Historical Weihnachten Band 10

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WEIHNACHTSBALL AM KÖNIGSHOF von MCCABE, AMANDA
Lady Alys Drury traut ihren Augen nicht: Sie kennt den attraktiven Höfling an der Seite der Königin, der sie glutvoll betrachtet, sehr gut! Doch damals nannte er sich Juan, jetzt dagegen Sir John Huntley. Welches doppelte Spiel spielt der Herzensbrecher auf dem Weihnachtsball?

SÜNDIGE STUNDEN IN DER HEILIGEN NACHT von BURROWS, ANNIE
Weihnachten - das Fest der Rache? Lange hat Lord Sinclair sich ausgemalt, wie er es der schönen Lady Caroline zurückzahlen kann, dass sie ihn einst abgewiesen hat. Jetzt braucht sie seine Hilfe - und er weiß, was er von ihr verlangen wird: Die sinnliche Lady soll eine höchst intime Stunde in der Christnacht mit ihm verbringen!

DER RITTER UNTERM MISTELZWEIG von MARCH, TATIANA
Schwarze Locken, die Augen blitzend im goldenen Kerzenschein der geschmückten Halle: Ritter Olaf Stenholm begehrt die schöne Schottin Brenna Kilgarren! Dass er durch die Hochzeit ein unabhängiger Mann wäre, macht sie noch verführerischer. Aber wie erobert man eine Schwertmaid?


  • Erscheinungstag 27.10.2017
  • Bandnummer 10
  • ISBN / Artikelnummer 9783733734176
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Amanda McCabe, Annie Burrows, Tatiana March

HISTORICAL WEIHNACHTEN BAND 10

AMANDA MCCABE

Weihnachtsball am Königshof

Ist sie ein Engel? Als John nach dem Untergang der spanischen Armada verletzt an der wilden Küste Irlands strandet, wird er von einer betörenden jungen Frau gepflegt. Doch er kann nicht bei Lady Alys bleiben, eine geheime Mission ruft ihn an den Königshof – wo er auf dem Weihnachtsball überraschend seinem rettenden Engel wiederbegegnet …

ANNIE BURROWS

Sündige Stunden in der Heiligen Nacht

Lady Caroline ist die letzte Person, die Lord Sinclair erwartet hat. Wie kann sie es wagen, ihn aufzusuchen, nachdem sie kaltherzig einen anderen geheiratet hat? Obendrein stellt sie eine Forderung. Das weiß der Adelige für sich zu nutzen: Er kommt ihrer Bitte nach – aber am Weihnachtsabend muss sie ihm eine Stunde erotischer Zärtlichkeit schenken!

TATIANA MARCH

Der Ritter unterm Mistelzweig

„Ich werde mich keinem Mann hingeben!“ Drohend zieht Brenna das Schwert, als sie dem hochgewachsenen Ritter Olaf Stenholm gegenübersteht. Er ist auf Geheiß des Königs gekommen, um sie zu heiraten und ihre schottischen Ländereien zu sichern. Doch so leicht kann sie den kühnen Recken nicht in die Flucht schlagen. Gibt es dennoch eine Weihnachtshochzeit in den Highlands?

PROLOG

Richmond Palace, 1576

Bleib hier, Alys, rühr dich nicht vom Fleck! Hast du das begriffen?“

Verwirrt starrte Lady Alys Drury ihren Vater an. Wenn er mit ihr zusammen war, lächelte er meistens, und er ging immer sehr sanft und freundlich mit ihr um. Aber an diesem Tag sah er furchtbar streng aus. Und das verstand sie überhaupt nicht. In den acht Jahren ihres Lebens hatte sie ihn noch nie so ernst erlebt. Der Mann, der so oft gelacht und sie übermütig hochgehoben und im Kreis herumgeschwenkt hatte, war verschwunden. Seit der Ankunft an diesem fremden Ort, vor einem königlichen Palast, erschienen ihr die Eltern seltsam still und in sich gekehrt.

Nach langen Tagen an Bord eines Schiffs und vielen holprigen Stunden auf dem Rücken eines Pferds, auf dem sie mit ihrer Mutter gesessen hatte, waren sie hier eingetroffen. Was das alles bedeutet, wusste Alys nicht. Jedenfalls missfiel ihr der Palast mit den aufragenden Türmen und den zahllosen Fenstern, die ihr unheimlich vorkamen – als hielten sich ein paar Hundert Augen dahinter verborgen, um sie zu mustern.

„Ja, Papa, das begreife ich“, antwortete sie. „Reisen wir bald wieder nach Hause?“

Nun schenkte er ihr ein unechtes Lächeln. „Mit Gottes Wille, mein kleiner Schmetterling.“ Hastig küsste er ihre Stirn, bevor er eine steinerne Treppenflucht hinaufeilte und sich durch eine Tür entfernte, die von mehreren Männern bewacht wurde. In grünen, mit glitzernden Goldfäden bestickten Samt gekleidet, waren sie alle mit Schwertern bewaffnet.

Alys blieb allein in dem fremden, sonnigen Garten zurück. Langsam drehte sie sich im Kreis und musterte die fantastische Umgebung. Hier fühlte sie sich fast wie in einem der Märchen, die ihr Kindermädchen so gern erzählte, zwischen hohen Hecken rings um geheimnisvolle Fluchten im Freien, mit viereckigen Blumen- und Kräuterbeeten.

Und nicht nur der Garten war sonderbar. Alys’ neues Kleid aus steifem braunem und schwarzem Satin raschelte bei jeder Bewegung. Und der Hut, der einem Heiligenschein glich, war ziemlich unbequem.

Mit einem ihrer neuen schwarzen Lederschuhe stieß sie gegen die Kieselsteine auf dem Gartenweg und wünschte, sie wäre daheim, wo sie ungehindert herumlaufen konnte und ihre Eltern sich nicht in ärgerlichem Flüsterton oder mit sorgenvollem Gemurmel unterhielten.

Als eine Vogelschar zum Himmel mit den Schäfchenwolken hinaufflog, legte Alys den Kopf in den Nacken. Der Tag war angenehm mild. Daheim könnte sie jetzt auf Bäume klettern oder über die Klippen laufen. Wie schmerzlich sie das alles vermisste …

Plötzliches Gelächter erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie fuhr herum und sah mehrere Jungen, etwas älter als sie selbst, über eine Wiese jenseits des Knotengartens stürmen. Nur mit Hemden und Kniehosen bekleidet, traten sie abwechselnd gegen einen braunen Lederball.

Wie gern wäre sie zu ihnen gelaufen, um zu sehen, was für ein Spiel das war … Noch nie hatte sie auch nur etwas Ähnliches gesehen. Sie spähte zu der Tür, hinter der ihr Vater verschwunden war. Wann würde er zurückkommen? Sicher würde es nichts ausmachen, wenn sie für ein paar Minuten zu der Wiese ging.

Ihren Rock gerafft schlich sie zum Wiesenrand und schaute zu, wie die Jungen den Lederball mit ihren Schuhspitzen hin und her schossen. Da sie keine Geschwister hatte, fand sie die Spiele anderer Kinder stets sehr interessant.

Einer der Jungen überragte die anderen. Er hatte langes schwarzes Haar, das ihm ums Gesicht flatterte, während er umherrannte. Leichtfüßig bewegte er sich, anmutiger als seine Spielgefährten. Und er beeindruckte Alys so sehr, dass sie den Ball nicht bemerkte, der auf sie zuflog. Er prallte ihr gegen die Stirn, ihr neuer Hut verrutschte, und sie taumelte nach hinten. Zunächst erschrak sie nur, dann spürte sie einen heftigen Schmerz. Tränen stiegen ihr in die Augen, zitternd presste sie eine Hand auf ihren Kopf.

„Gib doch acht, wo du stehst!“, schrie ein dünner, sommersprossiger Junge. Nachdem er den Ball geholt hatte, rempelte er Alys an. „Dumme Mädchen haben hier nichts verloren. Geh wieder zu deinem Nähkorb!“

Nur mühsam schluckte Alys die Tränen hinunter, die ihr erneut in die Augen gestiegen waren, von der Beleidigung fast noch schmerzlicher getroffen als von dem harten Lederball. „Ich bin kein dummes Mädchen! Du – du Stachelschwein!“

„Wie hast du mich genannt, elendes Weibsstück?“, fauchte der Rüpel und kam drohend auf sie zu.

„Jetzt reicht es!“ Der hochgewachsene Junge sprang vor, zerrte den anderen nach hinten und schob ihn beiseite.

Dann wandte er sich Alys zu und lächelte sanft. Seine Augenfarbe schlug sie sofort in einen eigenartigen Bann – ein leuchtendes helles Meergrün, wie sie es noch nie gesehen hatte.

„Hier bist du im Unrecht, George“, fügte er hinzu. „Sei nicht so ungalant! Entschuldige dich bei der Lady!“

„Lady?“ George grinste voller Hohn. „Zweifellos ist sie genauso wenig eine Lady, wie du ein echter Gentleman bist, Huntley. Mit deinem Vater, diesem Trunkenbold …“

Offensichtlich geriet Huntley in Wut, denn über den markanten hohen Wangenknochen breitete sich dunkles Rot aus. Er hob eine Faust – doch er ließ sie sinken, entspannte seine Finger und trat zurück.

Zu Alys’ Verblüffung lächelte er wieder. Fasziniert beobachtete sie ihn und vergaß ihre Schmerzen.

„Wahrscheinlich hat auch dein Kopf einen Schlag abgekriegt, George“, bemerkte er in ruhigem Ton, „denn du hast eindeutig den Verstand verloren. Entschuldige dich!“

„Nein, ich …“ George schnappte nach Luft, als Huntley blitzschnell eine Hand ausstreckte und ihm den Arm auf den Rücken drehte. Obwohl die Bewegung leichthin und unangestrengt wirkte, erblasste der kleinere Junge. „Verzeiht mir, Mylady.“

„So ist es besser.“ Huntley stieß ihn weg, ging zu Alys und bot ihr seinen Arm. „Mylady, erlaubt mir, Euch zum Palast zu geleiten.“

Sein liebenswürdiges Lächeln raubte ihr den Atem. „D…d…danke“, stammelte Alys. Wie eine erwachsene Dame legte sie ihm die Hand auf den Unterarm und ließ sich zu den Eingangsstufen führen.

Am Fuß der Treppe blieben sie stehen.

„Seid Ihr schwer verletzt?“, fragte Huntley.

Erst jetzt spürte sie wieder ihre Schmerzen. Sonderbar – die waren ihr gar nicht mehr bewusst gewesen, während sie ihn beobachtet hatte. „Nur ein bisschen Kopfweh … Sicher findet meine Mutter ein paar lindernde Kräuter in ihrem Medizinkästchen.“

„Wo ist Eure Mutter? Ich bringe Euch zu ihr.“

Sie schüttelte den Kopf. Nachdem Mama eine Krankheit vorgeschützt hatte, war sie im Gasthaus geblieben, und Papa hatte Alys deshalb in diesen Garten mitgenommen. Wie sie zum Gasthof zurückgelangen sollte, wusste sie nicht. „Sie ist im Dorf, und mein Vater …“

„Ist er hier, um die Königin aufzusuchen?“

Die Königin? Kein Wunder, dass dieser Palast so großartig aussah, wenn eine Königin darin wohnte … Aber warum wollte Papa sie besuchen? Nun wuchs Alys’ Verwirrung. „Bis mein Vater zurückkommt, sollte ich bei dieser Treppe bleiben. Nun wird er mir schrecklich böse sein!“

„Sorgt Euch nicht, Mylady, ich werde mit Euch auf ihn warten und ihm erklären, was geschehen ist.“

Zweifelnd schaute Alys zu ihm auf. „Ihr habt sicher wichtigere Dinge zu tun.“

„Nichts, was wichtiger wäre.“ Sein Lächeln vertiefte sich. „Das müsst Ihr mir glauben.“

Er half ihr, auf einer Stufe Platz zu nehmen. Dann setzte er sich an ihre Seite und untersuchte behutsam ihre Stirn. „Ein Bluterguss, der sich leider bereits dunkel färbt. Hoffentlich hat Eure Mutter eine geeignete Arznei.“

„O nein!“ Alys verdeckte ihre Stirn mit einer Hand und spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss – beschämt, weil sie sich dem netten Jungen so unvorteilhaft präsentieren musste. „Sie hat Salben aller Art. Aber – das muss furchtbar aussehen.“

Neben seinen schönen Augen bildeten sich Lachfältchen. „Gewissermaßen ein Ehrenabzeichen nach einem Kampf. Ihr könnt Euch glücklich schätzen, weil Ihr eine so fürsorgliche Mutter habt.“

„Besitzt Eure Mutter keine Medikamente, um Euch zu heilen, wenn Ihr krank oder verwundet seid?“ Sie dachte an Mamas zahlreiche Tränke und Salben, die Erkältungen und Schmerzen linderten, an ihre kühlen Hände auf fieberheißen Wangen.

Nun wich er ihrem Blick aus. „Meine Mutter ist vor langer Zeit gestorben.“

„Oh, das tut mir leid!“, rief Alys voller Mitgefühl. „Aber Ihr habt Euren Vater? Und Geschwister?“ Plötzlich erinnerte sie sich an Georges bösartige Bemerkung über Huntleys Vater, den „Trunkenbold“, und wünschte, sie hätte geschwiegen.

„Meinen Vater sehe ich nur selten. Um meine Erziehung kümmert sich mein Patenonkel. Geschwister habe ich nicht. Und Ihr, Mylady?“

„Ich habe auch keine. Wenn ich bloß welche hätte! Daheim ist es oft langweilig.“

„Wolltet Ihr uns deshalb beim Spielen zuschauen?“

„Aye, die Stimmen klangen so fröhlich, und da wurde ich neugierig.“

„Habt Ihr noch nie mit einem Fußball gespielt?“

„Dass es so etwas gibt, wusste ich gar nicht. Ich habe Tennispartien beobachtet, aber nur wenige andere Ballspiele.“

„Oh, es ist das wunderbarste aller Spiele! So fängt man an …“ Er stand auf, holte den Lederball, den die Jungen auf der Wiese zurückgelassen hatten, und lief hin und hier, um einzelne Spielzüge zu demonstrieren. Dabei erklärte er, wie es einem gelang, Punkte zu erzielen, um eine Partie zu gewinnen, und warf in imaginärem Triumph seine Arme hoch.

Von seiner Begeisterung angesteckt, klatschte Alys lachend in die Hände, und Huntley verneigte sich.

„Großartig“, meinte sie. „Ich wünschte, daheim gäbe es jemanden, mit dem ich das Spiel spielen könnte.“

„Was spielt Ihr denn zu Hause?“

„Meistens lese ich, oder ich gehe spazieren. Ich habe eine Puppe, und manchmal erzähle ich ihr Geschichten. Leider kann ich nicht viel tun, weil ich fast immer allein bin.“

„Das verstehe ich. Bevor ich in die Schule kam, war ich auch oft allein.“ Wehmütig schaute er vor sich hin, als würden seine Gedanken in weite Fernen schweifen, und schürte Alys’ Neugierde. Wer mochte er sein, und womit befasste er sich?

„Alys, was machst du?“, hörte sie ihren Vater rufen.

Erschrocken wirbelte sie herum, sprang auf und sah ihn vor der Tür des Palastes stehen, die hinter ihm ins Schloss fiel. „Tut mir leid, Papa, ich wollte nur …“

„Ihre Tochter ist unglücklicherweise gestürzt, Mylord“, mischte sich ihr neuer Freund ein und trat an Alys’ Seite. In seiner Nähe fühlte sie sich sofort sicherer. „Das sah ich und …“

„Und er eilte herbei, um mir zu helfen“, ergänzte sie den Satz. „Er war wirklich sehr galant.“

Nun milderten sich die Stirnfurchen ihres Vaters ein wenig. „Tatsächlich? Braver Junge! Dann muss ich mich wohl bedanken.“

„Eure Tochter ist eine untadelige Lady, Mylord, und ich bin froh, dass ich sie heute kennenlernen durfte“, beteuerte Huntley.

Damit schien er Alys’ Vater endgültig besänftigt zu haben. Er öffnete seine Geldbörse, um dem Jungen eine Münze zu geben. Aber Huntley schüttelte den Kopf.

„Nochmals vielen Dank, mein Junge, und alles Gute.“ Ihr Vater hob Alys hoch und entfernte sich von dem imposanten Palast.

Über die Schulter hinweg sah sie Huntley lächeln und ihr nachwinken. Sie winkte zurück, bis er aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Gewiss würde sie ihn niemals vergessen, ihren neuen Freund und galanten Retter.

1. KAPITEL

Dunboyton Castle, Galway, Irland, 1578

Und das da, niña querida? Was ist es, und wozu ist es gut?“

Zehneinhalb Jahre alt, musste Lady Alys Drury lernen, einen Haushalt zu führen. Über das Tablett gebeugt, das die Mutter ihr hinhielt, schloss sie die Augen und atmete tief ein. Trotz des eisigen Windes, der gegen die wuchtigen Mauern des Schlosses Dunboyton peitschte, roch sie den Duft von Sonnenschein, den die getrockneten Kräuter verströmten. Blumen und Bäume und Klee – alles, was sie im Sommer liebte.

Aber nichts liebte sie so sehr wie ihre Mutter und die Tage, die sie zusammen in der Kräuter- und Arzneienkammer verbrachten. An den Wänden des schmalen, lang gestreckten Zimmers hingen Kräuterbündel, Flaschen mit verschiedenen Ölen und Tiegel mit Salben reihten sich in den Regalen aneinander. Seit sie denken konnte, war das ihr Lieblingsraum, und sie vermochte sich nicht vorzustellen, wo es schöner sein könnte.

Sie atmete wieder tief ein und strich sich eine lose Locke ihres braunen Haars aus der Stirn. Jetzt nahm sie neben dem Duft von Sonnenschein noch etwas anderes wahr – vielleicht einen Hauch von süßem Wein?

„Nun, querida?“, drängte ihre Mutter.

Alys hob die Lider und schaute sie an. Rings um Elena Drurys schwarze Augen entstanden feine Fältchen, als sie lächelte. In Schwarz und Weiß, in einem streng geschnittenen, eleganten Kleid, folgte sie der Mode ihrer spanischen Heimat. Zu diesem eher düsteren Stil bildete ihre heitere Miene einen wundervollen Kontrast.

„Das ist – oh, ist es Zitronenmelisse, ma madre?“, fragte Alys.

„Sehr gut!“ Erfreut klatschte ihre Mutter in die Hände. „Si, das ist Melissa officinalis, ein ausgezeichnetes Mittel gegen Melancholie, wenn der graue Winter zu lange dauert.“

Alys kicherte. „Hier ist es immer grau, Mama.“ Jeder Tag erschien ihr grau, im Gegensatz zu den sonnenhellen Erinnerungen an den Garten eines königlichen Palastes. Manchmal glaubte sie, es sei nur ein Traum gewesen, was sie dort erlebt hatte. Insbesondere der hübsche Junge, dem sie begegnet war …

Auch ihre Mutter lachte. Vorsichtig streute sie die getrocknete Zitronenmelisse in einen Topf mit kochendem Wasser. „Nur hier in Galway. In einigen Gegenden von England scheint immer wieder die Sonne.“

„So wie dort, wo du geboren wurdest?“

Schon oft hatte ihre Mutter von Granada erzählt. Trotzdem hörte Alys jedes Mal sehr gern zu, wenn Elena die weißen Mauern beschrieb, die roten Ziegeldächer im gleißenden Sonnenlicht, wenn sie von Gitarrenmusik sprach, von fröhlichen Gesängen, von warmen Brisen dahingeweht.

Mama lächelte wehmütig. „Ja, wie in der Stadt meiner Geburt. Auf dieser Welt gibt es wohl nichts, was sich mit Granada vergleichen lässt, querida.“

Zum schmalen Fenster der Kräuterkammer gewandt, beobachtete Alys den Eisregen, in den sich das sanfte Nieseln verwandelt hatte. Wie Nadeln prasselten die Tropfen gegen das alte Glas, untermalt vom klagenden Heulen des aufgefrischten Windes. „Warum wollte deine Mutter einen so schönen Ort verlassen?“

„Weil sie meinen Vater liebte. Außerdem war es ihre Pflicht, ihm zu folgen, als seine Arbeit ihn nach England führte.“

„Und es ist deine Pflicht, bei Papa zu bleiben?“

„Natürlich. Eine gute Ehefrau muss ihrem Gemahl stets zur Seite stehen, das ist die wichtigste Aufgabe in ihrem Leben.“

„Und weil du ihn liebst“, betonte Alys.

Auch diese Geschichte hatte Alys oft gehört – wie ihr Vater die Mutter, die schönste Frau der Welt, bei einem Bankett gesehen und beschlossen hatte, keine andere zu heiraten, sogar gegen den Willen seiner Familie. Wie Alys wusste, hatten ihre Eltern nie bereut, dass sie sich füreinander entschieden hatten. Manchmal beobachtete sie die beiden, wenn sie sich heimlich küssten oder lachend die Köpfe zusammensteckten.

Nun schob die Mutter lächelnd ein verirrtes Löckchen unter Alys’ kleine Kappe. „Auch das. Aber du bist noch viel zu jung, um an solche Dinge zu denken.“

„Werde ich auch einen Ehemann bekommen, der so nett ist wie Papa?“

Elenas Lächeln erlosch, und sie nahm einen Löffel. Dann beugte sie sich über den dampfenden Topf. Langsam rührte sie in ihrem Tee. Ihr Schleier fiel nach vorn und verbarg ihre Miene. „Leider gibt es nur wenige Männer, die deinem Vater gleichen. Und du bist erst zehn Jahre alt. Über deine Hochzeit musst du dir noch keine Gedanken machen. Aus vielen verschiedenen Gründen werden Ehen geschlossen. Entweder geht es um die Sicherheit einer Familie oder um Reichtum, Ländereien, manchmal sogar um Zuneigung. Aber ich verspreche dir, du wirst einen guten starken Mann heiraten – ganz egal, wer das sein mag. Und du wirst nicht für immer in Irland bleiben.“

Immer wieder hörte Alys, wie so etwas besprochen wurde. Irland war nicht die richtige Heimat der Drurys. Hier wohnten sie nur, weil Papa für einige Zeit im Dienst der Königin stand. Eines Tages würden sie ihr wahres Zuhause in England finden, und dann würde sie einen Posten am Hof erhalten. Vielleicht würde sie sogar der Königin dienen, einen hübschen, mutigen Mann heiraten … Doch sie hatte keine richtige Vorstellung davon, was jenseits der Mauern von Dunboyton Castle, der Klippen oder der wilden See lag. Nur ein einziges Mal hatte sie einen königlichen Palast gesehen. Und Jungen, die Fußball gespielt hatten. Eine ferne Erinnerung …

„Und was ist das, querida?“, fragte Mama und hielt ihr eine kleine Flasche hin.

Alys roch etwas Scharfes, mit ein bisschen Zitrusaroma. „Majoran!“

„Genau. Damit würze ich heute Abend den Wein deines Vaters, das müsste seine Magenbeschwerden lindern.“

„Ist Papa krank?“

Elena lächelte etwas gezwungen. „Keineswegs, er isst nur zu viel fette Soßen zu seinem Fleisch. Davor warne ich ihn immer wieder. Ah – hier habe ich was für dich, querida.“

Erfreut sprang Alys von ihrem Stuhl hoch und klatschte in die Hände. „Ein Geschenk, Madre?“

„Sí, ein ganz besonderes.“ Elena ergriff eines ihrer geschnitzten Holzkästchen, die das Alter verdunkelt hatte. Und alle dufteten nach den Kräutern, die sie seit Jahren enthielten. Vorsichtig nahm sie ein kleines, in Musselin gehülltes Bündel aus der Schatulle und legte es auf die erwartungsvoll bebende Handfläche ihrer Tochter. „Kandierte Zitrone!“

Davon naschte Alys am liebsten, denn das schmeckte genauso wie der Sonnenschein, nach dem sie sich so inbrünstig sehnte. Sie konnte nicht widerstehen und steckte sich ein Stückchen in den Mund. Genüsslich ließ sie es auf der Zunge zerschmelzen, und ihre Mutter lachte.

„Ah, mein Schätzchen, immer so spontan! Diesmal konnte mein Bruder mir nicht allzu viel aus Spanien schicken.“ Seufzend goss Elena den neuen Tee aus Zitronenmelisse durch ein Sieb in eine Kanne. „Wegen des schlechten Wetters konnten nur wenige Schiffe auslaufen.“

Alys schaute wieder zum Fenster, gegen das der Eisregen trommelte. Gewiss, seit einigen Wochen steuerten kaum noch Schiffe den Hafen von Galway an. Normalerweise sah sie sehr oft Schiffe aus Spanien und den Niederlanden ankommen, die Luxuswaren und manchmal auch Neuigkeiten aus der Heimat ihrer Mutter mitbrachten.

Auf der Wendeltreppe, die zur Kräuterkammer heraufführte, polterten schwere Schritte, und die Tür wurde geöffnet. Alys’ Vater, Sir William Drury, stand auf der Schwelle, ein hochgewachsener, breitschultriger Mann mit hellbraunem, modisch kurz geschnittenem Haar und gestutztem Bart, der sich in letzter Zeit grau zu färben begann.

Und seine Schultern waren seltsam gebeugt. Besorgt dachte Alys an seine Magenschmerzen, die Mama erwähnt hatte.

Aber er begrüßte seine Familie wie immer mit einem strahlenden Lächeln.

„Papa!“, rief Alys erfreut und rannte zu ihm. Er kam ihr entgegen, umfing sie und drückte sie fest an sich.

Trotzdem spürte sie eine eigenartige Distanz, als würde ihn irgendetwas ablenken. Sie wich zurück und sah zu ihm auf. Dazu musste sie den Kopf in den Nacken legen, weil er so groß war. Noch immer lächelte er, aber seine Augen wirkten traurig. Er hielt etwas in der Hand, halb verborgen hinter seinem Rücken.

„William“, hörte sie die Stimme ihrer Mutter. Seide raschelte, und Alys spürte die Hand ihrer Mutter auf der Schulter. „Der Brief?“

„Aye, Elena“, antwortete er leise. „Aus London.“

„Alys, geh doch in die Küche und schau nach, ob unser Dinner bald fertig ist“, bat die Mutter in mildem Ton. „Und gib das einer Köchin für den Eintopf.“ Sie drückte ihrer Tochter ein Säckchen voller getrockneter Petersilie und Rosmarin in die Hand.

Mit sanfter Gewalt wurde Alys zur Tür hinausgeschoben. Verwirrt drehte sie sich um, sah den Vater ans Fenster treten, den Rücken zu ihr gewandt. Mama folgte ihm und lehnte sich an seine Schulter.

Bevor die Tür ins Schloss fiel, nahm Alys ihren ganzen Mut zusammen, hielt sie einen Spaltbreit offen und belauschte ihre Eltern. Sonst würde sie niemals herausfinden, worum es ging, denn sie würden ihr gar nichts erzählen.

„Gibt es am Hof noch immer keinen Posten für dich, William?“, fragte Mama. Wie üblich klang ihre Stimme liebevoll und freundlich, hörte sich aber so an, als müsste Elena mit den Tränen kämpfen.

„Nein, vorläufig wird man mich nicht nach London berufen. Zumindest hat mein Onkel mir das geschrieben. Hier braucht man mich noch länger, da die Aufstände eben erst niedergeschlagen wurden. Hier! An diesem gottverlassenen Ort, wo ich nichts unternehmen kann!“ Papa ging zum Tisch und schmetterte seine Faust so heftig auf die Platte, dass die Flaschen klirrten.

„Meinetwegen“, flüsterte Alys’ Mutter. „Madre de Dios, ohne mich – ohne uns hättest du schon längst deinen rechtmäßigen Platz eingenommen.“

„Glaub mir, Elena, du und Alys – ihr beide bedeutet mir alles. Du wärst eine Zierde am Hof, in jeder Stellung, die du antreten könntest. Das begreifen diese Narren nicht.“

„Weil ich eine Lorca-Ramirez bin. Ich hätte dich nicht heiraten dürfen, mi corazón. Nichts habe ich dir geboten. Wenn du eine passende englische Gemahlin hättest – wenn ich verschwinden würde …“

„Nein, Elena, sag so etwas nicht. Für mich bist du am allerwichtigsten. Lieber bleibe ich mit dir und Alys hier am Ende der Welt, statt als König in einen Londoner Palast zu ziehen.“

Durch den Türspalt beobachtete Alys, wie der Vater die Mutter umarmte, wie sie an seiner Schulter schluchzte. Sobald Mama sein Gesicht nicht sah, nahm es wütende, grimmige Züge an.

Auf Zehenspitzen, möglichst geräuschlos, schlich Alys die Wendeltreppe hinab. Plötzlich fröstelte sie, von kalter Angst erfasst. Nur selten geriet Papa in Zorn. Und in jenem Moment hatten seine Miene und die Verzweiflung ihrer Mutter ein sonderbares Gefühl in ihr geweckt – den Wunsch zu flüchten.

Gleichzeitig wollte sie zu ihren Eltern laufen, ihre Arme um beide schlingen, alles verjagen, was ihnen so großen Kummer bereitete …

Schweren Herzens ging sie in die Küche, gab einer der Köchinnen die Kräuter und wanderte dahin, zwischen den Soldaten, die am Feuer ihre Schwerter reinigten, den Mägden, die mit Töpfen und Schüsseln umhereilten.

London. Dort lauerte, was immer Papa erzürnen mochte. Natürlich wusste sie, wo London lag, weit weg, auf der anderen Seite des Meeres. Die Heimat. So drückte der Vater es manchmal aus. Aber das verstand sie nicht.

Wenn er ihr Zeichnungen von London zeigte und auf Kirchen und Brücken und Paläste deutete, staunte sie. So viele Menschen – in so riesigen Gebäuden … Der größte Ort, den sie kannte, war Galway City. Da ging sie manchmal mit ihrer Mutter zum Markt. Und Papa hatte erklärt, London sei so groß wie zwanzig Galways.

In London wohnte Königin Elizabeth. Die mächtige, strahlend schöne Königin, die ganz England mit ihren Fingern voller gleißender Juwelen festhielt … War es die Königin, die Papa jetzt dermaßen in Rage brachte? Die Mama verunglimpfte?

Bei diesem Gedanken ballte Alys erbost die Hände, während sie in der Küche hin und her marschierte. Wie konnte die Königin – wie konnte irgendjemand es wagen, ihren Eltern so etwas anzutun? Das war schrecklich ungerecht. Wo sie wohnte, in Dunboyton oder in London, war ihr gleichgültig. Aber es bekümmerte sie sehr wohl, dass man ihrem Vater seine rechtmäßige Residenz verweigerte.

„Warum seid Ihr denn so schlecht gelaunt, Lady Alys?“, rief eine der Köchinnen. „Hat eine Elfe Euren Zucker mit Salz vertauscht?“

Über diesen Scherz musste Alys lachen. „Nein, wahrscheinlich ist es das kalte Wetter.“

„Hier unten, wo viele Herdfeuer brennen, ist es immer warm. Übrigens, ich brauche ein bisschen Minze aus dem Garten. Die wächst gleich bei der Mauer. Wärt Ihr so freundlich, ein paar Stängel für mich zu pflücken, Mylady? Die frische Luft würde Euch guttun.“

Froh über den Auftrag und den Zeitvertreib, nickte Alys und holte rasch ihren Umhang. Dann betrat sie den umfriedeten Gemüsegarten und ging zu den Kräuterbeeten an der geschützten hinteren Mauer. Eisiger Wind blies ihr entgegen. Doch er störte sie nicht, denn er wehte den Salzgeruch des Meeres heran, der sie beruhigte, wann immer sie sich traurig oder verwirrt fühlte.

Sie erntete etwas Minze und schob sie in die Tasche ihres Capes, kletterte auf die steinerne Mauer und setzte sich, um das Meer zu betrachten. Großteils versperrten ihr die Nebengebäude des Schlosses – die Molkerei, die Metzgerei, die Stallungen – die Sicht zu den Klippen. Aber sie erblickte wenigstens einige graue Wellen.

„Alys“, erklang die Stimme ihres Vaters, „hier draußen wirst du dir ein schlimmes Fieber einfangen!“

Sie drehte sich um und sah ihn über den Gartenpfad herbeieilen. Weder ein Umhang noch ein Hut schützten ihn vor der Kälte. Das schien ihm nichts auszumachen. Nur ihr galt sein Augenmerk.

„Papa, wie weit ist London entfernt?“

Seufzend runzelte er die Stirn. „Oh, das hast du gehört? Viel weiter, als du fliegen könntest, mein kleiner Schmetterling.“ Er hob sie von der Mauer herunter und wirbelte sie im Kreis herum, bis sie kicherte, bevor er sie an seine Schulter drückte. „Vielleicht wirst du eines Tages nach London fahren und selbst herausfinden, welch eine weite Reise das ist.“

„Werde ich die Königin sehen?“

„Nur wenn sie sich glücklich schätzen darf.“

„Aber wenn sie mich gar nicht sehen will? Weil ich dein und Mamas Kind bin?“

Papa presste sie noch fester an sich. „So etwas solltest du dir nicht einbilden, Alys. Du bist eine Drury, deine Urgroßmutter hat Elizabeth of York gedient, deine Großmutter Catherine of Aragon. Seit Jahrhunderten besteht unsere Familie, die Familie deiner Mutter sogar noch länger. Die Lorca-Ramirez sind eine herzogliche Familie. Und in England gibt es derzeit überhaupt keine Dukes. Also wärst du am Londoner Hof die vornehmste Lady.“

Da war Alys sich nicht so sicher. Mama und das Kindermädchen behaupteten ständig, eine echte Lady würde nicht, so wie sie, auf Mauern klettern oder im Meer schwimmen. Aber London … Das klang interessant. Und wenn sie wirklich eine vornehme Lady war und der Königin getreulich diente, würden die Drurys vielleicht endlich die Stellung erhalten, die ihnen zustand.

Während Papa sie ins Schloss trug, schaute sie zum stürmischen Meer zurück. Eines Tages – ja, eines Tages würden diese Wellen sie nach England bringen. Dann würde sie den Glanz des königlichen Hofes mit eigenen Augen sehen.

„So eine verlogene, gottverdammte Hure! Seit Jahren ist sie tot, und noch immer wagt sie es, mich herauszufordern!“ Durch das ganze Schloss hallte der Krach, als Edward seinen irdenen Teller gegen den Kaminsims schleuderte. Ein lautes Klirren wies auf Scherben hin. Diesem Lärm folgte ein splitterndes Geräusch. Offenbar wurde ein Stuhl zerschmettert.

John Huntley hörte eine Magd kreischen. Vermutlich arbeitete sie erst seit Kurzem in diesem Haushalt. Alle anderen Dienstboten hatten sich längst an die Wutanfälle seines Vaters gewöhnt. Gleichmütig, die Köpfe gesenkt, erfüllten sie ihre Pflichten.

Von solchen Zwischenfällen nahm John kaum Notiz – schon gar nicht, wenn er sich in seiner Dachstube hoch oben über der großen Halle von Huntleyburg Abbey versteckte. Dies war der einzige Raum, wo sein Vater ihn niemals finden würde, weil niemand außer den Geistern der verbannten Mönche von der Existenz dieser kleinen Kammer zu wissen schien.

Wann immer John in den Schulferien notgedrungen nach Huntleyburg zurückkehrte, verbrachte er seine Tage meistens an der frischen Luft und ging zur Jagd. Morgens und abends saß er in seinem Versteck, studierte Latein und Griechisch. Oder er schmiedete Pläne für den wunderbaren Tag, an dem er seinem Vater endlich nicht mehr gehorchen musste.

Jetzt war er fast vierzehn Jahre alt, und so würde der ersehnte Tag bald anbrechen.

Edward stieß wieder einen gellenden Schrei aus. Auf seine Schimpferei hätte John kaum geachtet, wäre an diesem Morgen nicht etwas Ungewöhnliches geschehen. Ein Besucher hatte sich in Huntleyburg eingefunden.

Und nicht nur irgendein Besucher, sondern Johns Patenonkel, Sir Matthew Morgan, war kurz nach dem Frühstück unangekündigt die Zufahrt heraufgaloppiert. Eben erst hatte Edward angefangen, seinen starken Claret zu trinken.

Sobald John von Sir Matthews Ankunft erfahren hatte, war er zur Treppe gerannt. Monatelang hatte er nichts mehr von seinem Paten gehört, dem Cousin seines Vaters. Dieser Gentleman führte ein ganz anderes Leben als die Huntleys, nämlich am königlichen Hof.

Aber irgendetwas hielt John auf den Stufen zurück, eine seltsame Anspannung, die in der Luft lag, während das Personal hin und her eilte, um den hohen Gast zu bedienen.

Schon immer hatte John die Gabe besessen, winzige Stimmungswechsel bei den Menschen in seiner Nähe zu erkennen, das Gespür für Geheimnisse. Nur selten konnte man ihm Heimlichkeiten vorenthalten. Edward pflegte zu klagen, sein Sohn sei ein unnatürliches Kind und habe spanische Hexenkünste von der verfluchten Mutter geerbt. Eine Zeitlang war er eifrig bestrebt gewesen, das Teufelszeug aus dem Jungen herauszuprügeln, bis John gelernt hatte, diesen Wesenszug zu verbergen.

Auch an diesem Tag spürte er Geheimnisse, die das Schloss erfüllten, und eine innere Stimme riet ihm, erst einmal abzuwarten und die Ereignisse zu beobachten. Für einen Kampf war man stets am besten gerüstet, wenn man vorher so viele Informationen sammelte wie nur möglich. Warum war Sir Matthew hier? Erst seit einer Stunde hielt er sich in der Abbey auf, und er hatte Johns Vater bereits veranlasst, die Mutter zu verfluchen.

Und es musste auch die Mutter sein, die Edward jetzt lauthals beschimpfte. Für ihn war Maria-Caterina immer noch die „spanische Hure“ obwohl sie schon vor zwölf Jahren gestorben war.

John betrachtete das Porträt, das in einer düsteren Ecke seiner Geheimkammer hing. Mit strahlenden grünen Augen lächelte seine Mutter ihn an, eine schöne Frau mit rotblondem Haar unter einer Spitzenmantille, die Hände auf dem weißsilbernen Rock ihres Satinkleids gefaltet. Über einem zarten Knöchel schimmerte ein Goldring. Den trug er jetzt an einem seiner kleinen Finger.

Auf einer Seite des Gemäldes war die Leinwand zerfetzt, der Rahmen zerbrochen – Edwards Werk während einer seiner Tobsuchtsanfälle. In letzter Minute hatte John das Bild gerettet und in Sicherheit gebracht. Hätte er doch auch seine Mutter retten können … Ihr zu Ehren versuchte er hilflosen Menschen beizustehen, wann immer sich ihm Gelegenheit bot. So wie damals jener hübschen kleinen Lady, die von einem Fußball am Kopf getroffen worden war … Wo mochte sie jetzt sein?

Er lauschte wieder dem Echo der Stimmen, die aus der Halle heraufdrangen, hörte seinen Patenonkel in ruhigem Ton sprechen, seinen Vater schluchzen. Da Edwards Zorn in einen Tränenstrom übergegangen war, fand John, es wäre an der Zeit, sich blicken zu lassen.

Er schwang seine langen Beine von der Bank hinab, ging zum Dachboden hinaus und zog unter den alten Balken den Kopf ein. Während des letzten Semesters war er ein ganzes Stück gewachsen. Bald würde er einen größeren Schlupfwinkel brauchen. Und wenn ihm die Heiligen seiner Mutter gnädig waren, würde er der Abbey bald, sehr bald den Rücken kehren.

Rasch stieg er die Leiter zur großen Halle hinunter. Früher, als sein Urgroßvater den Besitz König Henry abgekauft hatte, musste sie ein grandioser Raum gewesen sein, wie einige Bilder bezeugten. Darauf waren Wandgemälde und dicke Teppiche zu sehen, mehrere Gobelins hatten die hohen Mauern und das Deckengewölbe erwärmt. Im Lauf der Jahre war das alles entschwunden, Staub und eine karge Einrichtung hatten den einstigen Glanz verdrängt.

Am anderen Ende der Halle saß Edward zusammengesunken in seinem Sessel beim Feuer. Vergossener Wein befleckte seinen alten, pelzbesetzten Schlafrock, das lange, von grauen Strähnen durchzogene dunkle Haar war ebenso zerzaust wie sein Bart. Am Boden lagen die verstreuten Scherben seines irdenen Tellers zwischen blutroten Weinpfützen, aber kein Dienstbote wagte sich in die Nähe des Schlossherrn, um sauber zu machen.

Sir Matthew stand ein paar Schritte entfernt, die Arme vor der Brust verschränkt, und musterte seinen Cousin ausdruckslos. Im Gegensatz zu Edward war er immer noch schlank und kraftvoll, die dunkelgraue Reisekleidung schlicht, jedoch perfekt geschnitten, aus feinster Wolle und edlem Samt. Sein Schwert an der Seite, wirkte er trotz seines Alters bereit, jederzeit für seine Königin zu kämpfen.

Was hatte einen solchen Gentleman bewogen, einen so armseligen Ort wie Huntleyburg aufzusuchen?

Nun schaute er auf und entdeckte John, der im Schatten stand. „Ah, mein lieber Junge, da bist du ja. Welch eine Freude, dich zu sehen! Wie groß du geworden bist!“

Ehe John antworten konnte, traf ihn der trübe Blick seines Vaters, der sich wütend aufrichtete.

„Schon wieder hat sie mich verflucht!“ Neuer Zorn verzerrte Edwards Gesicht. „Du und deine Mutter – ihr zwei habt mein Leben zerstört! Noch immer werde ich am Hof nicht geduldet.“

Da ging Sir Matthew zu ihm, legte ihm eine starke Hand auf die Schulter und drückte ihn in den Sessel zurück. „Den Grund, warum dir der Zutritt zum Hof verwehrt wird, kennst du sehr gut. Mit Maria-Caterina hat es nichts zu tun. Nur ihr ist es zu verdanken, dass dieses Dach nicht schon längst über deinem Kopf eingestürzt ist.“

John schaute zum hohen Gewölbe hinauf. Von den fleckigen alten Dachsparren blätterte etwas neuerer Putz ab. Gewiss, seine Mutter war eine reiche Erbin gewesen.

Aber sein Vater hatte das Geld verschleudert.

„Verwünscht hat sie mich!“, jammerte er nun. „Sie sagte, die Mönche, die einst hier gelebt hatten, würden ihr rechtmäßiges Zuhause zurückerobern. Dann würde ich gar nichts mehr besitzen.“

Sir Matthew musterte ihn angewidert, füllte einen Kelch und drückte ihn Edward in die Hand. Grimmig lächelte er, während sein Cousin sich den Rotwein in die Kehle schüttete.

„Jetzt müssen wir wichtigere Dinge besprechen, Edward. Vor langer Zeit ist Maria-Caterina gestorben, und du hast alle deine Chancen ungenutzt verstreichen lassen. Aber für John ist es noch nicht zu spät.“

„John?“, rief Edward verächtlich, ohne seinem Sohn auch nur einen Blick zu gönnen. „Was kann er denn tun?“

„Sehr viel“, entgegnete Sir Matthew, wandte sich zu John und winkte ihn näher zu sich. „Wie mir deine Lehrer versichert haben, bist du ein hervorragender Schüler, mein Junge, mit einer besonderen Begabung für Fremdsprachen. Deshalb sollte man dich im nächsten Semester nach Cambridge schicken. Studierst du gern?“

In Johns Brust regte sich ein Gefühl, das er schon lange nicht mehr zu empfinden gewagt hatte – wunderbare Hoffnung. „Sogar sehr gern, Mylord. Mittlerweile habe ich einige Fortschritte in Griechisch und Latein gemacht, auch in Französisch und Spanisch. Und ich spreche ein bisschen Italienisch.“

„Wie gut kannst du mit deinem Schwert umgehen? Mit Pfeil und Bogen?“

John dachte an den Hirsch, den er neulich mit einem glatten Pfeilschuss für das Dinner erlegt hatte. „Nicht schlecht, glaube ich. Wenn Ihr Euch bei dem Schwertmeister in meiner Schule erkundigen würdet, Mylord … Jede Woche übe ich unter seiner Aufsicht.“

„Hmmm.“ Sir Matthew fixierte ihn. Nachdenklich klopfte er mit den Fingern auf seinen Ärmel. „Und du bist recht hübsch.“

„Das hat er von seiner verdammten Mutter“, murmelte Edward. „Diese Augen …“

„Aye“, bestätigte Sir Matthew und schaute etwas genauer hin. „Und mit deinem schwarzen Haar gleichst du einem Spanier, John.“ Ohne Edward anzusehen, schenkte er ihm noch einmal Wein ein. „Komm, mein Junge, gehen wir ein bisschen spazieren. Viel Zeit habe ich nicht mehr, bevor ich zurückreiten muss.“

John folgte seinem Patenonkel in den Garten der Abbey, der zu Lebzeiten seiner Mutter schön und gepflegt gewesen war, erfüllt vom Duft kostbarer Rosen, mit plätschernden Springbrunnen. Das hatten ihm mehrere Dienstboten erzählt.

Jetzt war der Park eine braune, verdorrte Wildnis. Aber John schöpfte neue Hoffnung. Für ihn war die Schule eine Zufluchtsstätte gewesen, fern von seinem beklemmenden Zuhause, ein angenehmer Ort, wo er hart gearbeitet hatte. Sollte ihm seine Mühe endlich gelohnt werden? Und womit?

„Vorhin sagtet Ihr, ich könnte sehr viel tun, Mylord“, begann er und versuchte, nicht übereifrig zu erscheinen. Eignete er sich für ein Studium in Cambridge, für eine höhere Laufbahn? Eventuell am Hof? „Hoffentlich stimmt das. Nur zu gern würde ich der Königin dienen, auf jede Weise, zu der ich fähig wäre.“ Womöglich würde es ihm gelingen, den Ruhm des Namens Huntley zurückzugewinnen, die Ehre seiner Familie wiederherzustellen. Dann würde er einen erstrebenswerten Sinn in seinem Leben finden.

„Sehr löblich, John“, erwiderte Sir Matthew lächelnd. „Dringender denn je braucht die Königin talentierte, treue Männer, denn ich fürchte, dunkle Zeiten werden über England hereinbrechen.“

Dunklere Zeiten, als das Land bereits verkraften musste, von Spanien und Frankreich bedrängt? Während Mary of Scotland im Hintergrund lauerte, um den Thron zu erringen? „Mylord?“

„Von Anfang an hatte Königin Elizabeth viele Feinde. Aber jetzt werden sie immer kühner. Ich möchte ein Regiment aufbringen und bald in die Niederlande führen.“

„Oh, wirklich?“, rief John begeistert und aufgeregt. Das Schwert eines Soldaten zu schwingen, auf dem Schlachtfeld Ruhm und Ehre zu erwerben … Damit könnte er den Namen Huntley zweifellos retten. „Vielleicht findet Ihr in Eurem Regiment einen Platz für mich, Mylord?“

„Vielleicht eines Tages, John.“ Sir Matthews Lächeln nahm ironische Züge an. „Zuerst musst du deine Studien abschließen. Dank deiner Intelligenz und deiner Fremdsprachenkenntnisse müsste eine erfolgreiche Zukunft vor dir liegen.“

John verhehlte seine Enttäuschung. „Und welchen Posten würde ich später einnehmen?“

„Nun …“ Sein Patenonkel räusperte sich. „Hast du schon von Sir Francis Walsingham gehört?“

Natürlich kannte John diesen Namen. Walsingham war Königin Elizabeths loyalster Minister, dem sie rückhaltlos vertraute, der Hüter zahlreicher Geheimnisse, stets über alles informiert. „Aye, Mylord.“

„Vor Kurzem fragte er mich nach deinem Werdegang. Falls es zu einem Krieg gegen Spanien kommt, wäre ein Mann mit deinen Fähigkeiten und verwandtschaftlichen Beziehungen äußerst wertvoll.“

Johns Gedanken überschlugen sich. Was mochte ein Politiker wie Walsingham von ihm erwarten? „Weil ich ein halber Spanier bin?“

„Sicher, auch wegen deiner Klugheit und deiner – Intuition. Diese Gabe fiel mir bereits auf, als du ein kleiner Junge warst, deine Wachsamkeit, ein besonderes – Wissen. Das hast du nicht verloren. Wenn es vervollkommnet und in die richtigen Bahnen gelenkt wird, könntest du es weit bringen.“

„Glaubt Ihr, von spanischer Seite drohen uns schon bald Gefahren, Mylord? Wollt Ihr gegen die Spanier kämpfen?“

„Mein lieber Junge, die Spanier sind immer gefährlich. Wer weiß, was in ein paar Jahren geschehen wird, wenn du dein Studium beendet hast? Nun erzähl mir von deiner Schule. Was hast du über die Mathematik gelernt? Über die Astronomie?“

John wanderte mit Sir Matthew im Garten umher, berichtete von seinem Unterricht und stellte einige Fragen nach dem Londoner Hof. Die beantwortete sein Patenonkel nur vage. Schließlich kehrten sie zur Auffahrt an der Vorderfront des Schlosses zurück, wo ein Diener mit dem Pferd des Besuchers wartete.

„Konzentrier dich auf deine Studien, John“, mahnte Sir Matthew und schwang sich in den Sattel. „Sorg dich nicht um deinen Vater, ich werde ihn schützen. Jetzt muss ich aufbrechen. Wirst du über alles nachdenken, was ich dir erklärt habe?“

„Gewiss, Mylord.“ An nichts anderes würde John denken. Er verbeugte sich und sah seinen Paten davongaloppieren, dann drehte er sich zum Schloss um.

Im schwindenden Sonnenlicht, das die dunklen Flecken und Mauerrisse milderte, erschien ihm Huntleyburg Abbey etwas stattlicher. So gern würde er das Gebäude restaurieren lassen, seine einstige Schönheit wieder erwecken … Doch er hatte stets vergeblich überlegt, wie er das bewerkstelligen könnte. Vielleicht würden es Geheimnisse ermöglichen – Walsinghams Geheimnisse, Englands Geheimnisse. Was mochte auf ihn zukommen? Welchem Pfad würde sein Leben folgen?

Um dem Namen Huntley, den sein Vater beschmutzt hatte, neues Ansehen zu verschaffen, würde er keine Mühe scheuen. Und wenn er das Geschick eines Spions nutzen, im Schatten arbeiten und sich sein halbes Leben lang um das Wohl der Abbey bemühen musste – er würde nicht zögern. Alles wollte er für die Ehre seiner Familie tun, jedes Opfer bringen.

Dieser Aufgabe werde ich mein Leben weihen, gelobte er sich.

2. KAPITEL

Galway, Frühsommer 1588

Alys trug einen Korb voller schmutzigem Bettzeug zur Wäscherei oberhalb der Küchenräume von Dunboyton Castle und hörte ein nur allzu vertrautes Geräusch, das über die Steinstufen heraufdrang – das Schluchzen einer jungen Magd. Schon seit Tagen hüllte die Angst der Mädchen das Schloss wie eine dunkle Wolke ein.

Nicht, dass Alys ihnen den Kummer verübelte. Sie selbst hatte stets das Gefühl, auf der scharfen Klinge eines Schwerts zu balancieren, von der sie jederzeit abstürzen konnte, auf der einen oder der anderen Seite. Doch sie blieb ständig in der Mitte gefangen, in schrecklicher Ungewissheit. Angeblich hatte die spanische Flotte namens Armada den Hafen von Lissabon verlassen und steuerte England an, um die Inselnation zu erobern, Irland inklusive. Hunderte von Schiffen, mit mehreren tausend Kriegern an Bord …

Könnte sie die Gerüchte doch irgendwie verscheuchen, wie schwarze Geister durch die Korridore des Schlosses davonjagen! In hilflosem Zorn hätte sie am liebsten geschrien.

Doch das durfte sie nicht, denn sie war die Herrin von Dunboyton, seit ihre Mutter vor neun Jahren den Tod gefunden hatte. Deshalb musste sie Tapferkeit und innere Ruhe bekunden, der Dienerschaft mit gutem Beispiel vorangehen.

Sie betrat die Wäscherei und stellte den Korb zu den anderen. Nicht einmal die Hälfte der Arbeit, die Alys für diesen Tag geplant hatte, war erledigt worden. Unbeaufsichtigt kochte Leinenzeug in den großen Kesseln. Im dichten, nach Lavendel duftenden Dampf konnte sie kaum etwas sehen.

„Oh, Mylady!“, jammerte eine junge Magd namens Molly beim Anblick ihrer Herrin. „Ich habe gehört, wenn die Spanier hierherkommen, werden sie uns grausam foltern! Ihre Schiffe haben sie mit Peitschen und Henkersstricken beladen – und mit Brandeisen, um alle Babys zu kennzeichnen!“

„Ja, das habe ich auch gehört“, meinte ein anderes Mädchen seufzend. „Die älteren Kinder werden getötet, nur die Babys am Leben gelassen – aber gebrandmarkt, damit sie sich später an die Schmach ihrer Unterwerfung erinnern.“

„Seid nicht albern!“, schimpfte die alte Aufseherin der Wäscherei. „Die Spanier werden uns alle mit ihren Schwertern durchbohren und über die Mauern ins Meer schleudern, bevor jemand auf die Idee kommt, irgendwen zu brandmarken.“

„Angeblich haben die Bewohner von Leiden in Holland ihre Stadt niedergebrannt, ehe sie den Spaniern in die Hände fallen konnte“, erklärte eine andere Magd. „Das sollten wir mit unserem Dorf auch tun.“

„Genug!“, befahl Alys. Wenn sie noch mehr Gerüchte über die Grausamkeit der Spanier hörte, die sich in weiter Ferne befanden, würde sie schreien. Was hätte ihre Mutter zu alldem gesagt? „Wenn sie überhaupt lossegeln, wird ihr erstes Ziel England sein, ehe sie in die Nähe von Irland geraten. Also schweben wir nicht in Gefahr.“

„Warum marschieren dann so viele Soldaten in die Festung Hill?“, fragte Molly. „Und warum ist Sir Richard Bingham aus Galway City geritten, um die Befestigungen zu inspizieren?“

Das hätte Alys selbst gern gewusst. Bingham stand im Ruf, keine Gnade zu kennen, nachdem er vor einigen Jahren die Rebellionen der Iren gegen den englischen Thron so brutal niedergeschlagen hatte. Wenn er sich in der Nähe von Dunboyton herumtrieb, konnte das nichts Gutes bedeuten. Doch das durfte sie den Mägden nicht verraten. „Uns droht viel eher die Gefahr mangelnder sauberer Wäsche als die einer Invasion“, sagte sie, nahm ein Bündel aus einem der Körbe und warf es Molly zu. „Jetzt müssen wir uns an die Arbeit machen, Armada hin oder her.“

Murrend begannen die Frauen die Wäsche zu schrubben und in den dampfenden Kesseln zu rühren. Bevor Alys den Raum verließ, hörte sie neues Getuschel. Peitschen und Brandeisen …

Die alten steinernen Mauern beengten Alys, die Atmosphäre von Angst und Unsicherheit, die seit Tagen im Schloss herrschte, bedrückte sie immer unerträglicher. Ausgerechnet sie, die so stolz war auf ihre innere Kraft und ihren praktischen Verstand! Solche Eigenschaften musste man besitzen, wenn man an einem Ort wie Dunboyton wohnte. Die kalten Winde, die ständig vom Meer heraufwehten, die Monotonie, jeden Tag dieselben Gesichter zu sehen, das unheimliche Land – dies alles musste schon viele Menschen in den Wahnsinn getrieben haben.

Trotzdem störte es sie nicht, in Dunboyton zu leben. Gewiss, manchmal träumte sie von anderen Ländern, vom Glanz des königlichen Hofs oder vom Sonnenschein über Granada, der Geburtsstadt ihrer Mutter. Aber sie wusste, es musste ihr genügen, zusammen mit ihrem Vater hier zu wohnen und ihre Pflichten im Schloss zu erfüllen. So sah ihr Dasein nun einmal aus, und Wunschträume würden nichts ändern.

Und doch – plötzlich fühlte sie sich in einem verwirrenden Albtraum gefangen, aus dem sie nicht erwachen konnte, in einer gespenstischen Sphäre, wo alles aus den Fugen geriet.

An diesem Tag musste sie noch andere Aufgaben bewältigen. Aber jetzt brauchte sie ein bisschen Zeit für sich selbst, um frische Luft einzuatmen, um das Grauen zu verscheuchen, das sie dem Geschwätz der Mägde verdankte. Sie nahm ihren wollenen Umhang von einem Haken neben der Küchentür und eilte ins Freie.

Rings um die Schlossmauern heulte ein kalter Wind, zerrte an Alys’ Haaren und Röcken. Sie durchquerte den Küchengarten und kletterte über die niedrige Steinmauer zu den offenen Wiesen, wie sie es schon seit ihrer Kindheit zu tun pflegte. Seit Mamas Tod unternahm sie oft stundenlange Wanderungen die Küste entlang oder hinauf zu den Ruinen der Abtei, ohne einer einzigen Menschenseele zu begegnen.

Diesmal war es anders. Sie folgte dem schmalen Weg, der von Dunboytons hoher KIippe zur Bucht hinabführte. An üblicherweise verlassenen Stellen tummelten sich Gestalten und erledigten Dinge, die Alys nicht einordnen konnte, die ihnen aber offenbar sehr wichtig erschienen. Als sie näherkam, erkannte sie Soldaten aus dem Schlossregiment ihres Vaters, aus Galway City und der Festung. Eine Masse aus blaugrauer Wolle, schwärmten sie auf dem felsigen Strand hin und her.

Auf halber Höhe des Pfads blieb Alys stehen und beobachtete die Ereignisse. Obwohl behauptet wurde, die Spanier würden ihre unbesiegbaren Schiffe nach England steuern und niemals so weit in den Norden segeln, wurden unverkennbar genug Vorsichtsmaßnahmen getroffen, um die Mägde zu erschrecken. Wie man sich erzählte, waren die Spanier schon einmal hierhergekommen, um die irischen Clanhäuptlinge im Kampf gegen die englische Herrschaft zu unterstützen, waren aber vertrieben worden. Warum sollte es jetzt anders sein?

Peitschen und Brandeisen – Henkersstricke … Schaudernd zog Alys den Umhang enger um ihre Schultern und entsann sich, was Mama ihr über Spanien erzählt hatte – was sich nicht mit jenen grausigen Visionen vereinbaren ließ. Die kandierten Zitronen und Orangen, die ihr die Onkel aus Andalusien geschickt hatten, waren ihr wie Sonnenschein auf der Zunge zerschmolzen … Konnte das Volk, dem ihre gütige, sanfte Mutter entstammt war, so barbarisch sein? Und wenn ja – was schlummerte in der Tiefe ihrer eigenen Seele?

Papa war wegen Mamas Herkunft vom königlichen Hof verbannt und beauftragt worden, diese gottverlassene Gegend zu beaufsichtigen. Was soll jetzt mit uns geschehen?

„Alys!“, hörte sie ihren Vater rufen. „Heute ist es viel zu kalt für dich, du darfst nicht hier draußen sein!“

Im dichten Gedränge der Soldaten konnte sie ihn nicht entdecken. Doch dann eilte er den Weg herauf, ein Fernrohr in der Hand. Der Wind zerrte an seinem Umhang, an seinem Hut. Plötzlich erschien er ihr viel älter. Sein Bart war mittlerweile vollends ergraut, neue Sorgen hatten immer mehr Falten in sein Gesicht gegraben.

„Gleich gehe ich wieder ins Haus“, versprach sie. „Ich wollte nur ein bisschen frische Luft schnappen, weil ich das Gejammer der Mägde nicht länger ertragen habe.“

Er nickte grimmig. „Das kann ich mir vorstellen. Wenn sich blinde Angst ausbreitet, nützt es niemandem.“

„Hast du eine Nachricht aus England erhalten, Papa?“

„Nur dass Schiffe in den Häfen von Portsmouth und Plymouth zusammengezogen wurden. An der Küste haben sich Milizen organisiert. Noch steht nichts fest. Aus Dublin wurden keine Signalfeuer gesichtet.“

Alys zeigte auf die Aktivitäten am Strand. „Wie ich sehe, will Bingham nichts riskieren.“

„Weil er sich geradezu nach Kämpfen sehnt. Seit die Rebellionen niedergeschlagen wurden, hatte er nichts mehr zu tun. Wenn keine kriegslüsternen Spanier auftauchen, wird er bitter enttäuscht sein.“

Oder wenn England überwältigt wird, bevor Irland eine Chance zum Kampf bekommt … Diesen Gedanken sprach Alys nicht aus, sonst hätte sie womöglich genau wie die Mägde geklungen.

Sie lieh sich Papas Fernrohr und ließ den Blick über den Horizont schweifen. Auf dem dunkelgrauen, vom Wind aufgepeitschten Wasser sah sie keine Schiffe, nur ein paar Boote einheimischer Fischer. Schon seit Wochen herrschte dieses sonderbare, für die Jahreszeit ungewöhnliche Wetter – kalt, stürmisch, unberechenbar. Normalerweise war es am günstigsten, im Frühsommer zu segeln. Diesmal nicht, und die Spanier wären tollkühn, wenn sie versuchten, an einer so ungastlichen Küste zu landen – aus vielen verschiedenen Gründen.

Aber schwache Herzen hatten die Neue Welt nicht erobert, die Niederlande nicht bezwungen. In solchen Zeiten konnte alles geschehen.

„Dem Vernehmen nach erhielt der Duque de Medina-Sidonia den Auftrag, die Armada mit den Landstreitkräften des Duca di Parma zu vereinen“, erklärte ihr Vater. „Die besetzen derzeit die niederländische Küste. Gemeinsam werden sie aufbrechen, um England zu stürmen. Warum sollten sie hierherkommen?“

„Das wird nicht geschehen.“ Alys heuchelte eine Zuversicht, die sie nicht empfand. „Eines Tages wirst du deinen Enkeln am Kaminfeuer eine Geschichte erzählen, Papa. Wie England durch ein gigantisches Wunder gerettet wurde.“ Sie gab ihm das Fernrohr zurück, hängte sich bei ihm ein, und sie stiegen den Pfad zum Schloss hinauf.

„Wenn ich wenigstens ein Enkelkind hätte!“, rief er in gespielter Verzweiflung. Schon oft hatten sie über seinen Wunsch gescherzt, ein Enkelchen auf den Knien zu schaukeln. „Ich fürchte, hier gibt es keinen Gentleman, den du heiraten könntest, mein Mädchen. Es sei denn, du nimmst einen von Binghams Männern da unten.“

Alys warf einen Blick über die Schulter und musterte die Soldaten am Strand. Mit ihren Helmen sahen alle gleich aus. „Nein, danke. Wenn ich keine andere Auswahl habe, werde ich eine alte Jungfer und führe dir den Haushalt.“

Die Stirn gerunzelt, seufzte er. „Meine arme Alys! Es stimmt, hier ist niemand deiner würdig. Wärst du bloß am Hof …“

Immer wieder hörte sie das. Doch sie hatte die Hoffnung auf ein so großartiges Abenteuer längst aufgegeben. „Natürlich würde ich gern schöne Kleider am königlichen Hof tragen, die neuesten Tänze und Lieder lernen. Doch ich fürchte, ich wäre eine schreckliche Provinzlerin und würde dir Schande machen“, fuhr sie leichthin fort. „Außerdem bin ich hier in Sicherheit.“

„Vorerst.“ Er tätschelte ihr die Hand. „Nicht für immer.“

Sie kehrten ins Schloss zurück, ins geschäftige Alltagsleben. Auf Dunboyton schien sich nichts zu ändern. Aber Alys vernahm immer noch die kriegerischen Geräusche vor der Haustür.

3. KAPITEL

Lissabon, April 1588

Im Oktober wird König Philip die Heilige Messe in St. Paul’s hören, das schwöre ich!“, verkündete Lord Westmoreland, ein englischer Katholik, der im Exil seit vielen Monaten unter dem Schutz des spanischen Königs lebte. Er stand am Fenster seines gemieteten Hauses und zeigte auf die lange Prozession, die über das Kopfsteinpflaster der alten, gewundenen Straßen von Lissabon dahinzog. „Und wenn es so weit ist, wird der König sein Versprechen halten und mir meine Landsitze zurückerstatten.“

Sein Freund Lord Paget lächelte sarkastisch. „Erst einmal muss er dort sein.“

Damit wies er auf ein äußerst schwieriges Problem hin. Nun war die Armada endlich versammelt, über hundert kampfstarke Schiffe, nach langen Verzögerungen wegen schlechten Wetters, verdorbenen Proviants und zahlreicher Desertionen.

„Wie kannst du daran zweifeln?“, rief Lord Westmoreland. „Hier siehst du die gewaltige Macht seines Königreichs!“

John Huntley gesellte sich zu den Männern, die aus Lord Westmorelands Fenster schauten. Wie er zugeben musste, war der Anblick tatsächlich imposant. König Philips Kommandant der grandiosen Armada, der mächtige Duque de Medina-Sidonia, ritt an der Spitze der langen Prozession, die vom Königspalast bis zur Kathedrale reichte. Auf seinem blank polierten silbernen Brustpanzer prangte das eingravierte Wappen seiner Familie, üppiges Zobelfell verbrämte seinen Umgang aus blauem Satin. An seiner Seite ritt der Kardinal Erzbischof. Blutrot hob sich seine Robe von den weiß getünchten Häusern ab. Die Aristokraten folgten den beiden in Viererreihen. Golden, rot und blau flatterten ihre Familienbanner im Wind. Die Sonne spiegelte sich in edlen Rüstungen und vereinte Satin- und Seidenstoffe zu einem vibrierenden Regenbogen.

Hinter den Reitern erschienen die Damen in Sänften aus Brokat. Schüchtern spähten sie durch ihre spinnwebdünnen Spitzenmantillen auf die Menschenmengen am Straßenrand. Priester und Mönche bildeten zu Fuß die Nachhut. In ihren schwarzen und braunen Kutten sorgten sie für eine düstere Nuance, die sich im Jubel des spanischen Volkes verlor. Die Portugiesen – nicht erobert, aber mit der spanischen Krone vereint – blieben hinter ihren geschlossenen Fensterläden.

Außerhalb des Blickfelds donnerten die Kanonen der Schiffe, im Fluss Tagus vertäut. Zuletzt waren sie flussaufwärts gesegelt, um Portugal mit Spanien zu verbinden. Bald sollten sie auslaufen, um neue Länder zu erobern, ein spanisches Weltreich zu begründen.

Aber wie John wusste, war trotz dieser prächtigen Machtdemonstration nicht alles Gold, was glänzte. Zu lange war die Armada aufgehalten worden, der Proviant schon jetzt, bevor die Schiffe den Hafen verlassen würden, beängstigend knapp. Immer wieder flüchteten Besatzungsmitglieder. Um sie zu ersetzen, durchstöberten spanische Presskommandos die Straßen der portugiesischen Stadt.

John musste noch mehr über die Situation der Armada und die Pläne des Kommandanten herausfinden und die Informationen weitergeben, bevor die Flotte auslaufen würde. Danach konnte er keine Nachrichten mehr nach England schicken, bis er auf die eine oder andere Weise dort ankam – höchstens, wenn er mit seinen Landsleuten in einen freundlich gesinnten Hafen geriet. All die langen Monate, die er mit sorgsamer Arbeit verbracht hatte, um mühsam erforschte Einzelheiten zu einem Gesamtbild zusammenzufügen, näherten sich dem Höhepunkt.

Englands Zukunft und das Schicksal seines Volkes standen auf dem Spiel.

„Was glaubt Ihr, Master Kelsey?“, erkundigte sich Lord Westmoreland und wandte sich zu John um. Dieses Pseudonym benutzte John, seit er vor einigen Jahren in Antwerpen aus dem Heer der Königin „desertiert“ war und den Spaniern erfundene Informationen überbracht hatte. Bis nach Lissabon war es ihm gefolgt. „Werden wir unsere englischen Besitztümer wiedergewinnen und die Abtrünnigen noch vor Jahresende in die wahre Kirche zurückführen?“

„Darum bete ich, Mylord“, antwortete John. „Mit Gottes Wille werden wir nicht scheitern. So wie wir alle fiebere auch ich meinem eigenen Heim entgegen – nach dem himmelschreienden Unrecht, das die falsche Königin meiner Familie antat. Meine spanische Mutter würde jubeln, könnte sie diesen Tag erleben.“

„Gut gesagt, Master Kelsey“, sagte Lord Paget lobend. „Endlich werden wir unserem Heimatland Ehre und Gerechtigkeit zurückbringen.“

„Und wir werden die Hinrichtung Marys rächen, der Königin von Schottland“, ergänzte Lord Percy. Er sprach sanft und leise, und alle Anwesenden musterten ihn erstaunt. Wie leidenschaftlich er sich seiner Sache hingab, wusste man, weil er oft stundenlang in der Kirche nahe seinem Haus betete, aber er ergriff nur selten das Wort.

„Aye, die arme Märtyrerin“, bemerkte Lord Westmoreland etwas unsicher.

„Als Erste der Unseren erkannte sie, zu welch ungeheurer Grausamkeit die Ketzerin Elizabeth fähig ist“, fuhr Lord Percy fort. „Die Tränen der katholischen Witwen, die armen Kinder, ihren Familien entrissen und in der falschen Kirche zur Verdammnis erzogen … Wie sehr sie alle leiden, weiß ich nur zu gut, denn ich habe es in ihren Briefen gelesen.“

John wünschte, auch er könnte diese Briefe lesen. Sie enthielten gewiss Informationen über englische Vaterlandsverräter, wertvolle Angaben über die Feinde der Königin. Wer wusste, was sie planten, falls die Spanier tatsächlich in England landen würden? Westmoreland ging eher achtlos mit seiner Korrespondenz und seinen Äußerungen um – Percy nicht.

Behutsam legte John eine Hand auf Percys angespannte Schulter. Im Sonnenschein funkelte der goldene Ring, der seiner Mutter gehört hatte und den er niemals abnahm. „Bald werdet Ihr Eure Familie wiedersehen.“

Eine wilde verzweifelte Glut in den Augen, starrte Percy ihn an. „Das hoffe ich inständig. Ihr werdet uns helfen, Master Kelsey. Denn Ihr versteht alles. Und Ihr werdet bei der Ankunft der Schiffen in England sein, während wir hier warten und beten.“

Aye, dachte John, ich verstehe alles. Aber auf ganz andere Weise, als es der arme Percy annahm.

Was immer es auch kosten mochte – England durfte nicht unter spanische Herrschaft geraten. Niemals sollte das barbarische Blutvergießen, das John in den Niederlanden beobachtet hatte, die englischen Küsten erreichen.

„Bald sollten wir aufbrechen, Gentlemen“, meinte Westmoreland, „denn wir müssen unsere Plätze in der Kathedrale einnehmen und miterleben, wie Medina-Sidonia die heilige Standarte empfängt.“

Ein Raunen ging durch die Versammlung, Weinkelche wurden gelehrt, alle ergriffen ihre edlen Umhänge und Federhüte.

„Leider kann ich mich erst etwas später zu Euch gesellen, meine Herren“, entschuldigte sich John, „weil ich zuvor eine Verabredung einhalten muss.“

„Mit einer schöne Portugiesin, vermute ich!“, rief Paget und lachte herzhaft.

Statt das abzustreiten, schüttelte John grinsend den Kopf und erduldete die obszönen Scherze einiger Lords. Für sie alle mochte das ein heiliger Tag sein. Aber sie würden niemals auf Zoten über schöne Frauen verzichten.

Er verließ das Haus und eilte durch steile alte Straßen mit holprigem Kopfsteinpflaster. Nachdem die Prozession in der Kirche eingetroffen war, hatte sich die Menschenmenge zerstreut, die meisten Türen und Fensterläden der eng aneinandergereihten Häuser waren wieder verschlossen, als hätte sich nichts ereignet

In der Ferne läuteten Glocken, und John roch den beißenden Rauch der Schiffskanonen, der immer noch in der Luft lag. Niemand versperrte ihm den Weg, keiner der wenigen Passanten schien seinen kostbaren, mit Gold- und Silberfäden bestickten schwarzen Samtumhang und das Wams aus teurem rotem Satin zu beachten.

Trotzdem näherte er sich seinem Ziel auf Umwegen, um zu verhindern, dass er verfolgt wurde. Jahrelang war er zu einem scharfen Beobachter ausgebildet worden – seit sein Patenonkel ihn zu Walsingham und in dessen Schattenwelt geführt hatte. In Cambridge hatte er nicht nur seine Fremdsprachen vervollkommnet, sondern auch gelernt, Codes zu knacken, mit Schwertern und Feuerwaffen umzugehen, nadeldünne italienische Dolche geschickt zu gebrauchen. Bei Kämpfen in den Niederlanden hatte er seine Fähigkeiten perfektioniert. Dann war er, von Westmoreland gefördert, an den spanischen Hof gelangt. Niemand verfolgte ihn – wenn er es nicht wollte.

Nun sollte die jahrelange Arbeit Früchte tragen. Die spanische Gefahr, die England schon so lange fürchtete, würde bald lossegeln, und John musste seine Wachsamkeit verdoppeln.

Als er lautes Gelächter hörte, glitt seine Hand wie von selbst zum Griff seines Dolchs. Vorsichtig spähte er um die Ecke einer schmalen Gasse. Doch er sah nur ein junges Paar in inniger Umarmung, die Köpfe zusammengesteckt. Das Mädchen flüsterte etwas, das dem Mann ein Lächeln entlockte. Mit einem zärtlichen Kuss besiegelten die beiden ihr Glück.

John ging weiter und verdrängte ein unwillkommenes Gefühl – die Kälte seiner Einsamkeit. In seinem Leben war keine Zeit für solche Dinge, kein Platz für die Liebe.

Wenn die Armada besiegt und England in Sicherheit war, wenn er seine Pflicht erfüllt hatte – vielleicht würde es dann auch für ihn solche Momente geben …

Wehmütig lachte John über sich selbst. Danach – falls er am Leben blieb, was unwahrscheinlich war – würde er eine andere Aufgabe übernehmen müssen. Und dann noch eine. Vielleicht würde er eines Tages Huntleyburg instand setzen lassen, sogar eine Ehefrau finden …. Und dann würde er ein Graubart sein, nicht mehr besonders reizvoll für eine Lady. Der verbitterte Geist seines Vaters würde ihn vereinnahmen.

Doch er wollte die Ehre der Familie wiederherstellen, den guten Namen der Huntleys. Das musste ihm genügen.

Schließlich erreichte er sein Ziel und betrat ein Wirtshaus am Ende einer steil ansteigenden Straße. Durch schmutzige Fensterscheiben und die offene Tür konnte man über rote Dächer hinweg die dicht gedrängten Schiffsmasten im Flusshafen sehen. Ein imposanter Anblick – zumindest wäre er das gewesen, wenn irgendjemand in der düsteren, verrauchten Schankstube mit der niedrigen Decke hinausgeschaut hätte. Der Raum war nicht überfüllt. Aber für die Mittagszeit saßen erstaunlich viele Leute an den zerkratzten Tischen. Die meisten kauerten betrunken, in sich zusammengesunken auf wackeligen Bänken. In der schalen Luft hing der Gestank von billigem Bier und der Krankheit, die ein übermäßiger Genuss dieses Gebräus bewirkte.

John fand seinen Kontaktmann in einem kleinen Privatzimmer im Hintergrund des Hauses, von einem Labyrinth aus schmalen Korridoren versteckt. Da das einzige Fenster zu einer kaum benutzten Gasse hinausging, war das ein idealer Treffpunkt, falls man sich zu einer überstürzten Flucht entschließen musste. Der Mann – klein und unscheinbar, in schlichte braune Wolle gehüllt, eine schwarze Kappe über dem strähnigen dunklen Haar – zählte zu der Sorte, die man auf der Straße nicht zweimal anschauen würde. Darin lag seine spezielle Stärke. Seit einer Begegnung in Antwerpen hatte John ihn nicht mehr gesehen.

„Endlich geht der Tag in die Nacht über“, meinte der kleine Spion.

John rückte einen Stuhl zum Tisch, nahm Platz und ergriff einen Bierkrug. „Sicher ist das nicht das bestgehütete Geheimnis von Europa.“ Diesen Mann kannte er schon sehr lange, und er vertraute ihm, soweit es ihm angemessen erschien, also nicht rückhaltlos.

„König Philip ist kein Mann der raschen Entschlüsse. Aber jetzt, da er zuschlagen will, kann ihm nicht einmal der Duque de Medina-Sidonia davon abraten.“

Welche Bedenken der Duque hegte, wusste John. Wegen des schlechten Wetters und der mangelnden Vorräte hatte Medina-Sidonia erfolglos versucht, die „Ehre“ des Armada-Kommandos abzulehnen. „Und die Königin? Ist sie zum Gegenschlag bereit?“

Lässig zuckte der Kontaktmann mit den Schultern. „Die englischen Milizen sind miserabel ausgebildet. Trotzdem wollen sie bis zum letzten Atemzug kämpfen, nachdem sich die Gerüchte über die barbarischen Spanier in Windeseile ausgebreitet haben. Das heißt, falls ein feindliches Heer an Land geht.“

„Aber England hat bessere Verteidigungsmöglichkeiten als alle Landstreitkräfte.“

Dass John so etwas wusste, schien den Mann zu verblüffen. „Wie viele Schiffe besitzt König Philip derzeit?“

„Genaue Zahlen kenne ich nicht. Zehn Galeonen von der indischen Küstenwache, neun von der portugiesischen Marine, dazu vier Galeassen und vierzig Handelsschiffe. Das gilt nur für die ersten und zweiten Linien. Außerdem sollen Pinassen als Späher fungieren. Im Ganzen sind es vielleicht hundertdreißig.“

„Zur Flotte Ihrer Majestät gehören vierunddreißig Galeonen, und Captain Hawkins hat sie großartig umgestalten lassen.“

John nickte. Wie beharrlich Hawkins, der Schatzmeister für Marineangelegenheiten und ein erfahrener Seemann, sich für die Modernisierung der königlichen Flotte eingesetzt und die lautstarken Proteste bezwungen hatte, war allgemein bekannt.

„Jetzt sind die Galeonen länger im Kiel, schmaler in der Breite, mit geringerem Tiefgang und viel wendiger, nachdem die riesigen Geschützkastelle entfernt wurden“, erläuterte der Kontaktmann. „Dadurch bewegen sie sich viel schneller. Auf die alten spanischen Schiffe können sie viermal feuern, bevor die auch nur einmal wenden.“

Während John an seinem Bier nippte, malte er sich eine solche Szene aus. „Ein Schiff von sechshundert Tonnen trägt so viele Geschütze wie eines von zwölfhundert.“

„In der Tat. Und Ihre Majestät hat weniger Kanonen, aber modernere als König Philip, mit vierrädrigen Lafetten und längeren Rohren. Und auf Hawkins neuen Galeonen tragen die feststehenden Batteriedecks fast vierzig Geschütze.“

Grimmig nickte John. Die San Lorenzo, die größte spanische Galeone, war mit vierzig Kanonen bestückt, aber davon würden sechzehn kaum etwas ausrichten. In einer großen Seeschlacht konnte Spanien sich nicht mit der modernen englischen Flotte messen. Allerdings rechneten die Spanier mit einem Bodenkrieg, unterstützt von den überlegenen Streitkräften des Duca di Parma, sollte es ihnen gelingen, die englische Küste zu stürmen. „Für eine Seeschlacht ist die Königin gerüstet.“

„Besser, als es die Spanier geahnt oder vorhergesehen haben.“

„Trotzdem hoffen sie auf ein göttliches Wunder, sobald sie lossegeln.“

„Das werden sie brauchen. Mit einer so schlecht vorbereiteten, kaum manövrierfähigen Flotte aufzubrechen, kann kein gutes Ende nehmen. Das weiß Medina-Sidonia.“ Der Kontaktmann warf John einen düsteren Blick zu. „An Bord eines dieser Schiffe – für jeden Krieger wäre das eine höchst gefährliche Position.“

„Ja, das weiß ich auch. Aber Informationen aus dem Kommandozentrum würden uns später nützen.“

„Und sobald die Entscheidung gefallen ist, gibt es kein Zurück. Das ist mir klar.“ Der Mann leerte seinen Bierkrug und stand auf. „Gott mit Euch, Sir. Jetzt reise ich nach Portsmouth, auf diesem oder jenem Weg. Von dort schicke ich unserem gemeinsamen Freund Eure Botschaft.“

John nickte und wartete ein paar Minuten, bevor er ihm aus dem Wirtshaus folgte und zu seinem Quartier ging. Jetzt, einige Zeit nach der pompösen Prozession, waren die Straßen menschenleer und geisterhaft, die Fensterläden geschlossen, und alles schien den Atem anzuhalten, gespannt auf das, was geschehen mochte.

Auf diesen Moment hatte er sehr lange hingearbeitet. Bald würde er sich tatsächlich einschiffen, und er fühlte sich irgendwie abgestumpft, weit entfernt von allem, was auf ihn zukam. Sollte er auf der Reise sterben, würde Sir Matthew die Ehre des Namens Huntley wiederherstellen. Und sollte John die Gefahren überleben, würde er den neuen Ruhm seiner Familie genießen. Doch das erschien ihm plötzlich seltsam hohl und unwichtig.

Nahe dem Flusshafen betrat er das Haus, in dem er eine Wohnung gemietet hatte, und stieg die Hintertreppe hinauf. Hier ging es lauter und lebhafter zu als in der restlichen Stadt. Denn den Hafenarbeitern war es nicht gestattet, sich zurückzuziehen, bis die Armada ihre Anker lichten würde. So viele Schiffe mussten für die lange Reise gerüstet werden, der Lärm wehte über die schiefen Dächer hinweg – Geschrei, knarrende Taue, heftig flatternde Segel.

Dies alles vernahm er sogar in seinen kleinen, dürftig eingerichteten Räumen. Seit Jahren gehörte dieser bescheidene Stil zu seiner Lebensweise. Mittlerweise wusste er kaum noch, wie es gewesen war, mehrere Monate am selben Ort zu verbringen, sich irgendwo heimisch zu fühlen. Er schnallte sein Schwert ab und warf den Waffengurt über eine Stuhllehne, öffnete sein Wams und füllte einen Becher mit Wein.

Doch er war nicht allein. Er spürte die Anwesenheit einer anderen Person, leise kratzte eine Feder über Pergament. Diesem Geräusch folgte er in sein Wohnzimmer, wo Peter de Vargas am Schreibtisch saß, den blonden Kopf über einen Brief gebeugt, den er in fieberhafter Eile schrieb, als würde ihm die Zeit davonlaufen. Wie den Männern, die ihre Seereise endlich antreten würden.

John erschrak nicht, da Peter sich oft in dieser Wohnung aufhielt. Hier fand er die Ruhe, die ihm im Haus seiner spanischen Familie nicht geboten wurde.

Und er hatte anscheinend viel zu erledigen. Was das sein mochte, hatte John noch nicht festgestellt. Peter war ein Sonderling, ein halber Engländer. Aber er setzte sich leidenschaftlich für die katholische Sache ein. Sie hatten sich in Madrid kennengelernt und angefreundet. Seither war Peter eine wertvolle Informationsquelle, was die Ereignisse im inneren Kreis des Königshofs betraf. John bemitleidete den bleichen jungen Mann, der für seinen Glauben brannte und sich so eifrig um Gleichgesinnte bemühte.

Nun blickte er auf, die rot umrandeten hellblauen Augen glühten wie im Fieber. „Ich habe dich nicht in der Kathedrale gesehen, John.“

„Dort bekam ich keinen Platz, das Kirchenschiff war überfüllt. Deshalb habe ich mir alles von der Straße aus angeschaut.“

„Fantastisch, nicht wahr? Dieser ermutigende Jubel, als der Duque die geheiligte Standarte hochhielt! Ganz sicher wird der Allmächtige uns mit einem Wunder beistehen.“

Dank der miserablen Kriegsvorbereitungen wird der spanische König dringend göttliche Hilfe brauchen, dachte John ironisch. „Hast du schon gegessen?“

„Heute ist ein Fastentag. Ich habe nur ein bisschen Wein getrunken. Diese Briefe muss ich wegschicken, bevor wir lossegeln.“

Autor

Amanda McCabe
Amanda McCabe schrieb ihren ersten romantischen Roman – ein gewaltiges Epos, in den Hauptrollen ihre Freunde – im Alter von sechzehn Jahren heimlich in den Mathematikstunden.
Seitdem hatte sie mit Algebra nicht mehr viel am Hut, aber ihre Werke waren nominiert für zahlreiche Auszeichnungen unter anderem den RITA Award.
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