Im Zeichen der Krähe: Die Seelwächterin & die Totenhüterin

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DIE SEELENWÄCHTERIN

Poetisch, berührend, magisch! Die neue Fantasy-Saga: Im Zeichen der Krähe.

Es ist die dunkelste aller seherischen Gaben, die Rhia besitzt: Ihr Totemtier, die Krähe, schenkt ihr das Wissen über den nahenden Tod. Rhia weiß: Es macht sie mächtig und verletzbar zugleich. Sie muss fort von ihrem Heimatdorf, nach Kalindos, wo die Krähenfrau Coranna sie in die Geheimnisse des Totenvogels einweihen wird.
Schon auf dem Weg dorthin begegnet ihr der geheimnisvolle Wolfsmensch Marek, der sie in einer sternenklaren Nacht zur Liebe verführt. Wenig später im neuen Dorf angekommen, muss Rhia ein großes Opfer bringen. Coranna verlangt, dass Rhia stirbt und sich wiederbeleben lässt. Nur dann kann sie Weisheit erlangen - und ihrem Volk im Krieg mit den Abtrünnigen beistehen!

DIE TOTENHÜTERIN

Schmerz, Verzweiflung, Sehnsucht ? Nacht für Nacht hört Rhia die Rufe der Verstorbenen. Und diese neue Dimension ihrer Gabe als Krähenfrau ist gefährlich: Rhias Seele droht im Jenseits gefangen genommen zu werden! In Asermos herrscht Krieg. Nur eine Vision gibt Rhia Hoffnung: Ihr Sohn, erst wenige Wochen alt, wird dem Land Frieden bringen! Doch das scheinen ihre Feinde zu ahnen. Sie entführen das Kind. Wenig später verschwindet auch ihr Mann Marek, Seelenträger des Wolfes. Verzweifelt macht Rhia sich auf die Suche. Um sich selbst, ihre Familie und ihr Volk zu retten, muss sie Kräfte entwickeln, die sie sich zuvor nicht einmal hätte vorstellen können! Denn ihr Weg führt sie in die Stadt der Abtrünnigen ? und in das Reich der Toten ?


  • Erscheinungstag 21.01.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783955765408
  • Seitenanzahl 880
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Jeri Smith-ready

Im Zeichen der Krähe: Die Seelwächterin & die Totenhüterin

1. KAPITEL

Der Hund würde nicht sterben.

Sicher, er war krank und schon kein Welpe mehr gewesen, als Rhias erste Erinnerung vor mehr als fünf Wintern den Horizont ihres Bewusstseins erhellt hatte. Er lag vor dem Feuer, hatte seinen schweren grauen Kopf in ihren Schoß gelegt und starrte ausdruckslos in die Flammen. Behutsam streichelte sie die drahtigen Haare an seinen Flanken. Sein Fleisch fühlte sich kalt an, und seine Rippen traten deutlich hervor. Selbst sein stockender Atem roch abgestanden wie ein halb geöffnetes Grab.

Alles deutete darauf hin, dass Boreas die Morgensonne nicht mehr erblicken würde. Und dennoch ...

Ihre Mutter Mayra stand vom Tisch auf und kam zu ihnen. Ihre Schritte raschelten leise auf dem Teppich aus Wolfshaut. Eine irdene Schale und ein blassgrünes Tuch in der Hand, kniete sie sich neben Rhia.

„Das wird ihm auf seiner Reise nach Hause die Schmerzen nehmen.” Sie zeigte Rhia den Inhalt der Schüssel – etwas Flüssigkeit, nicht mehr, als in die hohle Hand eines Kindes passte. Das war nicht genug.

Mayra breitete das Tuch über die Schüssel und begann zu singen. Leise und sanft rief sie ihren Schutzgeist Otter an, um die Wirkung der Medizin zu steigern.

Rhia schloss die Augen und versuchte, Angst und Trauer aus ihren Gedanken zu vertreiben. Die Schutzgeister konnten am besten wirken, wenn die Anwesenden ihnen aus dem Weg gingen.

Durch ihre geschlossenen Lider bemerkte Rhia, wie ein goldenes Licht aufglimmte, das die Farbe der Sonne an einem Herbstnachmittag hatte. Ein leises Plätschern und Mayras geflüsterter Dank verrieten ihr, dass Otter den Hilferuf erhört hatte. Als das Licht verblasste, öffnete Rhia die Augen und sah in die ihres Hundes. Tränen tropften auf seine Schnauze.

Mayra tauchte das Tuch in die halb volle Schüssel, um es zu tränken. Sie saßen da und horchten auf die einzigen Geräuschen im Raum – das angestrengte Schnaufen des Hundes und das Knistern der Funken in der steinernen Feuerstelle.

Dann hörte Rhia, wie Tropfen in die Schüssel fielen, als ihre Mutter das Tuch auswrang. Kein Tropfen durfte verschwendet werden, so viel wie möglich musste der Hund schlucken, um Erleichterung zu erfahren.

Selbst in seinem hohen Alter und mit dem gekrümmten Rücken war Boreas viel größer als Rhia. Stand er auf den Hinterbeinen, konnte er ihr die Pfoten auf den Kopf legen. Ein Jahr zuvor, als Rhia sich von einer Krankheit erholte, die ihre Muskelkraft schwinden ließ und ihr alle Kraft aus den Gliedern saugte, hatte Boreas zugelassen, dass sie seinen starken Rücken und seine Beine als Krücke benutzte. Und jetzt, in kalten Nächten wie dieser, wenn der Wind und die Wölfe draußen vor den Wänden aus Baumstämmen heulten, kuschelte sie sich neben seinem pelzigen Leib zusammen, eine seiner Vorderpfoten über ihre Schultern gelegt, und schlief warm und beschützt ein.

„Halt seinen Kopf, Liebes.”

Rhia fasste unter Boreas’ Schnauze und hielt sie hoch. Plötzlich atmete er heftig aus, es klang beinah wie ein Husten. Eine schwere Last schien von ihm abzufallen. Ein Geräusch wie das eilige Flattern schwerer Flügel erklang. Rhia stockte der Atem, und sie schaute sich um.

„Was ist los?”, fragte ihre Mutter.

Rhia sah in das verhärmte, durch Wind und Feuer gerötete Gesicht ihrer Mutter.

„Es ist noch nicht an der Zeit”, erwiderte sie.

„An der Zeit für was?”

„Dass er geht.”

Zärtlich sah Mayra ihre Tochter an. „Ich weiß, du wünschst dir, es wäre noch nicht so weit, aber ...”

„Er ist noch nicht bereit.” Sie unterdrückte ein Schluchzen und bemühte sich, mit fester Stimme zu sprechen. „Die Welt ist noch nicht bereit.”

Mayra kniff die Augen zusammen. „Warum sagst du das?” Rhia schaute nach Nordwesten, in die Richtung, aus der der Wind wehte. „Er nimmt einen Wolf mit sich, wenn er uns verlässt.”

Mit bebender Stimme flüsterte ihre Mutter: „Woher weißt du das?”

„Ich weiß es einfach.” Sie blinzelte, und ihre letzte Träne fiel, dieses Mal auf ihr Handgelenk. Jetzt aufzuhören bedeutete, die Magie ihrer Mutter zu verschwenden – eine Magie, die sie selbst eines Tages zu besitzen hoffte. Aber etwas, das nicht genau aus ihr selbst kam, bat sie um das Leben des Hundes. „Bitte, lass ihn nicht sterben, Mama. Warte bis zum Morgen, und du wirst sehen. Ich verspreche es.”

Mayras Augen leuchteten im Feuerschein, als sie Rhia mit einem Blick betrachtete, in dem mehr lag als nur Mitgefühl. Ihr Blick war schmerzerfüllt, wie damals, als Rhia krank gewesen war – und damals, das wurde ihr jetzt bewusst, hatte sie zum ersten Mal das Flügelschlagen gehört, das über die Landschaft ihrer Gedanken hinweggestrichen war.

Mayra streckte die Hand aus und strich Rhia eine ihrer rotbraunen Locken hinter das Ohr. Dann streichelte sie ihr mit dem Handrücken über die Wange. Ohne ein Wort zu sagen, stand sie auf und stellte die Schüssel mit dem Tuch auf den Tisch.

Anschließend schlurfte sie zu der Leiter, die zum Schlafboden führte, den sie sich mit ihrem Ehemann, Tereus, teilte, und kletterte hinauf.

Rhia schleppte ein schweres Holzscheit zum Herd und wuchtete es in die Flammen. Es fauchte und zischte wie eine Wildkatze, die in Bedrängnis geraten war. Als sie sich daran erinnerte, dass sie das Scheit noch vor ein paar Monaten genauso wenig hätte heben können wie ihr Haus, blinzelte sie es fast wohlwollend an. Auch wenn sie nie wieder so stark wie die anderen sein würde, ließen ihre Muskeln sie nicht länger im Stich. Sie taten nicht mehr so, als hörten sie nicht, was Rhias Wille ihnen befahl. Sie gehorchten, wenn auch widerwillig und langsam wie trotzige Kinder.

Seufzend wandte Rhia sich vom Feuer ab, legte sich hinter Boreas auf den Boden und schmiegte sich an seinen Rücken. Den Teppich aus Wolfshaut zog sie über sich und den Hund. Boreas stöhnte tief auf.

„Schlaf jetzt”, murmelte sie an der knotigen Erhebung seines Hinterkopfs. „Morgen früh wachst du wieder auf.”

Der Hund starb nicht. Er lebte noch zweieinhalb Jahre, bis Rhia fast elf Jahre alt war. Ein Rudel Wölfe versuchte, die Ponys von der Farm ihrer Familie in den Wald zu treiben. Und auch wenn er schon sehr betagt war, so war Boreas doch der erste der Hunde, der angriff und den Leitwolf tötete. Augenblicke später brach er unter der Anstrengung zusammen. Weil der Sommerboden zu trocken und hart war, um ein Grab zu schaufeln, bauten Rhia und ihre Familie gemeinsam für Hund und Wolf einen Hügel aus Steinen und sprachen dann ein Gebet zu Krähe, der beide Tiere sicher nach Hause führen sollte.

Rhias Vision musste irgendwie bekannt geworden sein, denn die Dorfbewohner begannen, das Mädchen einzuladen, um nach ihren kranken Hunden oder lahmen Ponys zu sehen. Sie wollte helfen, aber das Leid der Tiere machte sie traurig, und ihre Reisen auf die andere Seite erinnerten sie daran, dass sie als Kind fast selbst diesen Weg gegangen war.

Der bitterste Schlag kam, als Mayra, die Heilerin ihres Dorfes, sie nicht mehr mit in die Häuser von Patienten nahm. Während Rhias Kindheit hatten sie beide gehofft, dass der hebe, verspielte Otter auch sie berühren würde. Doch ein anderer Schutzgeist hatte sie erwählt – einer, der nicht das Leben umwarb, sondern das gefürchtete Gegenteil.

Eines Tages, nachdem Rhia gerade fünfzehn Jahre alt geworden war, kam Galen, der Anführer des Dorfrates, zu der Pferde- und Hundefarm ihrer Familie und mit ihm sein Sohn Areas. Es war ein kühler Spätnachmittag am Frühlingsanfang, als die Blätterknospen noch der Fantasie der Bäume zu entspringen schienen. Rhia reinigte gerade die Hundezwinger, als sie den Mann und den Jungen den steilen Hügel zu ihrem Zuhause hinaufkommen sah. Sie beeilte sich, das lange Haar zu ordnen und sich den Schweiß unter den Augen wegzuwischen. Vor Galen darf man nicht schlampig wirken, sagte sie sich und lächelte dann über den armseligen Versuch, sich selbst zu betrügen. Es war der Anblick von Areas, nicht von seinem imposanten Vater, der ihren Puls zum Rasen brachte und ihre Hände zittern ließ, bis sie sich fragte, was sie mit ihnen machen sollte.

Wann sie angefangen hatte, in Areas mehr als einen Spielgefährten aus der Kindheit zu sehen, vermochte sie nicht mehr genau zu sagen. Wahrscheinlich war es im vergangenen Monat geschehen, einen Augenblick bevor oder nachdem er sie hinter den Ställen geküsst hatte. Seit diesem Augenblick jedenfalls wurden ihr schon durch den bloßen Geruch nach Stalldung die Knie weich.

Rhia eilte auf das Haus zu, um nach ihren Eltern zu rufen, und blieb dann stehen, um noch einmal nach den zwei Männern zu sehen, denn etwas an ihnen war an diesem Tag anders. Ihre Schritte waren schwer, die gebräunten Gesichter wirkten ungewöhnlich ernst, die Köpfe waren geneigt, sodass sich das Sonnenlicht in ihren Haaren fing, die die Farbe von frisch bestellter Erde hatten. Das Haar von Areas reichte ihm den halben Rücken hinab, doch Galens strich nur über seine Schultern. Er hatte es im letzten Jahr kurz geschnitten, um den Tod seiner Mutter zu betrauern.

Wie immer hing eine einzelne braune Falkenfeder mit schwarzen Streifen und einer roten Spitze um Galens Hals. Jeder, der sie kannte und der die Magie eines Tieres besaß – und das war jeder Erwachsene, dem sie je begegnet war -, trug irgendeinen Fetisch seines Schutzgeistes, um seine Kräfte zu zeigen. Das war keine Prahlerei, sondern pure Höflichkeit, durch die man andere wissen ließ, mit wem sie es zu tun hatten. Zum Beispiel konnte so niemand dazu verleitet werden, einen Eulenmenschen austricksen zu wollen, der eine Lüge durchschaute, als wäre sie aus Luft.

Als sie noch etwa zehn Schritte entfernt waren, traf Galens scharfer Blick endlich auf Rhia. Etwas darin brachte sie dazu, sich in einen dicken Umhang hüllen zu wollen. Einerseits verspürte sie das Bedürfnis, sich gegen die Kälte zu schützen, andererseits wollte sie sich verbergen.

Mit einer Verbeugung hieß Rhia die Ankömmlinge willkommen. „Wie geht es Eurem Bruder?”, erkundigte sie sich und sah dabei Galen an.

„Nicht gut, Rhia. Danke der Nachfrage.” Er rang sich ein Lächeln ab, das ihr Unbehagen etwas milderte. „Sind deine Eltern zu sprechen?”

Sie nickte und streckte die Hand nach der Eingangstür aus, die sich öffnete, ehe sie sie berührt hatte.

„Galen, seid gegrüßt.” Ihr Vater hatte sich für die Gäste umgezogen, trug saubere Schuhe und ein rostrotes Hemd, das zu seinem Haar passte, das frisch gekämmt aussah und zu einem langen Zopf geflochten seinen Rücken hinabhing. Eine einzelne weiße Schwanenfeder, die durch die langen Tage auf der Farm etwas staubig geworden war, baumelte ihm an einer Lederkordel vom Hals, als er sich verbeugte. „Wir haben Euch erwartet.”

Mayra erschien an Tereus’ Seite und nahm seinen Arm. Ihre dünnen Lippen bebten, als sie zwischen Rhia und dem Ratsvorstand hin und her sah. „Bitte, kommt herein.”

Galen übertrat die Schwelle, drehte sich um und streckte seine Handfläche auf eine Art aus, die Rhia und Areas auf eindeutige Weise vermittelte, dass sie draußen bleiben sollten.

Die Tür schloss sich, und Rhia wandte sich ihrem Freund zu.

„Warum haben sie mir nicht gesagt, dass du und dein Vater kommt?” Sie hätten ihr wenigstens die Gelegenheit geben können, sich das Gesicht zu waschen und das Heu aus dem Haar zu kämmen. Aber jetzt wurde ihr klar, dass Mayra und Tereus sich beide so verhalten hatten, als würden sie sie beobachten und gleichzeitig meiden. „Und warum dürfen wir nicht zuhören?”

Areas zuckte mit den Schultern. „Mein Onkel ist sehr krank. Vater möchte wahrscheinlich deine Mutter um ihren weisen Rat bitten.”

„Aber er hat nicht nach meiner Mutter gefragt. Er hat nach meinen Eltern gefragt. Findest du das nicht geheimnisvoll?”

Langsam breitete sich ein Lächeln auf Areas’ Gesicht aus. „Wenn du sechzehn Jahre lang mit meinem Vater lebst, gewöhnst du dich an seine Geheimnisse.”

Rhia wandte sich ab von Areas’ Grinsen, das ihr die Zehen erwärmte. „Ich muss den Hunden noch Wasser geben.”

Areas folgte ihr in den Hundezwinger. Die großen grauen Biester scharten sich um ihn, als wäre er selbst das Abendessen. Mit beiden Händen klopfte er sich auf die breite Brust, und zwei der Hunde legten ihre Pfoten auf ihn und leckten ihm das Gesicht ab. Rhia bemerkte, dass er zum ersten Mal größer war als die Tiere.

„Es ist nicht gut für ihre Rücken, so zu stehen.” Sie hob die zwei schmutzigen Wassernäpfe hoch.

„Tut mir leid. Aus!”, rief er den Hunden spielerischer zu, als dass sie gehorcht hätten.

Sie verließen den Zwinger und gingen zu Mayras Kräutergarten, wo Rhia das restliche Wasser aus den Näpfen schüttete.

„Außerdem”, sagte Areas, „sollte ich deinen Hunden kein schlechtes Benehmen beibringen. Wenn sie dich je so anspringen, werden deine kleinen Knochen zu feinem Mehl zerquetscht.”

Rhia versuchte, ihn wütend anzustarren, auch wenn es ihr besser gefiel, für ihre körperlichen Unzulänglichkeiten verspottet als bemitleidet zu werden. Areas war einer der wenigen Menschen, der sie nicht wie ein rohes Ei behandelte.

„Für diese Bemerkung gehst du an die Pumpe.” Sie warf ihm einen der Eimer zu.

„Du bist jetzt ein großes Mädchen, du schaffst das schon.” „Das ja, aber ich würde dir lieber dabei zusehen.”

Areas wurde tatsächlich rot, als er sich bei der Pumpe neben dem Garten hinkniete. Der Hebel quietschte, als er ihn anhob.

„Ehe du es merkst”, erwiderte er scherzend, „bist du auf und davon in den Wald zu deiner Weihung.”

Beim Gedanken daran, die dunklen Wälder zu betreten, musste sie ein Schaudern unterdrücken. „Ich bin zu beschäftigt. Wenn mein Schutzgeist mir meine Gabe verleihen will, kann er sie hierher bringen.”

„Die Geister verleihen keinem Macht, der sich vor ihnen versteckt.” Er pumpte das Wasser mit langsamem, gleichmäßigem Rhythmus in den Eimer. „Bis auf Maus vielleicht.”

„Ich bin nicht Maus!” Rhia schleuderte Areas fast den anderen Napf an den Kopf.

Schützend hielt er sich den Arm vors Gesicht und lachte, doch dann wurde seine Stimme ernst. „Jeder weiß, was du bist.”

Sie atmete scharf ein. „Sag es nicht.”

Einen langen Augenblick starrten sie einander an. Jeder weiß es? Sie fragte sich, ob diese stille Ubereinkunft es wahr machte. Leugnen würde den Lauf des Schicksals nicht ändern, genauso wenig, wie man einen Wolf verjagte, indem man ihm den Rücken zukehrte. Aber sie war noch jung und hatte noch Zeit, so zu tun, als wäre ihre Zukunft eine offene Lichtung und kein schmaler Waldweg.

Rhia kniete sich neben Areas, um ihren Napf auszuwaschen, und scheuerte das Innere dann mit einer Bürste aus Pferdehaar. Wenn sie nur auch ihren Verstand so einfach von verstörenden Gedanken befreien könnte. „Wahrscheinlich gehst du als Erster, weil du älter bist.”

„Das ist ein Geheimnis, das Vater nicht für sich behält.” Areas setzte sich in der Hocke zurecht und sah auf die fernen Wälder hinaus. „Wenn irgendwer außer Bär in der Nacht im Wald zu mir kommt, sterbe ich vor Schreck.”

„Hauptsache, du bist kein Bärenmarder. Das sind nutzlose Störenfriede.” Sie warf die Bürste zur Seite und riss mit besonders viel Kraft am Hebel der Pumpe. Ihre älteren Halbbrüder Nilo und Lycas – Zwillings-Bärenmarder – hatten sie, seit sie laufen konnte, gequält, bis zu dem Tag, an dem sie mit sechzehn Jahren in ihr Haus gezogen waren. Da war Rhia elf gewesen. Sie und ihre Eltern hatten sich schnell an den Frieden gewöhnt, den der Weggang ihrer Brüder hinterließ, auch wenn es Zeiten gab, in denen sie vermisste, wie die beiden sie zum Lachen brachten.

„Wir brauchen Bärenmarder, wenn es je wieder Krieg gibt”, sagte Areas.

Der Hebel glitt ihr aus den Fingern, und das Metall schepperte in der Stille. Sie sprach, ohne sich zu ihm umzudrehen. „Auch Bären werden dann gebraucht.”

Er stieß verächtlich die Luft aus. „Mach dir keine Sorgen um mich. Bären planen Kriege. Wir kämpfen nicht in ihnen.” Auf ihren misstrauischen Blick hin fügte er hinzu: „Normalerweise. Außerdem ist das nicht deine Sorge.”

„Ist es doch, weil ...” Sie stand auf und wählte ihre Worte mit Bedacht. „Weil so viele Bären und Bärenmarder berufen worden sind. Papa sagt, das ist seltsam. Es bedeutet, der Krieg hält in Asermos Einzug.”

„Nicht unbedingt.”

Seine Gleichgültigkeit brachte sie dazu, die Hände zu Fäusten zu ballen. „Die Geister tun alles aus einem bestimmten Grund”, sagte sie. „Wenn niemand jemals krank würde, bräuchten wir keine Heiler, keine Otter und Schildkröten. Wenn niemand Träume hätte, bräuchten wir keine Schwäne -wie Papa -, um sie zu interpretieren. Und wenn es keine Kriege gäbe, bräuchten wir dich nicht. Oder meine blöden Brüder.”

Areas nahm beide Näpfe hoch und wendete sich dem Hundezwinger zu. „Du machst dir Sorgen um Dinge, die du nicht einmal sehen kannst. Das ergibt keinen Sinn.”

„Sinn hat damit nichts zu tun.” Sie folgte ihm. „Du weißt, ich habe recht.”

Er lachte sie über seine Schulter hinweg an. „Du hast immer recht.”

So zu tun, als würde er sich ergeben, war seine Art, das Thema zu wechseln. Sie dachte scharf über ein unverfängliches Thema nach, war jedoch zu neugierig auf seine baldige Bär-Werdung.

„Gibt es Bärenklauen, die du als Fetisch tragen kannst?” Sie hatte noch nie eine aus der Nähe gesehen.

„Nicht bis wir den nächsten Bären erlegen, und das kann noch Jahre dauern.” Er senkte die Trinkeimer über den Rand des Zwingers. „Bis dahin trage ich eine geschnitzte Klaue.”

„Macht die dein Vetter Jano für dich? Seine Fetische sind so hübsch.”

„Sollten sie auch sein. Er ist der Künstler der Familie. Die Spinne, versteht sich.” Areas sah sich um, als wolle er sichergehen, dass sie allein waren. „Darf ich dir etwas zeigen?”

Sie nickte und wartete. Er fasste in seine Hosentasche und zog dann seine Hand heraus.

„Komm näher.” In seiner warmen Stimme lag ein leichtes Zittern, und sein Blick wirkte seltsam verwundbar.

Rhia ging näher zu ihm. Ihr Kopf reichte kaum an sein Kinn heran, und sie hätte schwören können, seinen Atem auf ihrem Haar zu spüren, aber wahrscheinlich war das nur der Wind. Sie beugte sich über seine Handfläche, die er eng an seinen Bauch gedrückt hielt. Er öffnete sie und zeigte ihr eine kleine Schnitzerei, nicht länger als ihr Daumen.

„Das ist für deine Mutter”, erklärte Areas. „Nimm es ruhig.” Rhia ergriff das Stück Holz und hielt es dicht vor ihr Gesieht. Ein Otter stand auf seinen Hinterfüßen, die Pfoten vor der Brust verschränkt, und trug den Ausdruck intelligenten Staunens auf dem winzigen Gesicht.

„Wie schön. Er sieht aus, als würde er mich bitten, mit ihm im Fluss herumzutollen.” Sie drehte es in der Handfläche um. „Aber wie einer von Janos sieht er nicht aus.”

„Das hegt daran, dass es nicht von ihm ist.” Unsicher sah er sie an, bevor er zu Boden schaute. „Sondern von mir.”

Erstaunt keuchte Rhia auf. „Du hast das gemacht?”

Areas kratzte sich im Nacken und starrte auf seine Füße, mit denen er im feuchten braunen Gras herumscharrte. „Ich dachte, wenn deine Mutter einen neuen braucht – oder einen extra, nur für den Fall. Sie hat so viel dafür getan, Großmutters Schmerzen zu lindern, als sie im Sterben lag.”

Das war eine sehr hebe Geste. Ottermenschen mussten sich normalerweise damit zufriedengeben, eine Schnitzerei zu tragen, die ihren Geist abbildete, weil es ungerecht war, ein so seltenes Tier nur um des Fetischs willen umzubringen. Von jedem anderen Jungen, dachte Rhia, wäre ein solches Geschenk ein Versuch, sich bei den Eltern der Zukünftigen einzuschmeicheln. Aber Areas hatte ein großes Herz, so groß wie der Rest von ihm, und sie fragte sich, ob es je ihr allein gehören würde.

Sie legte ihm den Otter zurück in die Hand, sah sich seine Hände an, die im Gegensatz zu ihren riesig wirkten, und fragte sich, wie diese Hände etwas so Feines hatten erschaffen können. „Hast du ihn sonst jemandem gezeigt?”

Er schüttelte den Kopf. „Warum sollte ich? Es ist nur eine dumme Sache, mit der ich mir beim Hüten der Schafe die Zeit vertreibe.”

„Vielleicht bist du auch eine Spinne.”

„Nein. Bär. Vater irrt sich in diesen Dingen nie.” Er schob den Unterkiefer vor, und sie beschloss fast, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Aber wenn er wirklich Spinne war, dann konnte er Waffen herstellen, statt sie zu benutzen, und dann wäre er in Sicherheit und würde eines Tages alt und grau werden, ehe sie hören musste, wie die Flügel sich auf seine ... Hör auf damit! In Gedanken gab Rhia sich selbst eine Ohrfeige. Es brachte nichts, über diese Dinge nachzudenken, und mehr als alles andere wollte sie von Nutzen sein.

„Du solltest deinem Vater von deinen Talenten erzählen”, sagte sie. „Vielleicht ändert er dann seine Vorhersage.”

„Bist du mit deinen Aufgaben fertig?” Areas warf einen Blick zum Haus und dann zu Rhia. „Ich glaube nämlich, ich habe letztes Mal, als ich hier war, etwas hinter den Ställen vergessen.”

Er nahm ihre Hand, ehe sie antworten konnte. Zwei kastanienbraune Ponys hoben ihre Köpfe und sahen dabei zu, wie sie den Hügel hinunterrannten, ehe sie sich wieder ihrem friedlichen Grasen zuwandten.

Mit dem Rücken gegen die Stallwand und knöcheltief im süß duftenden Gras, zog Rhia Areas an sich, bis er nur noch ein kurzes Stück entfernt war. Seine Lippen streiften ihre Stirn und den Augenwinkel, und sie atmete den süßen Moschusduft an seinem Hals ein.

„Ist das nicht besser, als über einen Krieg zu reden, den es gar nicht gibt?”, fragte er sie.

„Hier drinnen gibt es ihn.” Sie tippte sich an die Schläfe. „Dort gibt es so viele Sorgen, die alle von mir Gehör verlangen.”

Areas hob ihr Kinn mit einem Finger an. „Dann lass mich sie beruhigen.”

Er küsste sie sanft, und sie erschauerte noch heftiger als beim ersten Mal – nicht nur durch den Kuss selbst, sondern von dem, was danach kam, wonach er sie verlangen ließ. Sie schob die Hände in sein Haar und presste ihre Lippen fester auf seine. Wenn sie bloß nicht so jung wären ...

Mädchen und Jungen ihres Alters hatten kaum Gelegenheit, allein zu sein. Eltern zu werden bedeutete, ihre Gaben auf die nächste Stufe zu erheben, und wenn das geschah, ehe man die Gaben der ersten Phase verstand – oder noch schlimmer, ehe sie einem überhaupt geweiht worden waren -, wäre es wie fliegen lernen, ehe man kriechen konnte. Rhia fand es ungerecht, dass die Bräuche der Geister so weit an den Bedürfnissen junger Körper vorbeigingen, von denen sich ein besonders muskulöser gerade an ihren drängte.

Eine ferne Stimme rief ihren Namen. Seufzend löste sie sich von Areas’ Lippen. „Das ist mein Vater”, sagte sie.

Er schlang die Arme fester um ihre Taille. „Seine Stimme trägt ziemlich weit, oder?”

Rhia lachte und löste sich aus seiner Umarmung, um den Hügel hinaufzurennen. Ihr wurden schon nach wenigen Schritten die Beine müde. Sie drehte sich um, um rückwärts zu gehen, damit sie zusehen konnte, wie Areas ihr mit seinem langsamen, aufmerksamen Schlenderschritt folgte, ein Bär im Körper eines Mannes, das stand fest.

Ihr Absatz verfing sich im Saum ihres langen Rockes, und sie stolperte in den Matsch. Der Boden fing ihren Fall auf. Areas krümmte sich vor Lachen, was seine Beine so sehr zu schwächen schien, dass sie den Hügel nicht länger erklimmen konnten. Rhia rappelte sich vom Boden auf und versuchte, sich mit aller Würde, die sie noch aufbringen konnte, den Dreck vom Hinterteil zu wischen. Ihre schlammigen Hände verschmierten den Fleck auf ihrem hellgrünen Rock zu einem breiten braunen Striemen. Die Kreatur, die Ungeschick verkörperte, welche es auch sein mochte, musste ihr Geist sein.

„Da bist du ja.”

Mayra stand hinter ihr, und neben ihr standen Galen und Tereus. Die drei sahen Rhia ungewöhnlich eindringlich an.

„Galen möchte mit dir sprechen.” Tereus streckte seiner Tochter die Hand entgegen. „Komm herein.”

„Du bleibst hier”, sagte der Ratsvorstand zu seinem Sohn. Die vier betraten gemeinsam das Haus und setzten sich an den hölzernen Tisch. Einige Augenblicke lang sprach niemand, und Rhias Füße begannen, unruhig zu werden. Die Zehen an ihrem rechten Fuß zogen den Absatz ihres linken Schuhs mehrere Male an und aus, und dann tat der linke Fuß es ihm gleich.

Endlich räusperte ihre Mutter sich. „Galen hat gute Neuigkeiten.” Die Männer sahen sie verwirrt an. „Das heißt, er hat Neuigkeiten”, sagte Mayra. „Vielleicht sind sie gut.”

Galen seufzte und wandte sich an Rhia. „Ich brauche deine Hilfe.”

Rhia sperrte den Mund auf und schloss ihn genauso schnell wieder. Sie hatte noch nie erlebt, wie Galen einen Erwachsenen um Hilfe bat, ganz zu schweigen von einem Mädchen ihres Alters.

„Was soll ich – äh, was kann ich tun? Für Euch. Was kann ich für Euch tun?”, stammelte sie.

Gequält kniff Galen die dunkelblauen Augen zusammen. „Wie du weißt, ist mein Bruder Dorius sehr krank. Deine Mutter sagt, sie kann nichts mehr für ihn tun.”

Rhia nickte. „Das tut mir leid.”

„Du könntest ...” Sein Kiefer zitterte. „Wenigstens würde ich es dann wissen. Wissen, was kommt und wann.”

Rhia sah erst ihre Eltern an, dann Galen. „Ich verstehe nicht.” „Du hast die Macht”, platzte es aus ihm heraus. „Du weißt, wann der Tod kommt.”

Ihr wurde ganz schwindelig.

„Die Tiere”, sagte Galen. „Es hat mit deinem Hund angefangen. Ich habe Geschichten gehört. Und außerdem ...” Er straffte sich und sah wieder mehr wie der mächtige Mann aus, der er war. „Zu erkennen, was die Gabe von anderen ist, ist eine von meinen. Eine meiner Gaben. Sag mir, wenn du ein krankes Tier siehst, woher weißt du dann, ob es leben wird oder sterben muss?”

Sie wandte ihren Blick ab. „Das ist nur so ein Gefühl.” „Beschreib es mir.”

Rhia atmete tief ein und konzentrierte sich auf die Worte statt auf den Drang, wegzurennen. „Ich sehe sie an, sehe in ihre Augen und höre einen Vogel. Es klingt verrückt, aber wenn der Vogel davonfliegt, dann lebt die Kreatur, und wenn er landet, muss das arme Ding sterben. Und wenn er fliegt, dann weiß ich, wie er zurückkommen wird.”

„Wie wer zurückkommen wird?”, fragte Galen.

Sie antwortete nicht, sondern starrte nur auf einen Knoten in der hölzernen Oberfläche des Tisches. Sie wollte einen Finger hineinstecken und den Schlingen bis in die dunkle Mitte folgen, aber das, glaubte sie, würde unter den Umständen wohl zu kindisch wirken.

„Antworte ihm, Rhia”, forderte ihre Mutter sie sanft auf. „Krähe”, flüsterte sie. „Krähe kommt und nimmt sie mit auf die andere Seite. Und ich sehe dabei zu.” Noch leiser flüsterte sie: „Ich hasse es.”

Niemand hörte ihren letzten Satz, oder wenn doch, ließen sie es sich nicht anmerken. Galen schob seinen Stuhl über den Boden zurück und stand auf.

„Wirst du mir helfen, Rhia?”, fragte Galen. „Kommst du und siehst dir meinen Bruder an?”

Sie blickte zu ihm auf und zitterte. „Ihr wollt, dass ich es mit einem Menschen versuche?”

„Das ist deine Gabe”, sagte er. „Du hast die Gabe der Krähe.”

2.KAPITEL

Als sie sich dem Haus von Dorius, Galens älterem Bruder, näherten, dämmerte es bereits. Tereus war zu Hause geblieben, um sich um eine Stute zu kümmern, die kurz vor dem Abfohlen stand, aber Rhias Mutter ging neben ihr und hielt die Hand ihrer Tochter so fest, dass die ihre Mutter zweimal daran erinnern musste, sie nicht zu zerquetschen. Galen schritt ihnen eilig voraus, während Areas hinter ihnen hertrödelte. Rhias Beine schmerzten, aber wenn sie sich beschwerte, machte Mayras Aufregung alles nur noch schlimmer. So sah sie sich nach einer Ablenkung um.

Stille legte sich über das Dorf Asermos, auch wenn noch ein paar Dutzend Menschen über die breite Hauptstraße eilten, die an dem schläfrigen Fluss vorbeiführte. Ponys und Esel zogen ratternde Karren, auf denen Säcke voller Wolle, Korn oder frühem Frühlingsgemüse lagen. Die Tiere trotteten die sandige Straße hinab bis dorthin, wo die Boote im Hafen dümpelten. Kleine Gruppen aus Zechern gingen ihren Weg von einer Taverne zur nächsten, und einige von ihnen scherzten in Dialekten, die Rhia zuvor kaum gehört hatte. Jetzt, da der Fluss genug aufgetaut war, um eine Uberfahrt zu garantieren, erweckte das im Winter aufgestaute Bedürfnis nach Waren und Gesellschaft das Dorf zum Leben.

Nahe dem Eingang zur Taverne „Zum Fangzahn” lehnte ein großer, breitschultriger Mann am Gebäude aus Stein und Putz und rauchte eine Pfeife. Ein scharfer holziger Geruch ließ Rhia die Nase rümpfen, als sie vorbeigingen. Sie sah sich noch einmal nach ihm um. Sein glattes blondes Haar war im Nacken zu einem kurzen Knoten gebunden, und seine Augen funkelten im Licht der Laterne, während er die Stadt missbilligend betrachtete. Eine maßgeschneiderte Weste aus Brokatsamt und das lange, elegante Schwert an seiner Hüfte ließen ihn nicht nur in Asermos, sondern in der ganzen Gegend fehl am Platz wirken. Die grobe, einfache Kleidung ihrer eigenen Leute passte zu ihrem ländlichen Leben, und niemand würde es sich einfallen lassen, eine Waffe so leichtfertig wie ein Taschentuch zu tragen. Außerdem trug der Fremde keinen Fetisch, den Rhia erkennen konnte. Missbilligend runzelte sie die Stirn.

Die Alten sprachen oft von Männern aus dem fernen Süden – Nachfahren nannte man sie -, denen es an magischen Kräften fehlte und die menschengemachte Götter verehrten. Die Erinnerung an die imposante Gestalt des Mannes blieb, bis sie die schmale Straße erreichten, in der Dorius lebte.

Sie hatte Dorius mehrere Monate lang nicht gesehen. Er hatte schon über ein Jahr unter Muskelzuckungen und Schwäche gelitten, ehe er letzten Herbst bettlägerig geworden war. Als sie noch ein Kind gewesen und mit Areas gekommen war, um mit seinen Vettern zu spielen, hatten Dorius und seine Frau Perra immer dafür gesorgt, dass die Jungen Rhia bei ihren Spielen nicht ausschlössen.

Ihre Schritte wurden langsamer, als sie sich der Tür des blassgrün verputzten Hauses näherten. Was, wenn sie Dorius’ Tod sah? Wie konnte sie diesem freundlichen Mann, der vorzeitig gealtert war, in die Augen sehen und ihm sagen, dass keine Hoffnung bestand? Sie sprach ein stummes Gebet zu Krähe, dass er sein Leben und ihren Verstand beschützen möge.

Galen klopfte an die dunkle Holztür, die sich sofort öffnete. Perra nickte jedem von ihnen zu, ohne ein Wort zu sagen. Ihre großen grauen Augen waren voller Sorge. Es schien ihr schwerzufallen, ihre Gesichtszüge neutral zu halten, als sie Rhia ansah.

Das Bett stand an der gegenüberliegenden Wand auf einem geschnitzten Holzrahmen. Eine dürre Gestalt zeichnete sich unter der Decke ab. Galen führte Rhia ans Bett und legte seinem Bruder die Hand auf die Schulter.

Dorius erwachte schnaufend und sah sich um. Sein Blick aus trüben braunen Augen ruhte auf Rhia, und sie ließ den Atem, den sie seit ihrem Eintreten angehalten hatte, aus. Der schwache Klang von Flügelschlagen war nicht zu überhören. Der Tod des Mannes stand weder kurz bevor noch war er unumgänglich.

„Wir warten draußen”, flüsterte Galen.

Nachdem sie gegangen waren, schob Rhia einen Stuhl neben das Bett und setzte sich. Dorius sah ihren Bewegungen zu, ohne ein Wort zu sagen. Seine blasse Haut und seine tiefen Augenringe ließen ihn so zerbrechlich wirken wie seinen Geist, den Schmetterling. Jetzt, da sein Sohn Jano verheiratet war und ein eigenes Kind hatte, hätten Dorius’ Gaben der Verwandlung in die dritte und letzte Phase eintreten sollen, bis zu dem Punkt, an dem er seinen geschundenen Körper erneuern konnte. Doch die Krankheit schwächte ihn zu sehr, als dass seine Magie wirken könnte, weder für sich selbst noch für andere.

„Ich habe Galen gebeten, dich zu bringen.” Die Stimme von Dorius war kaum mehr als ein Flüstern, als wäre sie ihm auf die andere Seite vorausgegangen und hätte nur einen Geist ihrer selbst zurückgelassen. „Es tut mir leid, wenn es dir Angst macht.”

Rhia schüttelte den Kopf, aber sie merkte selbst, wie leicht ihre Lüge zu durchschauen war.

Er legte eine schlaffe Hand auf ihre. In ihr war nur noch eine Spur Wärme, so wie in abgestandenem Badewasser. „Mein Bruder sagt, du wüsstest es.”

Tat sie das? Eine Wolke legte sich über ihr Bewusstsein. „Was glaubt Ihr, was mit Euch geschehen wird?”, fragte sie ihn.

Er lehnte seinen Kopf zurück. Graues und braunes Haar breitete sich über das Kissen aus und berührte seine Schultern. „Ich werde nie mehr sein, was ich war”, sagte er und sah an die Decke.

Rhias Herzschlag beschleunigte sich. Die Tiere, die sie besuchte, beschwerten sich nie darüber, alt oder krank zu werden. Sie hatten nur vor Schmerzen Angst, nicht vor dem Tod. Während ihrer eigenen Krankheit hatte sie mit aller Macht um das Leben gekämpft. Jeder erfolgreiche Atemzug erfüllte sie mit unsicherem Dank. Hier lag ein Mann vor ihr, der den Willen zu leben verlor. Nicht weil er leiden musste, sondern aus Stolz.

„Natürlich nicht!” Sie versuchte, nicht allzu hart zu klingen, aber die Worte flössen aus ihr heraus wie eisiges Wasser. „Wir sind nie, was wir einst gewesen sind. Wir werden geboren. Wir leben, und wenn wir Glück haben, werden wir alt. Dann sterben wir.” Ein anderer schien durch sie zu sprechen.

Schockiert starrte Dorius sie an, doch sie fuhr fort. „Versteht Ihr nicht? Jedes Mal, wenn wir uns verändern, ist es wie sterben, selbst wenn unsere Körper kräftig bleiben. Manchmal müssen wir die Person, die wir gewesen sind, hinter uns lassen.” Sie drückte seine kalten Finger. „Dorius, Ihr solltet das vor allen anderen verstehen. Wir können nicht ewig Raupen sein.”

Er runzelte die Stirn. „Ich weiß, dass ich kein junger Mann mehr bin. Ich bitte nicht darum, wieder jung zu sein. Ich will nur nicht ...”

„Nutzlos sein?”

Als er sie ansah, blitzten seine Augen verständig auf. „Ich bin Perra eine Last. Ich kann mich nicht um die Schafe kümmern, ich kann nicht einmal meinen eigenen Enkel hochheben. Und meine Magie ist fort.”

„Aber Ihr seid es nicht.”

„Was meinst du damit?”

„All diese Dinge – Ehemann, Großvater, Schäfer, Magiebeschwörer -, sie sind wie ... die Biegungen eines Flussufers.”

„Das verstehe ich nicht”, sagte Dorius.

„Sie geben dem Fluss Form und bestimmen seinen Weg. Aber das Wasser selbst bleibt gleich, egal, woran es vorbeifließt und was es zurücklässt. Unter allem, was man anzieht und ablegt, bleibt eine Sache immer unverändert: die Seele.” Sie berührte seinen Arm. „Die Seele des Schmetterlings.”

Rhia setzte sich in dem Stuhl zurück und fragte sich, was die Quelle dieser Worte gewesen sein mochte. Sie dachte schon seit Jahren über diese Dinge nach, besonders während ihrer Krankheit hatte sie das getan, doch bis jetzt hatte sie sie niemals ausgesprochen.

Endlich erwiderte Dorius: „Dann liegt es also an mir, nicht wahr?”

„Ja.” Rhia stand auf. Ihr zitterten die Beine. „Jetzt erhebt Euch.”

Er sah sie fassungslos an. „Das kann ich nicht.”

„Tut es.” Ihre Stimme bebte. Sie war es nicht gewöhnt, Erwachsenen Befehle zu erteilen, aber das war der einzige Weg, ihm das Leben zu retten.

Er deutete auf seine Beine. „Ich bin seit Monaten nicht gegangen.”

„Dann kriecht.”

Dorius begann, die Bettdecke zurückzuschlagen, doch dann zögerte er. „Wie lange bleibt mir noch?”

Rhia improvisierte, um ihre Unsicherheit zu überspielen. „Wenn Ihr im Bett bleibt, höchstens noch einige Tage. Wenn Ihr jetzt aufsteht, weiß ich es nicht. Diesen Pfad kann ich noch nicht sehen, weil Ihr nicht getan habt, worum ich Euch bat.” Innerlich erschauerte sie ob der eigenen Unverschämtheit, aber sie hielt ihr Kinn erhoben. „Ich helfe Euch, wenn Ihr Hilfe braucht.”

Er winkte ab und hievte seine Beine, die von monatelangem Nichtstun abgemagert waren, stöhnend über die Bettkante. Rhia schob ihren Stuhl in seine Reichweite. Er legte den Arm, auf dem bereits der Schweiß glänzte, auf die Sitzfläche. Sie legte sich seinen anderen Arm um die Schultern und ignorierte sein stolzes Flehen.

Einen Augenblick saß er still da. Und dann erhob sich Dorius unter großer Anstrengung. Während sie gemeinsam unsicher schwankten, atmete Rhia durch.

Die Krähe war davongeflogen.

Sie stieß einen Freudenschrei aus. Die Tür sprang auf, und die anderen eilten herein. Perra nahm Rhias Platz ein, und Galen ergriff den anderen Arm seines Bruders.

„Bringt ihn nach draußen”, sagte Rhia.

Langsam näherten sie sich der Tür. Rhia ging vor, um sie weiter zu öffnen. Sie drehte sich um und sah, wie Dorius sie dankbar anblickte. Ihr Herz schwoll an. Er würde leben, er würde heilen, er würde ...

Bei allen Geistern, nein. Er würde sterben.

Sie schlug die Hand vor den Mund und konnte den Schrecken über die Vision in ihren Gedanken nicht verbergen.

Dorius wand sich in einem Laubhaufen auf dem Boden, der mit Blut befleckt war, Blut, das in sein Hemd gesickert war und zwischen seinen Fingern hervorquoll, als er versuchte, es aufzuhalten. Mit seinem letzten rasselnden Atemzug rief er den Namen seiner Frau.

Er starb allein.

Rhia hörte in dem Lärm der Schlacht kaum den eigenen Schrei. Jemand zerrte sie aus der Tür, aus Dorius’ Blickfeld.

Die Vision verschwand, und die Welt um sie herum verdunkelte sich.

Schaudernd erwachte Rhia. Der Boden unter ihrem Rücken war hart. Ihre Mutter entfernte etwas, das einen bitteren Geruch ausströmte, von ihrer Nase.

„Sie ist wach”, sagte Mayra.

Uber sich sah Rhia das Gesicht von Areas, das von tiefen Sorgenfalten durchzogen war. Feuer beleuchtete sein Haar und seine Haut.

Eine grobe Decke lag über ihr und juckte auf ihrer Haut. Rhia schlug sie zurück und spürte die Kühle des Abends. „Wo bin ich?”

„Im Haus meines Onkels und meiner Tante”, antwortete Areas.

Sie setzte sich sofort auf, und ihr schwindelte. „Dorius?”

„Es geht ihm gut.” Ihre Mutter lehnte sich gegen Rhias Schulter, um sie zu stützen. „Er ist draußen, mit Perra, und genießt die Nachtluft.”

„Wie spät ist es? Wie lange war ich ...”

„Nicht lange, vielleicht eine Stunde.” Mayra legte eine Hand auf Rhias verschwitzte Stirn. „Wie fühlst du dich?”

„Das ist nicht wichtig. Dorius – ich habe gesehen ...” „Nein!”

Vom Licht des Feuers in Schatten gehüllt, tauchte Galen hinter ihrer Mutter auf. „Sprich nie vom Tod, wenn er nicht kurz bevorsteht. Verstehst du?”

„Aber da war ...”

„Niemals!”

Sie schloss den Mund.

Areas kniete sich neben sie und sah zu seinem Vater hinauf. „Das hättest du ihr sagen sollen, bevor wir hineingegangen sind.”

Galens Augen blitzten auf. Dann blinzelte er einmal fest und seufzte. „Das war ein Fehler. Ich dachte, Dorius bliebe keine Hoffnung und sie würde nichts weiter sehen.”

„Dann ist es eine gute Sache, dass sie die Krähe ist und nicht du.” Rhia sah, wie Areas blass wurde, als ihm aufging, dass er zu weit gegangen war.

Galen sah ihn kalt an. „Warte draußen auf mich.”

Nach einem letzten Blick auf Rhia gehorchte Areas. Die Tür schlug zu.

Galen setzte sich mit verschränkten Beinen auf den Boden zu ihnen. „Es tut mir leid”, sagte er zu Rhia. „Es tut mir leid, dass du leiden musstest, dass du den wahren Tod meines Bruders sehen musstest. Deine Gabe ist die, mit der es sich fast am schwersten leben lässt.”

Angesichts dieser Untertreibung verkniff Rhia sich eine Antwort.

„Die Zeit ist gekommen”, fuhr Galen fort, „deine Gabe anzunehmen, ehe sie dich überwältigt.”

Rhia musste schlucken. „Ich muss in den Wald ziehen?” „Nicht nur das.” Er hob seinen Kopf und sprach mit Mayra. „Rhia muss bei jemandem lernen, der ebenfalls die Magie der Krähe besitzt. Ich habe eine Nachricht an eine Frau namens Coranna geschickt, die in Kalindos lebt, einige Tagesmärsche entfernt vom Ort der Weihung.” Er wendete sich wieder an Rhia. „Sie wird dich in der Kunst der Krähe unterweisen.”

Rhia schlang die raue Decke enger um sich, um das Zittern zu unterdrücken. „Wie lange werde ich dortbleiben?”

„Die Magie ist kompliziert, und niemand hier in Asermos hat Erfahrung damit.”

„Wie lange?”, wiederholte Rhia.

„Vielleicht ein Jahr oder länger, für die erste Phase. Später in deinem Leben, wenn deine Gaben sich weiterentwickeln, wird Coranna dir mehr beibringen.”

Mayra umfasste den Saum von Rhias Decke mit zitternden Händen. „Ist sie nicht zu jung?”, fragte sie Galen. „Ihr habt nur gesagt, Ihr wollt sie prüfen. Es war nie die Rede davon, dass sie sofort gehen muss.”

„Andere sind noch jünger gewesen.” Galen berührte Mayra an der Schulter. „Asermos braucht sie. Denk daran, wie ihre Gaben deiner Arbeit als Heilerin nützlich sein könnten.”

Rhias Mutter wandte sich ab und drehte sich ein Stück, damit er sie nicht mehr berühren konnte. „Ihr sprecht die Wahrheit, wie gewöhnlich.” Ihr Mund zuckte, als wollte sie noch mehr sagen.

Beim Gedanken daran, noch einmal dem Tod eines Menschen beizuwohnen, egal, ob er kurz bevorstand oder nicht, kam es Rhia so vor, als würde ihr Herz zu Stein.

„Zwei Generationen sind vergangen”, sagte Galen zu ihr, „seit jemand dem Prozess des Sterbens beigewohnt hat. Es ist schwer für jemanden, der so nah am Anfang des Lebens steht, sich seinem Ende zu verschreiben, aber willst du nicht in Betracht ziehen, die Reise auf dich zu nehmen, um mehr zu lernen?”

Durch die Vordertür hörte Rhia, wie Perra schluchzte, entweder aus Freude darüber, ihren Mann zurückzuhaben, oder aus Trauer bei dem Gedanken daran, dass sein Leben wie das aller anderen eines Tages enden würde. „Wann muss ich gehen?”, fragte sie Galen.

Er stand auf. „Wir können mit den Vorbereitungen beginnen, sobald du bereit bist.”

Rhia stellte sich das Herz eines dunklen Waldes vor, erinnerte sich an die Augen sterbender Tiere und an die Vision von Dorius’ blutendem Körper, der sich in den Blättern wand. Entschlossen schob sie den Unterkiefer vor und sah zu Galen auf.

„Ich bin noch nicht bereit.”

3. KAPITEL

Zweieinhalb Jahre später war Rhia noch immer nicht bereit. Nachdem sie den Tod von Dorius in einer Vision gesehen hatte, hatte sie sich vorgenommen, ihre Wahrnehmung des Todes auszuschalten. Doch in ganz Asermos flüsterte man immer noch, man flüsterte leise Worte, die sie für ihre Feigheit rügten. An ihrem sechzehnten und siebzehnten Geburtstag hatte Galen wieder versucht, sie zu überzeugen, ihre Ausbildung in Kalindos zu beginnen, und sie hatte sich weiterhin geweigert. Selbst ihre Brüder hatten sie für ihr Zögern geneckt.

Insgeheim wünschte sie sich, dass ihre Ablehnung von Krähe vielleicht einen anderen Geist dazu brachte, seinen Platz einzunehmen, einen, der in anderen und ihr selbst Anerkennung weckte statt Angst. Aber kein Geist kam, um mit ihr zu sprechen. Tatsächlich schienen sie sich alle weiter von ihr zu entfernen. Alle bis auf Krähe, der im grauen Raum zwischen Schlaf und Wachen flog und dessen Flügel ein warmes, weiches Geheimnis versprachen, dessen Blick die dunkelsten Winkel ihrer Seele erkannte und verstand.

In jedem Herbst, wenn die Blätter sich golden färbten und zur Erde fielen, suchte Rhia Dorius auf und untersuchte seine Umgebung nach irgendetwas oder irgendjemandem, von dem er die Wunde zugefügt bekommen konnte, die sie in ihrer Vision gesehen hatte. Schon die beiläufigste Bemerkung über Spannungen zwischen Asermos und seinen Handelspartnern raubte ihr für Wochen den Schlaf.

Jetzt war Spätsommer, und die Blätter rauschten grün und saftig an den Bäumen am Rande der Lichtung, auf der Rhia und Areas dicht nebeneinandersaßen. Die kleine Schafherde seiner Familie graste ein kurzes Stück entfernt von ihnen. Einige wanderten davon, um von dem breiten trägen Bach zu trinken, der sich vor der Lichtung um sich selbst schlang, ehe er sich im Herzen von Asermos mit dem Fluss vereinte. Selbst das kleinste Handelsschiff konnte diese flache Wasserstraße nicht befahren, deshalb waren Rhia und Areas glücklicherweise, herrlicherweise, allein.

Kleine Grashalme klebten an ihren ausgestreckten Füßen, die noch feucht vom Waten waren. Sie wackelte mit den Zehen und ließ die Sonne ihr nach oben gestrecktes Gesicht wärmen. Rhia genoss diesen seltenen Nachmittag fern von der Farm. Ihr Bruder Lycas hatte für einige Stunden ihre Aufgaben übernommen, und sie versuchte, nicht darüber nachzudenken, um welchen Gefallen er sie bei ihrer Rückkehr bitten würde. Darüber würde sie sich am Abend oder am folgenden Tag Sorgen machen. Jetzt war sie hier, und es war gut.

Ein weißes Tuch voll reifer Himbeeren, die sie auf ihrem Weg zu Areas gesammelt hatte, lag in ihrem Schoß. Er ließ sich viel Zeit dabei, sie sich auszusuchen, berührte die Haut unter ihrem dünnen Rock jedes Mal, wenn er sich eine Beere nahm, und versuchte damit schamlos, sie dazu zu bringen, selbst so rot wie die Früchte zu werden.

„Ich kann mich nicht entscheiden”, sagte er, „ob ich sie essen oder dir in die Haare schmieren will.”

„Sind dir meine Haare nicht rot genug?” Wie immer hatte die Sommersonne ihre dunklen Locken mit einem rostigen Schimmer überzogen.

„Dein Haar ist vollkommen, aber es wäre lustig, dich kreischen zu hören.”

Rhia nahm selbst eine Handvoll Beeren und zerdrückte sie in ihrer Hand. „Großartige Idee.” Sie schmierte den Matsch von den Wurzeln bis zu den Spitzen in seine Haare.

Sein Aufschrei hallte vom gegenüberliegenden Ufer des Baches zurück. Er packte ihr Handgelenk und drückte zu, bis ihre Hand sich öffnete und den roten Saft freigab, den er über die Vorderseite ihres Kleides schmierte, bis ein kleiner verschwommener Handabdruck zu sehen war. „Da. Erklär das mal deiner Mutter.”

„Heute muss ich ihr überhaupt nichts erklären”, erwiderte Rhia.

„Was meinst du?”

Sie sah sein verwirrtes Gesicht einen Augenblick an, ehe sie den Mut verlor. „Egal.” Sie suchte nach einem Thema, das seine Neugierde ablenken würde. „Deine Weihung letzten Monat. Wie war sie?”

Seine dunklen blauen Augen wurden unnahbar und kalt. Die Ablenkung war gelungen. „Du weißt, dass ich dir das nicht erzählen darf.”

„Kannst du mir sagen, ob du Angst hattest?”

Areas verzog das Gesicht. „Ich dachte, ich muss sterben.” Er sah ihr in das erschütterte Gesicht. „Aber das tut nie jemand.”

„Niemand? Kannst du dir da sicher sein?”

„Mein Vater hat es mir gesagt. Er bereitet dich auf alles vor, was du wissen musst.”

„Aber nicht auf die Angst. Darauf bereitet er einen nicht vor?”

Areas seufzte ungeduldig. „Jeder, der sich so viele Gedanken um seine Angst macht wie du, ist so vorbereitet, wie man nur sein kann.”

Sie versuchte, ihr Gesicht abzuwenden, aber er hielt sie mit den Fingerspitzen auf und drängte sie sanft, seinen Blick zu erwidern.

„Rhia, Liebste, du musst gehen. Deine Zeit ist längst gekommen.”

Sie schüttelte den Kopf. „Dann müsste ich dich verlassen.” „Für kurze Zeit. Dann kehrst du mit deiner Gabe zurück.” Sie dachte an den Krieg, dem Dorius zum Opfer fallen würde. „Aber was ist, wenn, während ich weg bin ...”

„Schsch.” Er küsste sie, und sie löste sich von ihm.

„Du verstehst das nicht”, sagte sie. „Du hast nicht gesehen, was ich gesehen habe.”

„Ich verstehe, dass du dir Sorgen machst und dass du dir nur auf eine Art Erleichterung verschaffen kannst, nämlich indem du lernst, dich deinen eigenen Gaben zu stellen.” Er legte seine Hand auf ihre Hüfte und schmiegte die Nase an der Stelle, an der ihr Hals in ihre Schulter überging. Sie schloss für einen Augenblick die Augen, um das Gefühl seiner Lippen auf ihrer Haut zu genießen, nahm dann all ihren Mut zusammen und kam wieder auf das Thema zu sprechen, von dem sie zuvor abgelenkt hatte.

„Ich habe ein Geheimnis”, sagte sie.

Er hob den Kopf und runzelte die Stirn, sagte aber nichts. „Meine Mutter hat gemerkt, wie nah wir uns sind, du und ich”, fuhr Rhia fort, „deshalb hat sie mich zu Silina geschickt.”

„Silina? Die Schildkrötenfrau? Ich dachte, sie hilft den Frauen dabei, Kinder zu bekommen.” Er lehnte sich zurück und starrte ihren Bauch an. „Bist du ...”

„Natürlich nicht. Silina hilft den Frauen wirklich dabei, Kinder zu bekommen. Oder eben, sie nicht zu bekommen.”

Areas neigte den Kopf zur Seite. „Wie? Wie, keine bekommen?”

Amüsiert über seine Unschuld und sein Stammeln, grinste Rhia. „Mit Kräutern natürlich.” Sie deutete auf die feinen weißen Blüten, die ihre Köpfe über die ganze Lichtung neigten. „Wilde Möhre. Ich ernte jeden Spätsommer die Samen für meine Mutter, schon seit ich ein kleines Mädchen war. Sie nennt sie die ,Freiheitsblüte’ der Frauen, aber das hat sie mir nie erklärt.”

„Bis jetzt.”

„Bis jetzt. Und unser ... unser Zusammensein muss zur richtigen, ähm, Mondphase stattfinden.”

Er ließ den Blick über den blauen Himmel schweifen, bis er die Sichel des zunehmenden Mondes entdeckte. „Ist das ein guter Mond?”

„Für mich ist er gut.” Sie nahm seine Hand und küsste die samtige Haut innen an seinem Handgelenk, eine der wenigen Stellen an seinem Körper, die nicht durch seine Arbeit als Schäfer hart und gebräunt war. „Für uns ist er sehr gut.”

Ohne ein weiteres Wort zogen sie einander aus. Sie zitterten dabei mehr als sonst. Dann streckten sie sich auf dem weichen Gras aus. Sie hatten schon vorher so gelegen und ihre Körper entdeckt und genossen, doch dieses Mal würde es nicht mit Sehnsucht enden, sondern mit Erfüllung.

Rhia folgte mit den Fingern einem kleinen Schweißtropfen, der über Areas’ breite Brust und seine Schultern lief. Plötzlich zögerte sie. Wenn sie sich erst vereint hatten, wie konnte sie ihn dann je wieder verlassen? Jetzt verstand sie, warum sie warten sollten, bis sie beide ihre Gabe bekommen hatten. Sie war noch nicht vollständig.

Areas’ Miene verdunkelte sich. „Was ist los?”

„Wenn ich fortgehe, wartest du dann auf mich?”

„Das werde ich.” Mit dem Daumen strich er ihr über die Unterlippe, was sie zugleich verführerisch und tröstend fand. „Und was ist mit dir?”

Rhia versuchte zu antworten, versuchte, die richtigen Worte für diese Liebe zu finden, die in ihrem Herzen leben würde, bis es aufhörte zu schlagen. Es gelang ihr nicht.

Stattdessen küsste sie ihn lang und tief und drängte sich ihm entgegen, damit seine Hitze die Sorgen und Zweifel in ihren Gedanken verbrannte. Areas stöhnte, und er ließ die Arme ihren Rücken hinabgleiten, um sie ihr um die Taille zu schlingen. Rhia spreizte die Beine und gewährte seinen suchenden Fingern Einlass. Eine vertraute Wärme breitete sich in ihr aus und entzündete ein noch vertrauteres Verlangen in ihr.

Er zog sie auf sich und drang vorsichtig, wenn auch etwas ungeschickt in sie ein.

So bereit sie auch war, ihn zu empfangen, mit so viel Schmerzen hatte Rhia nicht gerechnet. Die Schärfe ihres Aufschreis ließ Areas erstarren. Aus weit aufgerissenen Augen sah er sie an.

„Es tut mir leid”, sagte er. „Oh mein Liebling, es tut mir so leid.” Zärtlich streichelte er ihr Haar und die Schläfe. „Sollen wir aufhören?”

Sie wollte Ja sagen, wollte sich anziehen, vielleicht sogar in den kühlen Fluss springen, um den Schmerz zu lindern. Stattdessen atmete sie tief durch und schüttelte den Kopf.

Danach bewegte er sich langsamer in ihr, und als sie die Augen öffnete, sah sie, wie er auf ihrer Miene Anzeichen von Schmerz, den sie vielleicht verbarg, suchte. Endlich lag er still und legte seine Handflächen neben sich auf den Boden.

„Du”, sagte er.

Rhia hielt inne und fragte sich, ob sie das konnte, ob sie sich weiter solchen Schmerzen aussetzen konnte. Sie schloss die Augen und sprach ein Gebet um Stärke zu jedem Geist, der ihr zuhören mochte.

Vorsichtig bewegte sie die Hüften, bis sie spürte, dass sie etwas weiter wurde. Der Schmerz ließ langsam nach, und stattdessen spürte sie etwas, das dem ähnlich war, was Areas sie sonst mit Händen und Lippen spüren ließ. Doch dieses Gefühl, wurde ihr bald klar, würde sie noch viele Meilen weiter tragen.

Die Hitze zwischen ihnen wurde fast unerträglich, und Rhia hob den Oberkörper, um sich abzukühlen. Dabei gewährte sie Areas noch tieferen Einlass. Sie beide schrien vor Überraschung auf. Sein Rücken bog sich durch, seine Muskeln waren angespannt, und sein Blick flehte: Lass mich ...

„Ja”, sagte sie, und er ließ sich gehen.

Immer wilder streichelte er sie, als versuchte er, sie überall zugleich zu berühren. Sie wiegte seinen Kopf an ihrer Brust, und er nahm eine ihrer Brustwarzen in den Mund, als seine Hüften sich unter ihr aufbäumten. Sie hatte sich noch nie so mächtig gefühlt – und zugleich so hilflos. Der Schrei, der aus ihrer Kehle drang, war der einer Frau, der sie erst noch begegnen musste.

Das Letzte, was sie sah, ehe sie auf Areas’ Brust zusammensank, war der leuchtend blaue Himmel, der sich in seinen erstaunten Augen spiegelte.

Sie lagen schweigend zusammen und warteten, bis ihr Atem sich verlangsamte. Areas fuhr mit den Fingern durch Rhias Haare und löste vorsichtig die Kletten. „Es tut mir leid, dass ich dir wehgetan habe.”

„Nächstes Mal wird es besser.”

„Besser kann ich es mir nicht vorstellen.”

Rhia lächelte, drehte sich dann auf den Rücken und zuckte zusammen, als sie merkte, wie wund sie war. Sie verspürte plötzlich das Bedürfnis, sich zu baden, erhob sich auf unsicheren Beinen und löste sich aus seinen Armen. Sie gratulierte sich selbst, ein seltenes Mal Mut gezeigt zu haben, und stakste langsam zum Fluss. Das Rascheln des Grases verriet ihr, dass Areas ihr folgte.

Kleine Fische stoben mit silbern blitzenden Flossen auseinander, als ihre Füße durch die warmen Untiefen wateten. Nach einem Dutzend Schritten erreichte der Bach ihre Hüfte. Sie nahm Wasser in ihre hohlen Hände und streckte die Arme weit aus. „Segne die Schildkröte, die Leben schenkt”, murmelte sie, als das Wasser durch ihre Finger tropfte.

An ihrer Seite antwortete Areas: „Und segne die wilde Möhre, die es verhindert.”

Sie grinste ihn an und beugte sich dann vor, um sich Wasser ins Gesicht zu spritzen. Mit einem sanften Stoß brachte er sie zum Umfallen. Sie zappelte einen Augenblick, ehe er ihren Arm gerade rechtzeitig ergriff, um sie vor dem Untergehen zu retten.

„Hey!” Mit der freien Hand schlug sie ihm gegen die Brust. „Nach dem, was gerade passiert ist, könntest du aufhören, mich als kleines Mädchen zu sehen, das du ärgern kannst.”

„Erwachsene Frauen beschmieren andere nicht mit Beeren.” Er beugte sich vor, um die klebrige Masse aus seinem Haar zu waschen. „Außerdem macht es mir Spaß, dich zu ärgern. Würdest du mir das nehmen wollen ...” Plötzlich richtete er sich auf und blickte hinüber zum Ufer. „Da kommt jemand.”

„Ich kann nichts hören.”

„Sie sind noch weit entfernt.” Er horchte noch einen Augenblick, seine Bärensinne angespannt. „Aber sie kommen schnell.”

Sie planschten durch das Wasser zurück zur Lichtung und rannten den Hügel hinauf bis dorthin, wo sie ihre Kleidung zurückgelassen hatten. Areas half ihr, ihr Kleid zu schließen, und beeilte sich dann, seine Hosen und sein Hemd anzuziehen. Rhia hörte das Donnern sich nähernder Hufe.

Areas wandte sich dem anderen Ende der Lichtung zu und schirmte mit der Hand die Augen vor der Sonne ab. Zwei Punkte näherten sich, einer weiß, der andere kastanienbraun.

„Ist das da dein Bruder, auf der grauen Stute?”, fragte Areas sie. „Er treibt sie furchtbar hart an.”

„Das tun die beiden immer.” Rhia saß im Gras, um sich die Schuhe anzuziehen. „Besonders Lycas. Er kann nicht auf den Markt gehen, um Milch zu kaufen, ohne so zu tun, als wäre ihm ein Lauffeuer auf den Fersen.” Sie lachte in sich hinein, selbst als eine undefinierbare Angst ihr Herz zum Klopfen brachte.

„Das ist er. Und ... mein Vetter Gorin?” Er drehte sich zu ihr um. „Sie mögen einander nicht mal. Warum sollten sie ...”

Rhia hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Sie sah ihren Bruder, der sich tief über den Hals seines weißen Pferdes beugte. Sein Haar, genauso schwarz und glänzend wie das ihrer Mutter, wehte hinter ihm im Wind. Sie begann zu rennen.

Sie trafen rasch aufeinander. Die hinteren Hufe von Lycas’ Pony rutschten, als er es zum Stehen brachte. Sein Gesicht war nass vor Schweiß, jedenfalls hoffte Rhia, dass es nur das war, und seine dunklen Augen sahen sie lodernd an.

„Es ist Mutter”, sagte er. „Ich glaube, sie stirbt.”

4. KAPITEL

Rhia klammerte sich an die Hüfte ihres Bruders und versuchte, den Schmerz, der ihren Körper entzweizuspalten schien, nicht zu beachten. Die Gangart des Ponys war schnell, aber nicht gleichmäßig – jeder Galoppsprung drohte sie in der Mitte zu zerreißen.

Und doch machte es ihr kaum etwas aus. Ihre Mutter lag im Sterben. Rhia hatte keine Zeit gehabt, Lycas Fragen zu stellen, ehe Areas sie hinter ihren Bruder gesetzt und sie sich auf den Weg nach Hause gemacht hatten. Jetzt würde der Wind, der Lycas’ Haare in ihr Gesicht schlug, ihre Stimme davontragen – ganz zu schweigen vom Trommeln der Hufe und dem schweren Atem der Stute. Das arme Tier war verausgabt, aber es hielt sich tapfer.

Rhia wandte den Kopf und bemühte sich, die Hufschläge von Areas’ Pony zu hören, dem Pony, das Gorin gebracht hatte, der geblieben war, um auf die Schafe aufzupassen. Aber der Wind verschluckte alle Geräusche, und selbst diese kleine Bewegung drohte sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Vielleicht, dachte sie, sollte ich mich auf den Schmerz konzentrieren. Lieber auf das als auf die Szene, die vor mir hegt. Was werde ich sehen, wenn ich nach Hause komme? Werden die schweren Flügel sich heben oder davonrauschen? Sie hatte sich noch nie einem Menschen gestellt, dessen Tod kurz bevorstand. Jetzt wünschte sie, sie hätte es getan, damit der erste Mensch nicht die Person war, die Rhia über alles hebte, die Person, die ihr wieder und wieder das Leben geschenkt hatte, nicht nur bei ihrer Geburt, sondern in jedem darauffolgenden Jahr erneut.

Lycas lenkte das Pony plötzlich nach rechts, um einem kleinen grauen Stein auszuweichen, der aus dem langen Gras der Lichtung hervorragte. Sie begannen den Hügel zu erklimmen, doch ihr Tempo wurde nicht langsamer, ehe sie die Wälder erreichten, wo sogar Lycas nicht so leichtsinnig war, blindlings voranzustürzen. Das Pony verlangsamte seine Schritte und schüttelte den Kopf. Als Rhia wieder zu Atem gekommen war, rang sie sich die Worte ab, die sie sagen wollte – und auch nicht. „Was ist passiert?”

„Sie ist zusammengebrochen.” Lycas’ Stimme war deutlich und seine Atmung von ihrem harten Ritt kaum beschleunigt. „Sie hat gesagt, sie hat Schmerzen in der Brust.”

Rhias Herz schien sich zusammenzuziehen. Sie wartete darauf, dass er fortfuhr.

„Als ich gegangen bin ...” Seine Schultern bebten. „Als ich gegangen bin, um dich zu holen, konnte sie kaum atmen.” Er fluchte leise vor sich hin. „Mögen die Geister dieses Gestrüpp holen.” Er fasste hinab und drückte einen langen Zweig wilder Himbeeren fort von der Brust seines Ponys. Blut sickerte aus kleinen Schnitten an seinem Arm, aber er zuckte nicht einmal zusammen.

„Hat jemand einen Heiler geholt?”

„Silina war gerade dabei, Kräuter mit ihr zu trocknen, als es passiert ist. Sie konnte nicht viel tun, außer es Mutter bequem zu machen. Nilo hat sich auf die Suche nach Galen gemacht, nur für den Fall ...”

„Den Fall?”

„Den Fall, dass sie stirbt. Jemand muss ihren Geist vorbereiten.” Er sprach durch zusammengebissene Zähne. „Weil wir keine Krähe haben.”

Rhia brannte das Gesicht. Ihre Stimme brach, als sie versuchte zu antworten. Aber dann lag die Lichtung vor ihnen, und Lycas schlug dem Pony die Hacken in die Rippen. Das Pferd, wieder zu Kräften gekommen, preschte vor, und Rhia musste sich am Hemd ihres Bruders festklammern, um nicht zu fallen.

Das Licht der Sonne blendete sie, als sie auf die Lichtung hinausbrachen. Ihr Haus tauchte auf dem Hügel auf. Niemand war auf der Koppel oder in den Zwingern zu sehen. Als sie in Rufweite kamen, rannten drei Hunde aus dem Zwinger, streckten sich, beugten sich nieder und wedelten ihnen hinter dem Zaun mit den Schwänzen entgegen.

Als Lycas das keuchende Pony endlich vor dem Haus zum Stehen brachte, öffnete sich die Tür sofort. Ihr Bruder Nilo kam heraus und griff nach den Zügeln.

„Es ist alles in Ordnung”, sagte er zu ihnen. „Sie ruht sich jetzt aus.”

Er legte seine Hände um Rhias Taille und hob sie vom Pony. Ihr Körper schien zu ächzen, als sie sich über die verstaubte, verschwitzte Haut strich. Auch wenn er sie sanft absetzte, fühlte es sich an, als hätte jemand zwei spitze Zaunpfähle in ihre Hüfte getrieben, als sie mit den Füßen den Boden berührte.

„Geht ihr zwei schon rein”, forderte Nilo sie auf, „ich kühle die Ponys ab.” Er zog der Stute die Zügel über den Kopf und führte sie mit raschen Schritten davon. Rhia sah sich um und war dankbar, dass sein Blick sie nicht anklagend durchbohrt hatte wie der seines Zwillings. Auch wenn sie gleich aussahen und manchmal sogar zur gleichen Zeit sprachen, schienen Nilos Gedanken und Gefühle sich nach innen zu richten, statt nach außen Funken zu schlagen und die Umstehenden zu verbrennen.

Ihre Hand wurde warm, und sie sah hinab und fand Lycas’ lange, kräftige Finger um ihre geschlungen. Ihr Griff machte ihr genug Mut, um das Haus zu betreten.

Ihr Vater kam auf sie zu, aber sie sah an ihm vorbei zu dem kleinen Bett, in dem ihre Mutter lag. Tereus sprach Rhias Namen, und seine Lippen bewegten sich noch weiter, aber der Rest seiner Worte ging auf dem Weg zu ihr verloren.

Verloren im Rauschen von Flügeln.

Das Geräusch steigerte sich, bis sie das Wimmern aus ihrer Kehle nur noch spüren, aber nicht mehr hören konnte. Die Knie gaben unter ihr nach, und sie versuchte, auf den Boden -sogar durch den Boden – zu sinken, aber Lycas schloss seinen Griff fester und zog sie wieder auf die Beine. Sie riss sich los und bedeckte ihre Ohren, kniff die Augen zusammen, als käme das Gefühl, die Sicherheit, von der Außenwelt und als könnte sie es abschirmen und sich davon abwenden. Aber sie konnte sich nirgends hinwenden. Krähe würde bleiben.

Rhia wich gegen die Tür zurück und tastete ungeschickt nach dem Riegel.

„Was machst du da?” Lycas schüttelte sie bei den Schultern. „Sie kann dich hören, du dummes Ding.”

Scharf atmete sie ein und erstickte die eigenen leiderfüllten Schreie. Ihre Lippen waren so fest zusammengepresst, dass sie beinah weiß wurden. Als sie die Augen öffnete, sah sie, wie ihr Vater vor Lycas trat. Er zog sie fest an sich.

„Papa, es tut mir leid”, flüsterte sie gegen seine Brust.

Er streichelte ihr Haar. „Ich weiß. Ich wusste, schon ehe du gekommen bist, dass wir nichts tun können. Dennoch habe ich gehofft ...” Tereus schnitt sich selbst das Wort ab und trat ein Stück zurück, um sie anzusehen. Er strich ihr eine Haarsträhne, die nass vor Tränen war, von der Wange. „Ich wünschte nur, du müsstest es nicht so deutlich sehen.”

„Ich sehe es nicht nur, Papa. Ich fühle es.” Ihre Seele schien so schwer zu sein wie ein Sack voll nasser Saat, und sie wollte zusammenbrechen, wollte sich dem Gewicht des bevorstehenden Todes ihrer Mutter ergeben.

Der große Vogel, den sie auf ihrer Schulter spürte, war nicht echt. Sie konnte ihn nicht mit ihren Augen sehen, nicht mit ihren Händen berühren. Aber er berührte sie, seine Krallen drückten sich in ihre Haut, und in diesem Augenblick war er die wirklichste Sache im ganzen Raum.

„Geh zu ihr”, sagte Tereus. „Und Lycas hat recht, du musst stark sein. Trockne dir die Augen.”

Rhia atmete tief ein und spannte jeden Muskel an, um die Kontrolle zu bewahren. Ihr Ausatmen war schon weniger bebend. Entschlossen wischte sie sich die Wangen und die Höhlen unter ihren Augen trocken.

Ihre Beine trugen sie wie von selbst durch den Raum, und sie war ihnen dankbar dafür. Zum ersten Mal bemerkte sie Galen, der zu Mayras Füßen auf dem Boden saß. Er betrachtete sie mit einem undurchdringlichen Blick, als sie an ihm vorbeiging.

Das Gewicht auf ihren Schultern und auf ihrem Gewissen wurde mit jedem Schritt schwerer. Es war eine Erleichterung, auf das Bett neben ihre Mutter zu sinken. Sie griff nach Mayras Hand, doch dann zögerte sie. Mayras Augen waren geschlossen, ihr Gesicht war entspannt, ihre Haut bleich, ihr dunkles Haar behutsam auf dem Kissen zurechtgelegt. Sie sah friedlich aus – und vollkommen fremd.

Wer war diese Fremde? Eine zukünftige Leiche. Nicht ihre Mutter. Dann bestand doch keine Gefahr.

Sie berührte Mayras Hand, und ihre Mutter öffnete die Augen. Sofort verschwand die Distanz zwischen ihnen. Rhia fühlte sich wieder leicht, als wäre sie nur eine Tochter. Sie hielt ihre Tränen zurück, aber sie wusste, dass ihre Augen dennoch glänzten, als sie die sterbende Frau ansah.

Mayras Daumen zuckte an Rhias Handgelenk, als versuchte sie, ihre Hand zu drücken. Sie öffnete ihre trockenen Lippen, um zu sprechen, jedoch erfolglos.

„Schsch”, flüsterte Rhia. „Wir können später reden, wenn du dich ausgeruht hast.”

Mayra kniff ungläubig die Augen zusammen. Sie neigte das Kinn, um Rhia näher zu sich zu bitten. Rhia beugte sich vor, bis ihre Gesichter nur noch eine Handbreit voneinander entfernt waren.

„Ja?”, war alles, was ihre Mutter sagte. Rhia sah ihr in die Augen und nickte langsam. Eine Träne löste sich von ihren Wimpern und fiel auf Mayras Lippen.

„Es tut mir leid, Mutter. Ich wünschte ...” Flehend sah sie Mayra an, erwartete von ihr Trost oder gutes Zureden, wie immer, wenn Rhia bekümmert war.

Stattdessen starrte Mayra nur mit großen, starren Augen an die Decke. Ihre Hand wurde kalt.

„Mutter?” Fast panisch schüttelte Rhia sie an der Schulter. „Mama?”

Mayra blinzelte und nahm einen langsamen Atemzug, der ihr Schmerzen zu bereiten schien. Ohne Rhia anzusehen, flüsterte sie: „Ich habe Angst.” Noch ein langer Atemzug. „Ich habe Angst, Rhia. Hilf mir.”

Rhias Blick fiel auf Galen. Der hielt den Blick auf Mayra gerichtet und seufzte.

Die Tür öffnete sich hinter ihr. Die massige Gestalt von Areas erschien neben Nilos muskulösem Körper. Die zwei Männer waren nur Umrisse im Sonnenschein, der von draußen hereinschien, also konnte sie ihre Gesichter nicht erkennen. Eine geflüsterte Unterredung mit Lycas gab die schlimmen Nachrichten weiter.

Rhia drehte sich wieder ihrer Mutter zu und fühlte in ihrem Rücken jeden Blick im Haus, das immer voller wurde und zunehmend erdrückend schien.

Mayras Lippen bewegten sich und formten ein einziges Wort. „Wann?”

Rhia sah zu Galen.

„Du kannst es wissen”, sagte er.

Sie wendete sich an ihre Mutter. „Warte einen Augenblick.” Rhia schloss die Augen und umklammerte Mayras kalte Hand. Sie richtete ihre Gedanken auf Krähe, dessen Anwesenheit schimmernd schwarz und violett über ihrer Schulter schwebte. Sein Geist vereinte sich mit ihrem, sein Wissen und seine Sicherheit breiteten sich über ihr Bewusstsein aus wie ein Paar schwarze Flügel.

Ihre Mutter hatte Kraft. Nicht genug, um zu überleben, aber noch genug, sich zu verabschieden.

„Einen Tag oder zwei”, sagte Rhia schließlich. „Ich wünschte, es wäre mehr, aber ...” Sie konnte den Satz nicht beenden: Du hast nicht genug Leben.

Mayra entspannte sich, und ihre Hand erschlaffte. „Ich kann schlafen.”

„Ja. Gut.” Ihr wurde klar, dass ihre Mutter gefürchtet hatte, nie wieder zu erwachen. „Brauchst du noch eine Decke?”

Mayra wiegte den Kopf fast unmerklich von einer Seite auf die andere und schloss die Augen. Ihre Gesichtszüge entspannten sich. Rhia starrte ihre Mutter an und versuchte, sich jedes einzelne Detail ihres Aussehens einzuprägen.

Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. „Lass uns unter vier Augen sprechen”, sagte Galen.

Nur widerwillig ließ Rhia die Hand ihrer Mutter los und folgte ihm zur Tür. Als sie und Galen in den Sonnenschein hinaustraten, sah Rhia zurück und bemerkte ihren Vater, der mit geneigtem Kopf bei Mayra saß.

Der sonnige Tag schien ihre Stimmung und die Dunkelheit, die jetzt für immer in ihr sein würde, zu verspotten. Die Luft war so klar und rein, dass sie sogar das weit entfernte braune Gesicht des Berges Beros im Nordwesten unverhüllt von Sommernebeln sehen konnte.

„Ich hätte schon lange gehen sollen”, sagte sie zu Galen. „Reue hat keinen Sinn.”

„Wolltest du mir nicht genau das sagen, dass ich hätte gehen sollen, als du mich darum gebeten hast? Du hattest recht.”

„Wichtig ist nur, dass du deinen Frieden findest, Frieden in dir selbst, den du dann deiner Mutter in ihren letzten Stunden mit auf den Weg geben kannst.”

„Wo soll ich ihn finden?” Sie deutete auf ihre Umgebung. „Unter welchem Stein, in welchem Baum?” Wütend trat sie gegen einen kleinen Zweig, der im Sturm der vorhergehenden Nacht auf ihren Hof geweht worden war. „In mir ist kein Frieden, und es fühlt sich an, als käme er nie wieder.”

Galen zog seinen großen Lederbeutel hervor. Er lockerte den Knoten und nahm eine schwarze Feder, die so lang war wie seine Hand, heraus. Er hielt sie ihr an einem Lederband hin.

„Es wird Zeit für dich, dies zu bekommen.”

Sie wollte danach greifen, tat es aber nicht. „Ich war noch nicht einmal bei meiner Weihung.”

„Du wirst gehen”, sagte er, „nachdem du getrauert hast. In der Zwischenzeit hilft dir dies dabei, deine Kräfte zu konzentrieren. Deine Mutter braucht sie.”

Sie nahm ihm die Feder ab und strich über die glatte Oberfläche. „Was soll ich tun?”

„Das wirst du schon wissen.”

Rhia unterdrückte ein frustriertes Seufzen.

„Wie lange hat sie noch zu leben?”, fragte er sie.

„Sie wird noch einen Sonnenaufgang sehen, aber nicht mehr, denke ich. Ich will ... ich will die ganze Nacht bei ihr bleiben. Ihr helfen, obwohl ich nicht weiß, wie.”

„Krähe wird es dir zeigen, so gut er kann. Ich kehre morgen früh, sobald es geht, zurück. Jetzt braucht sie ihre Familie.” Er wandte sich dem Haus zu.

„Wartet”, sagte sie. „Was werdet Ihr für sie tun? Könnt Ihr ihr bei der Reise helfen? Machen, dass sie nicht so große Angst hat?”

„Ich kann ihr helfen, ihr Gewissen zu erleichtern, was das Leben angeht. Der Rest hegt bei ihr. Und bei dir natürlich.” Er legte seine Hand wieder auf ihre Schulter. „Es tut mir leid, Rhia. Dazu hätte es nicht kommen sollen.”

Während er sich entfernte, fragte sie sich, ob er sie damit trösten oder rügen wollte. Wahrscheinlich beides. Galens Worte hatten niemals nur eine Bedeutung.

Nach wenigen Augenblicken trat Areas allein aus dem Haus. Ohne zu zögern, schlang er seine Arme um Rhias schmalen Körper und hielt sie fest, während sie weinte. Was sie ihm nicht sagen konnte, war, dass sie nicht nur um den Tod ihrer Mutter weinte, sondern auch um einen Teil von sich, der sich einmal vollkommen lebendig angefühlt hatte.

Auch wenn Areas’ Körper weit entfernt zu sein schien, klammerte sie sich an ihm fest, so als würde er allein sie in der Welt verankern.

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5.KAPITEL

Kerzen tauchten die Wände von Rhias Zuhause in honigfarbenen Glanz, als die Dunkelheit sich über den Himmel erstreckte. Rhia schloss die Vorhänge am Fenster und fragte sich, ob das der letzte Anblick der Außenwelt gewesen war, den ihre Mutter jemals sehen würde. Nein, dachte sie. Sie soll den Sonnenaufgang sehen, selbst wenn man sie nach draußen tragen muss.

Sie wandte sich wieder dem Tisch zu, wo ihre Brüder und ihr Vater schweigend beisammensaßen. Es wäre großzügig, die Mahlzeit vor ihnen als halb verzehrt zu bezeichnen, das Essen auf den Tellern war eher neu geordnet als verspeist worden.

Silina saß bei Mayra und beobachtete ihren Atem. Sie hatte angeboten, sich um Mayras körperliche Bedürfnisse zu kümmern, damit die Familie sich um die eigene Trauer kümmern konnte.

Rhia fragte sich, ob Silinas Hilfe es für sie nicht noch schwerer machte. Ihnen blieb nichts, als einander anzusehen. Sie hatten vorgehabt, sich abwechselnd zu Mayra zu setzen, während die anderen schliefen, aber Rhia hatte den Verdacht, dass nur ihre Mutter in dieser Nacht Schlaf finden würde.

„Sie ist wach”, zerschnitt Silinas sanfte Stimme das Schweigen, so als hätte sie geschrien und nicht geflüstert.

Die drei Männer standen auf. Lycas und Nilo setzten sich wieder und zollten damit ihrem Stiefvater grollend Respekt. Tereus trat an Mayras Seite.

Silina näherte sich dem Fenster, wo Rhia stand. „Sag mir, wie ich helfen kann. Ich könnte die Hunde füttern oder die Pferde oder Wasser holen.”

„Das ist alles erledigt”, beteuerte Rhia. „Wir haben schon mehrmals nach den Tieren gesehen. Es gibt nichts zu tun, außer zu warten.”

Silina sah über die Schulter zu Lycas und Nilo, die am Tisch vor sich hin grübelten. „Ich denke, die Familie könnte andere Dinge tun, außer zu warten.” Sie nahm eine Laterne und schlüpfte nach draußen.

Rhia dachte über ihren Rat nach. Uber ein Jahr war vergangen, seit sie das letzte Mal einen Abend mit ihren Brüdern verbracht hatte. Sie setzte sich an den Tisch neben Nilo.

„Erzählt mir eine Geschichte”, bat sie die beiden.

Mit zusammengezogenen Augenbrauen sahen sie einander an. Lycas sagte: „Wir kennen keine Geschichten, die, na ja ...”

„Passend wären”, vollendete Nilo den Satz.

„Es ist mir egal, ob sie passen oder nicht. Erzählt mir eine der Geschichten von der Jagd mit Rhaskos.”

Nilos Lippen drohten sich zu einem Lächeln zu verziehen. Jetzt?”

„Sie bringen dich zum Kichern”, sagte Lycas zu Rhia.

„Ich weiß.”

Er blickte in Richtung ihrer Mutter. „Glaubst du wirklich ...”

„Ich glaube, sie würde ihre Kinder hebend gern wieder zusammen lachen hören.”

„Wenn es sein muss.” Nilo beugte sich vor und machte eine dramatische Pause. „Wie du dich vielleicht erinnerst, ist Rhaskos, der Ziegenmann, etwas weniger intelligent als der durchschnittliche Jagdhund.”

„Etwas?”, fragte Lycas. „Du beleidigst unsere Hunde.” „Schäm dich.” Rhia setzte eine ernste Miene auf. „Für diese Beleidigung musst du ihren Zwinger morgen zweimal reinigen.”

Nilo hob die Hände. „Etwas weniger intelligent als die durchschnittliche linke Afterkralle eines Jagdhundes. Besser?”

„Dir sei vergeben.” Rhia blickte zu ihrer Mutter. Das Kerzenlicht warf verzerrende Schatten auf ihr Gesicht, aber sie glaubte, Mayra lächeln zu sehen.

„Auf jeden Fall”, fuhr Nilo fort, „sind wir eines Tages jagen gegangen, nachdem Rhaskos in der Nacht zuvor ein wenig zu viel Bier genossen hatte.”

„Er war nicht direkt verkatert”, fügte Lycas hinzu. „Er war immer noch betrunken. Verstehst du, er lebte in dem Glauben, dass es egal ist, wie viel man trinkt, solange man danach schläft. Selbst nach einer Stunde wacht man nüchtern wieder auf.”

Nilo lachte in sich hinein. „Er glaubte, an einem neuen Tag wäre man auch ein neuer Mensch. Sein Körper sah das allerdings anders.”

Sie fuhren mit der Geschichte fort, und Rhia half ihnen immer wieder, wenn sie Details vergaßen. Die drei nahmen sich vom kalten Brot, das vor ihnen lag, und vom Fleisch, bis fast alles Essen verzehrt war.

Endlich stand Tereus auf und trat an den Tisch. Er sah die Zwillinge an. „Sie möchte mit euch sprechen. Mit Lycas zuerst.”

Das war nur zu verständlich, Lycas war ein paar Stunden älter und wurde deshalb immer als der ältere Zwilling behandelt. Das bedeutete, Rhia kam zuletzt. Sie starrte angespannt zu Boden und betete zu Krähe, dass ihre Mutter lang genug wach sein möge, um noch mit ihr zu sprechen.

Tereus’ Körper fiel schwer auf den Stuhl neben Rhia. „Papa, warum gehst du nicht schlafen?”, fragte sie ihn. „Wir können dich wecken, falls ... wenn sie ...”

Er berührte die Wange seiner Tochter. „Nein, ich bleibe wach. Ich kann mir nicht vorstellen, einen dieser Augenblicke zu verschlafen.”

„Aber es könnte noch Tage dauern.”

„Bald genug muss ich ohne sie aufwachen. Ich will noch nicht damit anfangen.”

Aus Mayras Ecke kam ein ersticktes Schluchzen. Sie sahen hinüber, wo Lycas über den Körper ihrer Mutter gebeugt saß. Tereus ließ Rhias Hand fallen und beeilte sich, zu ihnen zu eilen.

„Ist schon in Ordnung.” Lycas stand auf und wischte sich mit dem Ärmel das Gesicht ab. „Du bist dran, Nilo.”

Nilo nahm den Platz seines Bruders an Mayras Seite ein. Lycas kehrte zum Tisch zurück und setzte sich, die Ellenbogen aufgestützt, das Gesicht in den Händen vergraben. Rhia spürte, wie eine kaum gezähmte Wut von ihm ausging, und verstand zum ersten Mal, wie gefährlich er sein konnte. Selbst mit den Gaben seiner ersten Phase konnte er einen Menschen in wenig mehr als einem Augenblick und ohne dazu eine Waffe zu benutzen umbringen. Die Adern auf seinem Handrücken traten hervor, als er die Fäuste ins lange schwarze Haar schob. Sie rückte ein Stück von ihm ab.

Als er wieder aus seiner Zornesflut auftauchte, schenkte Lycas Rhia einen Blick, der ihre Seele zu zerreißen drohte. Sie wusste, in diesem Augenblick empfand ihr Bruder für sie nur Hass. Ihr wurde übel.

„Ich werde nachsehen, ob Silina Hilfe braucht bei ... bei was auch immer sie gerade tut.” Ihr Stuhl fiel fast um, als sie aufstand.

Sie musste mehrmals gegen den Riegel schlagen, ehe er nachgab und die Tür sich öffnete. Als sie sich hinter ihr schloss, lehnte sie sich gegen das Haus und atmete die schale feuchte Luft ein, die sich in den letzten Stunden herniedergesenkt hatte. Grillen und Heuschrecken sangen verhalten, also war die Nacht noch nicht weit vorangeschritten. Es glühte aber auch kein Schimmer mehr am westlichen Horizont. Der Nebel des späten Sommers verbarg alle bis auf die hellsten Sterne, und der untergehende Halbmond spendete hinter den Bäumen westlich von ihr nur trübes Licht.

In der Nähe der Scheune wurde eine Laterne sichtbar. Silina rief ihren Namen, und Rhia hob zur Antwort schwach die Hand.

Die Schildkrötenfrau hielt einen Korb auf ihren ausladenden Hüften, als sie sich näherte. „Ich habe getrocknete Kamillenblüten in der Kräuterhütte deiner Mutter gefunden. Sie werden ihr helfen zu entspannen.” Das Licht der Laterne glühte in ihren grauen Haaren, die die Zahl der braunen auf ihrem Kopf übertrafen. „Ich wünschte, ich könnte mehr tun.”

„Ich auch. Ich meine, ich wünschte, ich könnte mehr tun.” Silina stellte ihren Korb hin und umarmte sie. Die Wärme der Heilerin und der Duft der Kamille schafften es tatsächlich, Rhia für einen Augenblick zu beruhigen.

Die Tür öffnete sich, und mit undurchdringlicher Miene forderte Nilo sie auf: „Du bist dran.”

Sie löste sich aus Silinas Umarmung. „Danke”, sagte sie zu ihm, als sie in der Tür an ihm vorbeiging. Er antwortete nicht.

Als sie sich neben Mayra setzte, spürte Rhia wieder das Gewicht der Krähe auf ihr, doch sie schob dieses Gefühl in den hintersten Winkel ihres Bewusstseins.

„Bist du heute bei Areas gewesen?”, fragte ihre Mutter, und ihre Stimme klang rau.

Ja.”

„Und?” Ihre Mutter schien beinah zu lächeln.

Rhia errötete. Es schienen Wochen und nicht erst Stunden vergangen zu sein, seit sie und Areas sich auf der sonnigen Lichtung geliebt hatten. Ihr wurde übel, als ihr klar wurde, dass sie sich wahrscheinlich genau in dem Augenblick vereinigt hatten, als ihre Mutter den Anfall erlitt.

Mayra drückte Rhias Hand. „Mach nicht so ein Gesicht. Es ist nicht deine Schuld, dass es passiert ist.”

„Ich hätte bei dir sein sollen.”

„Das hätte auch keinen Unterschied gemacht. Ich kann nicht mehr gerettet werden. Meine Zeit ist gekommen. Also, war es mit Areas so, wie du es dir vorgestellt hast?”

Rhia betrachtete die Wand über Mayras Kopf. „Es war besser. Und auch schlechter.” Um ein wenig vom Thema abzulenken, fügte sie hinzu: „Ich werde ihn vermissen, wenn er fortgeht.”

Mayra runzelte die Stirn. „Es tut mir leid, Rhia. Ich hätte dich in den Wald schicken sollen, als Galen zum ersten Mal darum gebeten hat. Ich hatte Angst.”

„Das war meine Entscheidung. Ich hatte auch Angst.” „Ich hätte dich aus dem Nest stoßen sollen, mein Vogelküken. Wenn ich ...”

„Ich könnte dir jetzt helfen. So wie ich bin, kann ich es nicht. Das werde ich mir selbst nie vergeben.”

„Ich vergebe dir”, sagte Mayra.

Die Tränen, die sich in Rhias Augen gesammelt hatten, liefen ihr jetzt über die Wangen. Mit dem Handrücken wischte sie sie fort.

„Es tut mir leid”, sagte sie. „Ich sollte stark für dich sein.” „Du hast keine Vorstellung davon, wie stark du bist. Eines Tages wirst du es wissen. Bald schon, denke ich.” Mit großer Mühe streckte Mayra die Hand aus und berührte die Spitzen von Rhias kastanienbraunem Haar. „Ich wünschte, du müsstest dein Haar nicht verlieren.”

„Mutter, nicht ...”

„Ich muss von meinem Tod sprechen ... und vor allem darüber, was er bedeutet.” Sie ließ die Hand sinken und betrachtete Rhias Haar. „Es wird lockiger sein, so wie damals, als du ein kleines Mädchen gewesen bist. Deine Brüder werden dir merkwürdig vorkommen.”

Rhia wollte fragen, was Mayra den Zwillingen erzählt hatte, warum ihre Wut plötzlich wieder hochgekocht war, aber sie wollte ihre Mutter nicht beunruhigen. Zweifellos würden sie es ihr selbst erzählen.

„Wenn du nach Kalindos aufbrichst ...” Ihrer Mutter versagte die Stimme, als ihr der Atem früher als erwartet ausging. Sie atmete noch einmal schwach ein. „Wenn du aufbrichst... Oh!”

Ein Keuchen brach aus Mayras Kehle hervor, und sie begann nach Luft zu ringen. Sie verdrehte die Augen, bis vor Angst und Schmerz nur noch das Weiße zu sehen war.

„Mama?” Rhia hörte, wie ihre Stimme sich in die eines Kindes verwandelte. „Mama, nein – jetzt noch nicht! Mama!”

Fahrig strich Mayra über die Decke, die sie bedeckte, als würde sie nach einem Atemzug greifen, der nicht kommen wollte. Ein unverständliches Flehen löste sich aus ihrer Kehle.

Tereus eilte an die Seite seiner Frau. Rhia trat zurück von dem Körper, der vor ihr lag, einem Körper, der mit jedem letzten Funken Energie dagegen ankämpfte, aus dem Leben scheiden zu müssen.

Sie schloss die Augen, hörte aber immer noch das verzweifelte Ringen ihrer Mutter nach Atem, den ihre Lungen ihr verweigerten. Dann stieg ein Geräusch wie ein starker Wind empor, wirbelte um Rhia herum und nach oben, immer weiter hinauf, und sie sah sich um, um zu sehen, ob ein Sturm die Tür aufgedrückt hatte.

Sie wünschte, sie hätte ihre Augen geschlossen gelassen. Auch wenn kein Wind durch den Raum wehte, war er alles andere als still. Tereus versuchte, Mayra in seinen Armen zu halten, aber sie schob ihn von sich.

„Es ist schon gut, es ist schon gut”, murmelte er. „Lass los. Lass einfach los.” Seine Stimme, die als Flüstern begonnen hatte, wurde immer lauter. Er schien sich die Worte verbieten zu wollen, noch während er sie aussprach. Als Mayras Kampf immer schwächer wurde, konnte er sie umarmen. Er hielt ihren zitternden Körper in den Armen und wiegte sie, während Rhia und die Zwillinge stumm vor Schreck dem fruchtlosen Kampf ihrer Mutter zusahen.

Schließlich verstummte Mayra und hörte auf, sich zu bewegen. Tereus legte sie vorsichtig auf dem Bett ab und schloss, ein Gebet zu sich selbst sprechend, ihre Augen. Ein Flüstern rechts und links von Rhia sagte ihr, dass Silina und Nilo Krähe darum anflehten, Mayras Geist nach Hause zu begleiten.

Sie sah sich nach Lycas um. Er starrte geradeaus, das Gesicht in Trauer erstarrt. Nach einem langen Augenblick wandte er den Blick und sah Rhia an, auch wenn sein Kopf sich nicht bewegte. So, dachte Rhia, würde es sich anfühlen, ihm in der Schlacht gegenüberzustehen.

Als die anderen ihre Gebete zu Ende gesprochen hatten, zischte Lycas: „Du hast gesagt, sie lebt noch die ganze Nacht.”

Tereus wandte sich von Mayra ab. „Lass sie zufrieden.”

„Er hat recht, Papa.” Rhias Lippen zitterten. „Ich habe mich geirrt. Es tut mir leid.”

„Sie war noch nicht bereit.” Lycas spie seine Worte aus wie Gift. „Galen wollte erst im Morgengrauen zurückkommen, um sie vorzubereiten. Deinetwegen.” Er deutete in Mayras Ecke. „So hätte sie nicht sterben sollen!”

„Das ist genug.” Tereus’ Stimme klang wie ein Donner-schlag. „Ich habe gesagt, lass sie in Ruhe.”

Lycas ignorierte ihn und konzentrierte seine ganze Wut auf Rhia. „Du konntest den Zeitpunkt nicht genau bestimmen, du konntest sie nicht einmal trösten, und das nur, weil du nicht zu deiner Weihung wolltest.”

Beschwichtigend legte Nilo seinem Bruder die Hand auf den Arm. „Vielleicht sollten wir ...”

„Und jetzt musste Mutter qualvoll und voller Angst sterben.” Lycas löste sich mit einem Ruck aus Nilos Griff und ging auf Rhia zu. „Bist du jetzt zufrieden, du feiges Stück?”

Rhias Trauer wandelte sich in Wut. Sie kreischte und stürzte sich auf ihren Bruder.

Tereus trat zwischen sie, schneller, als sie es je für möglich gehalten hätte. Er streckte die Arme aus und hielt Rhia und Lycas auseinander.

„Kein weiteres Wort.”

Seine Stimme war leise, kaum mehr als ein Flüstern, aber in ihr lag mehr Stärke als in Rhias Kreischen oder Lycas’ anklagenden Schreien.

Silina ging auf Mayra zu und seufzte das Seufzen der praktisch Veranlagten. „Die Vorbereitungen müssen getroffen werden. Rhia, hilf mir bitte.”

Rhia drehte sich um und trat einige zögernde Schritte auf die sterblichen Überreste ihrer Mutter zu. Ihre Füße fühlten sich an, als lägen sie in Ketten. Hinter ihr weinte Lycas tiefe, erschütternde Schluchzer. Das Geräusch wurde leiser, und Rhia nahm an, dass Nilo seinen Bruder eng umschlungen hielt.

Ihre Vorstellungskraft musste für diese Szene ausreichen, denn sie würde ihre Brüder in dieser Nacht nicht mehr ansehen.

6. KAPITEL

Rhia kniete sich nieder, während Galen das Messer schärfte.

Durch das enge Lederband, das ihr Haar im Nacken zu einem langen Zopf zusammenhielt, tat ihr die Kopfhaut weh. Neben ihr warteten Lycas, Nilo und Tereus darauf, an der Reihe zu sein.

Es schien, als wartete das halbe Dorf vor der Hütte darauf, dass die Beerdigung ihrer geliebten Heilerin begann. Mayra sollte hier auf der Farm, wo sie ihre Familie über zwanzig Jahre lang versorgt hatte, beerdigt werden, eingebettet in eine Laube aus Eichen. Rhia versuchte, sich den Ort des Friedens vorzustellen, den die Seele ihrer Mutter für immer kennen sollte. Aber alles, was sie sah und hörte, war das Messer. Seine Klinge glänzte im Licht, das durch das Fenster fiel, und es machte ein klirrendes Geräusch am Schleifstein.

Im Haus war es still. Zu diesem privaten Teil der Zeremonie gehörten keine Gesänge, keine Musik, Mayras Leben wurde nicht gefeiert. Das Scheren war ernsthaft und sachlich.

Theoretisch wusste Rhia den Brauch, sein Haar zu schneiden, nachdem man einen engen Verwandten – ein Elternteil, Bruder oder Schwester, Kind oder Ehepartner – verloren hatte, zu schätzen. Man zeigte damit nicht nur nach außen hin seine Trauer, man erlaubte damit auch anderen, den Trauernden Trost und Respekt entgegenzubringen. Eine solche Wunde sollte nicht versteckt werden.

Doch als Galen mit dem Messer auf sie zukam, musste sie sich zwingen, nicht zurückzuschrecken, nicht aufzuspringen und sich in einer Ecke zu verkriechen. Sie redete sich ein, dass es nichts mit Eitelkeit zu tun hatte, dass es um den Schmerz ging, eine ständige Erinnerung an ihren Verlust mit sich herumzutragen. Aber sie dachte auch an Areas und fragte sich, wie er sie ohne ihre langen kastanienbraunen Locken ansehen würde, denn sie wusste, in ihnen lag der größte Teil ihrer Schönheit.

Galen wickelte sich ihren Zopf um die Hand, um ihn besser halten zu könnten. Sie beugte sich vor, um das Haar glatt zu ziehen, und versuchte, nicht zusammenzuzucken. Nur Kinder brauchten Galens Lehrling, um sich den Kopf halten zu lassen. Sie würde mutig sein. Sie würde ...

Die Klinge sauste durch die Luft. Sie spürte ein leichtes Ziehen am Hinterkopf, und dann fielen die verbliebenen kurzen Haarsträhnen nach vorn und strichen ihre Ohren entlang. Sie widerstand dem Drang, ihr Haar zu berühren.

Galens Hand tauchte vor ihr auf. In seiner Handfläche lag eine ihrer Locken. Sie war länger und von intensiverem Rot, als sie erwartet hatte. Zögerlich nahm sie die Strähne entgegen, als gehörte sie einem Fremden.

Aus dem Augenwinkel heraus sah sie Lycas, der aufrecht wie ein Zaunpfahl neben ihr kniete, den Blick starr geradeaus gerichtet, die Halsmuskeln angespannt. Die Klinge sang, und Lycas’ Körper lehnte sich vor, als er sich entspannte. Schwarzes Haar umspielte sein Kinn.

Rhia rollte ihre Haarlocke zwischen Daumen und Zeigefinger. Endlich setzte bei ihr die Taubheit ein.

Später am Morgen versammelten sich Rhia und ihre Familie am Rande der Laube, am Fußende von Mayras Grab. Die anderen Dorfbewohner, Hunderte von ihnen, standen im Umkreis der schattigen Begräbnisstätte. Die Sonne, die erst halbhoch am Himmel stand, schien durch die Blätter hindurch und tauchte das Grab in Tupfer aus Licht, mit denen sie einen ungewöhnlich warmen Tag versprach.

Galen trat durch die Menge nach vorn, und ihm folgte sein Lehrling, die junge Falkenfrau Berilla. Sie trugen beide weiße Zeremonienroben mit aufgenähten Falkenfedern, doch wo Berillas Robe nur wenige kleine braunschwarze Flügelfedern zierten, war Galens mit rot gefleckten Schwanzfedern bestückt, die seinen halben Körper bedeckten. Als er das Kopfende des Grabes erreichte, hob er seine Arme zur Seite, um Stille zu verkünden. Die Federn verliehen ihm die Pracht eines Falken mit ausgestreckten Flügeln.

Rhia kniete sich mit ihrem Vater und ihren Brüdern auf die grüne Wolldecke, die man für sie ausgelegt hatte. Der Rest der Dorfbewohner blieb stehen und würde es auch die ganze Zeremonie lang tun, selbst wenn sie bis weit nach Sonnenuntergang dauern sollte.

Als alles still war, setzte Galen zu einem leisen, trauernden Gesang an, einer einfachen Melodie, um die Anwesenden zu beruhigen und ihre Gedanken zu versammeln. Die Krähenfeder hing schwer um Rhias Hals, und sie sehnte sich danach, sie zu verbergen. Jeder wusste, wäre sie vor Jahren zu ihrer Weihung gegangen, sie selbst hätte jetzt Anteil an der Zeremonie. Sie hätte ihrer Mutter helfen können.

Der Gesang ging zu Ende, und man brachte Mayra heraus. Acht der älteren Männer aus dem Dorf trugen ihren Körper, der von Kopf bis Fuß in ein weißes Totenhemd gehüllt war. Rhia hatte in der Nacht zuvor Stunden damit verbracht, Silina dabei zu helfen, Thymian und Bergamottöl auf die Haut ihrer Mutter aufzutragen und ihren Körper in Streifen duftender Tücher zu wickeln.

Auf Mayras Brust und auf ihrem Bauch lagen Dutzende Blüten – blaue Kornblumen und Chicoree, die weiße Spitze der wilden Möhre, – und auf ihrem Hals der Otterfetisch, den Areas vor Jahren für sie geschnitzt hatte. Viele der Blüten fielen herab, als die Männer sie bewegten, und hinterließen eine farbenfrohe Spur. Der Otter blieb, wo er war. Die Männer legten Mayras Körper neben das Grab und traten zurück in die Menge.

Galen begann, ihren Geist heimzusingen. Berilla trommelte den Rhythmus, und ein älterer Mann aus dem Dorf spielte eine eindringliche Melodie auf einer hölzernen Flöte. Die Stimmen der Dorfbewohner – bis auf Rhia, Tereus und die Zwillinge stimmten alle ein – erhoben sich gemeinsam, um Mayras Geist in den Wind zu heben, hoch genug, dass Krähe sie finden und nach Hause tragen konnte. Sie würden singen, bis in der Nähe eine Krähe gesichtet wurde, die ihren Ruf ausstieß und davonflog.

Ohne von einem der seinen gelockt zu werden, konnte es allerdings Stunden dauern, bis ein Vogel sich sehen ließ. Krähen konnten nicht gerufen und gelenkt werden wie Schäferhunde. Rhia hoffte, der Geist zeigte Gnade mit ihnen allen und schickte seinen Boten schnell.

Der Trommler trommelte, und die Stimmen sangen, ohne einmal innezuhalten. Die Sonne stieg höher am Himmel, bis ihre Strahlen durch die Öffnungen in den Bäumen drangen und auf Rhias jetzt frei hegendem Hals kribbelten, der am Ende der Zeremonie ohne Zweifel rot sein würde. Ein Schweißtropfen rann von ihrer Schläfe an ihrem Ohr entlang, und ihr begannen die Knie zu pochen. Sie machte sich selbst Vorwürfe, diese körperlichen Beschwerden zu empfinden, wo ihre Mutter doch für immer von den Schmerzen und den Freuden des Körperlichen entbunden war. Aber es war einfacher, sich auf den Schmerz in den Beinen zu konzentrieren als auf den Schmerz in ihrem Herzen und das Stechen hinter den Augen.

Niemand begegnete ihrem Blick – bis auf Areas. In seinem Gesicht stand eine Mischung aus Traurigkeit und Scham. Er musste sich, genau wie sie selbst, bewusst geworden sein, was sie getan hatten, als Mayra zu sterben begann. Sie wollte über den Begräbnisplatz laufen und sich ihm in die Arme werfen. Es würde seinen Schmerz lindern, wenn schon nicht ihren, und sie sehnte sich danach, dass sich jemand ihretwegen besser fühlte und nicht schlechter. Das würde ihre Rolle sein – den Tod, die unausweichlichste aller Wirklichkeiten, in einen annehmbaren Teil des Lebens zu verwandeln.

Aber wie konnte sie die Leute dazu bringen, den Tod zu akzeptieren, wenn sie selbst sich mit aller Macht gegen ihn auflehnen wollte, ihre Fäuste und ihre Stirn gegen den Boden schlagen, um so nutzlos den Menschen zu verteidigen, der gerade von ihm verschlungen worden war?

Auch wenn sie nicht einstimmen sollte, schloss Rhia die Augen und sang den Gesang in Gedanken mit. Sie streckte sich nach dem Krähengeist aus und bat ihn darum, einen seiner Art zu schicken, um die Folter ihrer Nachbarn und Freunde zu beenden.

Eine halbe Minute später rief eine Krähe über ihnen, vom höchsten Ast eines Hickorybaumes aus. Der Gesang verging, und die Erleichterung, die niemand laut aussprach, war spürbar, als alle aufsahen, um die Quelle des Geräusches zu bestätigen.

Der Vogel schrie noch einige Male, und jedes Mal wippten dabei sein Kopf und seine Brust. Eine unsichtbare Krähe, wohl der Partner dieses Vogels, antwortete auf den Ruf von einem Hügel aus. Als die Krähe abhob, bewegte sich der Ast, und ein einziges, totes Blatt fiel auf den Boden. Der Herbst nahte.

Der Vogel strich an der Laube vorbei, schlug mit den Flügeln gegen die Luft und ließ das sanfteste und zugleich härteste Geräusch ertönen, das Rhia je gehört hatte.

Ein ersticktes Schluchzen zu ihrer Linken verkündete, dass Tereus seiner Trauer unterlegen war. Sie schlang ihre Arme um den Hals ihres Vaters, und sie weinten einander gegen die Schulter, während Mayras Körper langsam in das Grab hinabgelassen wurde.

Der Schmerz ihres Vaters breitete sich wie Wellen von ihm aus. Tereus hatte schon oft verkündet, dass er nie wieder heiraten wollte, wenn er Mayra überlebte. Jetzt glaubte Rhia ihm und weinte um seine Leere.

Nach der Zeremonie wurde am Hang ein Gelage abgehalten. Die Dorfbewohner stellten sich in langen Reihen nach Wasser und Bier an, weil ihre Kehlen zweifellos vom Singen ausgetrocknet waren.

Tereus und Rhia saßen auf der Eingangstreppe, für alle gut sichtbar – so kam es Rhia zumindest vor. Die Teilnehmer der Beerdigung zogen an ihnen vorbei, um sie zu grüßen, aber nachdem ihr Vater einen von ihnen mitgenommen hatte, um auf der Koppel nach dem neuen Jährling zu sehen, riss der Besucherstrom ab. Ihre Brüder hatten sich bereits in einen weit entfernten Winkel des Hofes zurückgezogen, offensichtlich wollten sie allein sein.

Areas setzte sich bald zu Rhia.

„Bist du sicher, dass du mit mir gesehen werden willst?”, fragte sie.

„Ich bin mir sicher, dass ich bei dir sein will.”

Sie deutete auf die Dorfbewohner, die sich in Gruppen von acht bis zwölf zusammengeschlossen hatten, um zu essen. „Keiner von ihnen will mich auch nur ansehen, geschweige denn mir Gesellschaft leisten. Meine eigenen Brüder haben nicht mit mir gesprochen, seit sie gestorben ist.”

Areas betrachtete den fransigen Saum seines Ärmels. „Sie trauern. Erwarte nicht von ihnen, dass alles, was sie tun, einen Sinn ergibt.”

„Aber irgendetwas passt nicht. Wir haben uns letzte Nacht gut verstanden. Ich dachte, sie hätten mir vergeben, dass ich nicht die Macht hatte, ihr zu helfen. Dann hat sie ihnen irgendetwas gesagt, und das hat sie so aufgebracht.”

„Warum fragst du sie nicht danach?”

Rhia blickte über das Feld zu den Zwillingen. Sie saßen allein, ohne Speise oder Trank. Lycas hatte das Gesicht zornig verzogen, und Nilo hatte seinen steinernen Blick auf den Boden vor sich gerichtet. Die Dorfschneiderin und ihr Mann näherten sich den Zwillingen, um ihr Beileid auszusprechen. Die Dorfbewohner erhielten ein höfliches Nicken, aber es wurde ihnen nichts erwidert, also eilten sie zurück zum Gelage, sobald es die Höflichkeit erlaubte.

Rhia wendete sich wieder Areas zu, der eine beschwichtigende Geste machte. „Sie scheinen gerade wirklich nicht ansprechbar zu sein”, sagte er.

„Areas, kann ich mit Rhia allein reden?”

Sie sah auf und erblickte Galen, der immer noch seine weiße Zeremonienrobe trug. Areas ging davon, nachdem er heimlich ihre Hand gedrückt hatte.

Der ältere Mann setzte sich neben sie. „Es tut mir leid. Ich hätte letzte Nacht bleiben sollen. Ich wollte deiner Familie etwas Zeit für sich allein geben, aber ...”

„Aber Ihr hättet Euch nicht auf mein Urteil verlassen dürfen.”

Seine Stimme klang, als trüge sie ein schweres Gewicht. „Unsere Gaben können sich umwölken, wenn wir sie auf jene richten, die wir lieben.”

„Darf ich dann niemanden heben, damit ich nicht versage, wenn er stirbt?”

Galen schüttelte den Kopf. „Du kannst lernen, deine Gefühle von deiner Magie zu trennen. Aber es würde bei einigen immer schwierig bleiben. Nicht unmöglich, bloß schwer.”

Rhia sah gen Osten, wo das sanfte Grün des Tales auf den großen Wald traf. „Ich wollte, dass Mutter noch einen weiteren Sonnenaufgang sieht. Das war ihre liebste Tageszeit.”

„Man sagt, die andere Seite ist schöner als tausend Sonnenaufgänge, auch wenn das kein Trost sein mag.” Als sie nicht antwortete, fragte er leise: „Bist du nun bereit? Nach Kalindos zu reisen und bei Coranna zu lernen?”

Bereit? Sie würde sich nie bereit fühlen, unter wilden Kalindoniern zu leben, um zu lernen, ihre Gaben zu benutzen, indem sie Menschen sterben sah.

Dennoch ...

„Wann mache ich mich auf den Weg?”

„Wenn der Frühling naht. Bis deine Trauerzeit vorbei ist, haben wir längst tiefsten Winter, und reisen wären nicht ratsam. Ich bringe dich selbst in den Wald.”

Rhia wusste, dass sie dankbar sein sollte, vom Vorstehenden des Dorfrates bevorzugt behandelt zu werden, auch wenn sie vermutete, dass es mehr mit ihrem Wert als Krähe zu tun hatte als mit seinem Glauben an ihre Fähigkeiten.

„Aber zunächst”, sagte er, „muss ich dich im Wesen der Geister ausbilden. Wie man in sich selbst reist und ihre Heimstätten in der Geisterwelt besucht.”

Zum ersten Mal berührte Rhia die Spitzen ihrer frisch geschnittenen Haare. Die Ausbildung gab ihr die Möglichkeit zu fliehen, gab ihr einen Ort, an dem sie ihren Schmerz verstecken konnte, damit er ihr Herz nicht mehr zerstörte.

Jetzt war sie wirklich bereit.

7.KAPITEL

Während des nächsten Monats brachte Galen Rhia die Rituale und Bräuche bei, die den Erwachsenen von Asermos zugänglich waren. Sie lernte Gesänge und Gebete, um innere Ruhe zu finden, ohne die sie die Nachricht des Geistes falsch interpretieren oder gar nicht würde beachten können.

Galen nahm sie auch mit in den Wald, um ihr Uberlebenstechniken beizubringen, denn sie würde dort drei Tage und drei Nächte allein verweilen, ehe es zu ihrer Weihung kam. Er zeigte ihr, wie man Holz sammelte und ein Feuer anzündete und wie man das Wasser aus einem Bach reinigte, damit es keine Hinterlassenschaften von Tieren mehr enthielt. Er zeigte ihr den Pfad nach Kalindos, der Zweifel in ihr weckte – er schien den ganzen Weg bergauf zu führen.

Anderes praktisches Wissen beinhaltete das Zusammentreffen mit großen Waldbewohnern wie Wölfen, Pumas und Bären. Sie fürchtete von allen den Wolf am meisten, auch wenn sie wusste, dass er die geringste Bedrohung darstellte.

Ihre liebsten Stunden allerdings hatten mit den geistigen und nicht den körperlichen Herausforderungen zu tun. Unter Galens Anleitung machte sie sich in Trance auf Reisen in die Geisterwelt. Sie hatte ihr ganzes Leben lang Rituale befolgt, ohne sie infrage zu stellen, hatte verehrt, ohne ins Wanken zu geraten, und dadurch kamen ihr die Geister fern und gleichgültig vor, besonders nachdem sie der Kindheit entwachsen war. Jetzt wurden sie in ihr lebendig, jeder mit seinen eigenen Fähigkeiten, bis sie ihr wie alte Freunde erschienen. Rhia hatte viel verpasst, indem sie ihre Reise ins Erwachsensein hinausgezögert hatte, und es machte ihr Mühe, nicht über die verlorenen Jahre nachzugrübeln.

Nach einer besonders anstrengenden, aber auch fruchtbaren Sitzung in Galens Haus trat Rhia nach draußen und blinzelte in die grelle Nachmittagssonne. Das blendende Licht machte sie schwindelig, und sie tastete hinter sich, um die Tür zu schließen.

Links von ihr raschelte das Gras. „Da bist du ja.” Langsam drehte Rhia sich um und dachte über das Gesagte nach. Hier bin ich. Aber wo ist hier? Wer bin ich ?

Areas berührte ihren Arm. „Ich habe auf dich gewartet.” Sie sah zu ihm auf. Er sah neu aus, schärfer, als hätte jemand seinen Umriss mit einem angespitzten Stück Kohle umrandet.

„Du bist bei den Geistern gewesen, wie ich sehe.” Er strich ihr eine Locke aus der Stirn. „Deine Augen glänzen.”

Sie blinzelte. Jetzt verschwamm sein Umriss, und seine Ränder begannen, mit dem Hintergrund aus Haus und Bäumen zu verschmelzen.

„Vergib mir”, sagte sie, „ich bin ein wenig ...” Sie machte vage Bewegungen mit der Hand, um ihren Geisteszustand zu verdeutlichen. Sie war völlig durcheinander.

Areas lachte. „Daran gewöhnst du dich. Hast du Zeit, mit mir spazieren zu gehen?”

„Dein Vater hat gesagt, ich soll darüber nachdenken, was ich heute gelernt habe. Ich nehme an, er hat gemeint, dass ich das allein tun soll.”

„Ich halte dich nicht lange auf, versprochen.”

Rhia zögerte. Sie wollte nichts in ihrem Kopf hören außer ihre eigenen Gedanken, wollte nur ihrer neuen Erfahrung nachspüren. Aber sie wollte ihre Begegnungen auch mit jemandem teilen, der vor Kurzem die gleiche Reise unternommen hatte.

Außerdem vermisste sie Areas. Sie hatten in dem Monat, der seit Mayras Beerdigung vergangen war, nur wenig Zeit miteinander verbracht. Wenn sie nicht gerade von Galen ausgebildet wurde, blieb Rhia nahe bei ihrem Zuhause, um mit der Farm und im Haushalt zu helfen, aber auch, um ihrem Vater in ihrer gemeinsamen Trauer beizustehen.

„Ein kurzer Spaziergang.” Sie blickte zu Galens Haus zup>rück, um sicherzugehen, dass er ihren Ungehorsam nicht beobachtete.

Sie folgten einem Pfad, der den Hügel hinabführte, bis zum Schafgatter. Ein zottiger schwarzhellbrauner Hund drückte sich unter dem Zaun hindurch und sprang auf sie zu, um sie zu begrüßen.

„Fili!”, rügte ihn Areas. Mit einer Reihe von Handbewegungen wies er den Hund an, zu seiner Herde zurückzukehren. Fili richtete sich aufmerksam auf und gehorchte.

„Das ist erstaunlich”, sagte Rhia. „Sie tut es, nur weil du es ihr gesagt hast. Unsere Jagdhunde brauchen einen guten Grund. Sie tun Dinge, weil sie sie tun wollen.”

„Fili ist eine Hütehündin, viel klüger als ein Jagdhund. Sie will, was ich will.”

„Hmm.” Alles in allem zog Rhia die Unabhängigkeit der Jagdhunde vor und fand, dass die Fähigkeit, Befehlen zu folgen, kaum etwas über die Intelligenz von Mensch oder Tier aussagte.

Sie vertrieb die trüben Gedanken. „War es bei dir auch so? Das Reisen?”

„Wie was?”

„Alles ist anders. Ich sehe mich um, und die Welt scheint mir weniger Bestand zu haben. Sie scheint weniger echt.”

„Das hegt daran, dass du jetzt von einer anderen Welt weißt, die wir mit den Augen nicht sehen können.”

„Aber das wusste ich doch schon. Man hat mir vom Ort der Geister erzählt, seit ich ein Kind war. Und ich habe daran geglaubt.”

„Glauben ist nicht das Gleiche, wie es selbst zu erleben.” Er legte seine Hand um ihre. Auch sie fühlte sich unwirklich an. „Genug Gerede von der Geisterwelt.”

Aber das war alles, worüber sie sprechen, worüber sie nachdenken wollte. Sie seufzte, was er für ein Zeichen ihres Begehrens hielt.

„Ich habe dich vermisst.” Er zog sie an sich und drückte seinen Mund auf ihren. Sie erwiderte den Kuss, aber zum ersten Mal waren ihre Gedanken nicht ganz davon verzehrt, ihn zu wollen. Ein Teil von ihr blieb an einem anderen Ort.

Areas bemerkte ihre Distanz nicht, oder wenn doch, versuchte er, sie zu überwinden, indem er Rhia fester an sich zog. Seine aufgestaute Leidenschaft verlangte nach Erlösung.

Er flüsterte gegen ihren Hals, und sein Atem war so heiß, dass er sie zum Zittern brachte. „Ich weiß, wohin wir gehen können.” Er streichelte ihre Hüfte.

Sie löste sich von ihm, ehe seine Finger in ihr Begehren wecken konnten. „Areas, das ist nicht richtig. Ich bin noch in Trauer.”

Er ließ sie los und wischte sich über das Gesicht, als wollte er seine Scham auslöschen. „Es tut mir leid, Rhia. Ich habe es vergessen.”

„Du hast vergessen, dass meine Mutter gestorben ist?” „Natürlich nicht. Aber ich vermisse dich. Selbst wenn ich dich sehe, ist es, als wärst du nicht wirklich hier.” Vorsichtig streckte er die Hand nach ihr aus, als könnte sie ihn verbrennen. „Liebst du mich noch?”

„Das tue ich, aber du kannst gerade nicht die wichtigste Sache in meinem Leben sein. Als du dich auf deine Weihung vorbereitet hast, habe ich dich monatelang nicht gesehen.”

„Ich habe mich nicht so verändert, wie du dich gerade veränderst.”

„Dann kannst du es nicht verstehen.”

„Hilf mir dabei. Hilf mir, es zu verstehen.” Er zog sie nah an sich, dieses Mal voller Zärtlichkeit statt Verlangen. Sie schmiegte die Wange gegen seine breite Brust und wünschte, sie könnte seine Bitte erfüllen. Doch auch sie selbst begriff die Verwandlung nicht, die gerade erst begonnen hatte. Sie wusste nur, dass sie, um eine Krähenfrau zu werden – um das Ende des Lebens zu bezeugen, zu teilen, mit ihm zu kommunizieren -, ihr altes Selbst sterben lassen musste, entweder Stück für Stück oder auf einmal. Was geboren werden würde, nachdem sie die Grenze des Todes überschritten hatte, war vielleicht eine Frau, die Areas niemals heben konnte.

Der mit Kleidern beladene Wagen drohte Rhia in die Hacken zu fahren, als sie ihn den Hügel hinab zum Fluss zerrte. Als noch die ganze Familie unter einem Dach gelebt hatte, hatte es ein Pony gebraucht, um die Last der Wäsche von fünf Personen zu ziehen, aber jetzt reichte selbst Rhias Kraft dafür aus.

Die Platanen hatten bereits fast alle Blätter verloren, nur wenige bernsteinfarbene blieben noch an den verdrehten geisterhaften Asten hängen. Rhia mochte ihre karge, quälende Schönheit lieber als die liebliche Zurückhaltung der Pinien, die sie umgaben. Die Eichen hatten bereits all ihr goldenes Blattwerk abgeworfen, was Rhia erleichterte. Noch ein Jahr war vergangen, ohne dass Dorius brutal sein Ende gefunden hatte.

Als Rhia sich dem Flussufer näherte, durchbrach der Klang von Gelächter ihre Gedanken. Bestürzt erblickte sie zwei Dorffrauen. Die große, dünne Mali, die Wespe, war neunzehn, mehr als ein Jahr älter als Rhia. Sie ließ sich als eine der wenigen Kriegerinnen von Asermos ausbilden. Torynna, die blonde, fällige Spatzenfrau, deren Gesang das Blut und die Gedanken der Ermatteten beleben konnte, war mit ihren sechzehn Jahren gerade von ihrer Weihung zurückgekehrt. Gerüchte besagten, dass Torynna gegen jeden guten Ratschlag versuchte, schwanger zu werden, damit sie in die zweite Phase vordringen konnte. Dann würde ihr Gesang jeden, der ihn hörte, verwirren, seinen Willen für kurze Zeit lähmen oder ihr sogar kompletten Gehorsam verschaffen.

Die zwei Frauen zogen einen Wagen zwischen sich und teilten sich eine rote Frucht. Sie winkten ihr halbherzig zu, und dann sagte Mali etwas zu Torynna, das Rhia nicht hören konnte. Sie platzten mit hinterhältigem Gelächter heraus, bei dem Rhia die Haare zu Berge standen. Ihre Hand erstarrte mitten im Gruß und fiel auf den Zug des Wagens zurück.

„Guten Morgen, Krähenfrau”, sagte Mali, und es klang gehässig, „ein schöner Tag heute, meint Ihr nicht?”

„Etwas kalt.” Rhia trug Kleidung, Waschbrett und ihr Seifenstück zu ihrem liebsten Waschplatz, wo ein langer flacher Stein bis in den Fluss ragte. An diesem Ort gab es weniger Schlamm, und der Abstand zu den anderen Frauen war größer.

„Das ist wahr”, erwiderte Mali, „vielleicht ist es der letzte Waschtag, ehe der Fluss zufriert. Aber hübsch sieht es aus, nicht?”

Rhia spürte, dass Mali nur höflich zu ihr war, weil sie trauerte. Normalerweise dachte sich die Wespe jedes Mal schärfere Kommentare zu Rhias Mangel an Haltung und Koordination aus.

Sie nickte Mali zu und tauchte das erste Kleidungsstück, eines der grauen Arbeitshemden ihres Vaters, in das kalte Wasser.

„Rhia, mir gefallen deine kurzen Haare”, sagte Torynna. „Mir nicht”, antwortete sie auf das unehrliche Kompliment. „Was meint Areas dazu?”

„Das musst du ihn selbst fragen.”

„Mache ich.”

Das Waschbrett schlüpfte Rhia fast aus den Händen. Sie kannte den Ruf des Spatzenmädchens und wollte es nicht einmal in der Nähe von Areas wissen. Mit einem strahlenden Lächeln wandte Torynna sich um.

Die anderen beiden Frauen luden ihre Wäsche ab und setzten sich an den Rand des Ufers, die Röcke hochgezogen, damit sie trocken blieben. Torynna begann, eine Melodie zu summen, die Rhia nicht kannte. Selbst für ihre Ohren klang sie verführerisch.

„Rate, was ich über die Kalindonier gehört habe!”, forderte Mali ihre Begleitung auf. „Ich habe gehört, sie leben auf Bäumen.”

Torynna hörte auf zu summen. „Auf Bäumen? Wie Eichhörnchen?”

„Sie haben Häuser, du Dummchen, in den Ästen, und einige von ihnen kommen jahrelang nicht herunter. Mein Bruder und seine Freunde nennen sie Termiten’.”

„Wenn sie in den Bäumen leben, wo pinkeln sie dann?” „Vom Rand natürlich.”

Das schrille Kichern der Frauen fühlte sich wie Nadelstiche in Rhias Wirbelsäule an.

Torynna erzählte Mali: „Ich habe gehört, sie essen nur Frühstück, damit sie nachts schneller betrunken werden können.”

„Das kann ich glauben”, sagte Mali. „Aber was ich wissen will, ist, wie sie sich mit zwanzig Zentimeter langen Fingernägeln heben können?”

Das Seifenstück rutschte Rhia aus der Hand und landete im Fluss. Sie griff danach und durchnässte dabei ihren Ärmel. Mali und Torynna platzten vor Lachen. Nach einigen verzweifelten Griffen fand Rhia die Seife zwischen den Kieseln im Flussbett wieder. Als sie sie herauszog, war ihr Arm mit kaltem grünen Schleim bedeckt.

„Einige von uns könnten anscheinend längere Fingernägel gebrauchen”, bemerkte Torynna, „dann wären sie nicht so ungeschickt.”

Rhia drehte sich zu ihnen um und richtete den Blick auf einen Punkt weit hinter Torynnas Gesicht.

Das Lächeln des Spatzenmädchens verging. Sie sah über die Schulter. „Was guckst du so?”

Rhia sagte nichts. Nach einigen Augenblicken sah sie an Mali vorbei, deren Gesichtsausdruck wütend wurde.

„Was machst du da?”, fragte sie Rhia scharf.

„Ich sehe ...”

„Du siehst was?”

Rhia blinzelte langsam und schüttelte dann den Kopf, als wollte sie ihre Vision loswerden. „Hmm ...”

„Was?” Mali stand auf, als wollte sie zum Kampf antreten. „Hmm’ was?”

„Nichts.” Sie wandte sich wieder der Kleidung zu. „Ich würde diesen Apfel da nicht essen, wenn ich du wäre, Mali.”

„Warum nicht?”

„Und Torynna, du solltest dich ab jetzt lieber von Wasser fernhalten.”

„Von welchem Wasser?” Torynnas Stimme zitterte. „Meinst du den Fluss?”

Rhia hob den Kopf und starrte ans andere Ufer, als würde dort die Antwort hegen. „Ja, ich denke, es geht um den Fluss. Pfützen sind wahrscheinlich noch sicher.” Sie machte sich wieder an ihre Wäsche.

Die zwei Frauen flüsterten hastig miteinander, und ihnen war der Schrecken anzuhören, auch wenn Rhia nur Bruchteile mithörte.

„Kann sie wirklich ...”

„... sie war noch nicht bei ihrer Weihung ...”

„... gehört, sie hat Visionen ...”

Rhia verspürte Genugtuung und lächelte die beiden Frauen breit an.

Mali stemmte die Hände in die Hüften. „Du machst Witze.” „Vielleicht.”

„Machst du. Du siehst nicht wirklich, wie wir ...” „Sterben? Wahrscheinlich nicht.”

Sie nahm ein weiteres Hemd und versprach sich, dass dies das erste und letzte Mal sein würde, dass sie ihr Dasein als Seherin des Todes benutzte, um andere einzuschüchtern. Dieser Eid, spürte sie, machte ihren Mangel an Scham über dieses eine Mal wett.

„Ich habe es doch gesagt”, flüsterte Mali Torynna zu. „Dieser kleine Wicht lügt.”

„Aber es war so gruselig.”

„Rhia ist schon immer gruselig gewesen.” Sie verstummte für einen kurzen Augenblick. „Willst du den Rest von meinem Apfel?”

Torynna kicherte. „Wovon hatten wir gesprochen?” „Kalindonier.” Malis Stimme wurde schärfer. „Wir haben doch eine Quelle hier, die wir fragen können.”

Rhia ignorierte sie und schrubbte fester über das Hemd ihres Vaters, um einen Schlammfleck am Ärmel zu entfernen.

„Die meinst du?”, fragte Torynna. „Sie ist doch noch nicht da gewesen.”

„Sie muss nicht dorthin gehen, um kalindonische Männer zu treffen. Sie hat fast ihr ganzes Leben mit zweien von ihnen verbracht.”

Rhia hörte auf zu schrubben und starrte Mali an.

„Oh, guck mal, sie weiß es nicht.” Mali schlug Torynna gegen die Schulter. „Genau wie ich gedacht habe.”

„Was weiß ich nicht?”, hakte Rhia nach und bemühte sich, ihre Stimme ruhig zu halten.

„Der Vater von Lycas und Nilo. Er ist nicht gestorben, wie deine Mutter dir gesagt hat. Er ist zurück nach Kahndos.”

Rhias Fäuste klammerten sich um das nasse Hemd. „Du lügst.”

„Frag deine Brüder. Sie haben es als Letzte herausgefunden, in der Nacht, in der deine Mutter gestorben ist.” Sie lächelte Rhia gespielt mitleidig an. „Oder vielmehr als Letzte vor dir.”

8. KAPITEL

Die Tür zur Hütte ihrer Brüder öffnete sich ein kleines Stück. Eines von Nilos schwarzen Augen spähte durch die Lücke.

Ja? “

„Ich bin es”, sagte Rhia.

„Ich weiß.”

„Darf ich reinkommen?”

Nilo schlug die Tür zu. Rhia drehte am Riegel und trat trotzdem ein.

„Ich gehe nicht, ehe du mir nicht erklärst, wieso ihr wütend auf mich seid. Wenn du also willst, dass ich verschwinde, fang an zu reden.”

Nilos Mund verzog sich zu einer grimmigen Linie. Er bedeutete Rhia, sich auf das Bärenfell neben dem Herd zu setzen.

Sie brauchte nur zwei Schritte, um den Teppich zu erreichen. Die Hütte war kaum halb so groß wie das Haus ihres Vaters und noch unordentlicher, als man es von einem Ort, an dem zwei junge Männer ohne die Aufsicht ihrer Mutter lebten, erwartet hätte. Der einzige saubere Bereich lag an der Wand, wo die Brüder ihre Dolchsammlung aufbewahrten. Die Klingen der Waffen, mit denen sie seit fast zehn Jahren trainierten, reichten in der Länge von einer Handbreit bis zur Länge ihres Unterarmes. Die geraden Dolche dienten zum Erstechen, die geschwungenen zum Schlitzen, aber sie waren alle scharf, tödlich und makellos.

Um sich zu setzen, musste sie einen halben Laib Brot aus dem Weg räumen, der so hart war, dass er selbst als Waffe hätte dienen können. Daneben stand ein Krug mit einem Rest Bier, das zu einem schleimigen braunen Brei geworden war, der roch wie das Innere eines Pferdemauls.

„Es könnte sauberer sein”, murmelte Nilo. Rhia unterdrückte ein Würgen und reichte ihm mit spitzen Fingern den Krug. Er stellte ihn neben den Herd. „Wir haben andere Dinge im Kopf, als abzuwaschen.”

„Zum Beispiel, dass euer Vater Kalindonier ist?”

Ihr Bruder wirbelte so schnell herum, dass sie glaubte, einen Augenblick bewusstlos gewesen zu sein.

„Schweig!”

Sie nahm all ihren Mut zusammen. „Dafür muss man sich nicht schämen.”

„Wir schämen uns nicht. Es ist uns peinlich, dass wir die Letzten sind, die davon erfahren.”

„Ihr wart nicht die Letzten. Ich war es.”

Er verzog das Gesicht. „Mutter hat gedacht, du weißt es.” „Niemand hat es mir je gesagt, außer vielleicht damals, als ich krank war. Ich erinnere mich kaum an diesen Teil meines Lebens.” Nur an die Flügel in meinem Kopf. „Ich habe es erst vor ein paar Stunden erfahren, das schwöre ich.” Sie stand auf und legte eine Hand auf den Arm ihres Bruders. „Ich hätte es euch gesagt, wenn ich es gewusst hätte. Bitte glaube mir.”

„Dann sag mir, wie du davon erfahren hast.”

Sie zögerte.

„Die Wahrheit”, sagte er.

„Ich war heute Wäsche waschen, als Torynna und Mali dazugekommen sind.”

Nilos Kopf fuhr hoch. „Mali?”

„Sie hat es mir gesagt.” Rhia hob die Hände. „Ich habe sie provoziert. Auch wenn sie mich zuerst provoziert haben.”

„Was hat sie gesagt?” Es war schwer, ihm nicht zu gehorchen.

„Sie haben Dinge besprochen, die sie von Kalindoniern gehört haben, und Mali hat gesagt ...”

„Gute Dinge?”

Rhia zuckte mit den Schultern, aber es gelang ihr nicht, Gleichgültigkeit vorzutäuschen. „Es ist schwer zu sagen, ob sie gut oder schlecht waren.”

„Ich habe noch nie etwas Gutes über Kalindonier gehört, wenn also Torynna und Mali nicht gerade geheimes Wissen besitzen ...”

„Geheimes Wissen über was?”, fragte jemand hinter ihnen. Lycas stand in der Tür. Rhia wich erstaunt darüber, dass seine wachsenden Gaben der Tarnung es ihm erlaubt hatten, die Tür zu entriegeln und einzutreten, ohne dass sie ihn bemerkt hatte, zurück.

Nilo andererseits schien nicht überrascht. „Sie sagt, Mali hat ihr von unserem Vater erzählt”, sagte er zu Lycas. „Heute.”

„Mali?” Lycas warf einen Lederbeutel auf den Tisch. Die steife braune Pfote eines Hasen lugte aus einem Riss in der Naht. „Ich nehme an, sie hat gut von uns gesprochen?”

„Sag ihm”, wendete Nilo sich an Rhia, „sag ihm, was sie erzählt hat.”

„Ich will es nicht wissen.” Lycas durchsuchte die Flaschen neben dem Herd, bis er eine fand, deren Inhalt ihm gefiel. Er nahm einen großen Schluck und wischte sich dann über den Mund. „Ich bin nur hier, um etwas zu trinken, jetzt muss ich die Hasen ausnehmen. Ich habe drei Stück.” Er griff nach dem Bündel auf dem Tisch.

„Du solltest ihr zuhören”, forderte Nilo ihn auf.

„Willst du, dass ich es hier drinnen mache? Ist es hier zu sauber für dich, brauchst du noch Fell und Eingeweide auf dem Boden?”

Nilo zog den Beutel mit den toten Hasen von Lycas fort. „Rhia, fang an.”

Sie erzählte ihnen alles. Die drei waren untereinander immer brutal ehrlich gewesen, und genau deswegen waren ihre Brüder wahrscheinlich so verletzt, als sie glauben mussten, dass sie das Geheimnis um ihren Vater für sich behalten hatte.

Dieses eine Mal blieb Lycas’ Gesicht ausdruckslos. Als sie fertig war, griff er nach dem Hasenbeutel und verließ das Haus.

Nilo drehte sich wieder zu Rhia. „Ich habe immer gesagt, dass Mali nicht gut für ihn ist. Sie sind sich zu ähnlich.” Er versuchte zu lächeln, gab dann aber auf, weil sein Gesicht die unnatürliche Mimik nicht gewohnt war. „Wenn sie heiraten, bringen sie sich gegenseitig um, und Asermos verliert zwei Krieger, ehe die Schlacht überhaupt begonnen hat.”

„Schlacht?” Rhias Puls beschleunigte sich. „Was hast du gehört?”

„Nichts Sicheres. Nur Gerüchte über die Nachfahren.”

Sie versuchte, ein Schaudern zu unterdrücken, und schaffte es dabei nur, sich einen Halsmuskel zu zerren. „Ich sehe in letzter Zeit immer mehr von ihnen in der Stadt. Warum müssen sie so weit nach Norden kommen, um zu handeln?”

„Tun sie nicht. Ich glaube nicht, dass sie wirklich Händler sind. Sie sind Spione, die sich ansehen, ob unser Land und unsere Städte ihre Zeit wert sind und ihre Waffen und ihr Leben.”

Rhia fand es schwer, zu glauben, dass die Männer, die sie bei den Docks und den Tavernen hatte herumtrödeln sehen, vor langer Zeit mit ihrem Volk verwandt gewesen waren. Von ihrer provokativen Kleidung mit den vielen nutzlosen Accessoires bis hin zu der Art, wie sie sich fortbewegten, so als gehörte ihnen die Erde unter ihren Füßen, waren sie komplett anders. Vielleicht war es das milde südliche Klima, das sie angezogen hatte, nachdem sie sich vor Generationen von ihrem Volk gelöst hatten, oder die großen Städte, die sie gebaut hatten, um ihrem Stolz ein Heim zu geben. Was auch immer „es” war, die Nachfahren sorgten stets dafür, dass Rhia sich für einen Augenblick schämte, Mensch zu sein.

„Glaubst du, sie wollen bei uns einfallen?”, fragte sie.

„Sie wollen, was wir haben, und sie verstehen unsere Bräuche nicht. Perfekte Kombination für eine Invasion.”

„Man sollte etwas unternehmen.”

Nilo schnaubte verächtlich. „Wir Bärenmarder haben Torin alle gesagt, dass wir ein paar dieser ,Händler’ fassen und ausfragen sollten.” Torin, der Bär in seiner dritten Phase, dem Areas als Lehrling unterstellt war, diente als Militärführer von Asermos. Er war auch Torynnas Vater, aber das machte Rhia ihm nicht zum Vorwurf.

„Was hat er gesagt?”

„Er hat gesagt, das wäre nicht strategisch’.” Nilo grinste. „Lycas hat ihm gesagt, dass es auch nicht gerade strategisch klug wäre, eines Tages tot aufzuwachen.”

Rhias Gedanken wollten sich vom Krieg lösen, aber ihre Gaben wären in so einem Fall unverzichtbar. „Wie können sie uns schlagen? Sie haben nicht einmal Magie.”

„Wenn ihre Armee zehnmal so groß ist wie unsere, brauchen sie keine Magie.”

„Aber wenn sie Magie hätten, bräuchten sie doch die großen Armeen nicht?”

Er grinste sie an. „Deine Logik allein ist eine Brigade oder zwei wert.”

Sie lachte, auf seltsame Art erleichtert, dass eine Gefahr wie der Krieg ihre Geschwisterfehde ins rechte Licht rücken konnte. Und doch musste noch ein Problem angesprochen werden. Sie räusperte sich.

„Es tut mir leid, wie Mutter gestorben ist. Sie hätte etwas Besseres verdient.”

„Das hätte sie.” Er kehrte an den Herd zurück. „Aber du gehst nach Kalindos, um Krähenfrau zu werden.”

„Zu spät.”

„Für Mutter, aber nicht für den Rest von uns.”

Rhia wollte Nilos Handgelenke ans Haus fesseln, damit er nie ein Schlachtfeld betreten konnte. Aber er war dafür gemacht, zu kämpfen, berufen, ein Krieger zu werden. Im Gegensatz zu Rhia nahmen ihre Brüder ihren Geist an. Also sagte sie stattdessen zu ihm: „Ich kann nicht einmal daran denken, auch dich zu verlieren.”

Ungeduldig winkte er ab. „Wie dem auch sei, wenn es noch nicht offensichtlich ist, ich vergebe dir. Wir vergeben dir.”

„Danke, aber du kannst mir nicht in Lycas’ Namen vergeben.” „Stimmt.” Nilo bedachte das schmutzige Geschirr mit einem wütenden Blick und sah sich dann angewidert im ganzen Raum um. „Die Chancen stehen besser, wenn du uns beim Aufräumen hilfst.”

„Das Risiko gehe ich ein. Gib mir aber das Brot.”

Nilo nahm den Laib und klopfte mit der Faust dagegen. Das Geräusch klang wie eine Kürbistrommel. „Du brichst dir einen Zahn aus.”

„Das ist nicht für mich.”

„Die Hunde brechen sich einen Zahn aus.”

„Für die auch nicht. Es ist für die, die keine Zähne haben.” „Ah.” Er reichte es ihr. „Bitte sehr, Vogelmädchen.” Als ihre Hand sich auf den Riegel legte, versuchte Nilo es noch ein letztes Mal. „Wenn du beim Aufräumen hilfst, bekommst du einen von den Hasen.”

„Ich glaube, den bekomme ich auch so.”

Lycas saß auf einem Felsen neben einem Ahornbaum, zwischen scharlachroten Laubhaufen. Rhia stand in Hörweite von ihm, aber sie sagte nichts, als sie das harte Brot in den Händen zerkrümelte und die Krumen auf den Boden warf.

Aus dem Augenwinkel sah sie zu, wie Lycas einen Hasen an den Hinterbeinen an den Baum hängte und anfing, ihn auszunehmen. Er stach mit solcher Wut auf ihn ein, als hätte die Kreatur ihn beleidigt. Seine Schnitte gingen zu tief und verletzten das Fleisch.

Sie sprach ein lautloses Dankgebet an die Vogelgeister, deren Ahnen sich an den Krumen gütlich tun würden: Krähe, Eichelhäher und – nach kurzem Zögern – sogar Spatz, Torynnas Schutzgeist. Man durfte keinen Groll gegen die Geister hegen, weil einer ihrer menschlichen Schützlinge kleinlich war. Außerdem hatte Rhia Torynnas Gemeinheit dreifach zurückgezahlt, indem sie so getan hatte, als sähe sie ihren Tod voraus. Das Wenigste, was sie tun konnte, war, dem geflügelten Gegenstück ihrer Rivalin einige Krumen hinzuwerfen.

Würde Torynna ihren Platz an Areas’ Seite einnehmen? Schon viele andere hatten für ein paar Monate ihre Heimat verlassen, um zu ihrer Weihung und ihrer Ausbildung zu gehen, und bei ihrer Rückkehr lag der Geliebte in den Armen einer anderen. Rhia würde vielleicht ein Jahr oder länger in Kalindos verbringen.

„Das wollte ich noch essen”, sagte Lycas.

Rhia warf das letzte Stück Brot – zu groß, um von etwas anderem als einer Krähe verspeist zu werden – auf den Boden und rieb die Hände aneinander. „Dann beeil dich lieber.”

Er winkte sie mit seiner blutigen, kurzen Klinge zu sich. Sie stellte sich ihm gegenüber und wartete. Ohne den Blick von dem Hasen zu wenden, sprach er endlich.

„Erinnerst du dich an das Bund Stolperranken, das Nilo und ich destilliert haben, als wir sechzehn waren? Womit wir fast den Wald abgebrannt hätten?”

J a . “

„Davon hast du Mutter und Tereus nie erzählt.” „Natürlich nicht.”

„Du bist gut darin, Geheimnisse zu bewahren, Rhia.” „Für euch, nicht vor euch.”

Er betrachtete sie von oben bis unten und neigte dann einlenkend seinen Kopf zur Seite. „Wir hätten dich nicht so behandeln sollen, als wärst du unser Feind. Es tut mir leid.”

„Ich verzeihe dir.”

„In letzter Zeit fühlt es sich an, als wäre die ganze Welt unser Feind.”

„Ist sie nicht.” Sie trat näher zu ihm. „Wenn du für Asermos kämpfen willst, musst du glauben, dass du einer von uns bist. Hat dich je irgendjemand anders behandelt?”

Er dachte einen Augenblick darüber nach und schüttelte dann den Kopf.

„Sie alle wussten es”, sagte sie, „aber es war ihnen gleich.”

Sein Mund verzog sich zu einer schmalen Linie. „Mali ist es nicht gleich. Für sie bin ich anscheinend nur eine Termite’.”

„Mali hat Angst.”

„Wie kannst du es wagen?” Lycas’ wütender Blick brachte sie fast zum Davonlaufen. „Sie ist ein genauso mutiger Krieger wie ich.”

„Und auch du hast Angst. Es wäre verrückt, wenn nicht. Aber mutig sein hat nichts damit zu tun, seine Ängste tiefer in sich hineinzufressen. Es geht darum, sich ihnen zu stellen.”

Verwundert hob er die Augenbrauen. „Du hast gut reden darüber, sich seinen Ängsten zu stellen.”

„Ich weiß. Ich habe in der Vergangenheit Fehler gemacht, weil ich Angst hatte. Das werde ich nicht noch einmal tun.”

Lycas lachte und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. „Mut ist eine Gewohnheit, kleine Schwester, und du bist definitiv nicht daran gewöhnt.” Er sah ihr betroffenes Gesicht, zog seine Äußerung aber nicht zurück. „Tut mir leid, aber es stimmt. Trotzdem glaube ich an dich. Du findest einen Weg.”

Rhia spürte, wie ihr am ganzen Körper warm wurde. „Danke.”

Er zuckte mit den Schultern. „Mutter hat gesagt, ich soll nett zu dir sein, sonst findet sie einen Weg, mich von der anderen Seite aus zu nerven.”

„Gut.” Rhia stieß mit dem Fuß gegen die Pfote des größten Hasen. „Der hier ist ziemlich mickrig.”

Lycas verdrehte die Augen. „Nimm ihn dir.”

Er ließ ihr sogar den Beutel. Als sie sich auf den Weg nach Hause machte, erschien Nilo im Türrahmen ihrer Hütte. Sie hielt den Beutel hoch und winkte. Ihr Lächeln wurde breiter, als sie sah, wie finster er dreinblickte.

9. KAPITEL

Als Areas Rhia besuchte, war die Landschaft zum ersten Mal in diesem Winter verschneit.

Fast ein Monat war vergangen, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Damals waren sie sich zufällig in der Stadt begegnet. Sie hatten beide Tiere zum Markt gebracht – sie ein Paar junger Jagdhündinnen und er einen Bock und ein Mutterschaf -, und die Geschäfte hatten sie zu sehr abgelenkt, um mehr als ein paar Worte miteinander zu sprechen. Sie spürte, dass ein paar Worte nicht ausreichen würden, um die Distanz zu überbrücken, die seit dem Tod ihrer Mutter zwischen ihnen entstanden war.

Wenn sie nachts allein im Bett lag, wanderten ihre Gedanken nicht länger sofort zu seinem Gesicht, seinen Armen, seinem Körper, es sei denn, sie sah ihn leblos auf dem Schlachtfeld vor sich. Die Erinnerung an die leidenschaftliche Hitze zwischen ihren Leibern war vergangen.

Öfter jedoch dachte sie über Galens Lektionen nach, über die Geheimnisse von Leben und Tod. Zwischen Bildern, die sie aus der Geisterwelt mitgebracht hatte, wo Schmerz verging und Sorgen verschwanden, schlief sie ein. Sie begrüßte die lähmende Kälte des Winters und nahm den ersten Schneesturm zum An-lass, in ihrem Haus zu bleiben, wo es gemütlich und sicher war.

Jetzt erschien Areas auf ihrer Schwelle, und er sah alles andere als gemütlich und sicher aus. Die Kapuze seiner Felljacke gab seinem Kopf ein bestialisches Aussehen, und die kalte Luft hatte sein Gesicht gerötet. Er sah an ihr vorbei.

„Ist dein Vater zu Hause?”

„Nein, er ist zu Silina gegangen, um zu sehen, ob sie nach dem Sturm Hilfe braucht. Ihr Dach ist manchmal undicht, und ihr Mann ist zu krank, um es zu reparieren.” Sie strich sich das Haar glatt und fragte sich, ob sie so ungepflegt aussah, wie sie sich fühlte. „Bist du seinetwegen hier?”

„Nein. Ich wollte nur wissen, ob wir allein sind.”

Sie öffnete die Tür ganz. Areas trampelte sich den Schnee von den Füßen, ehe er ins Haus trat. Er legte seinen Ubermantel zum Trocknen neben das Feuer und zog sie dann ohne weitere Umschweife an sich. Sie versteifte sich.

„Was ist los?”, wollte er wissen. „Sind meine Hände kalt?” „Nein. Aber jetzt ist kein guter Zeitpunkt.”

„Nicht die richtige Mondphase? Ich dachte ...”

„Können wir uns einfach hinsetzen und reden? Es ist so lange her.”

„Natürlich.” Areas ging zum Bett in der Ecke. Noch immer hielt er ihre Hand fest. Sie löste sich aus seinem Griff und setzte sich an den Tisch. Statt neben ihr Platz zu nehmen, streckte er sich auf dem Bett aus und sah sie ruhig und verführerisch an.

Etwas in ihr regte sich, und sie fühlte sich zu ihm hingezogen. Nicht wie eine Geliebte, sondern wie ein Opfer, das im Bann eines jagenden Tieres stand. Sie wandte sich ab, um sich einen Becher kaltes Wasser einzugießen. Am Boden des Kruges schwamm schmelzender Schnee.

„Möchtest du auch etwas?”, fragte sie Areas, ohne ihn anzusehen.

„Bitte.”

Sie schob den Krug über den Tisch. Nach einigen Augenblicken stand er auf und setzte sich ihr gegenüber.

„Es tut mir leid, wenn ich dich bedränge”, sagte er.

„Tust du nicht.”

„Was ich eigentlich will, ist, dich zu holen. Zurück ins Leben, meine ich.”

„Das Leben ist nicht meine Berufung.”

„Es ist eines jeden Berufung, selbst deine. Leben ist das eine, was wir alle gemeinsam haben.”

Wie tiefsinnig, dachte sie so sarkastisch, dass es sie selbst erschreckte.

„Wie geht deine Ausbildung voran?”, fragte sie ihn.

Areas betrachtete den Grund seines Bechers, während er sprach. „Torin lässt mich viele Strategiespiele spielen, um meine Fähigkeiten zu schärfen. Ich bin der schlechteste Spieler, den er je gesehen hat.”

„Ich bin sicher, mit etwas Übung wirst du besser.”

„Ich habe nicht nur kein Talent, ich mag die Spiele auch nicht. Mehrere Schritte im Voraus planen, die Gedanken des Gegenübers nachvollziehen, alle Möglichkeiten abwägen, um die beste Taktik zu finden – so stelle ich mir einen schönen Nachmittag nicht vor.”

„Niemand hat versprochen, dass deine Gabe Spaß machen würde.”

„Ich muss keinen Spaß haben, ich muss nur inspiriert werden.” Sein Gesicht hellte sich auf, und er rumorte einen Augenblick unter dem Tisch, ehe er seine Faust hervorzog. „Streck deine Hand aus.”

Rhia hob ihre Handfläche. Areas legte seine darauf und deckte dann einen kleinen weißen Stein auf, der perfekt in die Mitte ihrer Hand passte. Seine Oberfläche war glatt wie Milch und mit schwarzen Streifen marmoriert. Der Umriss einer Krähe, schwarz bemalt, war in eine Seite geschnitzt.

„Sie passt in deine Tasche”, sagte er, „und wenn du Angst hast oder nervös bist, kannst du mit dem Daumen über die Krähe streichen und die Anwesenheit deines Schutzgeistes spüren.”

Rhias Worte – oder vielmehr eine Sammlung unzusammenhängender Laute – blieben ihr in der Kehle stecken, und ihre Lippen bewegten sich geräuschlos. Endlich bildete sich ein Satz.

„Hast du den für mich gemacht?”

„Nein, ich habe ihn für alle anderen Krähenfrauen in der Stadt gemacht, aber keine wollte ihn, also gehört er dir.”

Eine Wahrheit, die schon jahrelang an ihr nagte, lag jetzt in ihrer Handfläche und konnte nicht länger ignoriert werden.

„Areas, kann ich dich etwas fragen, und du versprichst, die Wahrheit zu sagen?”

Er wurde ernst. „Wenn du versprichst, nie wieder davon zu reden.”

Sie hielt den Stein mit den Fingerspitzen vor sich. „Was bist du?”

Areas öffnete den Mund, um zu sprechen. Er schob den Stuhl zurück und begann, auf und ab zu gehen.

Seine Bewegungen kamen ihr merkwürdig vor. Es brauchte mehrere Runden, bis sie merkte, dass sein schwerfälliger Gang durch Schritte ersetzt worden war, die so elegant waren, dass sie ihn mit abgewandtem Gesicht nicht erkannt hätte.

„Als ich in den Wald zu meiner Weihung gegangen bin”, sagte er, „erwartete ich, Bär zu treffen. Sieh mich an – ich habe den Körperbau, die Stärke, den Gang ...”

„Den Gang hast du nicht mehr.”

„Weil ich mit dir allein bin. Ich kann mich gehen lassen. Hoffe ich.” Sie nickte, und er fuhr fort: „Es war mein Schicksal, Krieger anzuführen, mein Volk zu verteidigen. Ich war mir mein ganzes Leben lang so sicher. Mein Vater war sich so sicher.”

„Er hat gesehen, was er sehen wollte.”

„In jener Nacht im Wald ...” Er versuchte mehrmals, den Satz zu vollenden. Rhia hatte Mitleid mit ihm.

„Spinne ist zu dir gekommen.”

Areas blieb stehen und seufzte auf, als legte er nach langem Marsch eine Last ab. „Ich wollte ihr sagen, dass sie gehen und Bär den Weg freimachen soll, aber ...”

„Bär ist nicht gekommen.”

„Und es fühlte sich so richtig an, in mir drinnen.” Verklärt sah er Rhia an. „Ich kann Schönheit schaffen.”

„Das kannst du.” Sie befühlte den Stein in ihrer Hand. „Aber erinnerst du dich an den Tag, als Lycas zu uns kam, weil meine Mutter krank geworden ist? Du hast ihn lange vor mir p>gehört. Waren das nicht deine Bärensinne?”

„Nicht die Art von Sinn wie Hören oder Sehen. Es ist ein Gefühl für Gefahr oder Arger, der aus weiter Ferne droht, so wie eine Spinne, die Schwingungen noch in den äußersten Winkeln ihres Netzes spürt.” Er machte eine ausladende Handbewegung. „Und ich sehe Muster in Dingen, Zusammenhänge, die anderen verborgen bleiben. Nicht so anders als das strategische Denken eines Bären.”

„Also hast du allen etwas vorgemacht.”

Sie bereute ihre Wortwahl sofort. Seine Miene verdüsterte sich.

„Es tut mir leid”, sagte sie. „Was ich meinte, war ...” „Nein, du hast recht. Ich habe allen vorgemacht, Bär zu sein.” „Warum?”

„Es ist einfacher, das zu sein, was die anderen von mir glauben.”

„Dein Vater weiß es nicht?”

„Was im Wald passiert, bleibt ein Geheimnis zwischen dem Menschen und seinem Geist.” Areas breitete seine langen Finger aus und starrte sie an, als hielten sie die Erinnerung an seine Weihung fest. „Ich habe meinen Vater noch nie belogen. Ich habe ihm nur nicht die Wahrheit gesagt.”

Rhia betrachtete das Bett, in dem Mayra gestorben war. „Galen hat mir gesagt, es ist schwer, die Wahrheit in denjenigen zu sehen, die wir lieben. Ich wollte glauben, dass Mutter noch mehr Leben in sich trug, als wirklich der Fall war. Mein Wunsch hat meine Magie behindert, hat er gesagt.” Sie keuchte auf. „Er weiß von dir.”

Erschrocken sah Areas sie an. „Warum glaubst du das?” „Deshalb hat er mir davon erzählt. Weil er es aus Erfahrung wusste. Er schien traurig, als er es erzählt hat, als wäre er von sich selbst enttäuscht.”

„Weil er sich in mir getäuscht hat.”

„Nein.” Sie stand auf und ging auf ihn zu. „Weil er versucht p>hat, dich auf den falschen Weg zu leiten. Weil er überhaupt versucht hat, dich zu leiten. Er hätte dich das sein lassen sollen, was du bist, ohne sich einzumischen. Er weiß das jetzt, wenigstens ein Teil von ihm tut das.”

„Er will einfach nur, was für unser Volk am besten ist. Das tun wir alle.”

Sie dachte darüber nach, was seine Aussage bedeutete. Asermos brauchte Männer und Frauen, die in den Krieg zogen, der vielleicht weit am Horizont auf sie wartete.

Der Krieg.

„Areas, wenn du eine Spinne bist, dann wirst du kein Krieger sein. Du kannst ein langes Leben leben.” Mit mir.

Er sträubte sich. „Ich bin sehr wohl ein Krieger. Nicht durch meine Geburt, sondern weil ich es mir aussuche.”

„Dein Geist hat dich aus einem bestimmten Grund gewählt. Vielleicht braucht dein Volk deine Spinnengaben.”

Areas lachte bitter und klopfte auf den Stein in ihrer Hand. „Unser Volk braucht nicht noch mehr Trödel.”

„Trödel?” Sie zog ihre Hand zurück und brachte den Stein außerhalb seiner Reichweite. „Das hältst du von diesen Dingen? Deshalb hast du ihn für mich gemacht, als Schmuck? Ich kann keine Kraft aus Trödel schöpfen.” Sie senkte die Stimme. „Du hast es selbst gesagt, du kannst Schönheit erschaffen. Schönheit hat eine Bedeutung.”

Er berührte ihre Wange so sanft, dass es sie fast zum Weinen brachte. „Das weiß ich.”

Dann küsste er sie so zärtlich, dass ihre Lippen schmerzten, als zerquetschte er sie brutal, statt sie, sich der Zerbrechlichkeit des Augenblicks bewusst, nur zu streifen. Behutsam glitt er mit den Lippen ihren Hals entlang und berührte ihre Brüste, nicht fordernd, nur fragend. Als sie sich versteifte, ließ er die Hände wieder zu ihrer Hüfte hinabgleiten. Rhia lehnte sich an seine Brust.

„Ich will bei dir sein”, flüsterte sie, „aber nicht hier. Nicht p>hier, wo es passiert ist.”

„Das verstehe ich.” Vorsichtig legte er ihr das Kinn auf den Kopf. „Glaubst du, im Heuschober ist es zu kalt?”

Sie steckte den weißen Stein in die Tasche. „Ich glaube, wo wir beide sind, ist es nie zu kalt.”

„Dann gehen wir.”

„Warte.” Sie griff nach seiner Hand und hielt ihn auf. „Du sollst wissen, dass ich dich liebe, egal, was du bist.”

Sein Gesicht wurde wieder ernst. „Selbst wenn ich ein Bär bin?”

Sie ließ seine Hand los. „Wenn du ein Bär bist, bist du nicht echt.”

Er stolperte rückwärts, als hätte sie ihn geschlagen. „Ich bin nicht echt? Ich bin nicht echt? Du hast zwei Jahre damit verbracht, so zu tun, als wärst du keine Krähe.”

„Ja, ich habe verleugnet, was ich bin, und andere mussten deswegen leiden. Ich will nicht, dass du den gleichen Fehler begehst.”

„Es geht nicht darum, mich vor meinen eigenen Fehlern zu bewahren, nicht wahr, Rhia?” Er richtete einen Finger auf sie. „Du willst nicht, dass ich Bär bin, weil du Angst hast, dass ich sterben muss. Weil du zu selbstsüchtig bist, mich mit der Welt zu teilen.”

„Ist das so verkehrt? Ist es falsch, dass ich einen Ehemann will, der lange genug lebt, um seine Enkel kennenzulernen? Und was ist damit, Areas? Wenn du Vater wirst und in die zweite Phase deiner Macht eintrittst, was passiert dann? Wenn du, statt ein stärkerer Kämpfer zu werden, das Wetter vorhersagst und an der Decke entlangkriechst? Wie willst du es dann verbergen?”

„Ich weiß nicht, wie, aber eines weiß ich – es soll nicht deine Sorge sein.”

Rhias stockte der Atem, und ein dumpfer Schmerz füllte die Leere zwischen ihren Rippen. „Was soll das heißen?”

„Es bedeutet, dass du und ich ...” Er schüttelte den Kopf und ging aus der Tür.

„Du und ich?” Sie fasste nach seinem Arm, als er seine Stiefel anzog. „Was willst du damit sagen?”

„Die Dinge haben sich verändert, seit deine Mutter gestorben ist. Du bist so hart zu dir selbst, und jetzt machst du das Gleiche mit mir.” Er warf sich die nasse Jacke über die Schultern und spritzte dabei geschmolzenen Schnee auf Rhias Wange. „Die Verwirrung in mir ist schwer genug, ohne auch noch von dir verurteilt zu werden.”

„Es tut mir leid.”

Er betrachtete einen Augenblick lang ihr Gesicht und öffnete dann die Tür. „Es tut dir leid, mir wehgetan zu haben, aber nicht, was du fühlst.”

Sie wappnete sich gegen die kalte Luft und den Lockruf ihrer eigenen Verzweiflung, wollte ihn anflehen zu bleiben. „Nein”, flüsterte sie. „Das tut mir nicht leid.”

Als sie sah, wie Areas durch den Schnee davonstapfte, schien der Stein in ihrer Tasche schwerer zu werden, bis sie endlich auf die Treppenstufe hinabglitt und ihren Tränen freien Lauf ließ.

Der Winter würde lang werden.

Der Schnee fiel kniehoch, und die Jagdhunde tollten darin wie Welpen und vergruben ihre Schnauzen in den weißen Verwehungen. An manchen Tagen schien die Sonne warm genug, dass der Schnee weich wurde, aber in der Nacht darauf bekam er eine harte Kruste, die jeden Schritt zu einem Kampf werden ließ. Rhia musste Bienenwachs und Lanolin auf die Pfoten der Hunde auftragen, ehe sie auf Wolfsjagd gingen, um ihre Ballen vor dem scharfen Eis, mit dem der Schnee durchzogen war, zu schützen.

Mitten im Winter brüllte der Wind unaufhörlich, drei Tage und Nächte lang, und Rhia und Tereus wechselten sich damit p>ab, jede Stunde den Schnee von der Tür zu schippen. Verwehungen türmten sich vor den Fenstern auf und ließen in ihrem Haus den Tag zur Dämmerung werden. Wenn Rhia gezwungen war, nach draußen zu gehen, um nach den Tieren zu sehen, brannte ihr der Wind in den Augen und ließ ihre Nase laufen und die Nasenlöcher zufrieren.

An diesen stürmischen Tagen schien die Sonne hell und ließ den Schnee funkeln und glitzern wie die magischen Pulver, die Mayra einst zum Heilen genommen hatte. Rhia sah den tanzenden Funken zu und ließ den Wind ihre Tränen trocknen.

Während der kurzen Zeiten, in denen es taute, eilte sie zu Galens Haus, um ihre Ausbildung fortzusetzen. Areas war nie daheim, wenn sie kam. In den ersten zwei Wintermonaten träumte sie oft von ihm und erwachte fast jeden Morgen mit einem nassen Kissen, aber je näher der Frühling kam, desto verschwommener wurde sein Gesicht in ihrer Erinnerung, bis ihre Liebe wie ein schöner, aber unerreichbarer Kindertraum schien. Sie nahm allerdings weiter den Samen der wilden Möhre, denn es gab genug von dem Kraut, und es linderte ihre monatlichen Krämpfe und die Kopfschmerzen.

Tereus hatte nach Mayras Tod angefangen, unten zu schlafen, und erlaubte Rhia, das größere Bett im Einziehboden zu benutzen, wo es wärmer war und zurückgezogener. Sie wusste, dass er nicht länger allein in dem großen Bett schlafen konnte, das er einst mit seiner Frau geteilt hatte. Manchmal, in der Dunkelheit, hörte sie ihn weinen.

In der Nacht, bevor sie nach Kalindos aufbrechen sollte, lag sie wach und machte sich mehr Sorgen als gewöhnlich.

„Vater?”, sagte sie so leise, dass er es nur hören konnte, wenn er wach war.

„Ja, Rhia?”

„Wie wird es dir hier ergehen, wenn ich fort bin?”

Er seufzte. „Wie ich dir bereits die neunzehn anderen Male, als du gefragt hast, gesagt habe, deine Brüder werden mir mit p>den Tieren helfen und die Nachbarn mit allem anderen. Ich kann gut selbst kochen.”

Sie verkniff sich einen Kommentar. Seine Zubereitungen verdienten kaum den Namen „Kochen”, aber sie würden verhindern, dass er verhungerte.

„Was ist, wenn du krank wirst?”

„Dann kümmere ich mich um mich selbst, bis ich gesund bin.”

„Was, wenn du dich nicht selbst kümmern kannst?” „Dann liege ich hier und vergehe. Mit meinen letzten Gedanken werde ich dir bittere Vorwürfe machen, weil du erwachsen geworden bist.”

Sie lachte leise. „Hör auf damit.”

„Du hast gefragt.”

Der Zeitpunkt war so gut wie jeder andere, um zu sagen: „Ich glaube, du solltest wieder heiraten.”

Seine Stimme wurde leiser. „Das kann ich nicht.”

„Wirst du nicht einsam sein?”

„Es gibt schlimmere Dinge als Einsamkeit.”

Rhia konnte es sich nicht vorstellen. „Was zum Beispiel?” „Ich komme zurecht.”

„Du solltest noch mehr Kinder haben. Was, wenn mir etwas geschieht und du nie Großvater wirst?”

„Dir wird nichts geschehen.”

„Aber was, wenn ...”

„Dir wird nichts geschehen”, sagte er mit so viel Nachdruck, dass sie wusste, hier war mehr als Wunschdenken im Spiel.

„Vater, hast du etwas gesehen?”

Seufzend drehte er sich um. „Ich werde Großvater werden. Schlaf jetzt.”

Sie lag im Dunkeln, die Hand auf ihrem Bauch, und fragte sich, wie er sich anfühlen würde, wenn in ihm neues Leben heranwuchs.

„Es ist dennoch seltsam, nur ein Kind zu haben”, sagte sie.

Im Seufzen ihres Vaters lag dieses Mal mehr als nur Ungeduld. „Galen hat nie wieder geheiratet, nachdem Areas’ Mutter im Wochenbett gestorben ist.”

„Aber er hat auch keine Farm. Lycas und Nilo bleiben nicht ewig, um dir zu helfen. Sie sind nicht für dieses Leben geschaffen.”

„Rhia, möchtest du wirklich in einem Jahr nach Hause kommen und sehen, dass eine andere Frau den Platz deiner Mutter eingenommen hat?”

Mit diesem Bild vor Augen versuchte sie, ein gelogenes „Ja” herauszupressen, aber sie konnte es nicht. „Es geht nicht darum, was ich will. Es geht um das, was du brauchst.” Als er nicht antwortete, insistierte sie: „Du bist noch nicht einmal vierzig. Bitte sag, dass du darüber nachdenkst.”

Eine lange Zeit der Stille verging, nur durchbrochen von seinen knappen Atemzügen.

„Nein.”

An seinem Tonfall erkannte sie, dass es sein letztes Wort war.

„Ich hebe dich”, sagte sie.

„Ich hebe dich auch. Gute Nacht.”

Rhia zog sich die Decke bis unters Kinn und wartete auf Schlaf, der nicht kommen wollte.

10. KAPITEL

Am nächsten Morgen betrat Rhia den Hundezwinger, um die Vierbeiner ein letztes Mal zu füttern. Als sie fertig gefressen hatten, kamen sie einer nach dem anderen zu ihr, um sich umarmen zu lassen. Ihre Verbindung zu den sechs derzeitigen Mitgliedern des Rudels war nicht so eng wie die, die sie zu Boreas gehabt hatte, aber sie konnte jeden von ihnen mit geschlossenen Augen erkennen – am Bellen oder an ihrem individuellen Laufstil.

„Wirst du sie mehr vermissen als mich?”, fragte ihr Vater. Rhia sah auf, zuckte zusammen und schüttelte dann, unfähig, ein Wort zu sagen, den Kopf.

Er betrat den Zwinger und kraulte den ersten Hund, der ihm nahe kam, hinter den Ohren. „Die Hunde kommen gut ohne dich zurecht.”

„Lass nicht zu, dass Lycas sie ärgert.”

„Werde ich nicht.” Er hockte sich neben sie. „Bist du bereit?”

„Es gibt nichts zu packen. Galen lässt mich keine eigenen Sachen mitnehmen.”

„Er bringt alles, was du brauchst. Als ich gefragt habe, ob du bereit bist, meinte ich, bist du bereit?”

Urplötzlich musste sie an Mayras Tod denken. „Ich bin schon lange mehr als bereit, Vater.”

„Gut.” Er stand so rasch auf, dass seine Knie knackten. „Weil sie gerade kommen, um dich zu verabschieden.”

„Sie?”

„Galen, deine Brüder und die anderen Dorfbewohner.” „Oh.” Sie krallte die Hand in ihren langen Rock.

„Areas ist bei ihnen.”

Rhia rappelte sich auf und umarmte ihren Vater. Mit einem letzten Kopftätscheln für jeden Hund eilte sie aus dem Zwinger und den Hügel hinauf.

Eine Menschenmenge kam ihr den Hügel hinauf entgegen, fast halb so groß wie die Masse, die zur Beerdigung ihrer Mutter gekommen war. Manche trugen Körbe mit Essen und Getränken in Flaschen – sie mussten zu ihren Ehren und zur Feier ihrer Abwesenheit ein Gelage geplant haben, nachdem sie sich auf den Weg gemacht hatte. Die Tradition verlangte danach, aber Rhia hatte nicht so viel Aufmerksamkeit erwartet, wenn man bedachte, wie spät sie zu ihrer Weihung aufbrach. Sie fragte sich, wie viel von dem Essen in ihre Taschen passen würde.

Als sie Rhia bemerkten, lösten sich Lycas und Nilo von der Menge und rannten den Hügel hinauf. Nilo hob sie auf seine Arme, als wäre sie ein Kind.

„Was machst du da?”, kreischte sie durch ihr Gelächter. Lycas fasste sie an den Knöcheln, und die Zwillinge trugen sie auf den Wald zu, ihren Körper zwischen sich baumelnd wie ein totes Reh.

„Wir dachten, du kommst nicht mit, wenn wir dich nicht schleifen”, erklärte Nilo.

„Bitte lasst mich runter.” Das Greinen, das sie sich als kleine Schwester angeeignet hatte, drang aus ihrer Kehle. Sie räusperte sich und fuhr mit tieferer Stimme fort: „Ich verlange, dass ihr mich gehen lasst.”

„Dich gehen lassen?”, sagte Lycas. In den Augen der Zwillinge stand das gleiche schelmische Funkeln. „Interessanter Gedanke.”

„Oh nein.” Sie zappelte mit den Beinen. „Wenn ihr mich in den Matsch fallen lasst, dann schwöre ich, ich werde ...”

„Ah, mit dir kann man keinen Spaß mehr haben.” Lycas ließ ihre Füße langsam auf den Boden runter. Nilo hob ihre Schultern, bis sie gerade stand, und klopfte dann absolut nichts vom Rücken ihres Mantels. Sie drehte sich zu ihm um.

„Ich werde dich überhaupt nicht vermissen”, sagte sie und umarmte ihn fest.

„Mein Leben wird ohne dich auch das reinste Paradies sein, kleiner Vogel.”

Als Nilo sie losließ, wandte sie sich an Lycas. „Dich werde ich wirklich nicht vermissen.”

Er umarmte sie und hob sie hoch. „Du wirst mir als Zielscheibe fehlen.”

Als ihre Füße wieder den Boden berührten, strich sie sich das Haar glatt und blickte zu der näher kommenden Menge, die mittlerweile den Hügelkamm überschritten hatte. Areas ging neben Galen her und hatte seinen Blick fest auf Rhia gerichtet. In welch einer Stimmung er sich befand, war aus der Ferne nicht zu erkennen.

Lycas flüsterte über ihre Schulter: „Wenn der Kerl deine Gefühle verletzt, fühlt er selbst lange Zeit gar nichts mehr.”

„Bitte haltet euch da raus”, sagte sie so ernst, dass ihre Brüder zurücktraten.

Alle verbeugten sich zum Gruß vor ihr. Galen trug einen großen Sack auf dem Rücken, aber er schien an seiner Last nicht schwer zu tragen zu haben. Rhia brachte einen Augenblick damit zu, zu hoffen, dass viel verschiedenes Essen darin war, ehe sie ihre Aufmerksamkeit Areas zuwandte. Er lächelte sie an, wenn auch nicht auf die Art, wie er es früher getan hatte, und winkte sie zu sich. Sie sah Galen an, der zustimmend nickte, ehe er ging, um Tereus zu begrüßen.

Areas und Rhia betraten die Laube aus nackten Eichenzweigen, wo sie in der Nähe von Mayras Grab standen. Ihr wurden die Handflächen feucht vor Schweiß, und sie zog die Hände in die Ärmel ihres Mantels zurück.

„Ist dir kalt?”, fragte Areas.

„Warum bist du gekommen?”

Er öffnete den Mund, aber es kam kein Wort heraus.

„Ich habe keine Zeit, über das Wetter zu plaudern, Areas.” „Ich bin hergekommen, weil es mir sehr wichtig ist, dass du zwei Dinge weißt.”

Gespannt hielt sie den Atem an.

„Ich hebe dich”, sagte er.

Ein Lächeln breitete sich über ihrem Gesicht aus und verschwand wieder. „Was ist das andere?”

„Ich denke, wir sollten frei sein, während du fort bist.” „Frei für was?”

„Um herauszufinden, ob das, was wir haben, echt ist. Wenn du zurückkommst, bist du Krähe, und ich ... ich habe vielleicht akzeptiert, was ich bin. Bis dahin glaube ich nicht, dass wir einander etwas versprechen sollten. Wenn du jemanden kennenlernst ...”, er wandte den Blick ab, „... oder wenn ich jemanden kennenlerne ...”

In Rhias Gedanken blitzte Torynnas Gesicht neben dem von einem Dutzend anderen Mädchen auf. „Hast du?”

Autor

Jeri Smith Ready
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