamt Pulitzer-Preisträger, alter Knabe.“

„Es ist schon erstaunlich, dass ihr so genau darüber Bescheid wisst, was ich für meine kleine abenteuerliche Geschichte durchgemacht habe, wo ihr doch weit ab vom Schuss hier unten in Südamerika sitzt. Denn als ich an der Story gearbeitet habe, ist mir kein einziger Pulitzerpreis-Träger über den Weg gelaufen. Um genau zu sein, war es sogar die WPA, die mich gebeten hat, ihre Reporter zu unterstützen.“

„Bleiben Sie locker.“ Porter klopfte Gannon auf den Rücken. „Es ist nun mal das angestammte Recht der Älteren, Anfänger zu schikanieren. Habe ich recht, Sally?“

Die drei Kollegen erhoben lachend die Gläser und bestellten eine weitere Runde, um ihre toten Freunde zu ehren. So wurde der späte Nachmittag immer mehr zu einer tränenreichen Totenfeier für Gabriela und Marcelo, während Gannon seinen eigenen Gedanken nachhing.

Er erinnerte sich an seine Jugend als Kind einer Arbeiterfamilie in Buffalo. Seine Mutter war Kellnerin, und sein Vater arbeitete in einer Fabrik, die Taue herstellte. Seine ältere Schwester Cora hatte ihre Eltern überredet, ihm einen gebrauchten Computer zu kaufen. Sie hatte ihn zum Schreiben ermutigt und ihm zugeredet, seinen Traum, Journalist zu werden, zu verwirklichen.

Eines Tages wirst du ein großer Schriftsteller sein … Ich sehe es in deinen Augen. Du bist zielstrebig. Du gibst niemals auf …

Gannon vergötterte Cora, aber mit der Zeit lebten sie sich auseinander. Sie rutschte in die Drogenszene ab, ehe sie von zu Hause weglief. Jahrelang suchten seine Eltern nach ihr, während er seinen College-Abschluss machte und einen Job als Reporter beim Sentinel bekam.

Manchmal verdrängte Gannon seine Wut und machte sich selbst auf die Suche nach ihr.

Stets vergeblich.

Im Gegensatz zu ihm gaben seine Eltern nie auf – bis zu jenem Tag vor etwas mehr als einem Jahr, als ein betrunkener Autofahrer ihren Wagen rammte und sie ums Leben kamen.

Gannon hatte keine anderen Verwandten.

Keine Frau, keine Freundin. Er war allein auf der Welt.

Aber das ist schon okay, dachte er. Noch immer konnte er sich in den Nachrichten des Fernsehsenders Globo betrachten, die über einen Bildschirm oberhalb der Bar flimmerten. Während er die kurze Szene anschaute, wirbelte eine Brise Ascheflocken empor.

In diesem Moment fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Das Puzzleteil, das er vermisst hatte.

„Entschuldigen Sie mich“, verabschiedete er sich von den anderen. „Es war ein langer Tag. Ich möchte in mein Hotel zurück.“ Er zog ein paar Geldscheine aus der Tasche und ließ sie auf dem Tisch liegen.

Turner nahm ein paar davon und drückte sie ihm wieder in die Hand.

„Morgen …“, Porter nahm einen Schluck von seinem neuen Bier, „… haben sie vielleicht schon die Liste sämtlicher Opfer. Darum sollten wir uns als Nächstes kümmern.“

„Sehen Sie zu, dass Sie noch im Hellen ins Hotel zurückkommen, Jack“, ermahnte Archer ihn. „Nach Einbruch der Dunkelheit ist die Stadt nicht mehr sicher. Wissen Sie, was Sie dem Taxifahrer sagen müssen?“

„Hotel de nove palmas.“

„Sehr gut.“

Doch als Gannon fünf Minuten später im Taxi saß, bat er den Fahrer, ihn zum Café Amaldo, der Zona de Matança, zu bringen. Noch immer bewachten Polizisten den Tatort, während die Experten von der Spurensicherung ihrer Tätigkeit nachgingen. Die meisten Nachrichtenteams waren verschwunden.

Er lief an den Absperrungen entlang und wunderte sich, warum diese Experten die Grundregel, vergängliches Beweismaterial zu sichern, missachteten. Den ganzen Tag über hatte der Wind Ascheflocken und Papierfetzen über das Gelände geweht.

Das Material hatte sich in weitem Umkreis verteilt.

Schlampige Polizeiarbeit, dachte er. Das erklärte, warum die Aufklärungsrate bei Morden in Rio nur etwa drei Prozent betrug, während der Durchschnitt in seiner Heimat bei rund fünfundsechzig Prozent lag. Wenn er sich an das erinnerte, was er vor wenigen Stunden am Tatort erlebt und in den Nachrichtensendungen gesehen hatte, konnte er davon ausgehen, dass die meisten Beweisstücke in der Gasse gelandet waren, die auf der gegenüberliegenden Seite des Lokals in die Straße mündete.

Obwohl es von Polizisten wimmelte, war die Gasse nicht abgesperrt. Die schmale Schneise zwischen den hohen Gebäuden war menschenleer und düster, aber das Tageslicht reichte noch aus, um etwas erkennen zu können. Gannons Puls schlug schneller.

Zahlreiche Papierfetzen lagen zwischen anderem Schutt auf dem Pflaster oder klebten an den Wänden. Er begann sie einzusammeln. Stammten sie von der Explosion? Schwer zu sagen? Er würde jedenfalls jedes Stückchen genau überprüfen.

„Hey! Que você está fazendo lá?“, dröhnte eine Stimme durch die Gasse. Jetzt hatte er ein Problem.

„Que você está fazendo lá?“

Die Stimme war jetzt lauter, und zwei Figuren kamen langsam auf ihn zu. Gannon drehte sich um und ging in die entgegengesetzte Richtung davon.

„Batente!“

Die Gestalten bewegten sich schneller. Gannon atmete rascher, als er zu laufen begann.

„Polícia! Batente agora!“

Mit klopfendem Herzen rannte Gannon durch die Gasse.

Lass dich bloß nicht von der Polizei erwischen!

Er überquerte eine verkehrsreiche Straße und lief zu einem großen Hotel, betrat die Lobby, durchquerte sie hastig, entdeckte einen Hinterausgang, durch den man zu einem reich verzierten plätschernden Springbrunnen gelangte, hinter dem sich ein offener Platz erstreckte.

Von irgendwoher erklangen Sirenen.

Galten sie ihm?

Angetrieben vom Adrenalin, das durch seine Adern schoss, lief er weiter.

Ohne sich umzudrehen umrundete er die Statuen, die auf dem Platz standen. Zwei oder drei Häuserblocks entfernt blinkten die Leuchtschriften eines Theaters, von Nachtclubs und Restaurants in der Dämmerung. Er mischte sich unter die Passanten auf dem Gehweg und hielt auf die Restaurants zu, bis er ein Taxi entdeckte.

Der Fahrer war Mitte fünfzig und trug eine weiße Kappe. Gannon ging auf das Taxi zu, zeigte mit dem Finger auf den Wagen und dann auf sich selbst. Der Fahrer nickte, und das kleine silberne Kreuz, das er an einer Kette um den Hals trug, schaukelte hin und her.

„Hotel de nove palmas“, sagte Gannon, nachdem er auf dem Rücksitz Platz genommen hatte.

Das Taxi setzte sich in Bewegung. Nirgendwo waren Polizisten zu sehen.

Als Gannons Atem wieder regelmäßiger ging, begann er, über seine Situation nachzudenken. Er hatte doch nichts weiter getan, als etwas Abfall von einer frei zugänglichen öffentlichen Straße zusammenzuklauben, die zufällig in der Nähe eines Tatorts lag.

Trotzdem wäre es fatal, wenn Estralla davon erfahren würde.

Gannon fuhr sich mit dem Handrücken über die feuchte Augenbraue und bemerkte, dass ihn der Fahrer im Rückspiegel beobachtete. Gannon spürte einen leichten Krampf in der rechten Hand, in der er noch immer die Papiere hielt – einen fast zwei Zentimeter dicken Stapel.

Während das Taxi durchs Stadtzentrum fuhr, steckte Gannon den Kopfhörer in sein digitales Aufnahmegerät und spielte Gabrielas letzte Nachricht ab, wobei er sich auf den wesentlichen Aspekt zu konzentrieren versuchte.

„… jetzt habe ich einen Anruf von einer anonymen Frau bekommen, die behauptet, eine heiße Story und entsprechende Dokumente für uns zu haben. Ich habe mich für heute Nachmittag im Café Amaldo mit ihr verabredet …“

Gannon wiederholte die Passage „… und entsprechende Dokumente für uns zu haben …“ mehrmals.

Falls Gabriela ihre Informantin getroffen und falls diese Informantin besagte Dokumente mitgebracht hatte, dann hatte die Explosion möglicherweise einiges davon über die Straße geweht.

Vielleicht hielt er diese Dokumente gerade in seiner Hand.

Einige Papierstückchen waren angesengt, einige waren an den Ecken angebrannt.

Sie mussten von der Explosion stammen.

Gannon stockte der Atem, als er einen der Fetzen betrachtete.

Er sah aus, als sei er mit Blut verschmiert.

Sobald er im Hotel angekommen war, begann er mit der Arbeit.

Es würde nicht leicht sein. Die Unterlagen waren auf Portugiesisch. Er breitete sie auf dem Schreibtisch aus und schaltete seinen Laptop ein. Einige der Papiere hatten Briefköpfe, auf anderen schienen Tabellen abgedruckt, wieder andere sahen aus wie Verkaufsbilanzen, Mitgliederlisten, Geschäftskorrespondenzen.

Er tippte Satzfragmente in ein kostenloses Online-Sprachtool und übersetzte die Wörter ins Englische, soweit er dazu imstande war. Auf diese Weise bekam er eine ungefähre Vorstellung davon, um was es sich bei den einzelnen Unterlagen handelte. Seiten, die offenbar zusammengehörten, legte er nebeneinander. Die Dokumente stammten von Computerfirmen, Anwaltskanzleien, Banken, Kirchen. Es war ein Geduldsspiel, aber er beschäftigte sich so lange damit, bis ihn die Müdigkeit überwältigte und er erschöpft ins Bett fiel.

7. KAPITEL

Big Cloud, Wyoming

Auf einem anderen Kontinent bahnte sich Emma Lane mit geschlossenen Augen den Weg durch eine endlose Dunkelheit. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen.

Sie sind von dir gegangen, Emma.

Neiiiiin …

Joe und Tyler sind jetzt bei den Engeln.

Sie war in einem Albtraum gefangen.

Sie sah einen Blitz, hörte einen Schrei über eine pfeifende Windbö. Die Bilder vor ihren Augen verschwammen, und sie spürte, wie sie das Bewusstein verlor. Kurz darauf kam sie wieder zu sich.

Der Geruch von Desinfektionsmitteln und von Krankenhaus stieg Emma in die Nase. Aus einem Lautsprecher drangen unverständliche Worte, und sie spürte frisches Leinen auf ihrer Haut, ein Kissen unter ihrem Kopf. Sie war durstig, ihr Kopf schmerzte, und Tausende von Bildern zogen an ihrem inneren Auge vorbei: Bilder von einem herrlichen Tag, von einer Fahrt zum Fluss, von einem Picknick, von einem lachenden Joe und einem jauchzenden Tyler.

Lass mich hier bei ihnen bleiben.

Vergeblich versuchte sie, die Bilder festzuhalten.

Joes Lächeln erstirbt … ihr Geländewagen schert aus, um den Zusammenprall mit dem Auto zu verhindern, das ihnen entgegenkommt … ihr Geländewagen rollt weiter … Emma wird hinausgeschleudert … Tyler ist auf seinem Sitz festgeschnallt … Joe ist verletzt … Emma streckt die Hand nach ihm aus, berührt ihn, spürt, wie Joe stirbt … im allgemeinen Durcheinander wird Tyler von jemandem herausgezogen, ehe das Inferno losbricht …

Nein!

Sie sind von dir gegangen, Emma.

Die Krankenschwestern.

Joe und Tyler sind bei den Engeln.

Das hatten die Krankenschwestern geflüstert, damit Emma, wenn sie wieder zu Bewusstsein kam, die entsetzliche Erkenntnis besser verkraften konnte; dass ihr Mann und ihr kleiner Sohn bei dem Unfall ums Leben gekommen waren.

„Nein! Nein! Nein!“

Emma öffnete die Augen. Ihre Lider flatterten. Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Ihre Augen waren geschwollen, ihr Gesicht, von Schnittwunden übersät, eine Maske der Angst. Verzweifelt streckte sie die Arme aus.

„Tyler!“

Eine Schwester und ein Arzt kamen an ihr Bett, um sie zu beruhigen. Sie sahen besorgt aus. Und dann setzte lautes Wehklagen ein.

„Oh mein Gott!“

„Ruhig, meine Liebe, ganz ruhig“, sagte die Schwester.

„Wo ist mein Baby? Gebt mir mein Baby.“

„Emma, beruhigen Sie sich. Legen Sie sich wieder hin, bitte“, forderte die Krankenschwester sie auf, während sie und der Arzt sie sanft in die Kissen drückten und die Spritze vorbereiteten. Emma sah die Schläuche, die an ihrem Arm befestigt waren, den Sensor an ihrer Fingerspitze, spürte das Röhrchen unter der Nase, bemerkte den Infusionsschlauch. Sie fühlte keine Schmerzen, nur eine watteweiche Taubheit, die von den Medikamenten herrührte.

Es ist gar nicht passiert.

Doch.

Sie las die entsetzliche Wahrheit in den Augen der Menschen im Krankenzimmer: die Schwester, der Arzt, ein anderer Mann im Kittel; Emmas Tante Marsha und ihr Onkel Ned aus Des Moines.

„Emma, als der Anruf von der Polizei kam, haben wir das nächste Flugzeug genommen.“ Ihre Tante beugte sich über sie und umarmte sie. „Es tut uns so leid.“

„Wir werden das schon schaffen.“ Onkel Ned, der pensionierte Marinesoldat mit der „Semper-Fi“-Tätowierung, dem Titel des Erkennungsmarsches des United States Marine Corps, auf dem rechten Arm und dem Geruch von Old Spice am ganzen Körper, tätschelte ihr die Hand. „Zusammen werden wir das schaffen.“

Der Doktor leuchtete mit einer Stablampe in Emmas Augen, nahm das Stethoskop vom Hals, steckte sich die Bügel in die Ohren und drückte es auf ihren Brustkorb. „Sie hatten einen schlimmen Autounfall, aber Ihre Verletzungen sind glücklicherweise relativ harmlos. Sie haben eine Gehirnerschütterung, Rippenquetschungen und einige Schürfwunden.“ Er injizierte etwas in Emmas Infusionsschlauch. „Sie haben ein Trauma erlitten. Ihr Mann und Ihr Sohn haben den Unfall nicht überlebt. Es tut mir leid. Aber hier ist jemand, der Ihnen helfen kann.“

„Nein. Ich habe gesehen, wie jemand Tyler gerettet hat.“

Im Zimmer wurde es ganz still.

„Wo halten Sie Tyler versteckt? Bringen Sie ihn zu mir.“

Der Arzt, die Schwester, Tante Marsha und Onkel Ned wechselten verstohlene Blicke und sahen dann die fünfte Person an – den Mann im weißen Kittel.

„Emma, ich bin Dr. Kendrix. Ich bin Psychiater. Ich helfe Ihnen, damit Sie den Tod Ihres Mannes und Ihres Sohnes … bewältigen können. Emma, Sie haben einen schrecklichen Verlust erlitten, und wir sind da, um Ihnen zu helfen.“

„Hören Sie auf!“

Abwehrend hob Emma die Handflächen vor ihr Gesicht, und die Schläuche an ihrem Arm gerieten in Bewegung. Verwirrt registrierten die anderen die wilde Entschlossenheit in ihrem Blick.

„Ich weiß, dass Joe tot ist. Das weiß ich. Ich habe seine Hand gehalten. Ich habe gespürt, wie er gestorben ist. Ich weiß, dass er nicht leiden musste. Oh mein Gott.“ Die Stimme drohte ihr zu versagen, und sie schlug die Hände vors Gesicht. Als sie sich wieder gefasst hatte, ließ sie die Arme sinken und fuhr fort: „Aber mein Sohn ist nicht tot.“

„Emma …“ Tante Martha kam einen Schritt näher.

„Nein! Jemand hat ihn gerettet, ehe das Feuer ausbrach. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.“

„Emma“, sagte Onkel Ned, „das ist nicht wahr. Du musst den Tatsachen ins Auge sehen.“

„Nein!“

Autor

Rick Mofina
Rick Mofina ist ein ehemaliger Kriminalreporter und heute der preisgekrönte Autor mehrerer Thiller. Er hat Mörder von Angesicht zu Angesicht in der Todeszelle interviewt und ist mit Polizisten des LAPD (Los Angeles Police Departments) auf Patrouille gefahren. Seine Artikel, in denen es um echte Straftaten ging, sind in der New...
Mehr erfahren