Historical Lords & Ladies Band 45

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DER LORD AUS MEINEN TRÄUMEN von BAILEY, ELIZABETH
Kitty schlägt das Herz bis zum Hals, als sie neben ihrem frischgebackenen Gemahl steht - dem Mann, der sie noch nicht einmal geküsst hat! War es die richtige Entscheidung, Claud Cheddon das Jawort zu geben? Sie weiß, dass der attraktive Viscount nur eine Zweckehe will. Doch tief in ihrem Herzen hofft sie, dass er seine Liebe zu ihr noch entdecken wird - denn Claud ist der Lord, von dem sie schon immer geträumt hat.

EIN IDEALES PAAR von HERRIES, ANNE
Warum muss er ausgerechnet jetzt auf diese überaus faszinierende Frau treffen? Nach einem Anschlag wird Lord Massingham von der wunderschönen Jane gepflegt - und sofort entbrennt in ihm ein Feuer der Leidenschaft! Aber er darf seinen Gefühlen und ihren sinnlichen Verlockungen nicht nachgeben: Jemand trachtet ihm nach dem Leben - und bevor er seinen Feind nicht enttarnt hat, schweben er und Jane in Lebensgefahr …


  • Erscheinungstag 12.09.2014
  • Bandnummer 0045
  • ISBN / Artikelnummer 9783733761196
  • Seitenanzahl 352
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Elizabeth Bailey, Anne Herries

HISTORICAL LORDS & LADIES BAND 45

ELIZABETH BAILEY

DER LORD AUS MEINEN TRÄUMEN

Seine bösartige Mutter wird ihn verachten, wenn er Kitty heiratet! Grund genug für Claud, Viscount Devenick, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Er verspricht Kitty ein Leben in Reichtum, damit sie einwilligt. Doch schon bald muss er lernen, dass weder Rache noch Geld einen Mann glücklich machen. Das vermag nur die Liebe einer so verführerischen Frau wie Kitty …

ANNE HERRIES

EIN IDEALES PAAR

Welch ein Wirrwarr! Eigentlich wollte Miss Jane den attraktiven Lord Massingham mit ihrem Schützling verbandeln. Er hat jedoch anderes im Sinn, wenn sie seine heißen Blicke richtig deutet … Kaum sehnt Jane sich nach seinen Küssen – da weist er sie plötzlich zurück! Es scheint, dass ein dunkles Geheimnis Lord Massinghams Liebe zu ihr überschattet.

1. KAPITEL

Es gab niemanden, der das verschlafene kleine Dörfchen Paddington vor dem unerhörten Ereignis, das an diesem Tag seinen Lauf nehmen sollte, gewarnt hätte. Stattdessen schien die Sonne warm auf die dankbaren Einwohner, während Bienen und Schmetterlinge geschäftig in den Hecken herumschwirrten. Gemächlich trottete das Pferd des Kärrners um das Gatter des Dorfangers, und der Bäckerbursche, der soeben mit der Auslieferung eines Auftrages betraut aus dem Geschäft seines Lehrherren kam, pfiff laut vor sich hin. Er winkte fröhlich, als er die junge Dame auf dem Zaun hocken sah, der den Anger am Rand der nach Egdware führenden Straße umgab. Es war ihm kaum zu verargen, dass er ihre verräterisch geröteten, in Tränen schwimmenden braunen Augen nicht bemerkte, denn innerhalb der pittoresken Szene war Miss Katherine Merrick zweifellos ein besonders hübscher Blickfang.

Eine Fülle schimmernder schwarzer Locken, die unter dem Strohhut hervorquollen, fiel ihr auf den Rücken. Ihr Gesicht war unleugbar reizvoll. Sie hatte eine gerade Nase und einen vollen Mund, den sie jetzt jedoch unzufrieden verzog. Allerdings hätte ihr etwas anderes als die verblasste rosa Barchentrobe mit der aus der Mode gekommenen tief angesetzten Taille und den dreiviertellangen Ärmeln besser gestanden. Und der kurze Saum enthüllte mehr als nur ein Stück der weißen Baumwollunterhose, die sie so verabscheute.

Wollte sie der Wahrheit die Ehre geben, so mochte sie nichts an ihrem unmöglichen Aufzug, angefangen bei den alten schwarzen Escarpins bis hin zur Unterwäsche, durch die ihre üppige Figur äußerst unschmeichelhaft eingezwängt wurde. Das Kleid war lediglich um ein geringfügiges weniger hassenswert als die übrigen Sachen. Aber wie sollte man auch mit lächerlichen Einkünften von drei Shilling in der Woche zurechtkommen?

Sie hatte das aussortierte rosafarbene Kleid durch die Vermittlung der ersten Hausangestellten im „Wohltätigkeitsinstitut für mittellose junge Mädchen“ bekommen, wo sie länger gelebt hatte, als sie nachrechnen mochte. Es gefiel ihr überhaupt nicht, aber sie hatte einen ganzen Wochenlohn dafür bezahlt, weil es sonst keine Möglichkeit gab, ihre Garderobe aufzustocken. Und die bestand aus dem schrecklichen grauen, im Institut vorgeschriebenen Einheitsgewand. Nachdem sie jetzt – genau genommen – keine Schülerin mehr war, hatte Mrs Duxford entschieden, dass sie für ihre Dienste ein kleines Entgelt erhalten müsse. Und gerade rechtzeitig! Es war länger als einen Monat her, dass man sie zu der anstrengenden Aufgabe gezwungen hatte, den jüngeren, unbeholfenen Mädchen beim Tanzunterricht ein Minimum an Grazie einzutrichtern. Sie war sich dabei vorgekommen, als müsse sie eine Horde Elefanten unterweisen!

Katherine wischte sich mit dem feuchten Taschentuch über die Augen. Vielleicht war es besser, ihre Sehnsüchte zu verdrängen und den neuesten Posten in einer Reihe schrecklicher Anstellungen anzunehmen, die Mrs Duxford, „die Ente“, ihr aufnötigen wollte. Aber wie konnte sie hoffen, die Erfolge ihrer liebsten Freundinnen als Gouvernanten in einem Haushalt zu wiederholen, in dem der älteste Sohn erst elf Jahre alt und kein Witwer in Sicht war?

Bei dem Gedanken an Helen Faradays bevorstehende Hochzeit rannen ihr neue Tränen über die Wangen. Der Brief, den Mr Duxford, als er die Post verteilte, ihr an diesem Morgen beim Frühstück ausgehändigt hatte, war in überschwänglichen Formulierungen gehalten gewesen, die so gar nicht zu ihrer Freundin passten. Katherine drückte das Taschentuch auf die Augen und versuchte vergeblich, ihr Schluchzen einzudämmen. Kläglich redete sie sich ein, sich für Nell zu freuen. Hatte sie dieses Ergebnis nicht in dem Moment vorausgesagt, als sie von Lord Jarrow und seinem gotischen Schloss gehört hatte? Ihre Freundin hatte sich innerhalb weniger kurzer Wochen in den Witwer verliebt. Wohingegen Prue … Wer hätte gedacht, dass eine so unscheinbare Person bei einem Mann romantische Gefühle wecken würde? Und nun war sie Mrs Rookham und schrecklich glücklich. Es war schlimm!

Kaum war Katherine dieser unfreundliche Gedanke in den Sinn gekommen, tadelte sie sich im Stillen. Sie konnte die liebe Prue nicht beneiden. Und mit einem Bürgerlichen hätte sie sich auch nicht begnügt. Aber es war wirklich schwer, als Letzte zurückgeblieben zu sein. Von den drei Freundinnen war sie diejenige gewesen, die sich gegen die Zukunftsaussicht, für die sie ausgebildet worden war, aufgelehnt hatte. Und es würde die größte vorstellbare Ungerechtigkeit sein, wenn sie schließlich doch als Gouvernante endete!

Es gab nur einen Trost, und das war, dass ihr augenblicklicher Status es ihr gestattete, hin und wieder unter irgendwelchen fadenscheinigen Vorwänden aus dem Institut zu verschwinden. An diesem Morgen hatte sie sich erboten, zum Dorfladen zu gehen, um ein Paar Unaussprechliche, eine Zahnbürste und eine Büchse mit Reinigungspulver für das zuletzt eingetroffene Waisenmädchen zu besorgen, wichtige Dinge, die seltsamerweise von den Leuten, die das Kind gebracht hatten, vergessen worden waren. Nachdem der Einkauf erledigt war, hatte sie so lange, wie sie es wagen konnte, im Geschäft herumgetrödelt, ohne noch etwas zu erstehen, da sie jeden Penny ihres Taschengeldes und ihren Lohn ausgegeben hatte.

Sie fand jedoch den Gedanken unerträglich, zurückzukehren und sich der nicht beneidenswerten Aufgabe zu widmen, einer der unbegabtesten Schülerinnen beim Üben auf dem Pianoforte zuzuhören, erst recht, da Nells Glück sie im Augenblick so tief bewegte, sie indes keine Möglichkeit hatte, sich ihren Gefühlen ungestört hinzugeben. Die beiden anderen Betten in ihrem Zimmer waren jetzt von zwei viel jüngeren Mädchen belegt. In knapp zwei Monaten würde sie einundzwanzig Jahre alt, und die beiden Zimmergenossinnen waren erst siebzehn und achtzehn.

Einundzwanzig! Alles passte zusammen! Von Rechts wegen hätte sie längst ihr gesellschaftliches Debüt gegeben haben und verlobt sein müssen, wäre ihr nicht von einer ihr übel gesonnenen Person das Erbe vorenthalten worden, das ihr, wie sie überzeugt war, zustand. Und dadurch war sie zu einem elenden Leben verdammt. Sie war die unglücklichste Frau der Welt.

Ein für das abgelegene Dörfchen ungewöhnliches Geräusch drang in ihr Bewusstsein. Katherine sah auf und erblickte ein die Straße herunterkommendes Fahrzeug, das von vier Pferden gezogen wurde. Die Postkutsche konnte es daher nicht sein, und für ein Bauernfuhrwerk war das Gefährt zu schnell. Von den eigenen Sorgen abgelenkt, schaute sie der Chaise neugierig entgegen.

Ein aus zusammenpassenden Grauschimmeln bestehendes Gespann trabte vor der stattlichen offenen Kalesche einher. Sie wurde von einem Herrn gelenkt, neben dem ein livrierter Mann saß, den Katherine für einen Stallknecht hielt. Neidisch beobachtete sie, wie die Kutsche sich näherte. Wie sehr sie es genießen würde, in einer so eleganten Karriole gefahren zu werden! Aber handelte es sich überhaupt um eine Karriole?

Die Chaise kam heran. Es freute Katherine, dass der Gentleman in ihre Richtung blickte, besonders, weil sie glaubte, er habe einen bewundernden Ausruf von sich gegeben. Sie war daran gewöhnt, dass Männer ihr Aufmerksamkeit schenkten, selbst wenn ihre Bewunderer zum größten Teil Bauernburschen waren. Es tat ihr gut zu wissen, dass sie das Interesse eines Menschen dieses Kalibers geweckt hatte.

Und dann fiel ihr auf, dass die Karosse die Fahrt verlangsamte. Einigermaßen überrascht sah sie den Stallknecht zu Boden springen und die Pferde am Halfter ergreifen. Hatte der Kutscher sich verirrt? Ein verlockender Gedanke kam ihr in den Sinn. Vielleicht hielt der Gentleman sie für ein Dorfmädchen und war entschlossen, mit ihr zu tändeln.

Vom Reitknecht gehalten, fiel das Gespann in Schritt. Katherine bekam plötzlich Zweifel. Bisher hatte nur der alte Mr Fotherby, der in einem Haus an der anderen Seite des Dorfangers wohnte, mit ihr geschäkert, und er kannte seine Grenzen. Du lieber Gott! Was war, wenn dieser Herr …

Mehr Zeit, den Satz zu Ende zu denken, blieb ihr nicht, da das Gefährt nun neben ihr hielt und die Aufmerksamkeit des Insassen voll auf sie gerichtet war. Vage nahm sie ein angenehmes Gesicht wahr. Der Mann furchte die Stirn. Er trug einen breitkrempigen braunen Biberhut, unter dem man sein blondes Haar sah.

„Ich habe mir gedacht, dass du es bist!“, sagte er höchst indigniert. „Verdammt, Kate, was machst du hier? Zum Teufel, wie bist du hergekommen? Du bist doch nicht ausgerissen, oder doch, du dummes Ding? Habe ich dir nicht gesagt, du sollst dir keine Sorgen machen?“

Vollkommen verwirrt starrte Katherine den Mann an, der sie zunächst musterte, dann den Blick über die Umgebung schweifen ließ und ihn schließlich wieder auf ihr Gesicht richtete.

„Zum Teufel! Bist du allein hier? Wo ist deine Zofe? Großer Gott, Tante Silvia wird einen Tobsuchtsanfall bekommen! Am besten bringe ich dich unverzüglich nach Haus! Komm von dem Gatter herunter und steig ein!“

Die Verwirrung legte sich. Katherine wurde zornig und fand endlich die Sprache wieder: „Ich werde nichts dergleichen tun! Wer sind Sie? Ich kenne Sie nicht und habe auch noch nie etwas von Ihrer Tante Silvia gehört. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie verschwinden würden, Sir!“

„Oh! Wirklich?“, murmelte der Herr grimmig. „Hör um Himmels willen mit diesem Theater auf, Kate!“

„Ich werde nicht Kate genannt“, erwiderte sie kühl. „Ich weiß nicht, wer Sie sind. Man ruft mich Kitty.“

„Nein, so ruft man dich nicht“, widersprach der junge Mann. „Kitty! Wirklich! Ich habe noch nie so einen Blödsinn gehört!“

„Das ist die Wahrheit!“

„Und ich bin der Papst!“

Katherine zwinkerte. „Ach, tatsächlich? Dafür sprechen Sie aber ausgezeichnet Englisch!“

Der junge Mann stöhnte auf. „Gleich erwürge ich dich! Sei vernünftig, Kate. Lass die albernen Scherze, denn ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“

Katherine war der Verzweiflung nahe. „Ich scherze nicht. Sie sind mir vollkommen unbekannt. Ich bin nicht Kate, wer immer sie ist, und …“

„Gleich wirst du mir sagen, dass ich nicht Claud, dein Cousin, bin!“

„Ich habe überhaupt keinen Cousin!“

Claud, falls der Gentleman wirklich so hieß, schaute sie ungläubig und enerviert an. Katherine wähnte sich im Vorteil und setzte die hochnäsigste Miene auf, deren sie fähig war.

„Bitte, fahren Sie weiter, Sir.“

Er verdrehte die Augen. „Hör endlich auf, dich wie eine drittklassige Schauspielerin zu benehmen! Steigst du jetzt ein, oder muss ich dich holen kommen?“

In wachsendem Unbehagen klammerte Katherine sich fest an die Verstrebung des Zauns, auf dem sie hockte. War der Mann verrückt? „Ich habe Sie nie im Leben gesehen, Sir! Ich versichere Ihnen, Sie verwechseln mich mit jemand anderem. Ich werde ganz gewiss nicht in Ihre Kutsche kommen.“

Der Gentleman fluchte laut und rief seinem Diener zu: „Halten Sie die Pferde, Docking. Ich muss aussteigen.“

Da Katherine ihn die Karriole verlassen sah, sprang sie hastig vom Gatter und rannte zu der Ladenzeile am anderen Ende des Dorfangers. Hinter sich hörte sie ihren Verfolger über die Straße herankommen, und vor Schreck klopfte das Herz ihr bis zum Hals. Als sie von einer Hand gepackt wurde, schrie sie vor Entsetzen auf. „Nein, nicht!“, kreischte sie und versuchte, sich loszureißen. Der junge Mann zog sie jedoch unnachgiebig zu sich herum. Panik überkam sie. „Lassen Sie mich los! Lassen Sie mich los!“

Er verstärkte jedoch noch den Griff um ihren Arm. „Hör endlich auf, dich lächerlich zu machen“, erwiderte er hitzig. „So ein Theater mitten auf der Straße! Komm jetzt!“

„Ich will nicht! Lassen Sie mich los!“

„Keine Widerrede, Kate! Steig in die Kutsche!“

Verzweifelt schaute Katherine sich um und begriff jäh, dass ihr niemand zu Hilfe kommen würde. Die wenigen Bewohner in der Umgebung saßen in ihren Stuben oder in den Hintergärten ihrer Häuser. Und von den Inhabern der Geschäfte, zu denen sie hatte rennen wollen, war offenbar keine Hilfe zu erhoffen. Sie war mit dem Verrückten allein, dessen Hände sie nicht abschütteln konnte. Von Angst getrieben, kämpfte sie wie eine Tigerin. Sie kreischte und schimpfte, während der Schurke versuchte, sie festzuhalten. „Sie werden mich nicht zwingen, Sie Scheusal! Wie können Sie es wagen!“

„Wenn du nicht freiwillig mitkommst, hebe ich dich hoch und trage dich!“

Sie war nicht mehr für Vernunft zugänglich und versuchte, vor Wut und Panik schreiend, sich von dem Mann zu befreien. Er ließ sie los. Sie torkelte rückwärts und verlor beinahe das Gleichgewicht.

„Also gut, meine liebe Kate! Du hast es nicht anders gewollt!“

Später konnte Katherine nicht mehr sagen, wie es passiert war. Im nächsten Augenblick hatte der Schuft sie sich wie einen Kartoffelsack über die Schulter geworfen. Sie wurde, ohne dass sie sich wehren konnte, zu der Karriole getragen und auf die Polster fallen gelassen. Sprachlos blieb sie sitzen und starrte verwirrt den Verrückten an, der schnaufend seinen bei dem Kampf heruntergefallenen Hut aufhob und aufsetzte, dann geschmeidig neben ihr Platz nahm und die Zügel ergriff.

Die Pferde wurden angetrieben, und die Chaise fuhr los. Der Stallknecht sprang auf den Dienertritt. Erst als kurze Zeit später Paddington Green hinter ihnen lag, begriff Katherine, was vorging.

Das Herz schlug ihr zum Zerspringen. Mit bebender Stimme wandte sie sich an ihren Peiniger: „Das ist eine Entführung! Dafür können Sie ins Gefängnis kommen! Lassen Sie mich sofort aussteigen! Hören Sie! Halten Sie die Pferde an!“

„Kreisch, so viel zu willst! Das macht nicht den mindesten Unterschied.“

Sie blickte hoch und sah, dass die Kutsche gleich auf die Straße nach London einbiegen würde. „Sie sind der schrecklichste Mensch, den ich je im Leben getroffen habe!“, schrie sie.

Von dem herzlosen Geschöpf, das in wenigen Augenblicken ihre Welt buchstäblich auf den Kopf gestellt hatte, bekam Katherine jedoch als Antwort nichts anderes zu hören als spöttisches Gelächter. Einen Moment lang zog sie in Betracht, aus der Karriole zu springen. Das Gefährt fuhr jedoch schneller, als sie sich das je hätte vorstellen können. In Gedanken sah sie sich schon, während sie den Blick auf den rasch neben dem Fahrzeug vorbeiziehenden Straßenrand richtete, mit gebrochenen Gliedern auf der Erde liegen.

Sie begriff, dass ihre Hoffnung auf eine schnelle Rückkehr in die Sicherheit des Instituts vergebens war. Die Angst überwältigte sie, und sie verlegte sich aufs Flehen: „Oh, bringen Sie mich bitte zurück, Sir! Ich kenne Sie wirklich nicht. Bestimmt gibt es den fürchterlichsten Aufruhr, wenn Sie Ihren Irrtum bemerken! Bitte, bitte, halten Sie jetzt an, ehe es zu spät ist!“

Der Gentleman warf ihr einen flüchtigen Blick zu und erwiderte in beiläufigem Ton: „Das ist sehr gut, Kate. Ich wusste gar nicht, dass du eine so gute Schauspielerin bist. Du solltest Unterricht nehmen und zum Theater gehen.“

Katherine war verzweifelt. Konnte sie den Mann denn überhaupt nicht umstimmen? Er schien restlos davon überzeugt zu sein, jemand bei sich zu haben, den er kannte. Was musste sie äußern, damit er seinen Irrtum einsah, der zwangsläufig schlimme Folgen haben würde? Sie ballte die im Schoß liegenden Hände. „Sie glauben es mir nicht, aber seien Sie sicher, dass Sie Ihre Handlungsweise noch bedauern werden.“

Der Mann wandte ihr das Gesicht zu. „Verdammt! Ich kann mir vorstellen, dass sie mir spätestens dann leidtut, wenn deine Mutter grob wird. Aber wenn ich dich nicht so schnell wie möglich zurückbringe, dann rennt sie, so wahr, wie ich hier sitze, zu meiner Mutter, und dann ist wahrhaftig der Teufel los!“

Katherine fühlte sich den Tränen nahe. „Sie sind verrückt! Und Sie werden aller Wahrscheinlichkeit nach im Irrenhaus enden, falls man Sie vorher nicht ins Gefängnis steckt.“

„Ha! Da ruft der Kuckuck seinen eigenen Namen! Das Einzige, was mich ins Irrenhaus bringen würde, wäre der Umstand, dass ich dich doch heiraten muss. Und genau das wird meine Mutter verlangen, wenn sie von dieser Eskapade Wind bekommt.“

Nachdem der Mann das geäußert hatte, ließ er die Pferde mit einer Geschwindigkeit, bei der Katherine die Nackenhaare zu Berge standen, in die Abbiegung nach London laufen. Die Karriole schwankte bedenklich. Ängstlich klammerte Katherine sich am Sitzrand fest.

Es dauerte einige Augenblicke, bis ihre Furcht sich so weit gelegt hatte, dass sie über das, was der Mann gesagt hatte, nachdenken konnte. Nichts ergab einen Sinn. Der Gentleman hatte von Heirat geredet. Die Bemerkung war der Beweis dafür, dass er sie mit jemand verwechselte. Sah sie dieser Kate so ähnlich?

Er wandte ihr wieder das Gesicht zu und schaute sie unwirsch an. „Zum Teufel, was ist in dich gefahren, Kate? Ich habe dich für ein umgängliches Mädchen gehalten und kann es dir auch nicht verargen, dass du dich auflehnst. Ich will diese Verbindung genauso wenig wie du. Aber warum Theater machen? Ich habe dir doch gesagt, dass ich die Sache in die Hand nehme, nicht wahr? Du hättest wissen müssen, dass ich kein Mann bin, der sich zur Ehe zwingen lässt, wenn die Frau nicht will. Ich weiß, meine Mutter ist eine unangenehme Person, aber ich sage dir, dass ich nicht klein beigeben werde!“

Ungeachtet des anhaltenden Unbehagens wurde Katherine neugierig. „Will Ihre Familie Sie mit Ihrer Cousine verheiraten?“

Sie handelte sich einen angewiderten Blick ein. „Fang nicht schon wieder damit an! Als ob du tatsächlich nicht Kate wärst!“

Die Neugier verwandelte sich in Verärgerung. „Aber das habe ich Ihnen doch gesagt! Ich weiß nicht, warum Sie mich fälschlicherweise für Ihre Cousine halten.“

„Das reicht jetzt!“ Der Mann warf einen Blick über die Schulter. „Docking, wer ist diese Frau?“

Katherine drehte sich um und sah den Livrierten grinsen. „Wer? Das ist Miss Kate, Mylord.“

„Und in welchem verwandtschaftlichen Verhältnis steht sie zu mir?“

„Sie ist die Tochter der Schwester Ihrer Mutter, Mylord, und folglich Ihre Cousine.“

Der Gentleman richtete die blauen Augen wieder auf Katherine. „Damit habe ich den Beweisvortrag abgeschlossen.“

Ihre Aufmerksamkeit galt jedoch der Anrede, die der Diener verwendet hatte. „Sind Sie wirklich ein Adliger?“

„Stell dich nicht so dämlich an, Kate. Du weißt, wer ich bin.“

Katherine starrte sein Profil an, und ihr Herz machte einen Sprung. Er sah recht angenehm aus, da er ein ebenmäßiges, gut geschnittenes Gesicht mit einer geraden Nase und vollen Lippen besaß. Bei dem kurzen Blick, den Katherine auf sein Haar geworfen hatte, war ihr nur aufgefallen, dass es hellblond war. Das Kinn war jedoch eigenartig. Sie betrachtete es mit einer gewissen Gespanntheit. Es war überhaupt nicht wuchtig, wirkte indes energisch. Und das erklärte, warum das Wesen des Mannes nicht zu seinem Aussehen passte. Aber er war von Adel. „Sie heißen Claud?“, fragte sie.

„Zum Teufel, Kate! Hör endlich damit auf!“

Also hatte sie sich richtig erinnert. „Sie sind nicht verheiratet?“

„Man würde mich kaum dazu zwingen wollen, die Ehe mit dir einzugehen, wenn ich nicht ledig wäre.“

Ihr kam ein kühner Gedanke, und jäh stockte ihr das Herz. „Ist es nicht so, dass Sie, weil Sie mich entführen und meinen guten Ruf ruinieren, der Ehre Genüge tun und mir einen Antrag machen müssen?“

„Gott im Himmel!“ Clauds entsetzter Blick schweifte über sie. „Zum Teufel, auf was willst du hinaus? Du bist doch nur weggerannt, weil du mich nicht heiraten willst, nicht wahr?“

Der verwegene Gedanke erstarb im Keim, und Katherine seufzte. „Ich sage Ihnen doch dauernd, dass ich nicht Ihre Cousine bin. Es stimmt, dass ich Katherine heiße, aber …“

„Hör zu!“, sagte Claud. „Ich weiß nicht, welches Spiel du treibst, aber jetzt bin ich mit meiner Geduld am Ende. Noch ein Wort, und ich stopfe dir den Mund, damit du nicht mehr reden kannst.“

Katherine hatte keinen Grund, dem Mann nicht zu glauben, und versank in brütendes Schweigen. Die Kutsche fuhr schneller, sodass sie im Fahrtwind saß, für den sie ganz unpassend gekleidet war. Ihre Situation wurde ihr bewusst, und das Herz sank ihr. Sie wurde entführt und hatte nicht mehr bei sich als die Sachen, die sie am Leibe trug. Wahrscheinlich würde sie eine Unterkühlung davontragen, wenn sie nicht vorher vor Angst starb.

Aber dieser Claud musste einen Weg finden, wie er sie ins Institut zurückschicken konnte. Und es war höchst wahrscheinlich, dass er das tun würde. Ein wenig betrübt stellte sie fest, dass er nicht das Mindeste Interesse an ihr persönlich bekundete. Er wollte seine Cousine ganz eindeutig nicht heiraten. Und da diese Kate ihr offenbar ähnlich sah, wollte er sie auch nicht. Das war schade, da sie ihrerseits unbedingt einen Adligen zum Gatten suchte. Aber dennoch mochte es nicht sehr angenehm sein, einen Fremden zum Ehemann zu haben, und es war offenkundig, dass es schwierig werden würde, diesen Claud dazu zu bringen, ihren Erwartungen zu entsprechen.

Außerdem war er ein Scheusal. Voll neu erwachenden Zorns dachte sie daran, wie grob er sie behandelt und wie er sie bedroht hatte. Oh, das würde sie ihm heimzahlen! Er sollte nur warten, bis er seinen Irrtum feststellte! Denn früher oder später würde das passieren. Ganz gleich, wie sehr sie seiner Cousine ähnelte …

Der Gedanke erstarb. Katherine spürte das Herz wie rasend schlagen. Warum hatte sie nicht sofort daran gedacht? Wenn sie dieser unbekannten Frau so ähnelte, konnte es nur eine Erklärung geben: Sie war versehentlich auf jemanden gestoßen, der zu ihrer Familie zählte, über die sie nichts wusste.

In Gedanken versunken beachtete Claud, Viscount Devenick, seine neben ihm sitzende Cousine kaum. Seine Verärgerung hatte sich gelegt. Er konnte sich jedoch Kates verrücktes Benehmen nicht erklären. Aber erneut befragen würde er sie nicht. Er würde nur außer sich geraten, falls sie mit dieser lächerlichen Komödie fortfuhr. Gott sei Dank hatte sie mit ihren dummen Behauptungen aufgehört. Dachte sie wirklich, dass er sie geknebelt hätte? Sie hätte ihn besser kennen müssen. Das war eindeutig nicht der Fall, wie diese Eskapade bewies. Die alberne Göre hatte kein Vertrauen zu ihm!

Er hielt sich vor, sie sei erst achtzehn und in dieser Saison in die Gesellschaft eingeführt worden. Vom Standpunkt seiner fünfundzwanzig Jahre her gesehen war es klar, wie leicht ihre Flucht zu einem Aufruhr führen konnte. Die Mutter würde ihn angesichts ihrer Nichte, die eher weggerannt war, statt ihren Cousin zu heiraten, unter dem Vorwand zum Traualtar zerren, Kate habe ihren guten Ruf zunichtegemacht.

Er war jedoch kein solcher Trottel, um nicht zu erkennen, warum sie sich diesen Gedanken in den Kopf gesetzt hatte. Der Einfall wäre ihr nie gekommen, hätte die Großmutter dem Mädchen nicht ein Legat versprochen, damit es eine anständige Mitgift besaß. Als ob er nicht genügend eigenes Geld hätte! Und alles, was die Mutter dazu zu sagen hatte, war, das Vermögen ihrer verwitweten Mutter müsse in der Familie bleiben. Bedauerlich, dass er keinen Bruder, sondern nur drei Schwestern hatte. Er hätte es verstanden, wenn ein jüngerer Sohn die Hände nach diesem Geld ausgestreckt hätte. Aber dafür eine Ehe einzugehen und sich ausgerechnet an Kate zu binden …?

Sie war hübsch genug, aber welcher Mann wollte schon seine Cousine heiraten? Außerdem war sie ein für seinen Geschmack viel zu zimperliches Geschöpf. Und deshalb konnte er sich ihr Benehmen überhaupt nicht erklären. Er hatte nie erlebt, dass sie sich derart unberechenbar verhielt oder gar so widerspenstig war. Er fühlte ungewohntes Interesse sich regen. Vielleicht hatte die junge Kate Seiten, die er noch nicht an ihr kannte.

Er wandte sich ihr zu und sah, dass sie ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen betrachtete. Sogleich ging er zum Angriff über: „Wieso schaust du mich so finster an? Du solltest mir dankbar sein!“

Katherine starrte ihn nur weiterhin schweigend an und verzog unmutig die Lippen.

„Hast du die Sprache verloren?“, fragte er barsch. „Antworte!“

Das war zu viel. Katherine verlor die Beherrschung. „Antworte!“, wiederholte sie, den Tonfall des Mannes imitierend. „Warum sollte ich, wenn Ihnen nichts Besseres einfällt, als mir zu drohen? Reicht es nicht, dass Sie mich gewaltsam in Ihre Kutsche gezerrt haben?“

„Das war deine eigene Schuld, Kate. Warum bist du nicht freiwillig mitgekommen? Du hast dich wie eine Wildkatze gesträubt.“

„Das würde ich wieder tun!“

Zu Clauds größter Verblüffung brach sie plötzlich in Tränen aus. Sogleich geriet er in Verlegenheit. Er hatte sie nicht zum Weinen bringen wollen. „He! Du hast keinen Grund zu flennen!“

„Doch!“, antwortete Katherine schluchzend und suchte verzweifelt nach ihrem Schnupftuch. „Sie wissen nicht, was Sie getan haben, und ich kann es Ihnen nicht begreiflich machen. Ich kann Ihnen nur sagen, dass es schrecklich ist.“ Sie fand das Taschentuch nicht. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie es in der Hand gehabt hatte, als dieser grässliche Claud über sie hergefallen war. Sie musste es bei der Rangelei verloren haben. Sie schniefte, schaute ihren Entführer vorwurfsvoll an und sagte: „Ihretwegen habe ich sogar mein Schnupftuch verloren!“

Er nahm die Zügel in seine Linke und suchte mit der Rechten in den Taschen des Gehrocks. „Hier.“

Katherine riss ihm das schneeweiße Leinentuch, das er ihr hinhielt, aus der Hand, schnäuzte sich laut und wischte sich die Tränen ab. Der Drang zu weinen ließ nach. Sie gab ihm das Tüchlein jedoch nicht zurück, sondern zerknüllte es zwischen ihren unruhigen Fingern. Durch den Wind war ihr kalt geworden, und sie dachte erneut daran, wie unpassend sie angezogen war. Sie sah den Urheber ihres Elends an und fragte: „Ist Ihnen klar, dass Sie mich entführen, ohne dass ich etwas anderes anzuziehen habe als dieses Kleid?“

Er ließ den Blick über sie schweifen und richtete ihn dann wieder auf die Straße. „Da komme ich nicht mehr mit. Wieso willst du dieses Ding behalten? Woher hast du es? Du siehst darin aus wie eine Bauerstochter in ihrem Sonntagsstaat.“

„Wie abscheulich von Ihnen, das zu sagen. Ich weiß, es ist nicht modisch, aber …“

„Wenn ich dir einen guten Rat geben darf, verbrenne es.“

„Verbrennen!“, kreischte Katherine wütend. „Es hat mich drei Shilling gekostet.“

Erneut sah Claud sie an und furchte die Stirn. „Dann wurdest du ausgeraubt. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, warum du nicht wenigstens einen Mantel mitgenommen hast. Du bist ausgesprochen töricht, Kate.“

Erbost blitzte Katherine ihn an. „Warum hätte ich mir an einem solchen Tag einen Mantel anziehen sollen, wenn ich nur zu den Läden am Dorfanger wollte?“

Claud hörte ihr nicht zu. Ihm war aufgefallen, dass seine dumme Cousine fröstelte. Er begriff nicht, warum sie unvorbereitet getürmt war. Die alberne Göre hatte keinen Verstand. Gott sei Dank, dass er sich so beharrlich dagegen verwahrt hatte, sie zu heiraten! Er ließ die Pferde langsamer laufen und rief über die Schulter: „Gibt es in diesem Fahrzeug eine Decke, Docking?“

„Ja, unter dem Kutschbock, Mylord.“

Katherine hatte darüber nachgegrübelt, dass alles, was sie besaß, im Institut war. Sie hörte auf, darüber nachzudenken, als die Karriole anhielt. Ihr Entführer kramte unter dem Sitz, und flüchtig erwog sie die Möglichkeit, das Risiko einzugehen und aus der Kutsche zu springen. Aber er würde sie verfolgen und keine Mühe haben, sie einzuholen. Und wie in aller Welt sollte sie zurechtkommen, wenn sie mitten auf der Straße zurückblieb, ohne eine Ahnung zu haben, wo sie sich befand, und außerdem kein Geld hatte, um nach Paddington zurückzukommen?

Claud richtete sich auf, schüttelte die Decke aus, die er gefunden hatte, und legte sie ihr ungeduldig um die Schultern. „Wickle dich darin ein!“

Bedauernd ließ Katherine den Gedanken fallen, die Gelegenheit zur Flucht zu nutzen, und hüllte sich in den warmen Umhang. Sie war dankbar und lächelte den adligen Gentleman unbedacht an. „Vielen Dank.“

Einen Moment lang starrte er sie an und war eigenartig beunruhigt über den Ausdruck in ihren Augen, der jedoch abrupt verschwand.

„Oh, Gott! Was in aller Welt wird die Ente sagen, wenn sie feststellt, dass ich verschwunden bin?“

„Ente? Welche Ente?“, wollte Claud verdutzt wissen. „Zum Teufel, was hat eine Ente zu dieser Sache zu sagen?“

Durch den Gedanken an Paddington war Katherine daran erinnert worden, dass sie vor lauter Schreck über ihre Entführung Mrs Duxford vollkommen vergessen hatte. An diesem Nachmittag hätte sie auf die Schülerinnen achtgeben sollen, die ihre Übungen auf dem Pianoforte machten. Wenn festgestellt wurde, dass sie die ganze Zeit nicht da gewesen war, musste die Ente denken, dass sie in Schwierigkeiten geraten war. Und was war, wenn man entdeckte, dass sie das Dorf in Begleitung eines Fremden verlassen hatte? Angenommen, jemand war Zeuge geworden, wie er sie gewaltsam in seine Kutsche gebracht hatte? Ihr guter Ruf würde restlos ruiniert sein.

Der Gedanke, dass Mrs Duxford unweigerlich vor Wut toben würde, ließ sie sich wünschen, sie müsse nie zu ihr zurück. Aber noch schlimmer war die Ungewissheit, was ihr in nächster Zukunft bevorstand. Denn wenn die ebenfalls Katherine heißende Cousine dieses grässlichen Mannes namens Claud ihr tatsächlich so ähnlich sah, musste es sich um Familienangehörige handeln. Sie hatte sich immer danach gesehnt, die Wahrheit über ihre Herkunft zu erfahren, und in all den Jahren geglaubt, sie sei ihr absichtlich verschwiegen worden. Doch nun, da sich die Gelegenheit ergab, fürchtete sie sich mehr, als sie es für möglich gehalten hätte. Ihre Familie hatte sie verstoßen. Wie würden ihre Angehörigen reagieren, wenn sie ihnen plötzlich vor die Nase gesetzt wurde?

Seit einer Weile fuhr die Karriole wieder. Schweigend betrachtete Katherine von Zeit zu Zeit das Profil des Auslösers allen Übels, das sich über ihr zusammenbraute. Was würde er sagen und tun, wenn er seinen Irrtum bemerkte? Schlimmer noch, was würden ihre unbekannten Verwandten sagen?

Sie verlor das Zeitgefühl und hätte nicht mehr sagen können, wie lange sie schon unterwegs war. Ihr fiel auf, dass die Umgebung sich langsam veränderte. Die ländliche Szenerie war mehr und mehr einer städtischen Kulisse gewichen. Der Straßenverkehr wurde dichter, und es waren mehr Leute zu sehen. Offenbar näherte man sich der Hauptstadt. „Wo sind wir?“

„Wir kommen gleich nach Tyburn Gate.“

„Dann sind wir fast in London!“

Ungeachtet der ärgerlichen Situation, in der sie sich befand, und der schrecklichen Ungewissheit über die Zukunft, wurde sie zunehmend aufgeregter. Wie sehr sie sich gewünscht hatte, hier zu sein! Welche Träume sie gehabt hatte, an Soireen, Bällen und Maskenfesten teilzunehmen, ins Theater und in den eleganten Geschäften in der Bond Street einkaufen zu gehen!

Voll neu erwachten Interesses schaute sie sich um. Sie kam sich auf diese große Stadt schlecht vorbereitet vor und ihr überhaupt nicht gewachsen. Unbewusst rückte sie näher zu dem neben ihr sitzenden Mann. Trotz seines abscheulichen Benehmens war er der Einzige, von dem sie sich Hilfe erhoffen konnte. Sie hatte keine Kleidung, kein Geld und keine Aussicht, diesen Missstand zu beheben. Und außerdem würde sie bald den Folgen des unbesonnenen Verhaltens ihres Entführers ausgeliefert sein.

Schließlich fuhr die Karriole durch einen weniger lärmerfüllten Teil der Stadt und bog auf eine von Bäumen gesäumte Straße ein, die neben einer großen Grünanlage verlief. „Bitte, wo genau sind wir?“

Claud schreckte aus den Gedanken. „Wie bitte?“

„Ist das vielleicht der Hyde Park?“

Claud wurde wieder gereizt: „Gott sei Dank, dass wir fast da sind! Müsste ich dich noch länger ertragen, Mädel, dann wären die Folgen unabsehbar.“ Er sah die Cousine ihn prüfend anschauen. In ihren braunen Augen stand ein beunruhigter Ausdruck. „Wohin fahren wir?“

Claud seufzte. „Natürlich zum Haymarket. Wohin sollte ich dich sonst bringen, wenn nicht zu dir nach Hause? Es sei denn, meine Tante ist bereits bei meiner Mutter. In diesem Fall müssen wir uns eine Geschichte ausdenken, um deine Abwesenheit zu erklären. Aber zum Henker! Mir fällt nichts Passendes ein.“ Beim Reden hatte er Katherine wieder angesehen, und jäh kam ihm ein höchst befremdlicher Gedanke. Er überlegte, ob sie tatsächlich jemand anderer sein könne, ließ jedoch die Idee sogleich wieder fallen. Bestimmt wollte sie, dass er genau das dachte. Und in dem Moment, wenn er zugab, dass er Zweifel hatte, würde sie ihn auslachen. „Mir ist noch immer nicht klar, warum du das getan hast, Kate. Was hast du damit zu erreichen gehofft?“

Katherine wusste nicht, was sie antworten sollte. Da er die Wahrheit nicht akzeptieren wollte und obendrein eine alarmierende Neigung zu heftigen Zornesausbrüchen zeigte, hielt sie es für klüger, der Frage auszuweichen. „Ich weiß, dass Sie Ihr Verhalten eines Tages bereuen werden, Sir“, sagte sie. „Ich hoffe nur, dass Sie am Ende Kavalier genug sind, nicht mir die Schuld zu geben.“

„Du kannst es immer noch nicht lassen? Nun, ich habe genug davon. Wir werden sehen, ob du dabei bleibst, wenn meine Tante Zustände bekommt.“

Wenn jemand Zustände hätte bekommen müssen, dann war das Katherine. Denn je näher man dem von ihrem Entführer bezeichneten Ziel kam, desto niederschmetternder war der Gedanke, was ihr dort bevorstehen mochte.

Das Haus, vor dem die Karriole schließlich hielt, war sehr eindrucksvoll. Katherine bekam Herzflattern, als der Diener vom Tritt sprang und zur Eingangstür rannte, wo er den Klopfer betätigte. Und während er zu den Pferden zurückkehrte, fühlte sie sich erneut bemüßigt, einen letzten Versuch zu unternehmen, ehe der junge Herr namens Claud aussteigen konnte. „Hören Sie mir bitte zu, Sir.“

Er wandte ihr das Gesicht zu, machte jedoch einen ungeduldigen Eindruck. „Was willst du jetzt, Kate? Lass uns ins Haus gehen und die Sache hinter uns bringen.“

Er hielt noch immer die Zügel und die Reitpeitsche in der Hand. Ohne nachzudenken ergriff Katherine ihn am Arm. „Sie begehen einen schweren Fehler“, erwiderte sie. „Ich befürchte, Sie könnten auf eine Leiche im Keller stoßen.“

Claud verdrehte die Augen. „Hör endlich auf!“

Er wartete die Antwort nicht ab. Er drehte sich um, war im nächsten Moment aus der Kutsche gesprungen und händigte dem zu ihm kommenden Diener Zügel und Gerte aus. Vage wurde Katherine sich bewusst, dass der Bedienstete sich auf den Kutschbock schwang. Ihr Blick war jedoch auf seinen Herrn gerichtet, der um das Ende der Karriole zu ihr kam und ihr die Hände entgegenstreckte.

„Komm, ich hebe dich auf die Straße.“

In Gottes Namen. Katherine ließ die Decke fallen, stand halb auf und wollte ihren Fuß auf den Tritt setzen. Mit zwei kräftigen Händen ergriff er sie jedoch um die Taille. Einen Augenblick lang fühlte sie sich hilflos und ergriff seine Schultern. Dann wurde sie auf den Boden gestellt, und seine zu ihren Armen geglittenen Hände stützten sie. Sie fühlte sich eigenartig benommen und verspürte dort, wo er sie berührte, eine wohltuende Wärme. Sie schaute ihm ins Gesicht und sah, dass sein Blick weicher geworden war.

„Du bist eine verdammte Plage, Kate. Aber keine Angst, ich werde die Schuld auf mich nehmen. Ich lasse nicht zu, dass Tante Silvia dich drangsaliert.“

Und das aus dem Mund eines Mannes, der sie gnadenlos gequält hatte! Katherine fand keine Worte des Protests, denn ihr unbotmäßiges Herz lenkte sie viel zu sehr ab.

Ein beeindruckendes Individuum großen Leibesumfangs und hohen Alters öffnete die Haustür. Katherine ließ sich die kurze Freitreppe hinaufgeleiten und folgte dem Gentleman fügsam ins Entree.

Die Eingangshalle war lang und schmal. Im Hintergrund befand sich eine Treppe. An einer Seite stand ein Konsoltisch. Darüber hing ein vergoldeter Spiegel, und daneben befanden sich eine Garderobe und ein Stuhl für das Personal.

Claud zog die Handschuhe aus und übergab sie zusammen mit seinem Hut dem Butler seiner Tante. Zum Glück war der Angestellte viel zu diskret, um etwas zu äußern. Flüchtig überprüfte Claud im Spiegel sein Aussehen und fuhr sich glättend über die kurzen blonden Locken. Man konnte dem Bediensteten den erstaunten Blick nicht verargen, den er Katherine, die hinter Claud ins Haus gekommen war, zugeworfen hatte. Dann jedoch verriet Tufton nicht einmal durch ein Wimpernzucken, was in ihm vorging. „Ist meine Tante daheim, Tufton?“

„Für Sie, Mylord, ist Sie zu sprechen.“

„Ist sie im Gelben Salon?“

Der Butler verbeugte sich. „Ja, wie üblich, Mylord. Sie hat …“

Claud stieg jedoch bereits die Treppe hinauf und drehte sich um, weil er sicher sein wollte, dass Kate ihm folgte. Es bestand nicht die geringste Chance, seiner Tante die Eskapade vorzuenthalten. Daher blieb nichts anderes übrig, als ihr sofort mutig entgegenzutreten. Zumindest war sie nicht zu seiner Mutter gerannt. Er konnte die Hoffnung hegen, die Sache einigermaßen glimpflich hinter sich zu bringen.

Nachdem er die erste Etage erreicht hatte, drehte er sich zu seiner Cousine um. „Sieht so aus, als ob deine Mutter noch nicht Alarm geschlagen hat. In diesem Fall kommst du vielleicht mit einer Strafpredigt davon.“ Das Mädchen machte große Augen und sah zu Tode verängstigt aus. „Schon gut, du albernes Ding. Sie wird dich nicht beißen.“

Katherine zitterten die Hände so sehr, dass sie gezwungen war, sie zu falten. Sie hatte weiche Knie, trottete jedoch entschlossen hinter dem zielstrebig den Korridor hinuntergehenden Gentleman her, die Augen auf seinen Hinterkopf gerichtet.

Vor einer Tür aus dunklem Holz blieb er stehen und zwinkerte ihr aufmunternd zu. „Also, dann mal los!“

Und dann war die Tür offen, und es blieb Katherine nichts anderes übrig, als die Schultern zu straffen und ins Ungewisse zu gehen.

Er ließ ihr den Vortritt und schlenderte dann in den ihm wohlvertrauten Gelben Salon. Seine Tante Silvia, eine Matrone mit der Neigung zur Korpulenz, die ein höchst unvorteilhaftes, unter dem üppigen Busen gerafftes modisches Kleid trug, hatte es sich auf dem gelb-braun gestreiften Kanapee, das in der Nähe des Kamins stand, bequem gemacht. Und neben ihr saß eine junge Frau, die Claud beinahe so gut kannte wie sich selbst. Vollkommen entgeistert starrte er seine Cousine, die Ehrenwerte Miss Katherine Rothley, an. Zum Teufel! Wenn sie es war, wer um Gottes willen war dann die Person neben ihm? Und wieso war sie Kate wie aus dem Gesicht geschnitten?

2. KAPITEL

Vage nahm Claud wahr, dass sowohl die Tante als auch die Cousine die angebliche Cousine schockiert anstarrten. Die Erkenntnis jedoch, dass er einen kapitalen Bock geschossen hatte – genau das war ihm von der vermeintlichen Kate immer wieder vorgehalten worden –, bewog ihn, sich direkt an die von ihm Entführte zu wenden: „Verdammt noch mal! Ich habe einen Fehler gemacht! Tut mir leid … äh …“ Wie in aller Welt sollte er die Person ansprechen? „Äh … Madam. Aber Sie sehen meiner Cousine so ähnlich! Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber ich habe Sie offensichtlich fälschlicherweise mitgeschleppt.“

Die junge Frau antwortete nicht, und er war nicht sicher, ob sie ihn gehört hatte. Sie zitterte erbärmlich, und auch er war reichlich erschüttert.

Durch ein leises Stöhnen wurde seine Aufmerksamkeit auf das Kanapee gelenkt. Zu seinem Schrecken war Tante Silvia aschfahl geworden. Der Anblick ihres bleichen Gesichts und die Laute, die sie von sich gab, enervierten ihn. Ein Zusammenbruch! Das hatte ihm gerade noch gefehlt!

Die Matrone sank zurück und fiel gegen das Rückenpolster. Sie verdrehte auf erschreckende Weise die Augen, sodass nur noch das Weiße zu sehen war. Er stürzte auf sie zu, blieb jedoch auf halbem Wege unentschlossen stehen.

Seine Cousine, die vollkommen verblüfft die Fremde angestarrt hatte, sprang beim Kollaps der Mutter auf und ergriff sie an den Schultern. „Mama! Was ist los? Bitte, Mama!“

Claud fasste sich und ging zu den beiden hin. „Es hat keinen Sinn, sie derart zu schütteln, du dummes Ding! Hier, lass mich das regeln. Hast du kein Riechsalz? Gib mir ein Kissen!“

Im Nu hatte er es seiner Tante auf ihrer Liegestatt bequemer gemacht und ihren Kopf höher gebettet. Seine Cousine war zum Schreibtisch gerannt und kramte in einer Schublade. Er trat zwei Schritte zurück und schaute ziemlich verunsichert die verstörte Matrone an. Sie atmete flach, und ihre in dem feisten Gesicht wie eingesunken aussehenden Augen waren geschlossen. Sie stöhnte weiterhin laut, ein Zeichen dafür, dass sie nicht in Ohnmacht gefallen war. Sie hatte keine Farbe mehr im Gesicht, und auch dem Dümmsten hätte klar sein müssen, dass sie einen schweren Schock erlitten hatte.

Claud schaute den Grund dafür an und sah ihn dort stehen, wo er ihn zurückgelassen hatte. Mit großen Augen starrte die junge Frau auf das erschreckende Ergebnis ihres plötzlichen Erscheinens. Und alles nur, weil sie wie seine Cousine aussah! Aber er konnte ihr nicht die mindesten Vorwürfe machen. Es war seine Schuld, und er musste sich sogleich den Folgen seines Fehlers stellen, die, Tante Silvias Reaktion nach zu urteilen, fürchterlich sein würden. Für den Moment verdrängte er jedoch diesen Gedanken. Im Augenblick war es viel wichtiger, seine mitgenommene Tante wieder zu beleben.

Zu seiner Erleichterung kam Kate, mit einer kleinen Flasche bewaffnet, zurückgerannt. „Ich habe es! Geh beiseite, Claud!“

Hastig wich er ihr aus, sodass sie zu Tante Silvia gehen konnte.

„Arme Mama. Ich verspreche dir, dass es dir gleich besser gehen wird.“

Er nahm Kates tröstliche Worte mit gemischten Gefühlen wahr. Er war überhaupt nicht sicher, ob er anwesend sein wollte, wenn seine Tante sich erholt hatte. Rasch wurde ihm klar, dass seine Ankunft in Begleitung einer Fremden, die Kate wie ein Ei dem anderen ähnelte, ein großer Fauxpas war. Zum Teufel, was hatte die Unbekannte an sich, wodurch diese Reaktion ausgelöst worden war?

Seine Cousine hielt ihrer Mutter das geöffnete Riechsalzfläschchen unter die Nase.

Katherine beneidete die leidend daliegende füllige Dame. Auch sie hätte sich gern eine solche Belebung genehmigt. Hatte sie das nicht geahnt? Es gab keinen Zweifel. Irgendwie musste sie mit diesen Leuten verwandt sein. Warum hätte die Frau sonst einen so dramatischen Zusammenbruch erleiden sollen? Sie musste etwas wissen.

Das Herz klopfte Katherine zum Zerspringen. Sie richtete den Blick auf die andere Katherine, für die ihr Entführer sie gehalten hatte. Die Ähnlichkeit war verblüffend. Sie hatte ebenfalls schwarzes und vielleicht ebenso langes Haar wie sie. Es war schwierig zu sagen, weil es zu einem Chignon frisiert war. Sie trug ein schlichtes weißes Musselinkleid, dessen Anblick Katherine neidisch machte. War der Busen, dessen Ansatz sichtbar war, ebenso voll wie ihr eigener? Schwer zu sagen. Und gleichermaßen schwierig zu beurteilen war es, ob die andere Katherine genauso groß war wie sie. Es gab jedoch keinen Zweifel daran, dass ihr Gesicht Katherine sehr bekannt vorkam. Es war nicht so, als ob sie in einen Spiegel geschaut hätte, aber sie konnte es ihrem Entführer nicht verargen, dass er sich geirrt hatte.

Sie hörte zu grübeln auf, als sie bemerkte, dass die leidende Matrone sich erholte. Unbewusst wich sie zurück, weil die Lider der Frau flatterten. Da sie gegen einen vor der Wand stehenden Stuhl stieß, erstarrte sie wieder und wünschte sich, unsichtbar zu sein.

„So, Mama. Das ist besser, nicht wahr?“

Die Frau schaute ihre Tochter an. Ein wilder Ausdruck erschien in ihren geöffneten Augen, und mit bebender Hand ergriff sie Kates Finger. „Wo ist sie? Habe ich sie wirklich gesehen? Oh, was für ein Albtraum!“

Katherine wünschte sich, die Erde möge sich öffnen und sie verschlingen. Sie vernahm die Stimme der anderen Katherine, begriff indes nicht, was gesagt wurde, weil sie voll neu erwachender Bestürzung sah, dass die Frau bemüht war, sich aufzurichten.

„Bitte, streng dich nicht an, Mama! Nein, nein, versuch nicht, dich hinzusetzen. Bleib liegen. Ich bitte dich.“

Die Matrone stellte die Bemühungen ein, sich aufrichten zu wollen, doch ihr durch den Raum irrender Blick blieb auf Katherine haften, deren Herz einen Sprung machte, als die Frau mit entsetzter Miene auf sie zeigte. „Sie ist noch da! Oh, was habe ich getan, um das zu verdienen?“

„Bitte, sei still, Mama!“, bat Kate.

Claud schwankte zwischen Pflichtgefühl und dem starken Drang, vor der bevorstehenden Szene so schnell wie möglich zu flüchten. Er sah den Blick seiner Cousine auf sich gerichtet, der so finster war wie der, den er sich von der von ihm mitgebrachten Person eingehandelt hatte.

„Wie konntest du, Claud? Siehst du, was du getan hast?“

„Woher hätte ich das wissen sollen?“, verteidigte er sich. „Ich habe sie für dich gehalten.“

Seine Cousine wandte sich ihrem unglücklichen Spiegelbild zu. „Nun, ich sehe, dass eine Ähnlichkeit besteht. Aber du hättest wissen müssen, dass ich nicht diese Person bin. Das hättest du schon an dem Kleid sehen können. Wo hast du sie gefunden?“

„In Paddington.“

Die schlichte Antwort wirkte auf Clauds Tante so, als hätte man unter ihr Feuerwerkskörper angezündet. Sie sprang in die Höhe, stieß dabei gegen ihre Tochter, die mit rudernden Armen rückwärts auf das Kanapee fiel, und schaute mit vor Grauen weit geöffneten Augen ihren Neffen an. „Paddington?“

Er zuckte zusammen. „Verdammt noch mal, Tante Silvia! Mir wäre es lieber, du würdest nicht so kreischen!“

Sie beachtete ihn nicht. „Es ist so, wie ich geargwöhnt habe. Du musst diese Person zurückbringen. Jetzt! Sofort!“ Sie streckte ihm die Arme entgegen und sagte flehend: „Und kein Wort zu deiner Mutter, Claud. Ich bitte dich! Falls sie etwas davon erfährt, ist nicht abzusehen, was sie tun wird. Oh, das ist fürchterlich! Warum musstest du diese Person herbringen?“

Verzweifelt rang die Matrone die Hände und warf angewiderte Blicke auf die elende junge Frau, die der ahnungslose Grund für den ganzen Aufruhr war.

Claud war neugierig. In dieser Hinsicht war er nicht der Einzige, denn er stellte fest, dass seine Cousine nach den Äußerungen ihrer Mutter die Fremde voll neuen Interesses ansah. Es wurde notwendig, eine Erklärung abzugeben. „Die Sache ist die: Ich kam aus Westbourn Green zurück. Ich habe bei meinem Freund Jack übernachtet, weil wir gestern bis in die frühen Morgenstunden Karten gespielt haben.“

„Und?“

Die Ungeduld der Cousine kränkte ihn. „Ich erkläre lediglich, warum ich in Paddington war.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, wieso du angenommen hast, ich könne mich dort aufhalten.“

„Genau darum geht es. Ich glaubte, meinen Augen nicht trauen zu können. Ich habe gedacht, du seist weggelaufen.“

„Weggelaufen? Wieso, um Gottes willen?“

Claud kam der Gedanke, dass es kaum diplomatisch sein würde, vor seiner Tante die Gründe zu nennen. Nicht, dass sie in dem Zustand war, dagegen protestieren zu können. Er bedachte seine Cousine mit einem strengen Blick. „Ich denke, das ist offenkundig. Aber wie dem auch sei, ich habe die Person da für dich gehalten und dachte, es sei das Beste, dich nach Haus zu bringen, ehe jemand Wind von deiner Eskapade bekam.“

„Aber sie hat dir doch bestimmt gesagt, dass sie jemand anderer ist.“

„Das hat sie“, räumte Claud kläglich ein. „Immer wieder sogar. Aber ich wollte ihr nicht glauben.“ Er wandte sich der Tante zu. „Du darfst ihr nicht böse sein. Das alles ist meine Schuld.“

Lady Rothley erschauerte. „Ihr böse sein? Nein, ich bin dir böse! Ich bin Lydia böse! Ich bin …“

Sie hielt inne, und er gewann den Eindruck, sie habe sich noch rechtzeitig besonnen, ehe sie ein mit der Fremden zusammenhängendes Geheimnis preisgab. Vage erinnerte er sich, dass seine vermeintliche Cousine etwas über ein Familiengeheimnis gesagt hatte. Zum Teufel, an der Sache war etwas dran. „Und was jetzt, Tante?“, fragte er abrupt. „Was weißt du über das Mädchen? Kennst du es?“

„Natürlich nicht! Ich meine … nein, ich … Stell mir keine Fragen!“

Zu seiner ungeheuren Erleichterung nahm seine Cousine die Sache in die Hände. „Aber das ist unvernünftig, Mama. Nach dem, was passiert ist, meine ich, dass du uns ins Bild setzen solltest. Warum hast du aufgeschrien, als du hörtest, die Person sei aus Paddington hergekommen? Weißt du, warum sie mir so ähnlich sieht?“

Aufgeregt wedelte Lady Rothley die Hände. „Nichts bringt mich dazu, darüber zu sprechen! Du sollst mich nicht befragen! Und keiner von euch beiden darf um Himmels willen darüber reden, schon gar nicht mit Lydia.“

„Aber Mama …“

„Du wirst diese Sache nie wieder erwähnen, Kate, es sei denn, du willst mich ins Grab bringen.“

Schweigen trat ein. Vom anderen Ende des Raumes her beobachtete Katherine die drei Leute mit wachsender Abneigung, die rasch die bei der schrecklichen Reaktion der Frau auf ihr Erscheinen aufgetretene Furcht verdrängte. Ihr fiel auf, dass sie zitterte, doch entschlossen machte sie einige Schritte auf das Kanapee zu. „Ich glaube, Sie sind mir eine Erklärung schuldig, Madam.“

Drei Augenpaare richteten sich auf Katherine, und sie spürte sich erblassen. Sie ließ sich jedoch nicht einschüchtern, hielt den Kopf so hoch wie möglich und den Blick auf die Dame gerichtet. Katherine sah ihren Entführer sich bewegen, als wolle er zu ihr kommen, und hob rasch die Hand.

„Nein, Sir, bitte, bleiben Sie, wo Sie sind. Offenbar bin ich durch meine Ähnlichkeit mit Ihrer Cousine ansteckend. Ich habe Sie gewarnt.“

Er empfand einen eigenartigen Anflug von Mitleid und hielt inne. „Die Leiche im Keller, wie Sie sagten. Mir scheint, Sie haben recht. Aber Sie müssen keine Angst haben. Ich lasse nicht zu, dass Sie deswegen leiden. Alles ist meine Schuld, und ich werde …“

„Bring sie her!“

Claud drehte sich um. „Ich lasse nicht zu, Tante Silvia, dass du sie noch mehr aufregst. Daher warne ich dich! Ich meine, sie ist bereits genügend gedemütigt worden.“

Katherine empfand einen Anflug von Dankbarkeit. Er hatte sich wie ein Scheusal benommen, war jedoch nicht restlos unfreundlich. Rasch schaute sie die Matrone an, um zu sehen, wie diese seine Worte aufnahm.

Die Frau wedelte die feisten Hände. „Bring die Person her! Ich möchte sie mir ansehen.“

Daraufhin sprang Kate auf und ging auf die Fremde zu. „Ja, bitte, kommen Sie näher.“ Sie begab sich zu ihr, stellte sich neben sie und drehte sie zu Claud um. „Das ist außerordentlich, nicht wahr? Wir haben fast die gleiche Größe. Aber sehen wir uns wirklich so ähnlich?“

Katherine wartete gespannt, während ihr Entführer sie und die andere Katherine betrachtete. Sie war sich sehr bewusst, dass diese sie am Ellbogen ergriffen hatte.

„Wie ein Ei dem anderen“, antwortete Claud. „Abgesehen natürlich vom Kleid.“

Katherine errötete, und sie wurde ungehalten. Wie ungemein taktlos! Als ob sie sich nicht niederschmetternd bewusst gewesen wäre, welch wirklich großer Unterschied zwischen ihrem schrecklichen Aufzug und dem eleganten der anderen Katherine bestand! Das Gefühl hielt indes nicht lange an, denn neuerliches Stöhnen lenkte ihre Aufmerksamkeit und die der Cousine des jungen Herrn wieder auf das Kanapee. Sie wurde gewaltsam zu der Matrone gezogen, die sich wieder hingesetzt hatte und ein wenig in sich zusammengesunken war, jedenfalls so weit, wie sie es konnte, da das geblümte, die Fettwülste umgebende Musselinkleid mit der modisch hoch angesetzten Taille für diesen Zweck ausgesprochen ungeeignet war.

„Wer ist sie, Mama?“

Katherine sah den Mann namens Claud an ihre andere Seite treten. „Gute Frage. Aber du stellst sie besser ihr selber!“ Er schenkte ihr ein Lächeln, das eigenartig gewinnend war. „Ich weiß, Sie haben mir Ihren Namen genannt. Ich habe jedoch nicht darauf geachtet und ihn vergessen.“

Seine Freimütigkeit war so einnehmend, dass Katherine das Lächeln erwiderte. „Ich heiße Katherine.“

„Du lieber Himmel, Sie können nicht Katherine heißen!“

Das hatte die andere Katherine geäußert. „Aber ich heiße so“, erwiderte sie und war erstaunt darüber, einen leicht entschuldigenden Ton angeschlagen zu haben. „Ich heiße Katherine Merrick.“

Diese Information hatte starke Auswirkungen auf die Matrone, die gequält die Augen schloss. „Ich wusste es!“

Zu Clauds größter Verstimmung wandte die Tante sich wieder in bittendem Ton an ihn: „Du musst Miss Merrick wegbringen, Claud, und zwar dahin, wo sie hergekommen ist. Und ich trage dir auf, zu niemandem ein Wort zu sagen.“

„Ja, das hast du schon ein Mal erwähnt, Tante Silvia. Du sagst jedoch nicht, warum.“

„Ich kann nicht. Du musst wissen, dass es sich um eine Sache größter Geheimhaltung handelt. Ich bin zu Schweigen verpflichtet.“ Lady Rothley wandte sich ihrer Tochter zu. „Du musst dich nach besten Kräften anstrengen, ihn zu überreden. Ich sage dir, es bringt mich um, wenn Lydia das zu Ohren kommt! Alles wieder aufgewühlt zu wissen! Nein, tausend Mal nein! Ich sage dir, das würde ich nicht ertragen.“

Das war mehr, als Katherine hinnehmen konnte. Sie schüttelte die Hand der anderen Katherine ab, wich einige Schritte zurück und wandte sich verzweifelt dem jungen Herrn zu.

„Bitte, würden Sie mich von hier wegbringen, Sir?“

Er furchte die Stirn. „Ja, aber nicht eher, als bis ich dieser Sache auf den Grund gekommen bin.“

Zu Katherines Überraschung sagte seine Cousine störrisch: „Nein, Claud, ich kann von Mama nicht verlangen, dass sie ihr Versprechen bricht.“ Sie wandte sich an Katherine und fuhr fort: „Es tut mir so leid, Miss … Merrick. So war doch Ihr Name, nicht wahr? Aber ich glaube, es ist das Beste, wenn Claud Sie zurückbringt.“

„Ja, aber Moment mal …“

„Bitte sag nichts mehr, Claud. Du siehst doch, dass die arme Mama sich aufregt.“

„Das ist alles schön und gut …“

„Ich habe nicht den Wunsch, hier zu bleiben“, unterbrach Katherine rasch. „Das Ganze war ein Fehler, und die Sache ist jetzt zu Ende. Bitte, bringen Sie mich nach Haus, wenn Sie mich nicht noch weiter in Verlegenheit stürzen wollen.“

Das war eine Bitte, der Claud sich nicht verwehren konnte. Seufzend gab er den Versuch auf, das Geheimnis zu erfahren. Er war jedoch keineswegs zur endgültigen Kapitulation bereit. Die Erkenntnis, dass die Angelegenheit seine Tante so aufregte, weckte in ihm den brennenden Wunsch, alles herauszubekommen.

Aber seine Cousine mischte sich erneut ein, indem sie zu Miss Merrick ging und deren Hand ergriff. „Es tut mir so leid, Sie armes Ding. Wir waren schrecklich unhöflich. Wissen Sie, der Schock … Ich bin überzeugt, Sie fühlen sich ausgesprochen unbehaglich.“ Zu Clauds größter Verärgerung wandte Kate sich nun an ihn: „Ich meine, du hättest zuhören sollen, Claud, als Miss Merrick dir sagte, dass sie nicht deine Cousine ist. Sie wurde in sehr ungehöriger Weise belästigt, und Mama ist zutiefst bekümmert, und das alles ist deine Schuld!“

„Ich bin mir dessen sehr wohl bewusst. Habe ich das nicht bereits gesagt?“ Claud ergriff Miss Merrick am Arm und zog sie von Kate fort. „Außerdem werde ich Wiedergutmachung leisten.“

„Wie?“

„Das weiß ich noch nicht, aber mir fällt schon etwas ein.“

Katherine erwärmte sich für ihn. Die Tatsache, dass er so nah neben ihr stand, verlieh ihr Mut. Zwar lehnte seine fette Tante Silvia, deren Blick immer wieder flehend zu ihrer Tochter schweifte, sie ab, doch er hatte zumindest den Anstand, zu seinem Fehler zu stehen. „Ich will nur, dass man mich ins Institut zurückbringt“, sagte sie eindringlich. „Ich wünsche mir nur, ich hätte einen der mir vor Wochen angebotenen Posten angenommen“, fügte sie verbittert hinzu. „Dann wäre das alles nie passiert.“

„Posten?“, wiederholte Claud.

„Welche Art Posten?“, fragte Kate.

Katherine reckte das Kinn. „Ich soll Gouvernante werden. Wir alle im Institut werden auf diesen Beruf vorbereitet.“

„Oh, Sie Ärmste!“, äußerte Kate bedauernd. Gleich darauf erhellte sich ihre Miene. „Ich weiß! Wenn Sie noch keine Anstellung gefunden haben, dann können wir Ihnen vielleicht helfen. Du könntest Miss Merrick jemandem aus unserem Bekanntenkreis empfehlen, Claud.“

Er schnaubte. „Sei nicht so dumm, Kate. Ich soll einer Matrone jemanden als Gouvernante empfehlen, der genauso aussieht wie du?“

Ein Schrei aus der Richtung des Kanapees veranlasste ihn, sich umzudrehen. Er zuckte zusammen.

Seine Tante war wieder aufgesprungen. „Auf gar keinen Fall! Du lieber Himmel, denk nur an den Skandal, den es gibt, wenn Miss Merrick in diesem Aufzug in der Stadt erscheint! Ich verbiete dir, Claud, ihr zu helfen. Nein, warte! Du sprichst besser mit der Frau in diesem Institut und sagst ihr, dass Miss Merrick einen Posten auf dem Land erhalten soll, bei Leuten, die sich nie hier sehen lassen. Vielleicht bei einem gut situierten Kaufmann, der nie in unseren Kreisen Zugang findet. Ja, das ist das Beste. Kümmere dich darum, Claud. Ich verlasse mich auf dich.“

„Himmel, Tante Silvia! Das kann ich nicht tun. Wer bin ich, Miss Merrick ihre Zukunft vorzuschreiben? Oder du, was das betrifft?“

Zu seiner Bestürzung kam die Tante auf ihn zu und streckte flehend die Arme aus. „Mein lieber, lieber Junge! Du würdest nicht zögern, wüsstest du, in was für Gewissensqualen ich gestürzt werde, wenn diese schreckliche Geschichte wieder aufgewirbelt wird. Glaub mir, wenn jemand Grund hat, dich in dieser Sache um Hilfe zu bitten, dann bin ich das. Und was die Verantwortung betrifft, so hat deine Mutter sie vor Jahren auf sich genommen. Ich sage dir, wenn du nicht tust, was ich von dir verlange, dann wirst du dir Lydias schlimmsten Zorn zuziehen.“

Claud wich der Tante aus und bewegte sich zum anderen Ende des Kamins, Miss Merrick mit sich ziehend. „Ja, das ist alles gut und schön, Tante Silvia, aber die ganze Sache hat etwas verdammt Obskures an sich. Ich bin überhaupt nicht sicher …“

„Um Himmels willen, Claud! Willst du mich zum Wahnsinn treiben?“

Voller Groll sah er seine Tante zum Kanapee zurücktrotten und die Cousine sich um sie bemühen. Er blickte Miss Merrick an, die er am Handgelenk festhielt, und bemerkte, dass sie zitterte. Ihr Gesicht war weiß, und ihre braunen Augen wirkten übernatürlich groß. Er fühlte sich schuldig, ließ sie los und legte den Arm um sie. Dann drückte er sie aufmunternd. „Machen Sie kein so besorgtes Gesicht, Katheri… Ich meine … äh, Miss Merrick. Habe ich nicht gesagt, dass ich Sie nicht unter dieser Sache leiden lassen werde?“

Sie schaute ihm ins Gesicht und seufzte müde. „Ihre Tante hat recht, Sir. Die Ähnlichkeit wäre Gesprächsstoff, würde man mich in der Stadt sehen. Ich selbst werde mit Mrs Duxford reden.“ Sie sah die niedergeschmetterte Matrone an. „Ich habe nicht die Absicht, Sie in Verlegenheit zu bringen, Madam.“

Da die Mutter leise stöhnte und sich die Schläfen rieb, antwortete Katherine: „Sie sind sehr freundlich, Miss Merrick. Ich wünsche mir nur, dass wir etwas für Sie tun könnten.“

Katherine löste sich aus dem schützend um sie gelegten Arm Clauds und ging einen Schritt auf das Kanapee zu. „Eins noch. Wenn Ihre Mutter mir nur sagt, dass ich tatsächlich zu Ihrer Familie gehöre?“

Im Nu stand Claud neben ihr. „Ein Blinder würde das sehen.“

„Claud!“

„Nun, es stimmt, Kate. Und schau mich nicht so missbilligend an, denn ich weiß sehr gut, dass du ebenso wie ich wissen willst, warum das so ist.“

Katherine streckte die Hand aus. „Bitte, nicht! Es ist mir gleich, wenn Ihre Tante mir nicht genau sagen will, in welchem Verwandtschaftsgrad ich zu ihr stehe, denn ich hege schon lange den Verdacht, dass es einen Skandal gegeben hat. Nur …“

Weiter kam Katherine nicht. Dem Mund der Matrone entrang sich ein lautes Stöhnen, und sie fuchtelte mit den feisten Händen. „Schaff Miss Merrick weg, Claud! Ich kann es nicht ertragen, sie anzusehen.“

Der kurze Moment, in dem Katherine sich mutig gefühlt hatte, war vorbei. Der Hieb hatte sie schwer getroffen, und sie wich zurück. Sie war sich wieder der gewaltigen Ablehnung bewusst, die sie erfahren hatte, als Leute, an die sie sich nur schwach erinnerte, die Fremde für sie waren, sie aus ihrem Heim fortgebracht und in dem Institut, wo sie schrecklich allein gewesen war, untergebracht hatten.

Sie hörte Stimmen, die wie aus weiter Ferne zu ihr drangen, sah Miss Kates Gesicht dicht vor sich und hörte Worte, die keine Bedeutung für sie hatten. Sie nahm den Gentleman neben sich wahr und bewegte sich in die Richtung, in die er sie drängte. Sie ging dahin, wohin er sie führte, ohne Interesse zu zeigen oder ihm Aufmerksamkeit zu schenken. Erst als sie an der frischen Luft war und in die Karriole gedrängt wurde, fand sie zu sich und begriff das ganze Ausmaß dessen, was passiert war.

Claud stieg ein, ergriff die Zügel, trieb jedoch die Pferde nicht an. Die Entdeckung, dass seine Familie ein Geheimnis hatte, beschäftigte ihn viel zu sehr, und er überlegte, was am besten zu tun sei. Wenn Tante Silvia annahm, dass er die Sache einfach unter den Teppich kehren werde, dann musste sie noch viel lernen, besonders im Hinblick auf die Angst, die sie bei der Vorstellung gezeigt hatte, seine Mutter könne Wind von der Angelegenheit bekommen.

Prickelnde Erregung erwachte in ihm bei dem Gedanken, was diese Sache der Frau antun konnte, die seit Langem seine Nemesis war. Sie war zwar seine Mutter, aber er hatte es schon lange aufgegeben, Zuneigung für sie zu empfinden. Sie hatte ihn von frühester Kindheit an drangsaliert, und er empfand nur Abscheu für sie. Sie hatte ihn und seine Schwestern mit ihrer Strenge terrorisiert und für jeden Charakterfehler bestraft. Ihren Worten zufolge hatte er davon mehr als genug. Er hatte seinem Schöpfer und dem Vater, dem es wahrscheinlich nur in diesem Fall gelungen war, sich gegen sie zu behaupten, für dessen Beharrlichkeit gedankt, ihn nach Eton zu schicken. Durch die dort gemachten Erfahrungen war er so abgehärtet worden, dass er seiner Mutter die Stirn hatte bieten können, sobald er alt genug gewesen war, um das zu tun, ohne unangenehme Folgen befürchten zu müssen. Zwei seiner Schwestern hatten sich in die Ehe geflüchtet, ohne die Wahl gehabt zu haben, wen sie heiraten wollten, und die jüngste, die siebzehnjährige Babs, konnte wenig gegen die Mutter ausrichten. Aber für Claud, der immer nach einer Möglichkeit suchte, sich rächen zu können, war diese Gelegenheit ein gefundenes Fressen. Die Leiche im Keller war zu neuem Leben erwacht!

In diesem Moment wurde Claud sich bewusst, dass das Mädchen neben ihm verdächtig betrübt klingende Geräusche von sich gab. Er wandte ihr das Gesicht zu und sah, dass sie tapfer versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Dennoch schimmerten sie an ihren Wimpern und rannen ihr über die Wangen. Voll neu erwachten Schuldbewusstseins fluchte er.

„Weinen Sie nicht! Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich Sie nicht unter dieser Sache leiden lassen werde, nicht wahr?“

Katherine schluckte und schniefte. In der Hoffnung, er möge merken, dass sie nicht fähig war zu sprechen, schüttelte sie den Kopf. Sie kramte in ihren Taschen nach dem Schnupftuch und zog es heraus. In der anderen Hand hielt sie ein in braunes Papier gewickeltes Päckchen. Verständnislos starrte sie es an.

„Geben Sie mir das!“

Das Schnupftuch wurde ihr aus der Hand gerissen, und im nächsten Moment hielt der Gentleman ihr Kinn fest und wischte ihr die Tränen ab. Ganz so, als sei sie ein kleines Kind, hielt er ihr das viereckige Leinentuch um die Nase und forderte sie auf, sich zu schnäuzen. Zu verblüfft, um protestieren zu können, entsprach sie dem Befehl und starrte in die sie prüfend betrachtenden blauen Augen.

„So, das reicht. Sie behalten es besser.“ Claud ließ ihr Kinn los und drückte ihr das Taschentuch in die Hand. Dann bemerkte er das Päckchen. „Was ist das?“

Katherine schaute es an. „Ich erinnere mich nicht.“ Doch dann fiel es ihr ein. „Oh, das ist die Unterhose, die ich für die neue Schülerin gekauft habe.“ Sie entsann sich der Zahnbürste und des Zahnputzpulvers, griff in die andere Tasche und fand das zweite Päckchen. „Gott sei Dank! Ich wäre fürchterlich von der Ente ausgeschimpft worden, hätte ich die Sachen verloren.“ Plötzlich kam ihr der Gedanke, dass Mrs Duxford noch viel mehr Grund hatte, sie zu schelten. „Oh, was soll ich ihr sagen?“, jammerte sie. „Wie lange war ich fort? Sie wird mich umbringen.“

„Was hat es mit dieser verdammten Ente auf sich?“, wollte Claud wissen und trieb endlich die Pferde an.

Zu aufgeregt, um schwindeln zu können, erklärte Katherine: „Das ist die Frau, die das Institut leitet. Sie heißt Mrs Duxford, aber wir alle nennen sie die Ente. Das sagen wir ihr natürlich nicht ins Gesicht, denn dann wäre sie ungeheuer verärgert. Aber das würde auch keine Rolle spielen, denn ich weiß sowieso nicht, wie ich das alles erklären soll. Ich bin sicher, sie wirft mich hinaus, wenn sie hört, dass ich mit Ihnen in London war.“

„Muss sie das erfahren?“, fragte Claud, während er das Gespann vom Haymarket fort und nach Westen lenkte. „Können Sie sich keine Geschichte ausdenken, die plausibel klingt?“

„Nachdem ich stundenlang fort war? Was soll ich sagen? Und was ist, wenn jemand gesehen hat, wie Sie mich weggeschleppt haben? Das hat man der Ente dann bestimmt erzählt.“

Autor

Elizabeth Bailey
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Anne Herries

Anne Herries ist die Tochter einer Lehrerin und eines Damen Friseurs. Nachdem sie mit 15 von der High School abging, arbeitete sie bis zu ihrer Hochzeit bei ihrem Vater im Laden. Dann führte sie ihren eigenen Friseur Salon, welchen sie jedoch aufgab, um sich dem Schreiben zu widmen und ihrem...

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