Historical Lords & Ladies Band 93

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HERBSTSTURM DER GEFÜHLE von SYLVIA ANDREW
Sanft weht der Herbstwind die Blätter von den Bäumen, als Alexandra die Kirche betritt, um Lord Richard Deverell das Jawort zu geben. Aber in ihrem Herzen tobt ein Sturm. Aufgebracht schimpft sie Richard einen Verbrecher, kaum dass sie ihm ewige Liebe geschworen hat …

VIEL LÄRM UM MISS SWEETLY von MARGARET MCPHEE
Alice zerreißt es schier das Herz, als James Brundell, Marquis of Razeby ihre prickelnde Liaison beendet, weil er sich eine standesgemäße Braut suchen muss. Nur wenn sie ihm ihr Geheimnis verraten würde, hätte ihr Glück noch eine Chance – aber sein Ruf wäre dann für immer zerstört!


  • Erscheinungstag 09.09.2022
  • Bandnummer 93
  • ISBN / Artikelnummer 8035220093
  • Seitenanzahl 352

Leseprobe

Sylvia Andrew, Margaret McPhee

HISTORICAL LORDS & LADIES BAND 93

1. KAPITEL

Oktober 1815

Wir haben uns heute hier vor Gottes Angesicht versammelt …“

Die tief stehende Herbstsonne warf ihre Strahlen durch das mittelalterliche Buntglasfenster von St. Wulfries und färbte Pfarrer Harmonds Talar und seinen Kranz weißer Haare mit kräftigen blauen, grünen, roten und gelben Tupfern. Man hätte meinen können, er sei soeben einem der Heiligenbilder im Westfenster entstiegen.

Auch auf dem Bräutigam ruhte das Sonnenlicht, aber wie ein Heiliger wirkte er gewiss nicht. Von stattlicher Größe und einen Hauch Arroganz ausstrahlend zeigte sich Richard Deverell wie gewohnt als Mann von Welt. Sein schwarzer Frack und die eng anliegenden Pantalons stammten von einem erstklassigen Schneider. Auch sein gestärktes, elegantes Krawattentuch und das schneeweiße Hemd, das er unter der ebenso weißen Weste trug, ließen auf den ersten Blick erkennen, dass er den höchsten Kreisen der englischen Gesellschaft entstammte. Seine schlanke, breitschultrige, athletische Figur verdankte er indes nicht dem Walzertanzen in Londoner Ballsälen, sondern vielmehr seinem vierjährigen Einsatz im Krieg gegen Napoleon. Lange Tage hatte er im Sattel unter der spanischen Sonne verbracht. Davon zeugten seine gebräunte Haut und die feinen Linien, die sich in den Winkeln seiner kühlen grauen Augen abzeichneten. Über eine seiner Wangen zog sich eine Narbe – die beständige Erinnerung daran, dass er bei Waterloo dem Tod nur knapp entronnen war. Nicht allein deshalb hatte sich Richard Deverell den Ruf erworben, mit Fortuna im Bunde zu stehen, auch sein Glück am Spieltisch war legendär.

Von der Kirchenbank der Deverells musterte Richards Tante Lady Honoria Standish die Anwesenden mit kritischem Auge. Kein einziges Mitglied des ton hatte sich eingefunden. Allerdings bezweifelte sie, dass überhaupt Einladungen verschickt worden waren, da man den Vater der Braut erst vor Kurzem zu Grabe getragen hatte. Höchst bedauerlich, befand Lady Honoria, die sich für ihren Neffen eine imposantere Hochzeit gewünscht hätte, statt dieser bescheidenen Feier.

„Die Ehe ist die gottgegebene Institution zur Gründung einer Familie …“

Ja, das gefiel Lady Honoria. Sie freute sich darauf, wieder Kinder in Channings herumtollen zu sehen. Auf dem Anwesen herrschte schon viel zu lange eine Grabesruhe. Außerdem wurde es höchste Zeit, dass Richard einen Erben bekam. Es war schlicht undenkbar, dass die Besitztümer der Deverells nach seinem Ableben an irgendwelche entfernten Verwandten fielen, die sich zuvor nie hatten blicken lassen. Sie betrachtete das Brautpaar und nickte zufrieden. Nun, diese Sorgen musste sie sich jetzt nicht mehr machen. Alexandra Rawdon kam aus einer guten, gesunden Familie, und Richard stand in der Blüte seiner Manneskraft. Die Frauen lagen ihm zu Füßen, weshalb es Lady Honoria wenig wunderte, dass die kleine Rawdon seinen Antrag nur allzu gern angenommen hatte. Warum aber Richard ausgerechnet Lexi Rawdon erwählt hatte, blieb ihr ein Rätsel. Nun ja, Lexi war recht attraktiv, allerdings kannte Lady Honoria weitaus atemberaubendere Schönheiten – junge Damen aus guter Familie, die über Eleganz und Wohlstand verfügten und die ihre rechte Hand dafür hergeben würden, Lady Deverell zu werden. Jede einzelne von ihnen wäre geeigneter gewesen als Lexi, Herrin eines solch großen und bedeutenden Anwesens zu werden, wie es Channings war. Bedauerlicherweise hatte Lexi nie Wert darauf gelegt, die Tugenden einer kultivierten Dame zu erlernen. Sie war immer schon ein impulsiver, unbesonnener Wildfang gewesen, der mehr Gefallen daran gefunden hatte, mit dem älteren Bruder Johnny und Richard durch die Landschaft zu streifen.

In seiner Kindheit hatte Richard viel Zeit bei den Rawdons verbracht. Dort war ihm die Zuneigung zuteilgeworden, die ihm zu Hause verwehrt wurde. Er und Johnny waren enge Freunde gewesen, und Sir Jeremy und Lady Rawdon hatten ihn stets wie einen eigenen Sohn behandelt. Heiratete Richard die Tochter der Familie etwa aus Pflichtgefühl, weil sie inzwischen ganz allein in der Welt stand?

Vor mehreren Jahren hatte Lexi bereits ihre Mutter verloren, vor einigen Monaten fand ihr Bruder auf tragische Weise seinen Tod, und nun war auch ihr Vater verstorben.

Lady Honoria wandte ihre Aufmerksamkeit der Braut zu und musterte sie anerkennend. Alexandra Rawdon bewies Haltung. Groß, aufrecht und schlank stand sie in einem weißen Kleid neben Richard vor dem Altar, das kupferrote Haar von Schleier und Hut gebändigt. Dennoch hatten die vergangenen Monate ganz offensichtlich ihren Tribut gefordert, denn sie wirkte steif wie ein Stock und war viel zu dünn. Lady Honoria seufzte. Sie hatte vorgeschlagen, die Hochzeit zu verschieben, doch Richard hatte nicht mit sich reden lassen und darauf bestanden, die Trauung wie geplant, wenn auch in aller Stille, vollziehen zu lassen. In Anbetracht der Umstände war dies wohl auch das Beste, denn Alexandra und ihr Vetter Mark, die letzten lebenden Mitglieder der Familie Rawdon, kannten einander kaum.

Sicher war Mark, oder Sir Mark, wie man ihn nun nennen musste, erleichtert, dass er sich nicht um Alexandra kümmern musste. Ihr Zuhause, das sich seit Tudorzeiten im Familienbesitz befand, war an ihn übergegangen, und obwohl die beiden gut miteinander auszukommen schienen, hätten sie wohl kaum noch länger ohne Anstandsdame unter einem Dach leben können. Zudem wurde gemunkelt, dass der Besitz, so unglaublich es ihr auch schien, mit Schulden hoch belastet war und der Erbe aus diesem Grund besser nach einer reichen Gemahlin Ausschau halten sollte.

Lady Honoria betrachtete den jungen Mann im moosgrünen Gehrock und den rehbraunen Pantalons an Lexis linker Seite aufmerksam. Sir Mark Rawdon. Er machte einen angenehmen, sympathischen Eindruck auf sie und hatte ein charmantes Lächeln, in dessen Genuss sie bereits gekommen war. Seine kurzen kupferroten Haare schimmerten im Sonnenschein.

„So frage ich dich, Richard Anthony, willst du diese Frau zu deiner Gemahlin nehmen, willst du für sie sorgen, sie lieben und ehren, in Gesundheit und in Krankheit …“

Lady Honorias Blick glitt zurück zu dem Brautpaar, das soeben das Ehegelöbnis leistete. Das feierliche Versprechen, vorgetragen in Richards volltönendem Bariton, klang so schön wie eh und je: „… zu lieben und zu ehren … in guten wie in schlechten Zeiten … bis dass der Tod uns scheidet …“

Ein seltenes Lächeln malte sich auf Lady Honorias Züge, während sie ihrem Neffen lauschte. Nun war Alexandra an der Reihe. Doch ihre Stimme klang irgendwie gezwungen. Was war nur los mit dem Mädchen? Sie sollte außer sich vor Freude sein. Immerhin heiratete sie die beste Partie der Grafschaft! Ach was, von ganz England!

„… in guten wie in schlechten Zeiten … in Reichtum und Armut … zu lieben …“ Ihre Stimme brach ganz plötzlich, doch dann fuhr sie fort: „… dich zu lieben, zu ehren und dir zu gehorchen, bis dass der Tod …“ Erneut brach sie ab, dieses Mal war die Pause etwas länger, ehe sie mit zittriger Stimme weitersprach: „… bis dass der Tod uns scheidet.“

Auch Richard war Lexis Anspannung nicht entgangen. Behutsam den Arm um sie legend zog er sie an sich, während er seinen letzten Schwur tat: „Mit diesem Ring nehme ich dich zur Frau, mit meinem Leib will ich dich ehren und all meine weltlichen Güter mit dir teilen …“

Lady Honoria nickte. Richard war mehr als gut betucht und besaß zahlreiche weltliche Güter – er war, salopp ausgedrückt, steinreich. Und auch wenn er sein Herz nicht auf der Zunge trug, wie man so schön sagte, würde er gut für seine Gattin sorgen. Alexandra Rawdon konnte sich wirklich glücklich schätzen.

Als Pfarrer Harmond mit seiner Predigt begann, lehnte sich Lady Honoria in die Kissen zurück – die Deverells hatten schon immer dafür gesorgt, dass sie es in der Kirche bequem hatten – und gab sich den Anschein, ihm aufmerksam zu lauschen. Es war immer dieselbe Predigt und gewöhnlich recht kurz. In wenigen Minuten würden sie in der Sakristei die Unterschriften leisten und damit die Ehe besiegeln. Richard würde endlich sesshaft werden und ein friedvolles Familienleben in Channings führen. Zufrieden schloss sie die Augen …

Lady Honoria war nicht die Einzige, die Pfarrer Harmond nicht die verdiente Aufmerksamkeit schenkte. Mit Nerven so straff gespannt wie die Saiten einer Violine wartete Lexi auf das Ende der Zeremonie. Lang konnte es nicht mehr dauern. Gleich würden sie in die Sakristei hinübergehen, die Dokumente unterschreiben und ausgehändigt bekommen und danach … wäre alles vorbei.

Sie spürte Richards Hand an ihrem Ellbogen und ließ sich von ihm aus der Kirche geleiten. Pfarrer Harmond ging ihnen voran, doch sie nahm ihn kaum wahr, ebenso wenig wie Lady Honoria und Mark, die ihnen folgten. In dem kleinen Raum angekommen, ließ sie sich zum Tisch führen, wo der Anwalt schon mit den Papieren auf sie wartete. Sie unterzeichnete an der Stelle, auf die er deutete, und trat schließlich einen Schritt zurück. Ihr Kopf und ihr Herz pochten so stark, dass sie das Gefühl hatte, es würde sie gleich zerreißen. Sie nahm Hut und Schleier ab, um den Druck ein wenig zu lindern, und legte beides auf den Tisch neben das wichtige Dokument, das Richard ihr zur Hochzeit schenken wollte.

„Nun, Alexandra, willst du dir dein versprochenes Geschenk nicht ansehen?“, fragte Richard lächelnd.

Bittere Galle stieg in ihrer Kehle auf, doch sie schluckte sie herunter und zwang sich ebenfalls zu einem Lächeln. „Natürlich! Ist denn alles vorbereitet?“

„Ich denke schon. Mr. Underhill?“

Der Anwalt räusperte sich. „Ich habe die Urkunde zugunsten von Sir Mark Satterly Rawdon vorbereitet. Kurz zusammengefasst, bestätigt diese, dass alle Güter, die durch Lord Deverell in den vergangenen drei Monaten von Lady Deverells Vater, dem verstorbenen Sir Jeremy Rawdon, erworben wurden, wieder in den Grundbesitz von Rawdon Hall zurückfallen. Die Ländereien sind umfassend aufgeführt …“ Er sah auf. Missbilligung stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. „Die Liste ist recht lang.“

Ohne Lady Honorias und Pfarrer Harmonds überraschte Ausrufe zu beachten, setzte Mr. Underhill den Kneifer ab. „Ein recht ungewöhnliches Dokument. So etwas habe ich in meiner langjährigen Tätigkeit noch nie erlebt. Lord Deverell zeigt sich überaus großzügig. Wünschen Sie, dass ich Ihnen die Liste vorlese, Lady Deverell?“

„Nein“, erwiderte Lexi tonlos. „Ich nehme an, es ist alles so wie besprochen.“

„Nun ja, wir haben eine Klausel eingefügt, die ich Ihnen vielleicht erklären sollte“, meinte der Anwalt.

„Und die wäre?“, fragte Lexi misstrauisch.

„Sollte Sir Mark vor Ihnen oder Lord Deverell ohne Nachkommen dahinscheiden, wird der in der Urkunde dargelegte Besitz an Ihren Gatten zurückfallen.“

Lexi konnte ein erstauntes Lächeln nicht verbergen. „Dagegen hege ich keine Einwände. Lassen Sie die Klausel stehen, wenn es sein muss. Würden Sie mir die Dokumente bitte aushändigen?“

Richard nahm dem Anwalt das Bündel Papiere aus der Hand, bevor dieser es Lexi übereichen konnte. „Bist du dir sicher, dass du das möchtest, Alexandra? Es ist ein seltsames Hochzeitsgeschenk. Du hast nichts davon.“

„Ich habe sehr wohl etwas davon! Es sichert Rawdon die Zukunft, und das hätte mein Vater gewollt“, sagte sie schroff. „Gibst du mir jetzt bitte die Papiere?“

„Habe ich nicht zuvor eine Belohnung verdient?“, fragte Richard lächelnd. „Vielleicht einen Kuss von meiner Gattin?“

Panik stieg in Lexi auf. „Nein!“

Verwunderte Gesichter blickten sie an.

„Noch nicht“, sagte sie daraufhin zögerlich. „Erst möchte ich Mark die Dokumente übergeben.“

Richard musterte sie aus schmalen Augen. „Na schön“, sagte er. „Mr. Underhills Anwesenheit ist jedoch sicherlich nicht länger vonnöten. Er hat seine Arbeit getan.“ Mit einem kurzen Dankeswort verabschiedete er den Anwalt, um gleich darauf Lexis Hand zu küssen, ehe er ihr die Dokumente überreichte.

Auf diesen Augenblick hatte Lexi ungeduldig gewartet. Sie entriss ihm ihre Hand und gab die Papiere ihrem Vetter. „Hier, nimm sie!“, sagte sie heftig. „Und kümmere dich gut um Rawdon. Unsere Familie lebt seit Jahrhunderten auf dem Anwesen, nun ist es an dir, die Tradition weiterzuführen. Der gesamte Besitz gehört jetzt rechtmäßig dir, und mithilfe der zurückgegebenen Ländereien sind alle Voraussetzungen gegeben, ihn wieder erfolgreich bewirtschaften zu können.“

„Lexi, ich weiß nicht, was ich sagen soll …“

„Sag nichts. Nimm einfach die Dokumente, und halte dich zurück!“

Sie trat an ein Regal, und als sie sich wieder umdrehte, hielt sie eine Pistole in der Hand. „Bleibt alle zurück!“ Der Pistolenlauf zeigte auf Richard.

Einen Augenblick herrschte verblüfftes Schweigen, dann rief Lady Honoria empört: „Alexandra! Was soll der Unfug? Wenn das ein Scherz sein soll, beweist du außerordentlich schlechten Geschmack. Leg dieses Ding sofort weg!“

„Oh nein! Erst werde ich tun, was ich mir geschworen habe.“ Aus dem Augenwinkel bemerkte sie eine Bewegung. „Ich warne euch. Falls sich jemand rührt, erschieße ich Deverell ohne viel Federlesens. Und ich werde ihn nicht verfehlen.“

Blass, die Augen unverwandt auf Lexis Gesicht gerichtet, sagte Richard: „Dessen bin ich mir sicher. Alexandra ist eine erstklassige Schützin. Ich selbst habe sie unterrichtet. Aber ich wüsste doch zu gern, warum du mich erschießen möchtest, Alexandra.“

„Das fragst du noch, du Schuft? Du hinterhältiger Feigling hast meinen Bruder ermordet und meinen Vater ruiniert. Reicht das nicht als Grund?“

Ein Keuchen ging durch den Raum. Lady Honoria widersprach voller Entrüstung, und Pfarrer Harmond meinte verblüfft: „Ich verstehe das alles nicht. Warum sagen Sie solch schreckliche Sachen über Ihren Gatten, Lady Deverell? Meine Liebe, offenbar wissen Sie nicht, was Sie tun. Vermutlich haben die Ereignisse der vergangenen Monate Sie überfordert. Geben Sie mir die Waffe.“ Er machte einen Schritt nach vorn, doch Lexi gebot ihm Einhalt.

„Bleiben Sie stehen! Ich weiß genau, was ich tue. Und ich schwöre, ich werde Deverell getroffen haben, noch bevor Sie mich erreichen.“

„Richard, ein solch unerhörtes Benehmen ist mir mein Lebtag noch nicht untergekommen. Warum bringst du deine Gemahlin nicht zur Räson?“, sagte Lady Honoria außer sich vor Entrüstung.

„Das würde ich ja gern“, erwiderte Richard, ohne den Blick von Lexi zu nehmen. „Ich weiß allerdings nicht wie, Tante Honoria.“ Sein Gesicht war immer noch bleich, seine Stimme jedoch klang beherrscht. „Indes bin ich mir sicher, dass Alexandra es ernst meint.“ Mit einfühlsamer Stimme wandte er sich an seine Gattin. „Du erhebst schwere Anschuldigungen, die sich keineswegs beweisen lassen, wie du weißt. Hältst du mich denn wirklich für einen solchen Halunken?“

„Oh ja. Und ich habe alle Beweise, die ich brauche. Und jetzt, da Rawdon wieder vor dir sicher ist, werde ich dich für deine Taten büßen lassen.“

„Sir Mark!“, sagte Lady Honoria nachdrücklich. „Haben Sie denn keinen Einfluss auf Ihre Cousine? So tun Sie doch etwas! Ich kann zwar nicht glauben, dass sie wirklich auf jemanden schießen würde, aber es ist gefährlich, eine Waffe auf einen Menschen zu richten. Sagen Sie ihr, sie soll aufhören, sich wie eine Närrin zu benehmen, und die Waffe weglegen, bevor noch etwas geschieht.“

„Mach dich nicht unglücklich, Lexi!“, bat Mark. „Du hast ja erreicht, was du wolltest. Rawdon ist wieder gänzlich im Besitz der Familie. Es ist nicht notwendig, dass du jetzt noch eine solche Verrücktheit begehst.“

„Doch, das ist es. Notwendiger als je zuvor, Mark. Er ist mein Gatte! Glaubst du etwa allen Ernstes, ich könnte mit solch einem Verbrecher zusammenleben?“ Sie zielte mit der Pistole auf Richards Herz. Erneut ging ein Keuchen durch den kleinen Raum.

„Warte, Alexandra!“ Richards Stimme klang eindringlich, aber immer noch furchtlos. „Hör mich nur einen Augenblick an. Als Beschuldigter habe ich doch wohl das Recht, mich zu verteidigen.“

„Auf deiner Unschuld zu beharren, meinst du wohl?“ Lexi verzog abschätzig den Mund.

„Ja, verflixt, weil ich unschuldig bin!“

„Du hast also meinen Bruder nicht erschossen?“

„Nein!“

„Und du hast auch nicht mit meinem Vater Karten gespielt? Hast nicht alles gewonnen, was er besaß, und ihn damit ruiniert?“

Richard zögerte. „Er war schon ruiniert, bevor ich mit ihm gespielt habe, aber ja, ich habe mit ihm um seinen restlichen Besitz gespielt und gewonnen.“

Lexi schluchzte auf, legte den Finger auf den Hahn und spannte ihn. Bereit, sich auf sie zu stürzen, machten Lady Honoria und Pfarrer Harmond einen Schritt nach vorn.

„Rührt euch nicht von der Stelle!“, rief Richard schroff. „Ich verbitte mir jegliche Einmischung. Diese Angelegenheit geht nur Alexandra und mich etwas an.“ Lexis Blick festhaltend fuhr er fort: „Ich habe getan, was ich tun musste. Ich wollte deinen Vater vor weiterem Unheil bewahren, nicht ruinieren. Wäre er nicht so plötzlich von uns gegangen, hätte ich dir das auch beweisen können. Ihm und nötigenfalls auch dir.“

„Das klingt in meinen Ohren nicht sehr überzeugend. Hätte ich dich nicht gezwungen, die Ländereien meines Vaters an Mark zurückzugeben, hättest du alles deinem Besitz einverleibt. Und dadurch wäre Rawdon zugrunde gegangen.“ Ihre Augen blitzten wütend. „Himmel, Deverell, was bist du nur für ein Mann? War dir Channings nicht groß genug? Musstest du unbedingt auch noch Rawdon besitzen?“

„Du hast mich nicht gezwungen, alles zurückzugeben, Alexandra“, erwiderte Richard mit stählerner Stimme. „Das hab ich aus freiem Willen getan. Es war dein Hochzeitsgeschenk. Du hast beschlossen, es deinem Vetter zu geben.“

„Bei mir kann von freiem Willen allerdings wohl keine Rede sein! Immerhin musste ich dich erst heiraten, um dieses Geschenk zu bekommen.“

„Soll das etwa heißen, du hättest mich andernfalls nicht geheiratet? Das kann ich nicht glauben. Mir schien, mein Antrag war dir sehr willkommen.“

„Das war bevor …“ Sie hielt inne und schluckte. „Bevor ich von deinen Schandtaten erfahren habe. Danach habe ich mich nur deshalb mit dieser Ehe abgefunden, weil sie die einzige Chance bot, Rawdon vor dir zu schützen.“

Alle Farbe wich aus Richards Gesicht. „Ich verstehe …“ Er schluckte schwer. „Aber, wie du schon gesagt hast, Rawdon ist jetzt vor mir sicher. Damit ist wohl auch alles, was ich getan oder unterlassen haben sollte, abgegolten.“

„Abgegolten? Du hast meinen Vater in den Tod getrieben. Und auch für den Tod meines Bruders sollst du büßen!“

„Ich sagte bereits, dass Johnnys Tod ein Unfall war“, erwiderte Richard gefasst.

„Oh, das will ich dir gern glauben. Aber ob Unfall oder nicht, du hast ihn erschossen, obgleich du allen erzählst, er hätte sich versehentlich selbst erschossen. Warum sonst hättest du dir solche Mühe gegeben, diesen sogenannten Unfall zu vertuschen? Du bist ein Lügner und ein Feigling, Richard Deverell. Und ich weiß das, auch wenn die restliche Welt anderer Meinung ist.“

Richard machte unwillkürlich einen Schritt nach vorn, worauf Lexi sofort den Finger auf den Abzug legte.

„Nein! Oh bitte, lieber Gott, nein!“, schrie Lady Honoria.

Abrupt verharrte Richard reglos. „Würde das der Wahrheit entsprechen, hätte ich den Tod wahrlich verdient“, sagte er ernst. „Aber so war es nicht. Ich war nicht einmal in Johnnys Nähe. Wäre ich da gewesen …“ Er hielt inne, zum ersten Male sichtlich um Beherrschung kämpfend. Sein Gesicht war von Schmerz und Trauer gezeichnet. Kurz presste er die Lippen zusammen, dann fuhr er fort: „Wäre ich bei ihm gewesen, wäre all dies nicht geschehen. Ich hätte ihn gerettet. Leider war er zum Zeitpunkt seines Todes allein.“

Er sprach mit solch leidenschaftlicher Überzeugung, dass Lexi ins Zaudern geriet und die Waffe ein wenig senkte. Gleich darauf aber hob sie sie wieder an. „Ich habe Beweise, eindeutige Beweise“, sagte sie tonlos.

„Dann zeig sie mir! Hast du deinen Sinn für Gerechtigkeit verloren, Alexandra? Angeklagt, verurteilt und gerichtet, alles in einem Atemzug – soll das etwa mein Schicksal sein?“

„Ich habe dich geliebt, Richard!“, rief sie. Doch obwohl in ihrer Stimme Verzweiflung durchklang, hielt sie die Pistole mit ruhiger Hand auf ihn gerichtet. „Mein Vater hat dich geliebt. Johnny war dein Freund. Du hast uns alle hintergangen! Du hast die Menschen angelogen und betrogen, die dir ihr Leben anvertraut hätten. Du verdienst es nicht, weiterzuleben.“

„Meine Liebe, versuch nur einmal in deinem Leben erst an die Folgen zu denken, bevor du handelst. Im Augenblick bist du von meiner Schuld überzeugt. Aber was, wenn du dich irrst? Nehmen wir einfach einmal an, du erschießt mich jetzt und stellst später fest, dass ich trotz deiner sogenannten Beweise unschuldig war. Wie würdest du dich fühlen?“

Lady Honoria brach ihr Schweigen. „Natürlich bist du unschuldig, Richard! Wie kannst du diese Situation nur so gelassen hinnehmen? Schau sie dir doch an! Sie meint, was sie sagt. Das Mädchen ist verrückt geworden!“ Mit zitternder Stimme wandte sie sich an Alexandra. „Du darfst Richard nicht erschießen! Er ist ein ehrenhafter Mann. Und dich hat er gewiss immer sehr großzügig behandelt. Er würde dich nicht anlügen und auch niemand anderen. Der Tod deines Bruders war ein tragischer Unfall, wie wir alle wissen. Das haben sogar die Militärbehörden festgestellt. Und Richard sagt, er war noch nicht einmal zugegen, als dein Bruder dahinschied, wie kann er da etwas mit seinem Tod zu tun haben? Und dein Vater …“

Lexi hörte nicht mehr zu. Ihre Augen brannten, doch sie hielt den Blick unverwandt auf Richard gerichtet, ebenso wie die Pistole in ihrer Hand.

„Danke, Tante Honoria“, unterbrach Richard. „Ich denke, du wirst meine Gemahlin nicht davon überzeugen können, dass ich kein Schuft bin. Sie ist sich meiner Schuld so sicher, dass sie Argumente zu meinen Gunsten nicht gelten lassen wird. Aber vielleicht kann ich sie ja dennoch umstimmen.“ Die Augen auf Lexis Gesicht fixiert, fuhr er fort: „Ich stimme dir zu, dass jemand deiner Familie übel mitgespielt hat. Nach dem Tod deines Vaters dachte ich, die Sache sei erledigt. Offenbar habe ich mich geirrt. Aber mich zu erschießen wird das Problem nicht lösen, das kann ich dir versichern. Denn ich bin nicht der Schuldige. Wenn du mir allerdings etwas Zeit gibst, werde ich den Schuft finden.“

„Es gibt keinen anderen Übeltäter außer dir, Deverell!“

„Doch, das schwöre ich dir!“ Richards Beharren zeitigte schließlich einen gewissen Erfolg. In Lexis Miene malte sich Unschlüssigkeit. Er bemerkte ihr Zögern und fuhr fort: „Lass mich dir ein Angebot machen. Du zeigst mir deine Beweise und erklärst mir, warum du so fest davon überzeugt bist, ich hätte meinen besten Freund und seine Familie betrogen. Menschen, die mir sehr viel bedeuten. Dann gib mir sechs Monate Zeit, um dir zu beweisen, dass du dich irrst und ich Johnny nicht erschossen habe. Sechs Monate, um herauszufinden, wer deinen Vater ruiniert hat.“

„Das zumindest warst du! Du hast es bereits zugegeben.“

„Nein, das habe ich nicht. Du hast mir nicht richtig zugehört. Ich habe mein Bestes gegeben, um den Schaden zu begrenzen, und habe versagt. Lass mich dir beweisen, dass ich die Wahrheit sage, und leg die Waffe weg. Wenn ich nach sechs Monaten meine Unschuld nicht zu deiner vollen Zufriedenheit beweisen kann, dann werde ich dir die Mühe ersparen, auf mich zu schießen. Ich werde es selbst tun, das schwöre ich dir.“

Pfarrer Harmond und Lady Honoria begehrten gleichzeitig auf.

„Solch ein Versprechen dürfen Sie nicht geben, Lord Deverell!“

„Richard, bist du jetzt auch noch verrückt geworden?!“

Doch Lexi und Richard schenkten ihnen keine Beachtung.

„Ich gebe dir mein Wort“, wiederholte Richard.

„Das Wort eines Lügners und Feiglings?“, entgegnete sie mit blitzenden Augen. „Was ist das schon wert?“

„Wohl mehr als deines, will mir scheinen“, erwiderte er. „Immerhin hast du geschworen, mich zu lieben, zu ehren und mir zu gehorchen. Oder hat eine andere neben mir vor dem Altar gestanden?“

„Ich habe gelobt, dich zu lieben, bis dass der Tod uns scheidet, Richard.“

„Ah! Verstehe. Und das gibt dir das Recht, deine anderen Versprechen zu brechen?“ Er verzog das Gesicht und sah sie herausfordernd an. „Also, wie entscheidest du dich, Alexandra? Eine Kugel jetzt oder in sechs Monaten?“

Pfarrer Harmond räusperte sich. „Lord Deverell, ich weigere mich, Zeuge eines solch teuflischen Paktes zu werden.“

„Mr. Harmond, können Sie denn nicht sehen, dass Alexandra sich auf nichts weniger einlassen wird?“, erwiderte Richard ungehalten. „Machen Sie es ihr nicht unmöglich, meinem Vorschlag zuzustimmen.“

Pfarrer Harmond überlegte kurz. Nach einer Weile seufzte er und schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht gutheißen, was Ihr Gatte vorschlägt, Lady Deverell. Aber wenn dieser Handel einen kaltblütigen Mord verhindern kann, dann muss ich Sie eindringlich bitten, sich darauf einzulassen. Mein liebes Kind, Sie bringen nicht nur Ihren Gatten und sich selbst in Gefahr, sondern riskieren obendrein, dass Ihre unsterbliche Seele Schaden nimmt. Geben Sie mir die Pistole.“

Lexi sah einen nach dem anderen an. In ihren vor Kummer geweiteten Augen glänzten Tränen. „Ich weiß nicht, was ich tun soll“, sagte sie. „Ich weiß es einfach nicht! Ich will niemanden töten. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal dazu gezwungen sein würde. Aber als ich herausfand, dass er mich angelogen hat, als mir bewusst wurde, was er getan hat, da wusste ich, dass ich meine Familie rächen muss …“ Sie blickte Richard mit gequälter Miene an. „Schwörst du vor allen hier, dein Versprechen zu halten? Bei deiner Ehre?“

„Ich schwöre bei meiner Ehre.“

„Nun, gut, dann gehe ich diesen Kompromiss ein.“ Sie senkte die Pistole, und ein erleichtertes Aufseufzen ging durch den Raum, als sie diese auf den Tisch legte.

Pfarrer Harmond nahm die Waffe sogleich an sich.

Lexi blickte ihn an und zitterte plötzlich am ganzen Körper. Ihr Gesicht war so weiß wie ihr Kleid, rot wie eine lodernde Flamme hob sich ihr Haar davon ab. Sie legte die Hände an die Kehle, ein Stöhnen entfuhr ihr, dann schwankte sie unvermittelt.

Richard fing sie auf, als sie fiel.

Einen Augenblick rührte sich niemand von der Stelle, dann meinte Lady Honoria: „Was willst du nun in Gottes Namen mit ihr machen, Richard? Wenn du mich fragst, wäre sie im nächstgelegenen Irrenhaus am besten aufgehoben.“

Die ohnmächtige Lexi in seinen Armen haltend, erwiderte Richard: „Wie kommst du nur auf solch einen Gedanken, Tante Honoria? Selbstverständlich wird mich meine Gemahlin nach Channings begleiten. Rawdon, würden Sie bitte meinem Kutscher Bescheid geben, er soll die Chaise unverzüglich am Seiteneingang vorfahren. Lady Deverell ist krank geworden.“ Er warf den anderen einen vielsagenden Blick zu. „Mehr muss von diesem Vorfall nicht an die Öffentlichkeit dringen.“

Er hielt ihre Blicke fest, bis sie alle ihr Einverständnis gaben. Dann nickte er Mark zu, der sich sogleich auf die Suche nach Richards Kutscher machte.

2. KAPITEL

Lexi schlug die Augen auf und schaute sich um. Sie lag im Bett. Das Zimmer, in dem sie sich befand, war groß, luxuriös möbliert und ihr völlig fremd. Neben dem Bett auf dem Nachttisch stand eine Ansammlung von Flaschen und Pulvern, daneben ein Glas und eine Karaffe mit Wasser. Hinter der Karaffe sah sie eine Vase mit Rosen und auf einer schönen Kommode zwischen zwei Fenstern eine Schale mit Herbstblumen. In einem Sessel in der Nähe des Bettes saß Lady Honoria, die sofort zu ihr eilte, als sie bemerkte, dass Lexi sich regte.

„Endlich bist du aufgewacht.“

„Wo bin ich?“ Lexis Stimme war kaum lauter als ein Flüstern.

„Trink etwas.“ Lady Honoria hielt ihr ein Glas an die Lippen. „Du bist in Channings, wo sonst?“

„In Channings?“ Lexi runzelte die Stirn. Unvermittelt kam ihr die Erinnerung wieder. Abrupt schob sie das Glas von sich und setzte sich auf. „Aber das geht nicht. Ich kann unmöglich mit Richard zusammenleben.“

„Reg dich bitte nicht auf. Der Arzt meint, du brauchst völlige Ruhe.“

Lexi schloss die Augen. „Wie lange bin ich schon hier?“

„Seit gestern. Richard hat dich nach der Hochzeit hierhergebracht. Du bist nach dieser absolut grotesken Szene in der Sakristei ohnmächtig geworden. Doktor Loudon hat mehrmals nach dir gesehen.“

Die Augen öffnend sagte Lexi: „Sicher hassen Sie mich, weil ich Richard erschießen wollte.“

„Nein, denn mir ist klar, dass du zu dem Zeitpunkt ganz offensichtlich nicht bei Vernunft warst. Allerdings fällt es mir nicht leicht, dir zu verzeihen, dass du uns allen einen solch großen Schrecken eingejagt hast. Einen Augenblick lang dachte ich wirklich, du wolltest schießen.“

„Das wollte ich auch“, sagte Lexi. „Ich habe alles sorgfältig geplant und mir geschworen, es zu tun. Als es dann aber so weit war … Warum konnte ich es nicht?“

Lady Honoria richtete sich auf. „Hör sofort auf, solchen Unsinn zu reden, Lexi! Natürlich konntest du nicht auf Richard schießen. Schließlich bist du keine Mörderin. Und wenn du nicht aufhörst, solchen Unfug von dir zu geben, werde ich Murdie holen, damit sie bei dir wacht. Ich jedenfalls hör mir das nicht länger an.“

„Nein, bitte gehen Sie nicht.“ Lexi griff nach Lady Honorias Hand. „Sagen Sie … ist er … wird er … sind wir wirklich verheiratet?“

„Natürlich. Indes würde es mich nicht wundern, wenn Richard dich fortschickt. Wenn eine Frau ihrem Gatten mit Mord droht, ist das sicher Grund genug für eine Scheidung. Ich könnte es Richard noch nicht einmal verübeln, wenn er dich ins Irrenhaus bringt.“ Lady Honoria entzog Lexi ihre Hand. „Du hast mich zum Narren gehalten. Ich hätte geschworen, dass du ihn liebst.“

Eine Träne kullerte ihr über die Wange. „Das tue ich auch“, flüsterte sie. „Ich habe mir nichts sehnlicher gewünscht, als Richard zu ehelichen, so sehr liebe ich ihn …“

Lady Honoria schnaubte. „Du hast eine merkwürdige Art, deine Liebe zu zeigen. Wenn dir mein Neffe so sehr verhasst ist, warum hast du seinen Antrag nicht einfach abgelehnt, du dummes Mädchen?“ Sie bedachte Lexi mit einem vernichtenden Blick, ehe sie fortfuhr: „Jede heiratsfähige Frau im Land wäre mit Freuden seine Gemahlin geworden. Warum zum Teufel wollte er ausgerechnet dich zur Gattin nehmen?“

Lexi schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Ich weiß überhaupt nichts mehr!“

„Nun, ich sage dir, warum“, erwiderte Lady Honoria ungerührt von Lexis offenkundiger Verzweiflung. „Du hast ihm leidgetan, deshalb hat er dich geheiratet. Gewiss hat er gedacht, er sei es deiner Familie schuldig.“ Lexi wollte aufbegehren, doch Lady Honoria beachtete ihren Protest gar nicht. „Ich weiß nicht, welche Grillen du dir in den Kopf gesetzt hast, Alexandra Rawdon, aber ich hoffe, du bist jetzt zufrieden. Zwar ist es dir nicht gelungen, Richard zu töten, sein Leben hast du jedoch ganz sicherlich ruiniert.“ Sie schöpfte kurz Atem, um gleich darauf fortzufahren: „Ich war froh darüber, dass er unversehrt aus dem Krieg heimgekehrt ist und sich mit seiner Gemahlin in Channings niederlassen wollte, um endlich eine Familie zu gründen. Aber nun …“ Sie winkte aufgebracht ab. „Richard hat mich gebeten, freundlich zu dir zu sein. Doch das fällt mir schwer. Ich bin keine Heilige. Ich kann nicht bei dir bleiben, sonst sage ich nur noch weitere Dinge, die ich besser für mich behalten hätte.“

Lexi blickte sie aus großen, von Kummer getrübten Augen an. „Ich bedaure, dass Sie wütend auf mich sind. Allerdings habe ich Richards Mitleid nie gewollt. Er hätte es sich besser für meinen Vater aufgespart. Das können Sie wohl aber nicht verstehen.“

„Nein, und ich glaube auch nicht, dass ich es jemals verstehen werde, warum du ausgerechnet gegen Richard solch schwere Anschuldigungen erhebst. Wie konntest du ihm das nur antun?“ Sie blickte Lexi einen Augenblick an, dann schüttelte sie den Kopf. „Es hat keinen Zweck. Ich werde Murdie holen. Ich kann nicht länger bei dir wachen.“

Die Tür fiel hinter ihr zu, und Lexi schloss, am ganzen Körper zitternd, die Augen. Seit ihre Welt aus den Fugen geraten war, hatte sie das Gefühl der Panik und des Verlustes nie ganz losgelassen. Nun brandete es erneut mit aller Macht auf und nahm von ihr Besitz. Warum hatte Richard um ihre Hand angehalten? Damals hatte sie geglaubt, er liebe sie so sehr wie sie ihn …

Der Moment, da er ihr den Antrag gemacht hatte, war ihr mit schmerzlicher Klarheit ins Gedächtnis gebrannt. Wie dumm war sie doch gewesen, zu glauben, er hege tiefere Gefühle für sie!

Als Richard damals in die Bibliothek gekommen war, hatte sie am Schreibtisch gestanden, um die Papiere ihres Vaters zu ordnen. Von Weinkrämpfen geschüttelt, musste sie ihre Arbeit immer wieder unterbrechen, denn das Bild ihres Vaters, zusammengesunken über eben jenen Papieren, stand ihr ständig vor Augen …

„Oh, Alexandra. Du solltest dieses Zimmer nicht allein aufsuchen“, sagte Richard beim Eintreten.

Blind vor Tränen wandte sie sich ihm zu, worauf er sie tröstend in die Arme nahm. Als sie den Kopf an seine Brust legte, fühlte sie sich wunderbar geborgen. Schon am vorangegangenen kummervollen Tag hatte er ihr zur Seite gestanden, den Dienstboten Anweisungen erteilt und dafür gesorgt, dass man sich um sie kümmerte. Indes hatte sich keine Gelegenheit für ein Gespräch ergeben.

Sie in den Armen haltend wartete er, bis sie sich wieder gefasst hatte, ehe er sie zum Sofa vor dem Kamin geleitete. „Dir scheint kalt zu sein. Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen?“

„Ich weiß nicht. Ist es wichtig?“

„Natürlich. Ich lasse dir etwas bringen.“

Nachdem sie wenig später ein paar Bissen verspeist und ein paar Schlucke Wein getrunken hatte, fragte er: „Ist dir jetzt besser?“

Sie nickte, und ihre Hände ergreifend lächelte er dieses besondere, liebevolle Lächeln, das er sich ganz allein für sie aufzusparen schien. Es entfaltete wie gewöhnlich seinen Zauber, und für einen Augenblick vergaß sie all ihren Kummer.

„Was wolltest du denn am Schreibtisch?“

„Papas Papiere sortieren.“

„Darum sollten sich besser die Anwälte deines Vaters kümmern. Du solltest dich schonen.“

„Das geht nicht“, widersprach sie. „Wenn ich die Papiere nicht ordne, wird Mark sich bestimmt darum kümmern wollen. Er war heute Morgen hier, als ich hereinkam. Ich kann es ihm nicht verübeln, schließlich ist er der Erbe. Obgleich er immer noch wie ein Fremder für mich ist. Und diese Papiere waren das Letzte … das Letzte, was Papa vor seinem Tod gelesen hat. Daher will ich mich darum kümmern.“

„Soll ich die Papiere für dich ordnen?“

Einen Moment sah sie ihn nachdenklich an. „Ja, gut“, sagte sie schließlich. „Du hast meinem Vater sehr nahegestanden. Aber du hast bereits so viel für mich getan. Und ich habe keinen Anspruch auf dich oder deine Zeit.“

Ernst blickte er sie aus grauen Augen an. „Du irrst, Alexandra. Du hast jeden Anspruch auf meine Zeit und alles andere von mir.“

Verwirrt schaute sie zu ihm auf.

„Ich verspüre schon lange den Wunsch, dich zu heiraten. Dein Vater hat das gewusst. Und ich möchte, dass unsere Hochzeit so schnell wie möglich stattfindet. Sagst du Ja? Wirst du mir vertrauen?“

Lexi zögerte nicht einen Augenblick. Von einer Welle des Glücks überflutet, die ihren Kummer ertränkte, warf sie sich ihm in die Arme. „Richard, oh Richard! Natürlich sage ich Ja. Das weißt du doch. Ich werde dich heiraten, sobald du es möchtest. Aber müssen wir nicht warten? Die Nachbarn werden sicher schockiert sein. Papas Tod …“

„Sie werden sich auch wieder beruhigen. Dein Vater hätte gewollt, dass für dich gesorgt ist. Unter anderen Umständen wären wir schon längst vermählt – das wissen wir doch beide. Und nun brauchst du mehr denn je jemanden, der sich um dich kümmert, dich glücklich macht und für dein Wohl sorgt. Die Hochzeit könnte schon in wenigen Wochen stattfinden, wenn du einverstanden bist – natürlich in aller Stille. Macht dir das etwas aus?“

„Mir? Oh nein.“

„Dann nimmst du meinen Antrag also an. Du wirst es nicht bereuen, das schwöre ich dir.“

„Bereuen? Wieso sollte ich eine Ehe mit dir bereuen, Richard? Das wünsche ich mir doch schon mein ganzes Leben lang!“

Die Papiere an sich nehmend war er wenig später gegangen, und sie hatte sich trotz ihres Kummers glücklich gefühlt. Richard hatte ihr einen Antrag gemacht, und sie war sich sicher gewesen, dass er sie ebenso sehr liebte wie sie ihn …

Lexi vergrub das Gesicht im Kissen. Wie leichtgläubig und dumm sie doch gewesen war. Natürlich liebte Richard sie nicht in der Weise wie sie ihn. Vielleicht hatte er sie tatsächlich nur aus Mitleid geheiratet, wie seine Tante behauptet hatte, oder aus Schuldgefühlen, weil ihn das schlechte Gewissen plagte. Aber eines war sicher: Geliebt hatte er sie nie.

Es überraschte sie, wie heftig sie diese Erkenntnis schmerzte, trotz allem, was geschehen war. Doch sie wollte sich auch keine Illusionen mehr machen. Aus blinder Liebe hatte sie sich ein Bild von Richard gemacht, das der Wahrheit nicht mehr entsprach. Ganz offensichtlich hatte sie ihn nie richtig gekannt. Sie war mit einem Fremden verheiratet, lebte gefangen in einem Albtraum …

Diese Vorstellung war kaum zu ertragen. Sie schloss die Augen, flüchtete vor der grausamen Gegenwart und suchte Trost in der Vergangenheit – einer Zeit, in der Richard ihr noch nicht fremd gewesen war und ihr Herz erobert hatte …

Richard und Johnny waren miteinander befreundet gewesen, schon bevor Lexi das Licht der Welt erblickt hatte. Trotz ihrer unterschiedlichen Charaktere – Johnny war von lebhaftem Wesen, Richard dagegen in sich gekehrt – hatten sie sich stets gut verstanden. Lexi erinnerte sich noch gut an die schönen Sommertage, an denen sie den beiden Jungs dabei zugesehen hatte, wie sie Kaulquappen im See fingen oder angelten. Sie war ihnen überallhin gefolgt, war in Bäche gefallen, bis zu den Knien im Schlamm versunken und über Steine gestolpert. Nie aber hatte sie sich beschwert, außer, wenn die beiden ohne sie losziehen wollten.

Im Laufe der Jahre hatten sie sich daran gewöhnt, dass ihr kupferroter Schopf überall da auftauchte, wo sie waren, und sorgten sogar dafür, dass sie keine allzu schweren Stürze oder Schrammen davontrug. Dafür belohnte sie die Jungen mit grenzenloser Treue und Bewunderung. Sie waren praktisch unzertrennlich gewesen, ritten gemeinsam aus, kletterten auf Bäume, trugen Kämpfe gegeneinander aus und lachten miteinander. Damals hatten sie viel Zeit am See und in den Wäldern verbracht, die Rawdon umgaben.

In ihrer Kindheit war noch alles einfach gewesen. Doch das idyllische Leben konnte natürlich nicht für immer so weitergehen, obgleich sie das zu jener Zeit gedacht hatte. Sie wurden älter, und das brachte natürlich auch Veränderungen mit sich. Die größte dieser Veränderungen bekam Lexi im Jahr 1810 zu spüren. Johnny und Richard hatten die Saison in London verbracht. Als sie als schneidige junge Gentlemen nach Somerset zurückkehrten, fanden sie plötzlich keine Zeit mehr für die gewohnten Vergnügungen aus Kindertagen. Die sechs Jahre Altersunterschied taten sich unvermittelt wie ein Abgrund zwischen ihnen auf, den Lexi weder mit bittenden Worten noch mit Wutausbrüchen überbrücken konnte. Sie war gezwungen, aus der Ferne zu beobachten, wie Richard und Johnny die jungen Damen aus der Nachbarschaft hofierten, sie zu Ausritten einluden oder sich mit ihnen auf Picknicks und Bällen trafen, die von hoffnungsvollen Müttern ausgerichtet wurden. In diesen Tagen fühlte sich Lexi sehr einsam und verloren. Ihr war zumute, als hätte man ihr ein Stück ihres Herzens herausgerissen. Doch mit der Zeit bemerkte sie, dass die Bemühungen der jungen Damen, sich zwei der besten Partien der Grafschaft zu angeln, kaum von Erfolg gekrönt waren.

Johnny tändelte mit vielen, aber mit keiner war es ihm ernst. Und obwohl Richard sich immer höflich zeigte, mit der einen tanzte, der anderen aufmerksam zuhörte und mit ihr lachte, blieb er dennoch stets kühl und reserviert. Keiner der Damen gab er den Vorzug.

Gleichzeitig wechselte das Bild, das Lexi von ihrem Freund gewonnen hatte. Immer mehr fühlte sie sich von seiner zurückhaltenden Art angezogen. Der Charme seines Lächelns, das er nur sehr selten zeigte, bezauberte sie. Plötzlich sah sie in ihm nicht mehr den vertrauten, stillen Jungen, sondern einen attraktiven und trotz seines ruhigen Wesens sehr selbstsicheren Mann, war fasziniert von der in ihm ruhenden Kraft und seiner würdevollen Ausstrahlung. Ihre Gefühle für ihn wurden so stark, dass sie sie nur schwer beschreiben konnte, doch eines war sie sich gewiss: Gleich ob Junge oder Mann, Freund oder gute Partie – Richard Deverell war der Mann ihres Herzens. Sie gehörten zusammen. Dessen war sie sich so sicher, dass sie es ihm eines Tages sogar eingestand.

Sie waren ausgeritten und hatten die Pferde an einem Zaun angebunden zurückgelassen, um zum Fluss hinunterzugehen. Eine Weile beobachteten sie die Possen der Otter, die im Wasser spielten, und sprachen dabei über alles, was ihnen in den Sinn kam.

„Bleibst du jetzt für immer zu Hause, Richard?“

„Ich weiß es noch nicht. Vielleicht gehe ich eine Weile zum Militär.“

„Zum Militär!“

„Dabei kann man die Welt sehen. Johnny überlegt sich das ebenfalls.“

„Johnny? Papa würde ihn nicht gehen lassen. Er wird hier gebraucht. Und dich braucht man auch, Richard.“

„Ach, mach dir und mir nichts vor, Alexandra. Du weißt sehr wohl, dass mein Vater keine Freude an meiner Gesellschaft empfindet, und Channings ist so gut verwaltet, dass man mich nicht benötigt. Nein, ich denke, niemand wird mich vermissen.“ In seiner Stimme klang Verbitterung durch.

Eine Weile schwieg Lexi, dann sagte sie leise: „Wir würden dich vermissen, Richard …“

„Es wäre ja auch nur für zwei oder drei Jahre. Ich strebe ganz gewiss keine Militärkarriere an. Aber Johnny hat sich die Idee fest in den Kopf gesetzt. Ich denke, er wird gehen, gleich, was dein Vater sagt.“

„Oh, wenn es Johnnys ausdrücklicher Wunsch ist, dann wird Papa sich sicher von ihm überreden lassen. Johnny bekommt immer seinen Willen.“ Sie schwieg einen Augenblick, während sie darüber nachdachte, was Johnnys Entscheidung für ihren Vater und sie bedeuten würde, ehe sie wütend sagte: „Mein Bruder ist solch ein unbesonnener Holzklotz! Er tut immer das, wonach ihm der Sinn steht, ohne an die Folgen zu denken.“

„Und du tust das nicht?“, fragte Richard und sah sie mit solch neckend verwundertem Blick an, dass sie lachen musste.

„Ich weiß, ich weiß! Die Rawdons handeln, ohne vorher nachzudenken. Wie oft habe ich dich das schon sagen hören? Aber Johnny ist viel schlimmer als ich, und das weißt du auch. Es würde mich nicht überraschen, wenn du ihn in London aus zahlreichen Klemmen hättest herausholen müssen.“ Sie hielt inne, und als sie weitersprach, klang sie ungewohnt gereizt. „Nun will er also zum Militär, und sicher wird er auch diesen Wunsch durchsetzen. Wir alle geben unser Bestes, um Johnny zu Gefallen zu sein, aber das ist ihm gleich! Er zieht fröhlich seines Weges und denkt gar nicht daran, ob er durch sein Handeln jemandem Kummer bereiten könnte.“

„Das klingt fast so, als würdest du deinen Bruder nicht mögen.“

„Im Moment mag ich ihn auch nicht, glaube ich.“ Sie sah auf und bemerkte, dass Richard die Stirn runzelte. „Oh, keine Sorge. Im Augenblick mag ich ihn vielleicht nicht besonders, aber ich werde ihn immer lieben. Trotz all seiner charakterlichen Makel.“

„Oder vielleicht gerade deswegen“, sagte Richard. „Weil er so ist, wie er ist, nicht wahr?“ Er lächelte.

Sein Lächeln ließ sie wie auf Wolken schweben. Plötzlich fühlte sie sich unbändig glücklich und war sich sicher, dass Richard niemals einem anderen Mädchen dieses besondere, neckende, liebevolle Lächeln schenken würde. Dieses Lächeln sparte er sich ganz allein für sie auf. Als er ihr über den Zaunübertritt am Ende des Weges helfen wollte, sprang sie nicht hinunter, wie sie es sonst immer tat, sondern blieb darauf stehen, legte ihm die Hände auf die Schultern und schaute lachend zu ihm hinab.

„Welchen meiner charakterlichen Makel liebst du am meisten, Richard?“, fragte sie und neigte den Kopf. In ihren Augen stand ein freches Funkeln, das Haar fiel ihr in dicken kupferroten Locken über die Schulter und streifte sein Gesicht.

Seine Hände lagen um ihre Taille, bereit, ihr hinunterzuhelfen, doch er verharrte reglos. Unvermittelt umfasste er sie fester, seine Augen verdunkelten sich, und er lächelte nicht mehr. Sein Blick ruhte auf ihrem Mund. Lexi stockte vor Aufregung der Atem.

„Richard?“, fragte sie unsicher.

Und ganz plötzlich war der Zauber vorbei. Er sagte leise etwas, das sie nicht verstand, nahm seine Hände von ihr und schüttelte den Kopf. Nach einem Augenblick meinte er gleichmütig: „Das kann ich wirklich nicht sagen. Du besitzt so viele davon!“

Seine Reaktion enttäuschte sie, und es drängte sie danach, an seiner Gelassenheit zu rütteln. „Weißt du, einen kurzen Augenblick lang habe ich geglaubt, du wolltest mich küssen. Wolltest du das?“

„Natürlich nicht“, erwiderte er. „Welch absurder Gedanke! Du bist immer noch ein Kind, Alexandra.“

Gekränkt erwiderte sie: „Ich bin sechzehn und gar nicht so viel jünger als du! Früher hat dir der Altersunterschied nie etwas ausgemacht.“

„Damals war es ja auch anders, da waren wir alle noch Kinder“, sagte er brüsk.

„Aber … Warum willst du mich nicht küssen? Bin ich dir nicht hübsch genug?“

„Du bist nicht alt genug, Alexandra! Wärst du nicht ein solcher Kindskopf, würdest du nicht solche Fragen stellen. Und wenn du nicht willst, dass ich dich hier stehen lasse, dann beenden wir dieses dumme Gespräch jetzt.“

Lexi sah ihm an, dass er es ernst meinte. „Nun gut“, willigte sie ein und warf ihm einen herausfordernden Seitenblick zu. „Aber ich denke immer noch, dass du mich küssen wolltest. Vermutlich muss ich einfach warten, bis ich älter bin.“

Nur widerwillig schienen ihm seine nächsten Worte über die Lippen zu kommen. „Wahrscheinlich wirst du mich dann nicht mehr küssen wollen.“

„Oh, doch, das will ich“, erwiderte sie zuversichtlich. „Du bist der Richtige für mich, Richard Deverell. Wir gehören zusammen.“

Den restlichen Sommer über verhielt sich Richard ihr gegenüber so liebenswert wie zuvor, doch er blieb distanziert, zeigte ihr nie durch Blicke oder Taten, dass er mehr in ihr sah als eine gute Freundin, die kleine Schwester seines besten Freundes. Aber Lexi lag des Nachts lange wach und stellte sich den Kuss vor, den er ihr verweigert hatte, malte sich die Zukunft mit ihm aus, und obwohl das Thema nie wieder zur Sprache kam, war sie von ganzem Herzen überzeugt, dass sie zusammengehörten.

Aufmerksam beobachtete sie ihn und stellte glücklich fest, dass er keiner anderen jungen Dame den Hof zu machen schien. Einstweilen musste sie sich also nicht sorgen, eine Rivalin zu haben, und sie hoffte inständig, dass ihr Warten auf ihn bereits im nächsten Jahr ein Ende finden würde. Letzten Endes wurde Richard ihr aber von einem mächtigeren Rivalen fortgenommen, denn im Herbst verkündeten er und Johnny, dass sie der Armee beigetreten seien.

Vielleicht war sie wirklich noch ein Kind, wie Richard behauptet hatte, indes zweifelte Lexi nie daran, dass die beiden unversehrt zurückkehren würden. Und obwohl sie Richard und Johnny vermisste, war sie entschlossen, ihre Abwesenheit gut zu nutzen. Bisher hatte sie die Dinge, die man von der Tochter eines wohlhabenden Gutsherrn erwartete – die Fähigkeit sich stilvoll zu kleiden, anmutig zu tanzen, zu singen, musizieren und zu zeichnen –, als Zeitverschwendung erachtet. Aber nun wandte sie beträchtliche Energie auf, um sich diese Fähigkeiten anzueignen. Sie wollte Richard überraschen, wollte, dass er aus dem Staunen über ihre Veränderung nicht mehr herauskam. Sie wollte, dass er sie unwiderstehlich fand.

Einige Monate bevor die beiden nach London zurückkehren sollten, erinnerte sich Lexis Patin Lady Wroxford etwas verspätet an ihr Versprechen, ihr Patenkind in die feine Gesellschaft einzuführen. Inzwischen hatte Lexi gelernt, ihr Temperament zu zügeln, und besaß die Anmut einer Dame. Zwar entsprach sie nicht dem gängigen Schönheitsideal, aber ihre üppigen roten Haare und die funkelnden veilchenblauen Augen ließen sie aus der Menge hervorstechen. Zudem sorgten ihre offene, unverblümte Art, ihr Verstand und ihr Humor dafür, dass sie stets von einer Schar Bewunderer umringt war. Noch vor Ende der Saison hatte sie mehrere Heiratsanträge erhalten.

Doch sie wies alle Gentlemen ab. Lady Wroxford echauffierte sich darüber und beschuldigte sie, zu wählerisch zu sein. Mit gesenktem Kopf ließ Lexi die Strafpredigt über sich ergehen, ohne etwas darauf zu erwidern. Was sollte sie auch sagen? Sie konnte ihrer freundlichen Patin doch nicht eingestehen, dass sie darauf wartete, den Mann ihres Herzens wiederzusehen. Dass sie niemals auch nur einen anderen als ihn in Erwägung ziehen würde.

Im Mai 1814 kehrten Richard und Johnny endlich wieder nach England zurück und wenige, viel zu kurze Monate lang war Lexi die Zukunft in strahlendem Licht erschienen.

Die Tür öffnete sich, und Lexi kehrte abrupt wieder in die Gegenwart zurück. Sie hörte, wie jemand das Zimmer betrat. Vermutlich Murdie, dachte sie, die Lady Honorias Platz einnehmen soll.

„Alexandra?“

Nein, es war nicht Murdie, sondern Richard. Kein anderer sprach ihren Namen in dieser besonderen Art aus. Obwohl sie die Augen geschlossen hielt, spürte sie, wie der Blick seiner grauen Augen über sie schweifte, sie musterte … Heftig hämmerte ihr Herz in der Brust, doch sie blieb reglos liegen, gab vor, fest zu schlafen.

„Alexandra, sieh mich an. Wir müssen reden.“

Warum bezauberte sie seine Stimme immer noch? Die Versuchung, seine Bitte zu erfüllen, war beinahe unwiderstehlich, aber sie durfte diesem Verlangen nicht nachgeben. Warum ging er nicht einfach?

„Hat meine Tante dich wieder aufgeregt? Sie ist alt, Alexandra. Sie versteht nicht …“ Seine Stimme hatte einen ironischen Klang, als er fortfuhr: „Nun, ich verstehe dein Verhalten ja selbst nicht, aber ich bin nicht so aufgebracht darüber wie sie. Lass dich von ihr nicht aus der Fassung bringen. Vielleicht fühlst du dich sogar besser, wenn wir erst geredet haben. Früher oder später müssen wir die Risse unserer Beziehung wieder kitten.“

Die Risse kitten? Dazu wäre ein Wunder nötig! Für Lexi war ihre Beziehung ein einziger Scherbenhaufen, den man nicht mehr zusammensetzen konnte. Ohne die Augen zu öffnen, wandte sie den Kopf ab.

Richard wartete einen Augenblick. Er wusste, dass Alexandra nicht schlief. Doch obwohl ein klärendes Gespräch dringend nötig war, fiel es ihm schwer, sie dazu zu zwingen, bevor sie selbst dazu bereit war. Die Ereignisse der letzten Monate hatten sie an den Rand eines Zusammenbruchs gebracht. Die dunklen Schatten unter ihren Augen und die bleichen Wangen zeigten ihm, wie nötig sie Ruhe und Erholung brauchte.

Vielleicht würde es helfen, von glücklicheren Zeiten zu sprechen … Er setzte sich zu ihr ans Bett und dachte an den Mai des Jahres 1814 zurück. „Alexandra, weißt du noch, wie wir in London getanzt haben? Johnny und ich waren erst einen Tag zuvor aus Frankreich zurückgekehrt. Napoleon hatte man verbannt, und ganz London feierte.“

Er hielt inne, doch Alexandra war nicht anzumerken, ob sie ihm zuhörte. Er fuhr fort: „Ich sah dich zuerst bei dem Ball in Northumberland House, das weiß ich noch. Wir waren dorthin gegangen, in der Hoffnung, dich zu treffen.“

Richard schwieg. Der Abend war ihm lebhaft ins Gedächtnis eingebrannt. Alexandra war der umschwärmte Mittelpunkt der Gesellschaft gewesen. Er hatte sie gleich bei seinem Eintreten in den Ballsaal entdeckt und verwundert festgestellt, dass sich das nachlässig gekleidete Kind von einst in eine strahlende, anmutige junge Dame verwandelt hatte, die sich ihrer Anziehung wohlbewusst war.

Doch ihr bezauberndes Lächeln glich immer noch dem des ungestümen Mädchens, das vor fast vier ereignisreichen Jahren auf dem Zaunübertritt gestanden und ihn in Versuchung geführt hatte, sie zu küssen. Noch immer glaubte er den Duft ihres Haares wahrzunehmen, das seine Wange gestreift hatte, immer noch verspürte er bei ihrem Anblick die Gefühle, die in ihm damals erwacht waren …

Inzwischen war Richard von Bedauern erfüllt. Ganz offensichtlich wollte Alexandra seine Anwesenheit nicht zur Kenntnis nehmen. Kühl meinte er: „Na schön. Wie ich sehe, bist du noch nicht bereit, mit mir zu reden. Aber viel Zeit gebe ich dir nicht mehr, Alexandra. Wir haben eine Vereinbarung getroffen, und ich werde dafür sorgen, dass du deinen Teil davon erfüllst. Ich komme wieder.“

3. KAPITEL

Die Tür schloss sich. Lexi fühlte sich endlich wieder in Sicherheit. Sich den Erinnerungen hingebend, die Richard soeben in ihr wachgerufen hatte, suchte sie erneut Zuflucht in der Vergangenheit …

Damals hatten sie oft auf Bällen miteinander getanzt und gelegentlich auch Ausfahrten unternommen. Mit jedem Tag, der verging, hatte sie sich ein wenig mehr in ihn verliebt. Selbst beim Tanz in den überfüllten Sälen, wo ihnen alle Welt zuschaute, spürte sie eine unterschwellige Harmonie, die sie miteinander verband, ein Gefühl, das sie bei keinem anderen Mann jemals empfunden hatte. Die Gesellschaft respektierte Richard als den Erben einer alteingesessenen und wohlhabenden Familie, als verdienten Offizier und Ehrenmann. Lexi indes kannte auch den Teil seines Wesens, den er gewöhnlich hinter einer Maske aus distanzierter Höflichkeit verbarg – seinen geistreichen Humor, sein mitfühlendes, von Herzen kommendes Interesse für andere und seine Empfindsamkeit. Dafür liebte sie ihn, gab sich jedoch größte Mühe, sich ihre Gefühle nicht anmerken zu lassen.

Eines Abends besuchten sie auf Johnnys Vorschlag gemeinsam die Vauxhall Gardens. Lady Wroxford hatte es sich in einer der Logen bequem gemacht und plauderte vergnügt mit ihren Freundinnen. Sie erhob keine Einwände, als Lexi von Richard um einen Tanz gebeten wurde. Auf dem Weg zur Tanzfläche fragte er unvermittelt, ob sie nicht mehr Gefallen an einem kleinen Spaziergang finden würde. Die Nacht war warm, die Tanzfläche überfüllt und die Versuchung, einige Minuten allein mit Richard in der idyllischen Parkanlage zu verbringen, groß. Nur allzu gern flanierte sie mit ihm über die von Lampen erleuchteten Wege. Nach einer Weile jedoch blieb er unversehens stehen.

„Habe ich dich verärgert, Alexandra?“

„Verärgert? Mich?“ Lexi sah ihn verblüfft an. „Nein, natürlich nicht. Wie kommst du darauf?“

„Du hast dich in letzter Zeit sehr verändert. Es scheint mir fast, als wärst du in meiner Gesellschaft ständig … auf der Hut. Bevor ich zum Militär ging, warst du nie so zurückhaltend mir gegenüber.“

Lexi nagte an ihrer Unterlippe. „Wir sind beide älter geworden, Richard“, erwiderte sie bedächtig.

„Aber wir sind doch gewiss noch Freunde? In Spanien habe ich nach einem harten Tag auf dem Schlachtfeld oft in den Sternenhimmel geschaut und an unsere gemeinsame Zeit in Rawdon gedacht. Allein die Bilder, die ich in diesen Nächten heraufbeschwor, haben bewirkt, dass ich meinen Verstand in diesem blutigen Krieg nicht verloren habe. Und du warst immer ein Teil dieser Bilder. Ich habe mir dein Gesicht vorgestellt, dein Lachen, habe mir ausgemalt, wie du aussiehst, wenn du die Nase beim Nachdenken kraust und wie dir die kupferroten Locken ins Gesicht fallen, weil sie sich nie so ganz bändigen lassen wollen … Dein Haar ist unvergleichlich, ebenso wie du.“

Sein Ton war so anders als sonst, dass Lexi nicht wusste, wie sie reagieren sollte. Die Freude unterdrückend, die sie ob seiner Worte empfand, erwiderte sie brüsk: „Ach, du musst mir nicht schmeicheln. In Spanien gab es sicher zahlreiche schwarzhaarige Schönheiten, die euch nur zu gern getröstet haben. Ich glaube nicht, dass du da allzu oft an deine Freunde in England gedacht hast, ganz zu schweigen an mich.“

„Ich hatte gar nicht vor, dir zu schmeicheln! Verflixt, das ist genau das, was ich meine. Dein kühles Lächeln, diese Bemerkung, mit der du mir wohl absichtlich vor den Kopf stoßen wolltest. Warum tust du das? Warum behandelst du mich so abweisend, als wäre ich bloß ein flüchtiger Bekannter? Zählt unsere jahrelange Freundschaft denn gar nicht mehr?“

„Wir sind keine Kinder mehr“, erwiderte Lexi heftig. „Vielleicht siehst du in mir immer noch nichts weiter als Johnnys kleine Schwester, aber in der Gesellschaft erweckt unsere Freundschaft einen anderen Eindruck, und ich hege nicht den Wunsch, ins Gerede zu kommen.“

„Ins Gerede?“

„Ja, Richard, ins Gerede!“, erwiderte Lexi schroff. Nun hatte sie endgültig die Geduld verloren. „So undenkbar es dir auch erscheinen mag, die Gesellschaft betrachtet mich als heiratsfähige junge Dame. Und wenn ich nicht will, dass die Klatschbasen über mich tratschen, darf ich mich nicht zu oft in der Gesellschaft eines der begehrtesten Junggesellen Londons sehen lassen, so wie ich das im Moment tue. Und da ich gewiss keine Gerüchte hervorrufen will, sollten wir jetzt wohl besser zu meiner Patin zurückkehren. Sie wird sich sicher schon wundern, wo ich bin.“

Sie drehte sich um, doch er ergriff ihre Hand und zog Lexi zurück, so abrupt, dass sie stolperte und an seine Brust prallte. Ihren Blick gefangen haltend, umfing er sie und drückte sie an sich. Ein Schauer der Wonne lief ihr über den Rücken, doch es gelang ihr, mit kühler Stimme zu sagen: „Hat man dir solche Manieren etwa in Spanien beigebracht, Richard? Lass mich sofort los!“

„Nein, noch nicht. Und meine Manieren hat man mir im alten England beigebracht, mein Herz.“ Er beugte den Kopf und küsste sie.

In den Jahren, die seit dem Vorfall am Zaunübertritt vergangen waren, hatte sich Lexi oft ausgemalt, wie es wäre, von Richard geküsst zu werden. Doch nicht einmal ihre kühnsten Träume hätten sie auf diesen Moment vorbereiten können. Plötzlich schien sie wie auf Wolken zu schweben, ihr Herz klopfte wild, das Blut schoss ihr durch die Adern, wärmte jede Faser ihres Körpers.

„Richard?“, stieß sie kaum hörbar hervor. Er lachte und küsste sie erneut, dieses Mal noch leidenschaftlicher, so voller Glut, dass sie glaubte, sie müsse vor Wonne zerfließen. Für einen Augenblick verlor sie sich in diesen neuen, unbekannten Gefühlen, die er in ihr weckte, und schlang ihm stürmisch die Arme um den Nacken. Eng schmiegte sie sich an ihn, so nah, dass sie die Stärke seines Verlangens spüren konnte, und lud ihn zu weiteren Liebkosungen ein …

Kurz darauf holte sie jedoch Gelächter, das ganz in ihrer Nähe erschallte, unsanft auf den Boden der Tatsachen zurück. Voller Scham wand sie sich aus seinen Armen und wollte davonlaufen, doch ihre wackeligen Beine trugen sie nur ein paar Schritte weit. Ihm den Rücken zukehrend, mühte sie sich, die Fassung zurückzugewinnen.

„Alexandra …“

„Oh bitte, sag jetzt nichts!“

„Ich muss! Ich hatte kein Recht …“ Er hielt inne, setzte von Neuem an. „Das ist weder der rechte Zeitpunkt noch der Ort …“ Wieder hielt er inne und lachte leise auf. „Na, wenigstens weißt du nun, dass ich dich keineswegs mehr für ein Kind halte“, meinte er schließlich zerknirscht.

Kein Wort der Liebe, nichts, was sie darauf schließen ließ, dass seine Gefühle ebenso in Aufruhr waren wie die ihren. Vermutlich waren derlei Tändeleien für ihn nichts Ungewohntes. Doch was würde er jetzt bloß von ihr denken?! Sie schluckte den Kloß in ihrer Kehle herunter. „Nein“, sagte sie. „Ein Kind bin ich gewiss nicht mehr. Und ich hätte mich nicht derart gehen lassen dürfen, am allerwenigsten bei dir. Und nun bring mich bitte zu meiner Patin zurück.“

Prüfend musterte er sie. „Geht es dir gut?“

„Ja, natürlich.“ Ihr gelang ein brüchiges Lachen. „Ich bin nur ein wenig verlegen.“

„Es tut mir leid, Alexandra“, sagte er bedauernd, und gleich darauf in entschlossenem Ton: „So etwas wird nie wieder geschehen.“

Auch etwas, das sie nicht hören wollte. Mit jeder Minute, die verging, wurde ihr das Herz schwerer, doch sie war zu stolz, dies zuzugeben. Ihre tiefe Enttäuschung verbergend, meinte sie so fröhlich, wie es ihr möglich war: „Selbst alte Freunde vergessen sich wohl manchmal, nicht wahr, Richard? Offensichtlich missbilligt die Gesellschaft aus gutem Grund, wenn ich zu viel Zeit in deiner Gesellschaft verbringe. Und jetzt möchte ich zu meiner Patin zurückkehren, bitte.“

Er brachte sie zum Tisch zurück und benahm sich den restlichen Abend ihr gegenüber vorbildlich, was bedeutete, dass er sie zwar nicht völlig ignorierte, ihr jedoch auch nicht mehr Aufmerksamkeit schenkte als den anderen. Niemand hätte aus seinem Benehmen schließen können, dass er Lexi für einige atemberaubende Momente lang ins Paradies geführt hatte.

Auch in den darauffolgenden Tagen benahm sich Richard zu Lexis Verwirrung ihr gegenüber distanziert. Irgendwann aber wich die Verwirrung der Verärgerung. Glaubte er etwa, dass sie es jedem Gentleman gestattete, mit ihr durch dunkle Gärten zu flanieren und sich die Freiheit herauszunehmen, sie zu küssen? Allein durch ihre Liebe zu ihm ließ sich ihr unverfrorenes Benehmen rechtfertigen, aber ganz offensichtlich hegte er nicht dieselben Gefühle für sie. Womöglich hatte er ihre Zurückhaltung gar als eine Art Herausforderung angesehen, ihr einen Kuss zu stehlen? Gleich, welche Gründe er auch haben mochte, sein Verhalten sah ihm so gar nicht ähnlich.

Ihren Kummer und angeschlagenen Stolz verbergend suchte Lexi Trost in der Gesellschaft von anderen, weniger komplizierten Verehrern. Besonders Mr. Transden machte ihr hartnäckig den Hof, und bald begann man darüber zu mutmaßen, ob sie seinen Antrag annehmen würde. Als sie ihrer Patin versicherte, dass sie nicht einmal im Traum daran dächte, zeigte sich Lady Wroxford äußerst verärgert.

„Mr. Transden ist selbst für anspruchsvolle junge Damen eine gute Partie, Lexi. Zwar besitzt er keinen Titel, aber seine Familie ist sehr angesehen. Außerdem ist er noch recht jung, bei guter Gesundheit und wohlhabend. Und er liegt dir zu Füßen. Was willst du denn mehr?“

„Ich liebe ihn nicht“, antwortete sie.

„Liebe? Pah! Ich missbillige Glücksspiel, und eine Liebesheirat ist wohl das größte Glücksspiel überhaupt. Such dir einen vermögenden Gatten, der dir den Lebensunterhalt sichert, Mädchen. Verlieben kannst du dich später noch, nachdem du deinem Gatten einen Erben geschenkt hast.“ Als Lexi schwieg, fuhr Lady Wroxford kopfschüttelnd fort: „Ich glaube, ich könnte mich ebenso gut mit dem Tischbein unterhalten, du hörst mir ja doch nicht zu. Du willst den Antrag nicht annehmen, weil du dich in Richard Deverell verliebt hast, nicht wahr?“

„Ist es so offensichtlich?“

„Nein, gar nicht. Du benimmst dich ihm gegenüber bewundernswert taktvoll.“

Plötzlich sah sich Lexi vor ihrem inneren Auge in den Vauxhall Gardens in Richards Armen liegen, und sie errötete. Zum Glück wusste ihre Patin nichts davon.

„Leider lässt sich nicht sagen, ob er an dir Interesse hegt. Mr. Deverell ist ein sehr verschlossener Gentleman“, fuhr Lady Wroxford fort. „Nicht einmal, dass sein Vater auf dem Sterbebett liegt, merkt man ihm an.“

„Ist Lord Deverell so schwer krank?“, fragte Lexi erstaunt.

„Mrs. Shackleton hat es mir erzählt, und sie weiß es von Lady Honoria, die mit den Deverells verwandt ist. Allerdings scheint sich Lord Deverell reichlich seltsam zu verhalten. Er empfängt keinen Besuch, nicht einmal den eigenen Sohn will er sehen. Was ist das nur für ein Vater!“

„Nun, die beiden haben noch nie große Zuneigung füreinander empfunden. Lord Deverell hat seinen Sohn hartnäckig ignoriert, daher war Richard auch so oft bei uns zu Besuch.“

„Ich verstehe. Vermutlich erklärt dies auch Mr. Deverells auffallende Ungerührtheit …“

Lexi verletzte es, dass Richard ihr die Krankheit seines Vaters verschwiegen hatte. Zwar hatten sie seit dem Vorfall in den Vauxhall Gardens nur wenig Zeit miteinander verbracht, dennoch hätte er gewiss Gelegenheit gehabt, sich ihr anzuvertrauen. Diesen Wunsch hatte er jedoch offensichtlich nicht verspürt.

Daher überraschte es sie auch, als er ihr und Lady Wroxford am darauffolgenden Tag seine Aufwartung machte, um sich zu verabschieden. Lord Deverell hatte schließlich doch noch nach ihm schicken lassen, und Richard wollte London schnellstmöglich verlassen. Nachdem Lady Wroxford ihm ihr Mitgefühl versichert und eine angenehme Reise gewünscht hatte, meinte sie nach einem mitleidigen Blick auf Lexi: „Ich denke, meine Patentochter würde es sicher schätzen, wenn Sie Ihrer Familie einige Nachrichten von ihr übermitteln könnten. Wenn Sie mich bitte derweil entschuldigen würden. Auf Wiedersehen, Mr. Deverell.“

Sie verließ das Zimmer, worauf sich ein unangenehmes, drückendes Schweigen ausbreitete, das Lexi schließlich in ihrer gewohnten impulsiven Art brach: „Hast du auch Johnny nichts von der Krankheit deines Vaters erzählt, Richard, oder nur mir nicht?“

„Ich habe niemandem davon erzählt.“

„Warum nicht? Ich dachte, Johnny sei dein bester Freund. Und ich dachte auch, wir seien Freunde.“

Richard spürte ihre Gekränktheit. „Natürlich sind wir Freunde“, sagte er beschwichtigend. „Nur dank euch habe ich eine Familie gehabt. Es tut mir leid. Vermutlich hätte ich euch davon erzählen sollen, aber es fällt mir nicht gerade leicht, darüber zu reden.“

„Nicht einmal mit uns?“

„Nicht einmal mit euch, Alexandra. Die Krankheit meines Vaters hat sich im Laufe der Zeit verschlimmert. Nun liegt er im Sterben. Weißt du, was das bedeutet?“

Der verbitterte Ton, in dem er das aussprach, verwirrte Lexi. „Du wirst den Titel erben?“, fragte sie zögerlich.

„Es bedeutet viel mehr als das. Es bedeutet, dass ich die Hoffnung, meinem Vater jemals näherzukommen, begraben kann.“ Er hob den Blick, und sie erkannte den unverhüllten Schmerz darin so deutlich, dass sie leise aufkeuchte. Sofort senkte er den Blick wieder. „Mein ganzes Leben lang habe ich gehofft, dass mein Vater mich eines Tages anerkennen würde, mir vielleicht sogar eine gewisse Zuneigung entgegenbringen würde. Dumm von mir, nicht wahr?“

„Richard …“ Tröstend legte sie eine Hand auf seinen Arm. Er machte indes keine Anstalten, sie zu ergreifen.

„Und auch meine Zukunft liegt im Ungewissen“, sagte er.

„Wie meinst du das?“

„Es bestehen keine Erbrechtsvorgaben für das Anwesen. Mein Vater kann Channings also im Grunde genommen hinterlassen, wem er will. Einzig das, was mir meine Mutter vererbt hat, ist mir sicher.“

„Nein! Er kann dir doch dein Erbe nicht verwehren! Das wäre Unrecht. Du liebst Channings doch sogar noch mehr als er.“

„Er hasst mich. Woher soll ich wissen, was er tun wird?“

„Aber du hast doch gar nichts getan, was solch ein Handeln rechtfertigen würde!“

„Außer, dass ich geboren wurde und meine Mutter bei meiner Geburt starb.“

Die Verbitterung in Richards Stimme versetzte Lexi einen Stich. „Ich glaube nicht einen Moment, dass dein Vater dich enterben wird. Ganz sicher weiß er, was er, wenn schon nicht dir, dann zumindest seinem Namen schuldig ist. Und dieser kann nur durch dich weitergeführt werden. Nein, Richard, du musst dir keine Sorgen machen. Außerdem ist immer noch genügend Zeit, vielleicht besinnt er sich ja noch und zeigt dir seine Zuneigung.“

„Eine Versöhnung am Sterbebett? Das halte ich für unwahrscheinlich. Aber ich werde mein Bestes geben. Es tut mir leid, wenn ich dich gekränkt haben sollte, Alexandra. Verzeihst du mir? Ich schätze deine Freundschaft und möchte dich nicht verlieren.“

„Freundschaft?“ Sie lächelte niedergeschlagen. „Natürlich bleiben wir Freunde, Richard. Auf ewig.“

Lord Deverell verstarb, ohne den Versuch unternommen zu haben, sich mit seinem Sohn auszusöhnen, doch er hatte ihm seinen Besitz hinterlassen. Richard verbrachte das restliche Jahr zumeist auf Reisen, um die Verwalter und Pächter seiner Besitztümer kennenzulernen, die ihn nie zuvor zu Gesicht bekommen hatten. Er wollte sich davon überzeugen, dass die Ländereien in guten Händen waren.

Lexi bekam Richard in diesen Tagen kaum zu Gesicht, und auch nach seiner Rückkehr verbrachten sie nie viel Zeit miteinander, denn nun war ihr Vater schwer erkrankt, und sie wich nur selten von seiner Seite. Zwar leistete auch Richard Sir Jeremy oft Gesellschaft, sprach mit ihm über die Ereignisse im Dorf oder seine Pläne für Channings. Lexi indes schickte er angesichts ihrer blassen Wangen und müden Augen jedes Mal mit der Anweisung fort, sich auszuruhen oder einen Spaziergang zu unternehmen.

Und dann kam der Tag, an dem Napoleon von Elba floh. Von einer Minute auf die andere wurden Richard und Johnny wieder in den Militärdienst berufen. Während man Johnny aufgrund der Krankheit seines Vaters einen Posten in London gab, wurde Richard mit wichtigen Dokumenten durch ganz Europa geschickt.

Erst im späten Frühjahr 1815 wurde er wieder nach London beordert, um ebenso wie Johnny als einer von Wellingtons Generalstabsoffizieren seinen Dienst im Kriegsministerium zu verrichten.

Zu Ostern endlich sah Lexi ihn wieder, als er gemeinsam mit Johnny eine ganze Woche in Somerset verbrachte. Der Besuch jedoch verlief nicht sehr angenehm. Richard schien noch zurückhaltender als üblich, und Johnny zeigte sich sehr gereizt und aufbrausend. Außerdem trank er mehr, als ihm guttat. Ein oder zwei Mal versuchte Lexi, ihren Bruder zu fragen, was ihn bedrückte, doch er wollte sich ihr nicht anvertrauen. Schließlich entschloss sie sich, mit Richard darüber zu sprechen, fand jedoch erst am vorletzten Tag seines Besuches Gelegenheit dazu.

Ursprünglich hatten sie alle drei am Fluss entlangspazieren wollen, doch kurz bevor sie aufbrechen wollten, hatte Johnny wegen einer Lappalie einen Wutanfall bekommen und beschlossen, zu Hause zu bleiben.

Strahlend lachte die Sonne vom blauen Himmel, und die Landschaft zeigte sich von ihrer schönsten Seite. Die Wege um Rawdon wurden vom Gelb und Grün der Weidenkätzchen gesäumt, und das Flussufer zierten überall Kissen gelber Schlüsselblumen und zarter Buschwindröschen.

„Hier ist es wundervoll!“, sagte Richard und atmete tief die süß duftende Luft ein. „Du ahnst ja nicht, wie sehr ich mich danach gesehnt habe, nach all diesen Reisen endlich wieder nach Hause zu kommen.“ Er wandte sich ihr zu. „Und wie geht es dir, Alexandra?“

Die Frage kam so unerwartet, dass Lexi errötete. „Ich … gut“, stammelte sie. „Aber das weißt du doch, warum fragst du?“

„Und wie geht es Transden?“

Sie sah ihn verblüfft an. „Mr. Transden? Ich habe nicht die leiseste Ahnung.“

„Wirklich nicht?“ Er klang skeptisch.

„Natürlich nicht! Wie auch? Ich bin Mr. Transden seit vergangenem Sommer nicht mehr begegnet. Wieso fragst du nach ihm?“

„In der letzten Saison hat fast ganz London gedacht, du würdest ihn ehelichen.“

„Ich habe keinen Einfluss darauf, was die Leute denken, aber ich kann dir versichern, dass ich niemals beabsichtigt habe, Mr. Transden zu heiraten. Er war ein angenehmer Tanzpartner, mehr nicht.“

„Als ich Lady Wroxford kürzlich in London begegnete, deutete sie an, dass er immer noch an dir interessiert sei. Sie war sogar der Ansicht, er könne dich davon überzeugen, seinen Antrag noch einmal zu überdenken.“

Lexi ahnte, was Lady Wroxford mit dieser Bemerkung im Schilde geführt haben mochte. Vermutlich hatte sie sehen wollen, ob sie Richards Eifersucht wecken konnte. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Patin ernsthaft dieser Ansicht ist, denn sie weiß sehr gut, wen …“ Abrupt brach sie ab. Fast hätte sie sich verraten. „Sie weiß sehr gut, dass ich keinerlei Interesse an Mr. Transden hege“, fuhr sie rasch fort. „Wir sollten aufhören, uns über solchen Unsinn zu unterhalten. Ich möchte etwas viel Wichtigeres mit dir besprechen. Weißt du, was Johnny bedrückt?“

„Wie meinst du das?“, fragte er misstrauisch.

„Oh, du weißt gewiss, was ich meine. Er ist so aufbrausend, und das nicht nur mit mir. Auch Papa und den Dienstboten gegenüber verliert er oft die Beherrschung. Ich mache mir Sorgen um ihn, aber er will nicht mit mir reden.“

„Vermutlich hat er nur einen Kater“, sagte Richard leichthin. „Wir haben gestern noch bis spät in die Nacht hinein geplaudert, und dabei floss reichlich Wein. Du musst dir keine Sorgen machen, Alexandra.“

„Meinst du?“, fragte sie zweifelnd. „Ich vermute … nein, ich bin mir sicher, dass mehr dahintersteckt.“

„Nun, Johnny langweilt seine Arbeit höllisch. Du weißt doch, wie er ist. Er wäre lieber draußen auf dem Schlachtfeld, um dem Feind ins Auge zu blicken, statt irgendwelche Geheimdokumente zu bewachen. Für einige der Details in den Dokumenten würden Boneys Spione allerdings ihren rechten Arm geben.“ Leicht verärgert fügte er hinzu: „Und es gibt immer jemanden, der bereit ist, ihnen Informationen zu verkaufen …“

Eine Weile spazierten sie schweigend nebeneinanderher. Schließlich kamen sie an den Zaunübertritt. „Sag, Richard“, fragte Lexi unvermittelt. „Trinkt Johnny?“

„Natürlich, das tun wir alle.“

„Weich mir nicht aus. Du weißt genau, was ich meine. Trinkt Johnny zu viel?“

„Möglicherweise“, gab er zögernd zu. „Gewiss mehr als sonst. Aber mach dir keine Sorgen, Alexandra. Johnny ist ruhelos, doch das wird sich ändern, sobald wir zu unserem Regiment zurückgekehrt sind. Es kann nicht mehr lange dauern. Ich glaube, bereits nächsten Monat werden wir nicht mehr in England sein.“

Diese Neuigkeit war ein Schock. „Das heißt wohl, dass ihr wieder in den Krieg zieht“, sagte sie mit zugeschnürter Kehle. „Und wir können zu Hause erneut darauf hoffen, dass ihr beide euch nicht umbringen lasst.“ Sie versuchte ein Lachen, doch es wandelte sich rasch zu einem Schluchzen.

Überrascht sah er sie an. „Johnny und mir wird schon nichts zustoßen, das verspreche ich dir. Nicht weinen, Alexandra, bitte.“

„Ich weiß, es ist dumm“, antwortete sie und wischte die Tränen mit der Hand fort. „Es ist nur … Als ihr beiden unversehrt aus Spanien zurückgekehrt seid, hatten Papa und ich gehofft, dass dieser Krieg endlich zu Ende wäre und Johnny heimkommen würde. Papa ist nicht mehr der Jüngste, und er braucht ihn.“ Sie rieb noch etwas heftiger, weil eine weitere Träne über ihre Wange kullerte.

„Lass mich das machen.“ Er zog ein makellos sauberes Taschentuch hervor, nahm ihr Kinn in die Hand und wischte behutsam über ihre Wange. Mit den Fingern unter ihrem Kinn verharrend fragte er unvermittelt: „Und was ist mit mir, Alexandra?“ Aufmerksam sah er sie an. „Brauchst du mich?“ 

Autor

Sylvia Andrew

Sylvia Andrew wollte eigentlich nie ein Buch verlegen lassen, bis sie Mills & Boon ihren ersten historischen Roman zukommen ließ. Als dieser sofort angenommen wurde, war sie überrascht, aber glücklich. "Perdita" erschien 1991, und sieben weitere Bücher folgten. Auch Sylvias eigene Liebesgeschichte ist sehr romantisch. Vereinfacht gesagt hat sie den...

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