In den Armen des stolzen Dukes

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Die junge Martha will den letzten Willen ihres Vaters erfüllen und seine Forschungsergebnisse dessen Protegé Jordan, dem Duke of Roth, übergeben. Da dieser ihre Briefe nicht beantwortet, reist sie zu seinem Landsitz. Der Empfang ist frostig - der Duke lehnt die Ergebnisse seines Mentors ab! Allerdings gibt Martha nicht so leicht auf und bleibt kurzerhand auf seinem Anwesen. Je mehr Zeit sie mit dem abweisenden Adligen verbringt, desto deutlicher spürt sie, dass hinter Jordans kalter Fassade ein heißes Herz schlägt. Als er sie in einer Nacht zärtlich liebt, glaubt Martha sich im siebten Himmel. Doch den Heiratsantrag macht er am nächsten Morgen einer anderen!


  • Erscheinungstag 26.02.2019
  • Bandnummer 337
  • ISBN / Artikelnummer 9783733736545
  • Seitenanzahl 264
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Griffin House, England,

Juli 1871

Sprachlos starrte Martha York auf den Briefumschlag, den ihre Schwester ihr in die Hand gedrückt hatte.

Seit Monaten versuchte sie den Letzten Willen ihres Vaters zu erfüllen. Er hatte sie beauftragt, sein Lebenswerk dem Duke of Roth zu übergeben. Weiter nichts. Nur dass es mit der Übergabe einfach nicht klappen wollte.

Martha hatte den Duke mehrmals angeschrieben, ohne je eine Antwort zu erhalten. Keine Reaktion, nicht einmal eine Zeile von einem Sekretär. Keine wie auch immer geartete Erklärung. Sie hatte nicht aufgegeben, und der Duke hatte jedes ihrer Schreiben konsequent ignoriert.

„Willst du den Brief nicht aufmachen, Martha?“, fragte Josephine gespannt.

Martha nickte und ließ den Blick über das unverwechselbare Wappen auf der Rückseite gleiten, ehe sie das Siegel erbrach.

Ein Teil von ihr wäre erleichtert gewesen, wenn er niemals geantwortet hätte. Nun ja, wenigstens war sie ehrlich sich selbst gegenüber. Denn eigentlich ging es ihr gegen den Strich, die umfangreichen Aufzeichnungen ihres Vaters, seine Prototypen und seine detaillierten Versuchsprotokolle in fremde Hände zu geben.

„Was schreibt er, Martha?“, fragte Josephine gespannt. „Hat er uns nach Sedgebrook eingeladen? Sag schon, hat er?“

Stirnrunzelnd hob Martha den Blick zu ihrer Schwester. „Wie kommst du denn darauf? Natürlich nicht.“

„Aber was schreibt er?“, wiederholte Josephine ungeduldig. „Willst du es uns nicht vorlesen?“ Sie warf ihrer Großmutter einen hilfesuchenden Blick zu.

Gran sagte nichts, doch auch ihr Blick war erwartungsvoll auf Martha gerichtet – erstaunlich angesichts der Tatsache, dass normalerweise nichts ihre Aufmerksamkeit von ihrer Häkelarbeit abzulenken vermochte.

„Er schreibt, dass er den Nachlass nicht haben will. Und er spricht uns sein Beileid zu Vaters Tod aus. Nach einem Jahr.“

„Er muss die Sachen nehmen“, bestimmte ihre Großmutter ruhig. „Am besten, wir lassen alles auf ein Pferdefuhrwerk laden und schicken es nach Sedgebrook. Dann bleibt ihm gar keine andere Wahl.“

„Ich würde mir die schlimmsten Vorwürfe machen, wenn Bessie dabei Schaden nähme.“ Martha schüttelte den Kopf. Bessie war der jüngste Prototyp ihres Vaters. „Wie Dad darauf kam, dass der Duke seinen Nachlass überhaupt haben möchte, kann ich mir beim besten Willen nicht erklären.“

„Sie waren befreundet“, versetzte ihre Großmutter schlicht. „Der Duke gehörte zu den wenigen Leuten, denen Matthew gern Zeit schenkte.“

Martha nickte. Ihr Vater war ein Einsiedler gewesen, ein glücklicher. Jeden Morgen hatte er sich in das Cottage am anderen Ende des Parks zurückgezogen, den Tag, umgeben von seinen Erfindungen, mit seinen Werkeleien verbracht und sich von seiner Vorstellungskraft davontragen lassen.

Die ungewöhnliche Freundschaft zwischen Jordan Hamilton und ihrem Vater hatte angefangen, ehe der Mann der Duke of Roth geworden war. Zu der Zeit hatte er noch als Offizier bei der Marine gedient und sich für die Arbeit ihres Vaters interessiert, ihm geschrieben und Fragen gestellt. Eine intensive Korrespondenz war daraus entstanden, die erst mit dem plötzlichen, unerwarteten Tod ihres Vaters geendet hatte, er starb an einer Lungenentzündung.

„Wenigstens hat er sich endlich dazu herabgelassen, auf meinen Brief zu antworten“, sagte Martha seufzend. „Aber das war auch das höchste der Gefühle in den vergangenen Monaten. Wahrscheinlich hatte er es satt, dass ich ihm immer wieder schreibe.“

„Was wirst du nun machen?“ Ihre Großmutter musterte sie fragend, die Häkelarbeit lag vergessen auf ihrem Schoß.

„Vielleicht fahre ich einfach fort, ihn mit Briefen zu bombardieren, bis er anbietet, herzukommen.“

„Wir könnten ihm Vaters Nachlass doch auch bringen“, schlug Josephine lebhaft vor.

Martha sah ihre Schwester an.

„Das kommt überhaupt nicht infrage.“ Sie senkte den Blick auf die Zeilen mit der charakteristischen Handschrift, die ihr so überaus vertraut war. Immerhin hatte sie ihrem Vater jeden einzelnen Brief des Dukes vorgelesen.

Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er das Vermächtnis ihres Vaters zurückweisen würde. Dass er es tat, war für sie wie ein Schlag ins Gesicht. Und dass er ihre Briefe so lange ignoriert hatte, empfand sie wie eine Verhöhnung der Freundschaft, die Matthew York so viel bedeutet hatte. Sie war davon ausgegangen, dass dem Duke of Roth genauso sehr an der Beziehung gelegen war, doch das traf offenbar nicht zu.

Ihre Schwester runzelte die Stirn. „Weshalb kommt es überhaupt nicht infrage?“

„Josephine, bitte setz dich.“ Martha warf dem Mädchen einen strengen Blick zu.

Jedes Mal, wenn Josephine an ihr vorbeiging, wehte Martha ihr Parfüm in die Nase. Nachdem ihre Mutter ausgezogen war, hatte Josephine sich angewöhnt, Maries französisches Lieblingsparfüm aufzulegen. Ihrer Meinung nach war es ein anspruchsvoller Duft. Martha fand ihn zu schwer und zu süß.

Aber vielleicht sprühte Josephine ihn sich auch nur auf, weil er sie an ihre Maman erinnerte. Aus dem gleichen Grund mochte sie wahrscheinlich auch den Rosensalon so gern. Ihre Mutter hatte oft dort gesessen und mit unergründlichem, fast ein wenig beunruhigendem Blick auf den Rasen hinausgestarrt.

Der Rosensalon war mit allem ausgestattet, was Marie liebte, aber es hatte ihr anscheinend nicht gereicht, um auf Griffin House bleiben zu wollen. Eine in einen Rahmen gespannte Gobelinstickerei lag noch da, als warte sie geduldig darauf, vollendet zu werden. Auf dem Sofa war ein Ensemble von Kissen mit Gobelinstickerei angeordnet, auf dem Boden standen Fußbänkchen, deren Polsterbezüge mit Gobelinstickerei verziert waren, und an den Wänden hingen goldgerahmte Blumenbilder in Gobelinstickerei. Selbst die Raffhalter der Vorhänge waren mit Gobelinstickereien versehen.

Unwillkürlich fragte Martha sich, ob ihre Stiefmutter wirklich so viel für Gobelinstickerei übrig gehabt hatte oder ob die Beschäftigung ein Ventil für andere Gefühle gewesen war.

Den Rosensalon hatte Marie selbst eingerichtet. Das kleine Sofa und das Kanapee waren rosa, ebenso die Vorhänge an den Fenstern, durch die man auf den hinteren Rasen und den See hinausblickte. Die Kissenbezüge, die nicht mit Gobelinstickerei versehen waren, waren ebenfalls rosa. Der runde, mit einer grünen Kante versehene Teppich unter ihren Füßen zeigte ein Muster aus bombastischen Rosenblüten – in Rosa natürlich.

Josephine liebte den Raum, während Martha stets gegen einen leichten Brechreiz ankämpfen musste, wenn sie sich darin aufhielt. Ihre Großmutter schien unempfindlich dagegen zu sein, vielleicht weil sie normalerweise genauso in ihre Häkelarbeit vertieft war wie Marie in ihre Gobelinstickerei.

Was sie selbst anging, so hatte Martha sich die meiste Zeit im Cottage ihres Vaters aufgehalten. Wenn auch kein wirkliches Laboratorium, handelte es sich auch nicht um ein Büro. Genau betrachtet war der Raum mit den hohen, schmalen Fenstern, von denen aus man auf den See blickte, eine Kombination aus beidem.

Martha hatte ihrem Vater als Assistentin zur Seite gestanden, sie hatte seine Gedanken und Experimente für die Nachwelt aufgezeichnet, gleichzeitig aber auch als seine Ansprechpartnerin fungiert.

Er war ein guter Mensch gewesen, ein Erfinder, wie er im Buche stand. Dass er seiner Freizeitbeschäftigung mehr Aufmerksamkeit geschenkt hatte als seiner Familie war vermutlich nichts Ungewöhnliches.

Niemanden, am wenigsten sie selber, hatte es erstaunt, dass ihre Stiefmutter kaum sechs Monate nach seinem Tod nach Frankreich zurückgekehrt war. Den Zeilen zufolge, die sie Josephine dagelassen hatte, hatte sie sich Hals über Kopf in einen französischen Grafen verliebt.

Natürlich werde ich dich nachkommen lassen, mein Liebes, hatte sie ihre Tochter getröstet. Sobald Pierre und ich uns auf seinem Anwesen eingelebt haben. Das Château wird dir gefallen. Es ist so viel geschmackvoller, als Griffin House es je sein könnte.

Marie war Französin, eine Tatsache, die Josephine neuerdings immer öfter erwähnte. Als wäre sie dadurch, dass sie Halbfranzösin war, allen, die durch und durch Engländer waren, überlegen.

„Aber wenn wir nicht hinfahren“, beharrte Josephine hartnäckig, „was gedenkst du stattdessen zu tun?“

Martha sah auf den See hinaus, der friedlich in der Sonne des Julimorgens lag, und erinnerte sich an die Worte ihres Vaters. Ein Rätsel verheißt immer Anregung. Darum halte Ausschau danach. Rätsel zu lösen macht einen glücklich.

Das Rätsel, das sie seit dem Tod ihres Vaters unausgesetzt beschäftigte, war das Experiment, das er zuletzt durchgeführt hatte. Es war erfolgreich gewesen, und sie fragte sich, wie das sein konnte. Ihr Vater hatte überglücklich gewirkt, als er bei strömendem Regen nach Hause gekommen war. Ausgekühlt und bis auf die Haut durchnässt, aber durchdrungen von Begeisterung, hatte er ihr berichtet, dass das Geschoss ausgelaufen war, das Ziel fehlerfrei angesteuert und getroffen hatte.

Allerdings war er nicht mehr dazu gekommen, ihr zu erzählen, wie er das alles bewerkstelligt hatte.

Und in diesem Fall gab es ausnahmsweise keinerlei Notizen. Keine Überlegungen, keine Spekulationen, die er in ihrer Anwesenheit angestellt hätte. Nichts, das ihr einen Hinweis gab.

Sie war entschlossen, dafür zu sorgen, dass das Lebenswerk ihres Vaters nicht in Vergessenheit geriet, selbst wenn es bedeutete, dass sie dem Duke seine sämtlichen Notizen und Erfindungen überlassen musste.

„Wir müssen zu ihm fahren“, unterbrach Josephine ihre Gedanken. „Vater hätte es so gewollt. Abgesehen davon ist es der Duke of Roth! Stell dir nur vor, Martha, wir könnten uns Sedgebrook ansehen!“

Noch einmal senkte Martha den Blick auf den Brief.

Es gab eine Menge, wofür Jordan Hamilton, Duke of Roth, ihr Rede und Antwort stehen musste, nicht zuletzt für den Umstand, dass er ihren Haushalt komplett durcheinanderbrachte. Sein Schreiben war so knapp, dass es fast an Unhöflichkeit grenzte, doch das machte sie nur umso entschlossener, den Letzten Willen ihres Vaters zu erfüllen. Ob es seiner Gnaden nun gefiel oder nicht, Matthew York hatte gewollt, dass der Duke of Roth seine Aufzeichnungen und Bessie, die letzte seiner Erfindungen, erhielt.

Jahrelang war Martha die Assistentin ihres Vaters gewesen. Sie war die Einzige, die seine Wünsche kannte, die Einzige, die stets die jeweils gesuchten Aufzeichnungen zu finden vermochte. Und sie war die Einzige gewesen, die ihm bei seinen Experimenten zur Seite gestanden hatte. Niemand außer ihr konnte den Kolbenantrieb auseinandernehmen, den er entwickelt hatte, eine raffinierte Konstruktion, die mit Druckluft betrieben wurde, oder das hydrostatische Ventil, geschweige denn die wichtigste Erfindung von allen – die Pendelvorrichtung, die den Torpedo in einer bestimmten Tiefe hielt.

Sie hatte Monate gebraucht, um sämtliche Teile zu rubrizieren und die einzelnen Erfindungen sorgfältig zu katalogisieren. Mit der Hilfe einiger Lakaien hatte sie alles in Holzkisten verpackt, die nur darauf warteten, dass der Duke kam und sie mitnahm. Eine ganze Reihe der Geräte, die ihr Vater entwickelt hatte, waren vielversprechende Erfindungen, beispielsweise das Licht, das der Richtung eines Wasserstrahls folgte, und die Fotografien, die die Farben ihres Gegenstandes wiedergaben.

Doch es war der Torpedo, der ihren Vater – und den ehemaligen Marineoffizier Jordan Hamilton – am meisten fasziniert hatte.

„Was also wirst du tun, Martha?“, fragte nun auch ihre Großmutter.

Martha warf Josephine, die vor Aufregung von einem Fuß auf den anderen trat, einen missbilligenden Blick zu, doch das Mädchen war schon zu Gran gelaufen und tänzelte nun vor ihr auf der Stelle.

„Ich sehe keine andere Möglichkeit, Gran, als Vaters Nachlass zu ihm zu bringen.“

„Du kannst unmöglich vorhaben, es alleine zu tun, Martha“, protestierte Josephine entrüstet. „Denk daran, wie anstößig es wäre.“

Martha zuckte mit den Schultern. „Nicht anstößiger, als wenn wir alle zusammen in Sedgebrook auftauchen.“

„Trotzdem“, ihre Großmutter packte die Häkelarbeit in den Handarbeitskorb, „werden wir genau das machen. Ich lasse nicht zu, dass du ohne Begleitung fährst.“

Martha sah noch einmal stirnrunzelnd auf den Brief mit der eleganten Handschrift, die sie so gut kannte. Der Duke hatte mit keinem Wort erklärt, weshalb er ihre sämtlichen Briefe ignoriert hatte. Er schien sie nicht einmal geöffnet zu haben. Sonst hätte er gewusst, dass ihr Vater nach ihm gefragt hatte, sogar auf seinem Totenbett.

Sie wollte den Duke of Roth nicht besuchen. Zu gut waren ihr noch die vielen Gelegenheiten in Erinnerung, da ihr Vater mit matter Stimme gefragt hatte: „Ist ein Antwortschreiben von ihm eingetroffen? Wird er kommen?“

Und jedes Mal hatte sie ihrem Vater sagen müssen, dass kein Brief eingetroffen war. Alles, was sie hatte tun können, war, seine zitternde Hand in ihre zu nehmen und zu beten, dass er am Leben blieb.

Doch etwas zu wünschen hieß nicht, dass es auch wahr wurde. Diese Lektion hatte sie in jenen schrecklichen Tagen lernen müssen. Ohnmächtig hatte sie ihren Vater dahinsiechen sehen, und der letzte Atemzug war wie eine Erlösung gewesen.

„Gut denn.“ Sie nickte.

„Soll das heißen, wir fahren?“ Josephine sah sie mit angehaltenem Atem an.

Martha zögerte. „Ja“, sagte sie schließlich widerwillig.

„Ist er abgesoffen?“ Unausgesprochen schwang das Wort wieder in der Frage mit.

„Ja, Reese.“ Jordan nickte. „Er ist wieder abgesoffen.“

Na also, ein löblicher Versuch, in sachlichem Ton zu antworten. Dass er wütend war, brauchte niemand zu wissen.

Ein weiterer Misserfolg. Wieder einer mehr.

Wie ein Bleigewicht war das verdammte Ding auf den Grund des Sees gesunken. Genau wie die anderen beiden vor ihm.

„Sollen wir Feierabend machen und uns einen Whisky genehmigen?“

Jordan warf seinem Freund einen Blick zu.

Reese Burthren war vor zwei Wochen unverhofft bei ihm aufgetaucht und machte nicht den Eindruck, als habe er es eilig, wieder aufzubrechen. Normalerweise hätte Jordan nichts gegen die Anwesenheit seines Freundes gehabt. Im Gegenteil, es war erfreulich, dass jemand auf Sedgebrook weilte, mit dem er reden konnte. Die Lakaien wirkten immer ein wenig unbehaglich, wenn er mit ihnen über Gyroskope und Bootskiele sprach. Im Unterschied zu Reese, der seine Experimente mit großem Interesse verfolgte und sein Spielzeug, wie er es nannte, fachkundig zu kommentieren wusste.

„Bedien dich“, ermunterte Jordan ihn nun. „Ich komme, sobald ich hier fertig bin.“

Reese rührte sich nicht vom Fleck. Mit anderen Worten, er hatte vor, auf ihn zu warten, egal, wie lange es dauerte.

Jordan zwang ein Lächeln auf sein Gesicht. „Wir trinken den Whisky“, fügte er auffordernd hinzu. „Aber vielleicht nicht heute.“

Reese setzte sich in Bewegung und verließ das Dock.

Als Jordan sah, dass er bei Frederick stehen blieb, lächelte er unwillkürlich in sich hinein. Die Sturheit des bewährten Bediensteten stand seiner eigenen in nichts nach und ging einher mit einer Zähigkeit, die an eine englische Bulldogge gemahnte. Frederick war es zu verdanken, dass er seinen Experimenten ungestört nachgehen konnte. Keine Besucher belästigten ihn, es gab keine Unterbrechungen, egal welcher Art, mit denen er sich befassen musste, keine Probleme mit der Dienerschaft, die er hätte lösen müssen. Oder mit Ladenbesitzern, die ihr Geld eintreiben wollten. Allein wegen der Umsicht, mit der er ihm den Rücken freihielt, war der Mann sein allerdings auch nicht unbeträchtliches Jahreseinkommen wert.

Frederick diente der Familie schon sein halbes Leben lang, angefangen hatte er als eifriger junger Lakai. Was er im Laufe der Jahre an Körpergröße eingebüßt hatte, hatte er an Umfang zugelegt. Der Mann war ein Engländer, wie er im Buche stand – korpulent, in mittleren Jahren, umgänglich und pragmatisch. Sein Gesicht war stets ein wenig gerötet, sein Haar ergraut, und die strenge Frisur wurde in Form gehalten von einer Pomade, die die Haushälterin eigens für ihn anrührte.

Frederick war eines der wenigen Mitglieder der Dienerschaft, das über seine angespannte finanzielle Situation Bescheid wusste. Allerdings konnte Jordan sicher sein, dass der Bedienstete nie irgendwelche Informationen weitertragen würde.

„Ich brauche Freiwillige“, rief er dem Diener zu. „Fragen Sie die Lakaien und sagen Sie ihnen, es gibt eine Belohnung für denjenigen, der das Geschoss findet.“

Frederick nickte. „Sehr wohl, Euer Gnaden.“

Es würden sich genügend Freiwillige finden, Lakaien, denen es nur recht war, wenn sie der leidigen Pflicht des Besteckpolierens entkamen. Nicht dass viel Tafelsilber übrig gewesen wäre. Schon sein Vater hatte Sedgebrook nur über Wasser halten können, indem er den größten Teil der beweglichen Habe veräußert hatte.

Und er, Jordan, war dabei, die Pferde zu verkaufen, die sein Bruder unter großen Anstrengungen nach Sedgebrook gebracht hatte. Ein Verkauf pro Monat reichte, um die Dienerschaft ein Jahr lang zu bezahlen.

Jordan wandte sich um zum See, heftete den Blick auf die vom Wind gekräuselten Wellen. Alles, um bloß nicht an Geld zu denken.

„Was glaubst du, ist schiefgegangen?“, fragte Reese in seine Gedanken hinein.

„Irgendetwas am Steuersystem. Ich muss meine Berechnungen überprüfen.“

Eine von Reeses Augenbrauen schoss in die Höhe. „Und du glaubst, das hilft?“

„Mit anderen Worten, du fragst dich, ob ich überhaupt weiß, was zum Teufel ich da tue?“

Ein Lächeln zuckte um Reeses Lippen. „Nun ja, so ungefähr.“

„Die Antwort lautet unübersehbar Nein.“

Er würde seine Aufzeichnungen durchforsten müssen, um den Fehler zu finden. Im Augenblick allerdings musste er Geselligkeit heucheln und seine Enttäuschung so weit verdrängen, dass Reese sie ihm nicht ansah.

Sie waren Schulkameraden gewesen und hatten ihre Freundschaft später im Kriegsministerium erneuert. Man hatte sie beide der Abteilung für Topografie und Statistik zugewiesen, ihn als Marineoffizier und Reese als Zivilisten. Jordans Aufgabe war es gewesen, Militärstatistiken zu erstellen, die die Erkenntnisse aus dem Krimkrieg berücksichtigten, und zu gewährleisten, dass die archivierten Karten des Geländes korrekt waren. Sie hatten beide von militärischem Ruhm geträumt, doch ihnen war nie auch nur ein Hauch davon zuteil geworden.

Dennoch hatte seine Arbeit Jordan eine Perspektive eröffnet, ihm ein Tätigkeitsfeld präsentiert, an dem er ein dauerhaftes Interesse entwickelt hatte. Die Russen hatten im Krimkrieg einen Apparat ausprobiert, den sie Torpedo nannten und als Geschoss in den Häfen einsetzten. Den Gerüchten zufolge waren sie dabei, eine bewegliche Mine zu konstruieren, eine Waffe mit bis dahin unbekannter Zerstörungskraft. Irgendwann hatte Jordan durch einen vorgesetzten Offizier von Matthew York und seinen jüngsten Erfindungen erfahren und war Feuer und Flamme gewesen.

Damals, vor fünf Jahren, hatte er noch nicht ahnen können, dass der York’sche Torpedo – so wie auch seine eigene Erfindung, der Hamilton-Torpedo – ihn davor bewahren würde, verrückt zu werden.

„Wie viele sind es insgesamt?“ Reese schloss sich ihm auf dem Weg zum Bootshaus an.

„Drei“, antwortete er widerwillig.

Wenn er Glück hatte, hörte Reese gleich auf, ihm Fragen zu stellen. Er würde seinem Freund auftragen, ihnen eine Flasche Wein für das Abendessen heraufzuholen. Aus dem Weinkeller seines Vaters, einem weiteren Beispiel dafür, wie die Hamiltons Geld vergeudet hatten, das sie nicht besaßen.

„Kannst du nicht einen neuen bauen?“

Kurz erwog er, Reese zu erklären, wie viel Zeit und Aufwand es kostete, die Kupferplatte in eine gerundete Hohlform zu biegen und zu hämmern, ein weiteres Triebwerk zu bauen, ganz zu schweigen vom Lenksystem und dem Schraubenantrieb. Aber selbst wenn es ihm gelang, seinem Freund die Schwierigkeiten begreiflich zu machen, würde Reese nie nachvollziehen können, welchen emotionalen Tribut jeder Misserfolg von ihm forderte. Es war besser, wenn er seine Gedanken für sich behielt.

„Nun ja, es ist nicht so wichtig, oder?“ Reeses Ton war umgänglich.

Jordan griff nach seinem Spazierstock und machte sich auf den langen, mühevollen Weg über das Dock.

Das vergangene Jahr war schwierig gewesen. Anfänglich ans Bett gefesselt, hatte er sich stundenlang mit seinen Plänen und Zeichnungen beschäftigt. In den Monaten danach, beim anstrengenden Laufenlernen, hatte er sich mit Gedanken an Regler und Zeiteinstellungsmechanismen von den Schmerzen abgelenkt. Das Vorhaben, einen brauchbaren Torpedo zu entwickeln, hatte sich zu einer Gralssuche ausgewachsen.

„Doch“, antwortete er schließlich. „Es ist wichtig.“

2. KAPITEL

Wie lange dauert es denn noch?“ Josephine stöhnte entnervt.

Martha wartete, doch als ihre Großmutter nichts erwiderte, ergriff sie das Wort. „Es ist noch keine fünf Minuten her, dass du das letzte Mal gefragt hast, Josephine. Wir werden voraussichtlich heute Nachmittag auf Sedgebrook eintreffen.“

„Wir wären schneller da gewesen, wenn wir den Zug genommen hätten.“

Auch das hatte Josephine schon mindestens dreimal gesagt, seit sie heute Morgen aufgebrochen waren. Martha versuchte sich ihre Ungeduld nicht anmerken zu lassen. Josephine war aufgeregt, verständlicherweise.

Immerhin hatten sie Griffin House wegen der Trauerzeit für ihren Vater das ganze letzte Jahr nicht verlassen. Außerdem freute Josephine sich über die Maßen, dass sie Sedgebrook, einen der prächtigsten Herrensitze des Landes, endlich zu sehen bekam. Martha wäre es sicher genauso ergangen, wenn der Kummer sie nicht schier überwältigt hätte.

Das Pferdefuhrwerk, das die Aufzeichnungen ihres Vaters transportierte, außerdem Bessie und weitere Prototypen des York’schen Torpedos sowie den Rest seiner Erfindungen, an denen er sein ganzes Leben lang gearbeitet hatte, folgte ihnen in gemächlicherem Tempo. Von Zeit zu Zeit lenkte der Fahrer ihre Kutsche an den Straßenrand, damit das hoch beladene Fuhrwerk sie einholen konnte.

Ihr Vater hätte die Reise ohne Zweifel gutgeheißen. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, was er gesagt hätte.

Ich bin sicher, es gibt gute Gründe dafür, dass er nie auf deine Briefe geantwortet hat, Martha. Und bestimmt auch dafür, dass er sich gezwungen sieht, mein Vermächtnis zurückzuweisen. Du musst nur Geduld haben, dann erfährst du sie.

Sie brachte endlos viel Geduld auf, wenn es darum ging, die Kette herzustellen, die den Propeller und das Gyroskop miteinander verband. Dann konnte sie stundenlang dasitzen, eine kleine Zange in der Hand, und gewissenhaft ein Kettenglied nach dem anderen unter dem Vergrößerungsglas zurechtbiegen. Für das Benehmen des Dukes brachte sie nicht einmal einen Bruchteil davon auf.

Denn sein Verhalten hatte ihren Vater verletzt, und das konnte sie ihm nicht verzeihen.

Obwohl er anfangs viel Interesse an der Entwicklung der Torpedos ihres Vaters gezeigt hatte, musste er irgendwann im vergangenen Jahr seine Meinung geändert haben. Vielleicht verbrachte er inzwischen viel Zeit bei Pferderennen, auf Jagden, Bällen und Dinnerpartys, kurz gesagt bei Anlässen, die ihn mehr fesselten als die Dinge, die der menschliche Geist und die menschliche Vorstellungskraft hervorzubringen vermochten.

In ihrem ganzen Leben war sie noch nie so enttäuscht gewesen von einem Menschen.

Der Mann, den sie in den Briefen an ihren Vater kennengelernt hatte, schien nie existiert zu haben. Der eifrige junge Marineoffizier war verschwunden, und an seine Stelle war ein überheblicher Aristokrat getreten, der auf Menschen niederen Ranges heruntersah.

Sie wollte ihm nicht begegnen. Und ganz bestimmt wollte sie nicht mit ihm sprechen. Geschweige denn gezwungen sein, jemals wieder mit ihm zu korrespondieren.

Josephine dagegen wirkte begeistert von der Aussicht, den Duke of Roth kennenzulernen. Vor Aufregung waren ihre Wangen rosig überhaucht, und ihre Augen funkelten wie Edelsteine.

Ganz in Schwarz, der einzigen Farbe, in der Martha sie kannte, saß ihre Großmutter neben Josephine, die für die Reise ein dunkelblaues hochtailliertes Kleid gewählt hatte. Sie selbst trug ein ähnliches, wenn auch nicht ganz so modisches Kleid, das mindestens drei Jahre alt war, während Josephine ihre Garderobe vor Kurzem aufgefrischt hatte. Marthas Hut ähnelte dem ihrer Großmutter und war lange nicht so schmeichelhaft wie der ihrer Schwester – eine kleine, hübsch gestaltete Strohschute mit schmückenden Federn, die ihr in die Stirn wippten und ihre perfekten Züge akzentuierten.

Josephines brünettes Haar war zurückgekämmt und zu einem Knoten aufgesteckt, sodass die Schönheit ihres Gesichts uneingeschränkt zur Geltung kam, vor allem ihre leuchtend grünen Augen, deren Farbe an frisches Gras erinnerte. Dagegen wirkten Marthas Augen mit ihrem Braunton eher unscheinbar; eine Bezeichnung, die ihr gesamtes Erscheinungsbild treffend beschrieb.

Ihre Schwester und sie waren gleich groß, doch Josephines Figur konnte als vollkommen gelten, während sie selbst mit einem etwas zu üppigen Brustumfang gesegnet war.

Marie hatte irgendwann einmal die Bemerkung gemacht, dass Martha von englischen Bauern abstammen müsse und den perfekten Körperbau habe, um ein Dutzend Kinder zu gebären und zu stillen. Damals war sie achtzehn gewesen und hatte ihre Stiefmutter fassungslos angestarrt.

Oh, Martha, nicht jede Frau kann eine Schönheit sein. Abgesehen davon wissen wir beide, dass du glücklicher wärst, wenn du dein ganzes Leben lang die Assistentin deines Vaters bleiben könntest. Bälle und Soireen waren nie deine Sache.

Sie konnte Maries trällerndes Lachen noch immer hören, genau wie die Worte, die sich als außerordentlich prophetisch erwiesen hatten. Sie war nicht der Typ für eine Saison in London. Sie brauchte sich nur daran zu erinnern, wie katastrophal sich der Versuch erwiesen hatte.

Sie hatte drei Anträge erhalten. Den ersten von einem jungen Mann, den seine Mutter ihr wie ein Lachsfilet auf dem Silbertablett serviert hatte. Wenn es hochkam, hatte er während ihrer ganzen Bekanntschaft sieben Worte mit ihr gewechselt.

Am Ende hatte sie ihn verzweifelt gefragt: „Warum wollen Sie mich heiraten?“

„Weil Mama meint, ich müsse“, hatte der Ärmste geantwortet.

Daraufhin hatte sie umgehend mit ihrem Vater gesprochen und durchgesetzt, den Antrag ablehnen zu dürfen.

Der zweite Verehrer war der Freund eines Freundes ihrer Familie gewesen. Er hatte in vielerlei Hinsicht zu ihr gepasst, ein gutes Einkommen vorweisen können und ein angenehmes Äußeres. Leider hatte er sich als ein solcher Tyrann entpuppt, dass sie es kaum fünf Minuten in seiner Gesellschaft ausgehalten hatte. Wenn ihm nach einem Glas Punsch gewesen war, hatte er sie geschickt, es ihm zu holen. Wenn er einen Zigarillo hatte rauchen wollen, war er ohne ein Wort der Erklärung verschwunden. Er hatte ihr vorschreiben wollen, welche Farben sie tragen und wie sie ihr Haar frisieren sollte.

Sie ertrug es nicht, sich von einem Ehemann Vorschriften machen zu lassen. Ihr Vater hatte sie in dem Bewusstsein erzogen, dass sie einem Mann ebenbürtig war. Sie hatte es nicht nötig, unterwürfig zu sein. Unglücklicherweise war es im Weltbild ihres Anbeters nicht vorgesehen gewesen, dass eine Frau ihn zurückwies.

„Selbstverständlich heiraten wir“, hatte er selbstherrlich erklärt. „So schön sind Sie auch nicht, Martha. Abgesehen davon hörte ich, dass Sie sich mit Dingen befassen, die keineswegs dem fraulichen Wesen entsprechen. Aber ein Haus voller Kinder wird das Problem beheben, denke ich.“

Sie war kurz davor gewesen, ihm einen Knüppel über den Schädel zu ziehen. Ihre Großmutter hatte sie jedoch vor dieser Dummheit bewahrt.

Der dritte Bewerber um ihre Hand, ein ziemlich gut aussehender, charmanter Earl, hatte umstandslos eingeräumt, dass er mittellos war. Sie war versucht gewesen, seinen Antrag anzunehmen, doch dann hatte sie ihn mit einer Bediensteten auf der Terrasse erwischt. Die Entdeckung hatte ihren Horizont in zweierlei Hinsicht erweitert. Sie brachte Männern seitdem größeres Misstrauen entgegen, und sie war Zeuge des fleischlichen Akts geworden. Der Earl hatte sich nicht im Mindesten diskret verhalten und sie wider Willen zur Voyeurin gemacht.

Immerhin hatte der Zufall sie davor bewahrt, einen untreuen Schwerenöter zu heiraten.

Josephine hatte alles, was Martha ihr über die Saison in London erzählt hatte, in den Wind geschlagen. Ihre Warnungen, dass es langweilig, endlos und zu Zeiten sogar schmerzhaft war, wenn das viel zu eng geschnürte Korsett oder die Schuhe drückten, waren auf taube Ohren gestoßen.

Wahrscheinlich würde ihre Schwester, die ihr genaues Gegenteil war, London in vollen Zügen genießen.

Josephine war schön und anmutig, und sie zeigte keine Scheu in Gesellschaft. Zugegeben, im letzten Jahr hatten kaum Begegnungen außerhalb der Familie stattgefunden, ein Umstand, über den Josephine sich häufig beklagte.

Ihre Schwester schien es ihrem Vater übel zu nehmen, dass er ausgerechnet zu dem Zeitpunkt gestorben war, als sie ihr Debüt in London hätte haben sollen. Ohne die Tragödie hätte sie bereits verlobt sein oder sich wenigstens nach irgendeinem jungen Aristokraten verzehren können.

In ein paar Monaten würde Gran mit ihr nach London reisen und sie den Wölfen auf dem Heiratsmarkt vorführen wie ein wohlgenährtes Schaf. Und zweifellos würde Josephine sich richtig verhalten. Sie war viel begabter im Flirten und konnte Menschen viel besser um den Finger wickeln als Martha.

Sie war zu gutgläubig, ein Fehler, den sie mit ihrem verstorbenen Vater teilte. Wenn jemand ihr sagte, die Welt fiele ihr im nächsten Moment auf den Kopf, blickte sie zur Decke hoch. Sie sprach nicht in Übertreibungen, noch hatte sie etwas für Dramen übrig. Es reichte, die Fakten zu benennen, eine Hypothese mit Untersuchungsergebnissen zu untermauern, dann war die Lösung in Sicht.

„Mir ist schleierhaft, warum es so lange dauert“, meldete Josephine sich aufs Neue zu Wort.

Ihre Großmutter schloss die Augen. Wahrscheinlich, so dachte Martha, um nicht auf die Bemerkung eingehen zu müssen.

Amy hielt sich krampfhaft an dem Griff über dem Kutschenfenster fest. Die Ärmste war erschreckend bleich. Sie diente ihrer Großmutter seit Jahrzehnten als Zofe und wurde nicht nur als Dienerin, sondern auch als Freundin betrachtet. Amy hatte ein sonniges Gemüt, das perfekt zu ihrem runden Gesicht und ihrer Stupsnase passte. Meistens lächelte sie, jedenfalls wenn sie nicht reisen musste. Das Hin- und Herschwanken der Kutsche, selbst einer so gut gefederten, versetzte ihren Magen in Aufruhr.

Martha schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, das Amy matt erwiderte. Sie würde auch den beiden Mädchen zu Diensten sein, deren gemeinsame Zofe Sarah sie zu Hause gelassen hatten. Ein weiterer Umstand, über den Josephine sich ausführlich beklagte.

„Es ist ja schließlich nicht so, dass Amy besonders gut frisieren könnte, Gran“, hatte ihre Beschwerde gelautet.

„Das muss sie auch nicht.“ Martha war fest geblieben. „Schließlich wollen wir uns nicht lange aufhalten. Wir übergeben nur Vaters Nachlass, dann reisen wir wieder ab. Die Nacht verbringen wir im Gasthof, und am nächsten Tag sind wir schon wieder zu Hause.“

Dem zum Trotz hatte Josephine nicht einen, sondern drei Koffer gepackt und behauptet, alles zu brauchen, selbst für eine einzige Übernachtung.

Martha blies langsam den Atem aus und heftete den Blick auf die Landschaft draußen. Sie fuhren über eine Brücke, ein großzügiges Bauwerk mit einem eleganten Bogen. Sie setzte sich gerade auf und spähte durch die stählernen Längsstreben, um einen Blick auf den Fluss zu erhaschen. Doch statt des ruhig fließenden Wasserlaufs, den sie erwartet hatte, erblickte sie einen reißenden Strom, der über Felsen schäumte und den Eindruck erweckte, als tose er dahin, um pünktlich irgendwo anzukommen.

„Sind wir bald da, Gran?“, quengelte Josephine gereizt.

„Wie soll ich das wissen, Kind?“ Eine Spur Ungehaltenheit lag in der Stimme ihrer Großmutter. „Ich war noch nie auf Sedgebrook. Charles sagte, dass wir am frühen Nachmittag dort eintreffen, und da es früher Nachmittag ist, gehe ich davon aus, dass wir es nicht mehr weit haben.“

Martha erinnerte sich noch gut daran, wie ihr Vater von Sedgebrook erzählt hatte – schwärmerisch, was sonst so gar nicht seine Art gewesen war. Er hatte den Wohnsitz des Duke of Roth einmal als Junge besucht und den Anblick niemals vergessen.

Es ist nicht nur die schiere Größe des Hauses, Martha. Sondern auch die Art und Weise, wie es die ganze Gegend beherrscht. Man kann es schon aus einer Entfernung von mehreren Meilen sehen, ehe man es erreicht.

Er hatte recht gehabt. Als die Kutsche über eine Anhöhe fuhr, tauchte Sedgebrook am Horizont auf wie die Sonne am Morgenhimmel. Ihrem Vater zufolge war im Jahr 1653 mit dem Bau begonnen worden, der dann über hundert Jahre gedauert hatte, eine Zeitspanne, in der drei Dukes of Roth aufeinandergefolgt waren.

Sedgebrook war aus gelblichem Sandstein errichtet, der mit den Jahren nachgedunkelt war. Unterhalb der Dachlinie war der Farbton tiefer, beinahe braun. Das Haus hatte den Grundriss eines offenen Vierecks mit Flügeln zu beiden Seiten, und die barocke Gestaltung verlieh ihm einen Hauch Extravaganz. Auf dem Mittelteil thronte eine gewaltige Kuppel, und Kuppeln, wenn auch kleinere, schmückten die Seitenflügel. Die Ritterstatuen, die die Dachkante trugen, wirkten wie eine wehrhafte Armee aus Stein.

In der Ferne hinter dem Anwesen lagen die Hamiltonian Hills, eine Hügelkette, die nach der Familie benannt worden war, in malerisch schimmerndem bläulichen Dunst. Durch den tausend Acres großen Park, der Sedgebrook umgab, führten gepflasterte Wege, außerdem beherbergte die Anlage zwei im griechischen Stil erbaute Tempel – den Tempel der Vier Winde und den Tempel der Musen. Ein ausgedehntes Waldgebiet, das bis zu den Anhöhen um den Hamilton Lake hinaufreichte, flankierte das riesige Parkgelände an zwei Seiten.

Durch das Kutschenfenster konnte Martha breite Felder blau und gelb blühender Blumen auf dem Rasen erkennen. Sie waren so angepflanzt worden, dass sie aussahen, als habe die Natur sie ausgesät. Und obwohl sie nicht alle identifizieren konnte, erkannte sie Glockenblumen und Rhododendren. Der Skulpturengarten, der ihren Vater seinerzeit so beeindruckt hatte, musste sich auf der Rückseite des Hauses befinden.

Josephine schnappte nach Luft. Selbst Gran wirkte überrascht, und es brauchte schon einiges, um sie zu beeindrucken.

Auch ihr eigenes Zuhause war ein Ausdruck des Erfolgs ihrer Familie. Im Falle von Sedgebrook jedoch konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass in allem ein wenig Übertreibung lag.

Sie brauchten eine Stunde, bis sie in die kiesbestreute Auffahrt einbogen. Als sie den Vorplatz vor dem Hauptgebäude erreichten, verlangsamte die Kutsche das Tempo.

Eine zweiflügelige Treppe führte zu dem Podest vor der Eingangstür, die aussah, als bestünde sie aus gehämmertem Metall. Die steinernen Urnen, die auf jeder zweiten Stufe beider Treppenaufgänge standen, waren mit bläulich blühenden Blumen bepflanzt.

Josephine hatte sich kerzengerade aufgesetzt, ihre Augen funkelten begierig.

Ihr Vater hatte Josephine nie etwas abgeschlagen. Kleider, Schuhe, Spielzeug, Zerstreuungen – was immer sie sich gewünscht hatte, sie hatte es umgehend bekommen. Mehr als einmal bei diesen Gelegenheiten war Martha die Frage durch den Kopf gegangen, was Josephine tun würde, wenn sie mittellos wäre.

Matthew Yorks Ableben hatte keinen nachteiligen Effekt auf das Familienvermögen gehabt. Es gab keinen Titel, der an einen entfernten Großcousin gegangen wäre, keinen lange verschollenen Verwandten, der plötzlich auf der Schwelle gestanden hätte, um zu verkünden, dass ihm der Löwenanteil zustand. Nein, das Geld war gleichmäßig unter den vier Begünstigten Gran, Josephine, Marie und Martha aufgeteilt worden.

Wobei Marie anscheinend fest davon ausgegangen war, den größten Teil des Vermögens zu erben, dem Wutanfall nach zu urteilen, den sie bei der Testamentseröffnung hingelegt hatte. Bei ihrer Reaktion von Enttäuschung zu reden wäre der Untertreibung des Jahrhunderts gleichgekommen. Selbst nachdem sie sich beruhigt hatte, war sie tagelang eingeschnappt gewesen und hatte kaum ein Wort mit irgendjemandem geredet.

„Es ist nicht das Geld“, hatte Gran ihr anvertraut, als Martha sie darauf angesprochen hatte. „Sondern die Macht. Nun kann sie niemanden zwingen, nach ihrer Pfeife zu tanzen.“

Ihre Großmutter hatte gelächelt, und Martha war es so vorgekommen, als läge ein Hauch Triumph in ihrer Miene.

Nicht lange darauf hatte Marie ihre Koffer gepackt und Griffin House mit dem Ziel Frankreich verlassen.

Dabei war die Summe, die jede von ihnen geerbt hatte, so groß, dass man sie im ganzen Leben nicht ausgeben konnte. Martha schenkte das Geld die Freiheit, das Werk ihres Vaters zu vollenden. In Zukunft musste sie von niemandem mehr Erlaubnis einholen, wenn sie die Dienste eines Uhrmachers in Anspruch nahm. Oder sich die Lieferung weiterer Kupferplatten zum Cottage ihres Vaters genehmigen lassen musste.

Auch Josephine hatte klare Vorstellungen von den Möglichkeiten, die ihr Vermögen ihr eröffnete. Ein großartiges, wenn auch verspätetes Debüt in London mit der Aussicht auf einen Ehemann. Den sie, wenn nötig, kaufen würde.

Zu schade, dass der Duke of Roth nicht gekauft werden konnte. Josephines staunendem Blick nach zu urteilen war sie dabei, sich unsterblich in das Haus zu verlieben.

Die Kutsche rollte vor den Eingang, doch kein eilfertiger Diener erschien, um sie zu begrüßen. Im Gegenteil, es wirkte beinahe so, als habe niemand von ihrer Ankunft Notiz genommen.

Martha war über den Brief des Dukes so verärgert gewesen, dass sie nur eine knappe Antwort geschickt hatte. Am 12. Juli wird die Familie York mit der Kutsche eintreffen, um Matthew Yorks Nachlass an den Duke of Roth zu übergeben. Sie hatte die Zeilen vollkommen unpersönlich abgefasst, um ihre Gereiztheit zu verbergen.

Ob er sich gemerkt hatte, dass sie heute ankamen? Kümmerte es ihn überhaupt?

Josephine beugte sich vor und begann, die Oberseiten ihrer Stiefeletten mit dem Taschentuch zu polieren. Ihr Aussehen hatte sie bereits im Kutschenspiegel kontrolliert, ihren Hut zurechtgerückt und sichergestellt, dass ihr Erscheinungsbild so makellos war, wie es nach einer mehrstündigen Kutschfahrt nur sein konnte.

Ihre Schwester würde immer schön aussehen, egal unter welchen Umständen.

Mit einem Ruck kam die Kutsche zum Stehen, und Josephine wandte sich zu ihr um.

„Mach dir keine Sorgen, Martha“, sagte sie lächelnd. „Ich werde den Duke um den Finger wickeln. Ein paar Minuten in meiner Gesellschaft, und er wird froh sein, dass wir gekommen sind.“

Martha hätte nicht sagen können, was sie mehr ärgerte. Josephines Selbstgefälligkeit oder ihre Vermutung, dass ihre Schwester recht hatte.

„Eine Kutsche ist vorgefahren, Euer Gnaden.“

Jordan stellte sein Whiskyglas ab und blickte auf. Frederick stand im Türdurchgang zur Bibliothek.

Sein Haushofmeister sah so missmutig aus, wie er sich fühlte.

„Eine Kutsche?“

„Jawohl, Euer Gnaden.“

Verdammt, das hatte er ganz vergessen!

„Die Yorks“, sagte er langsam. „In dem Schreiben stand, sie würden heute kommen, und da sind sie.“

„Die Yorks?“

Er wandte sich Reese zu, der in dem Ohrensessel ihm gegenübersaß und ihn fragend ansah.

„Die Familie von Matthew York“, antwortete er erklärend. „Der, mit dem ich mich über den Torpedo ausgetauscht habe, den ich gerade teste. Ein brillanter Kopf.“

„Ich wusste nicht, dass du York kennst. Mit ihm hat die Welt einen großen Erfinder verloren.“

Reeses Bemerkung erregte Jordans Neugier. Offenbar war Matthew York seinem Freund kein Unbekannter. War Reese womöglich auch mit Matthews Arbeit an dem Torpedo vertraut?

„Warum kommt dich seine Familie besuchen?“

Jordan stand auf. „Von einem Besuch kann eigentlich nicht die Rede sein. Sie bringen mir Matthews Nachlass. Anscheinend wollte er, dass ich seine Aufzeichnungen und die Prototypen seiner Erfindungen erhalte. Eigentlich will ich sie gar nicht.“ Er griff nach seinem Stock und machte sich auf den mühevollen, schmerzhaften Weg zur Tür.

Reese erhob sich ebenfalls und schloss sich ihm an. Dass er sich seinem Tempo anpasste, war zweifellos als Höflichkeit gedacht. Jordan hätte es vorgezogen, wenn sein Freund vorausgegangen wäre, doch dieser Wunsch würde sich genauso wenig erfüllen wie der, dass die Yorks von ihrem Besuch absahen.

Laufen war ein Albtraum für ihn, aber wenigstens konnte er wieder gehen. Die Ärzte hatten es zunächst alle bezweifelt, bis er schließlich auf einen gestoßen war, der ihm Mut gemacht hatte. Aber vielleicht konnte Reynolds auch nur überzeugender lügen.

Es ist eine Frage der Zeit, Euer Gnaden.

Zeit. Wie leicht dem Doktor das Wort über die Lippen gekommen war. Ja, es hatte Zeit gekostet. Zehn Monate, zwei Wochen und drei Tage, um aufrecht stehen und schlurfend einen Fuß vor den anderen setzen zu können. Wirklich gut konnte er immer noch nicht gehen.

Und würde es auch nie wieder können, wenn er der Einschätzung seines normalerweise so optimistischen Arztes bei seinem letzten Besuch glauben sollte.

„Sie haben schon so viel mehr erreicht, als alle für möglich hielten, Euer Gnaden. Sie sollten sich gratulieren, statt mehr zu wollen.“

„Mehr will ich gar nicht, Dr. Reynolds. Ich will nur gehen können, ohne zu hinken.“ Ohne einen Stock zu brauchen, einen Krückstock, wie seine Haushälterin es so originell formulierte. Er wollte in der Lage sein, einen Raum zu durchqueren, ohne dass alle Welt die Köpfe drehte, ihn anstarrte und darüber tuschelte, wie weit er gekommen war und wie viel Mühe und Schmerz es ihm bereitete.

„Ihr Bein war zertrümmert, Euer Gnaden. Wichtige Muskeln funktionieren nicht mehr. Für mich ist es ein Wunder, dass Sie nicht an den Rollstuhl gefesselt sind.“

„Was nur bedeutet, dass Ihre und meine Vorstellung von einem Wunder weit voneinander abweichen“, hatte er bissig erwidert.

Er hätte sich einen anderen Arzt gesucht, doch Dr. Reynolds war bereits der dritte und der einzige, der ihm überhaupt Hoffnung gemacht hatte. Im Übrigen schickte der Doktor ihm täglich einen hochgewachsenen, vierschrötigen schwedischen Sadisten namens Henry vorbei, der sein Bein mit seinen schinkengroßen Händen knetete, streckte und dehnte, bis Jordan am liebsten geschrien hätte vor Schmerz. Doch wenn es überhaupt jemanden gab, dem ein Verdienst bei seiner Genesung zukam, dann war es wahrscheinlich Henry, verdammt sollte er sein. Gott sei Dank hatte Jordan ihm nie etwas davon gesagt. Der Mann hätte breit gelächelt und darauf bestanden, ihm eine weitere Behandlung angedeihen zu lassen.

Er hatte Henry zu seinem Kammerdiener gemacht – ein Arrangement, das sich für sie beide als nützlich erwies. Henry konnte sich wertvolle Fertigkeiten aneignen, und er selbst sparte die Ausgaben für einen weiteren Bediensteten. Was Kleidungsvorschriften anging, war Henry noch nicht ganz sattelfest, doch da Jordan gesellschaftliche Verpflichtungen mied, scherte es ihn nicht, ob seine Krawatte korrekt gebunden war. Abgesehen davon war Henry der Schwarm sämtlicher Hausmädchen auf Sedgebrook. Er hatte attraktive Gesichtszüge, einen eindrucksvollen Körper und ein sympathisches Lächeln.

Endlich. Jordan hatte es bis zur Tür geschafft.

„Könntest du vorausgehen und sie begrüßen?“ Er hoffte, dass Reese nicht darauf bestehen würde, jeden quälenden Schritt an seiner Seite zu gehen. „Sonst schickt Frederick sie am Ende noch fort, und ich muss mich mit verletzten Gefühlen herumschlagen.“

„Das möge der Himmel verhüten.“ Reese lächelte.

„Sie bleiben nur kurz.“ Jordan erinnerte sich an den Brief. „Nur so lange, wie die Höflichkeit es erfordert.“

Er würde ihnen Erfrischungen anbieten, hoffte indes, dass sie ablehnten. Höchstens eine Stunde, sagte er sich, dann war er sie los. In ein paar Tagen plante auch Reese abzureisen, dann würde er endlich wieder für sich sein. Er war nicht in der Stimmung für Besuch, nicht einmal den eines Freundes.

3. KAPITEL

Niemand kam, um sie zu begrüßen, als die Kutsche angehalten hatte. Schließlich sprang Charles vom Kutschbock, öffnete den Schlag und ließ den Klapptritt herunter.

Martha ergriff seine ausgestreckte Hand und gestattete ihm, ihr beim Aussteigen zu helfen, damit sie anschließend ihrer Großmutter behilflich sein konnte.

„Was machen wir jetzt?“, fragte sie ein wenig ratlos, als Josephine zu ihnen trat. „Ob er überhaupt zu Hause ist?“

Ihre Großmutter wandte sich zum Eingang um. „Wenn nicht er, dann muss es jemand anderer sein.“

Ein hochgewachsener Mann kam eilig die Treppen herunter. Josephine drängte sich vor, als er sich ihnen näherte.

Der Mann hatte angenehme Gesichtszüge und ein heiteres Naturell, wenn man nach dem Lächeln ging, das sich auf seinem Gesicht ausbreitete. Sein Haar war hellbraun mit von der Sonne gebleichten Strähnen. In seinen dunklen Augen stand ein herzlicher Ausdruck. Zu ihrer eigenen Verwunderung fragte Martha sich flüchtig, ob er einen angenehmen Charakter hatte.

Ganz sicher jedoch war er ein gut aussehendes Exemplar seiner Gattung. Ihr Blick glitt über seine breiten Schultern und die langen Beine.

„Welch ein Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen, Euer Gnaden.“ Josephine versank in einen tiefen Knicks, der für eine Audienz bei der Königin geeignet gewesen wäre. Martha fand, dass sie sich unmöglich aufführte.

Zu ihrer Überraschung lachte der Mann. „Ich bin nicht der Duke, meine Damen.“

„Miss York“, erwiderte Josephine eifrig. „Miss Josephine York.“

„Ich bin Reese Burthren, ein Freund seiner Gnaden. Darf ich Sie hereinbitten?“

Martha hob den Blick zum oberen Treppenpodest. Ein weiterer hochgewachsener Mann war dort erschienen.

Hielt er sich selbst etwa für zu bedeutend, um die Treppe herabzusteigen, oder hatte er einfach keine Lust, Besucher zu begrüßen?

Der Mann musste unglaublich arrogant sein, gemessen daran, wie er dort oben auf dem Treppenabsatz stand. Wie ein Pascha, der auf seine Untertanen wartete.

Und wenn schon. Wenn der Berg nicht zu ihr kam, würde sie sich eben zum Berg begeben. Sie eilte an Mr. Burthren vorbei zur Treppe, raffte mit einer Hand ihre Röcke, umfasste mit der anderen das breite Treppengeländer und erklomm die sechsundzwanzig Stufen, den Blick auf ihre Füße gerichtet, um nicht zu stolpern. Erst auf den letzten drei Stufen hob sie den Kopf und bemerkte, dass er sie beobachtete.

Beinahe verfehlte sie die letzte Stufe.

Auch wenn sie einen Sturz gerade noch zu verhindern vermochte, so war sie doch sicher, dass ihr der Mund offen stand und ihre Augen sich unnatürlich weiteten. Vor ihr stand der schönste Mann, den sie je gesehen hatte.

Ihr Herzschlag verhielt sich grotesk. Er beschleunigte sich, setzte aus, dann begann er zu rasen. Es fühlte sich an, als wäre sie zu schnell gelaufen, dabei hatte sie lediglich ein paar Treppenstufen erklommen.

Sie verspürte den aberwitzigen Wunsch, die Zeit anzuhalten, damit sie ihn in Ruhe betrachten konnte. Er hatte dichtes schwarzes Haar, das er ein wenig kürzer trug, als die Mode es vorschrieb, und er war glatt rasiert. Seine blitzenden blauen Augen erweckten den Eindruck, als sei er ohne Weiteres fähig, ein Gegenüber verächtlich anzufunkeln. Wäre sie tatsächlich in der Lage gewesen, die Zeit anzuhalten, hätte sie die Hände an seine Wangen gelegt und seine hohen Jochbeine mit den Fingerspitzen erkundet. Seine Gesichtszüge waren streng, Falten zogen sich von seinen Nasenflügeln zu seinen Mundwinkeln, und sein Kiefer wirkte wie gemeißelt. Jede Einzelheit war perfekt und trug ihren Teil zu der eindrucksvollen Schönheit seines Antlitzes bei, das so beeindruckend war wie eine Büste von Julius Cäsar, dabei jedoch ungleich attraktiver.

Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich gefragt, wie ein Mann wohl aussehen mochte, wenn er nackt war. Nicht einmal bei ihren drei Verehrern. Hätte sie es getan, sie wäre wahrscheinlich sprachlos gewesen vor Entsetzen. Doch dieser Mann rief Erinnerungen an die skandalösen Statuen in einem Londoner Museum in ihr hervor, das sie im vergangenen Jahr besucht hatte. Fast war sie damals versucht gewesen, die Hand auszustrecken und den kalten Marmor zu berühren, über die Oberschenkelmuskeln zu streichen und eine der Hinterbacken zu umfassen. Ihre Reaktion hatte sie schockiert und beschämt, und genauso fühlte sie sich auch jetzt.

Da stand sie nun, auf der Eingangstreppe von Sedgebrook, starrte diesen Fremden an und fragte sich, ob er ohne Kleider genauso attraktiv war wie in dem strengen schwarzen Anzug.

Die Farbe stand ihm, aber bei jemandem, der eine Ausstrahlung hatte wie Luzifer persönlich, war das wahrscheinlich nicht anders zu erwarten.

„Dann müssen Sie der Duke of Roth sein, nicht wahr?“, hörte sie plötzlich Josephines atemlose Stimme neben sich.

Martha warf ihr einen verwunderten Blick zu. Ihre Schwester musste die Treppe im Laufschritt erklommen haben, um den Duke als Erste begrüßen zu können.

„Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue, Ihre Bekanntschaft zu machen.“ Josephine lächelte strahlend. „Wir sind gekommen, um Ihnen Vaters Nachlass zu bringen. Schließlich konnten wir die Sachen keinem Dritten anvertrauen, und obwohl unsere Diener grundanständig sind, wären wir außer uns gewesen, wenn Vaters Lebenswerk irgendeinen Schaden davongetragen hätte.“

Es kostete Martha Mühe, ihre Verärgerung nicht zu zeigen. Zu seinen Lebzeiten hatte Josephine nicht einen Funken Interesse an der Arbeit ihres Vaters gezeigt, und wenn der York’sche Torpedo in ihrer Gegenwart erwähnt würde, dessen war Martha sicher, würde Josephine sie nur verständnislos anstarren, ohne zu wissen, wovon die Rede war.

Der Duke deutete eine Verbeugung an. „Danke, Miss York, aber ich möchte den Nachlass Ihres Vaters nicht haben.“

War er wirklich so unerträglich und unausstehlich, wie er zu sein schien? Konnte es sein, dass ein so verachtenswürdiger Charakter in einer so anziehenden Verpackung daherkam?

Martha legte Josephine die Hand auf den Arm, bereit, sie zurückzureißen, sollte sie es wagen, sich einzumischen.

„Ich fürchte, Sie haben keine Wahl“, wandte sie sich an den Duke und reckte das Kinn. „Das Pferdefuhrwerk wird in Kürze hier sein. Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, Euer Gnaden, welch hohe Meinung mein Vater von Ihnen hatte.“ Sie schoss ihm einen Blick zu, von dem sie hoffte, dass er ihn zu deuten vermochte: Sie teilte diese Meinung nicht. „Seine letzten Worte galten Ihnen. Er sprach in glühenden Worten von Ihrer Freundschaft, während Sie sich nicht einmal dazu aufraffen konnten, uns Ihr Beileid zu bekunden, als er starb.“

„Miss Martha York, nehme ich an.“ Er hatte eine angenehme Baritonstimme.

Sie würde nicht zu erkennen geben, dass selbst seine Stimme eine Wirkung auf sie ausübte.

Was war nur los mit ihr? Sie verhielt sich nicht anders als die hirnlosen jungen Damen, mit denen sie es während ihrer Saison in London zu tun gehabt hatte. Fehlte bloß noch, dass sie anfing, sich über die Ausstattung des Mannes Gedanken zu machen – womit die albernen Gänse keineswegs finanzielle Mittel gemeint hatten.

„Seine Gnaden war krank“, kam Mr. Burthren seinem Freund zu Hilfe. „Ziemlich lange sogar.“

Der Duke schüttelte den Kopf. „Es ist schon in Ordnung, Reese. Du musst nicht meine Schlachten für mich schlagen.“

Was für eine merkwürdige Formulierung. Martha runzelte die Stirn. Sie kämpfte doch nicht mit ihm; wenn überhaupt, so erteilte sie ihm höchstens eine Lektion, weil er sich so unsäglich rüde verhielt. Außerdem hatte seine Achtlosigkeit ihren Vater verletzt, und das konnte sie ihm nicht verzeihen.

Mr. Burthren trat zu ihnen, Gran an seinem Arm. Martha biss sich auf die Unterlippe. Anscheinend hatte er ihr die Treppe hinaufgeholfen, während ihr selbst völlig entgangen war, dass ihre Großmutter Hilfe brauchte.

„Dies ist Mrs. Susannah York“, übernahm er im nächsten Moment die Vorstellung. „Ihre Enkelinnen, Miss Martha York und Miss Josephine York, begleiten sie.“

„Sie haben die Gelegenheit genutzt und einen Ausflug aus der Fahrt hierher gemacht, wie ich sehe.“

Unbehaglich ließ Martha die Musterung des Dukes über sich ergehen, dann widersprach sie energisch. „Von einem Ausflug kann nicht die Rede sein, Euer Gnaden. Wir waren einen ganzen Tag unterwegs.“

„Mit dem Zug hätte die Fahrt nur ungefähr eine Stunde gedauert, Miss York. Kann es sein, dass Sie zu Übertreibungen neigen?“

Ihre Großmutter hasste Züge, sie hielt sie für eine Verschandelung der Landschaft, fand sie laut, schmutzig und einer York nicht für würdig. Eine Ironie angesichts der Tatsache, dass ein Großteil ihres Vermögens aus Eisenbahnen stammte. Was Gran ebenso ignorierte wie die Tatsache, dass die Haupteinnahmequelle der Familie York Rüstungsgüter waren.

Martha reckte das Kinn. Sie hatte nicht vor, den Duke über die Widersprüchlichkeiten ihrer Großmutter aufzuklären.

„Aber egal wie weit oder lang“, sagte er in ihre Gedanken hinein, „Sie hätten sich die Reise sparen können.“

„Das ist Ihre Meinung, Euer Gnaden. Ich erfülle den Letzten Willen meines Vaters. Er wollte, dass Sie seine Forschungsergebnisse, seine Aufzeichnungen und den jüngsten Prototypen des York’schen Torpedos erhalten. Wäre mir bekannt gewesen, dass er Ihnen alles vermachen wollte, hätte ich ihm davon abgeraten und meine gesamte Überzeugungskraft eingesetzt, um seine Meinung zu ändern.“

„Weil Sie mich des Nachlasses nicht für würdig erachten?“

Verflixt, warum hatte sie sich nicht auf die Zunge gebissen? Aber wer A sagte, musste auch B sagen.

„Es kümmert Sie ja nicht einmal, dass er starb.“

Wenn sie sich ihn nicht so genau angesehen hätte, wäre ihr die unmerkliche Veränderung in seinem Gesichtsausdruck womöglich entgangen. Doch für einen kurzen Moment flackerte so etwas wie Trauer in seinen ansonsten ausdruckslosen Augen auf. Aber vielleicht hatte sie sich auch getäuscht.

„Ich muss Sie um Vergebung bitten, Mrs. York.“ Er wandte sich zu ihrer Großmutter um. „Wie Mr. Burthren schon sagte, es ging mir nicht gut, und ich wusste nicht, dass Ihr Sohn verstorben war.“

Gran nickte, doch anstatt etwas zu sagen, legte sie sich die Hand auf die Brust und schnappte nach Luft.

„Gran?“

Martha trat zu ihrer Großmutter, als diese anfing zu stöhnen.

„Was hast du?“

Sie umfasste die Taille der alten Dame, um sie zu stützen.

„Sie muss sich setzen“, sagte sie an den Duke gewandt.

„Ich fürchte, das Treppensteigen war zu viel für mich.“ Die Stimme ihrer Großmutter klang atemlos. Sie war weiß wie ein Betttuch, fast so bleich wie Amy, die hinter ihr die Treppen heraufkam. Gran war keine junge Frau mehr, und das vergangene Jahr hatte sie viel Kraft gekostet, nicht nur der Tod ihres Sohnes, sondern auch die Verantwortungslosigkeit ihrer Schwiegertochter.

Auch Amy kam Marthas Großmutter zu Hilfe, während Josephine noch immer dastand und den Duke gekünstelt anlächelte.

„Bitte“, sagte Martha inständig.

Halb erwartete sie, dass der Duke ihnen den Zutritt zu seinem Haus verweigern würde. Aber er nickte Reese zu.

„Würdest du sie in einen geeigneten Salon führen?“

Endlich hörte Josephine auf, den Duke anzustarren. Abermals bot Reese ihrer Großmutter den Arm. Sie legte ihm die Hand in die Ellbogenbeuge und gestattete ihm, sie durch die massive Doppeltür ins Haus zu führen. Josephine folgte den beiden und lächelte einem stattlichen Bediensteten in dunkelblauer Uniform, der in der Halle stand wie eine Statue, strahlend zu.

Martha setzte sich in Bewegung und sah über die Schulter zu ihrem Gastgeber zurück.

Der Charakter eines Menschen enthüllte sich in den ersten Momenten einer Begegnung. Es kam nur darauf an, aufmerksam zu sein, zuzuhören und anhand seiner Äußerungen und seines Verhaltens zu einem Urteil zu kommen. Und sie hatte alles, was es über den Duke of Roth zu wissen gab, in den wenigen Sekunden der Begrüßung gesehen und gehört. Er war ein überheblicher, misslauniger, unhöflicher Egoist.

Es sei denn, sie hätte sich ganz und gar in ihm geirrt.

Der Duke folgte ihnen, aber langsam und wie es den Anschein hatte, unter großen Schmerzen. Wie ihr jetzt erst auffiel, benutzte er einen Stock, auf den er sich schwer stützte. Mit seinem linken Bein schien alles in Ordnung, aber das rechte zog er hinter sich her.

Sie untersagte sich, ihm Hilfe anzubieten, obwohl es ihr schwerfiel.

Er sah hoch und ertappte sie dabei, wie sie ihn anstarrte. Seine Miene verschloss sich abrupt, er richtete sich gerade auf und straffte die Schultern, ohne indes ihrem Blick auszuweichen.

Es war ein eigentümlich intimer Moment, als wäre sie Zeuge seiner größten Verletzlichkeit geworden. Der Moment zog sich in die Länge, wurde zunehmend peinlich. Martha hätte gern gefragt, was passiert war. Er hatte erwähnt, dass es ihm nicht gut gegangen war. Ob er sein Bein gemeint hatte?

Sie verspürte das Bedürfnis, sich zu entschuldigen, wusste jedoch nicht recht, wofür. Vielleicht weil sie seine Gehbehinderung gesehen hatte? Oder weil sie ihn falsch eingeschätzt hatte? Die Falten um seinen Mund rührten jedenfalls nicht von Verachtung her, sondern von Schmerzen.

„Danke“, sagte sie in dem Bedürfnis, irgendeine Verbindung zu ihm herzustellen. „Es dauert nur ein paar Minuten. Großmutter muss sich einen Moment ausruhen. Das Fuhrwerk mit den Sachen meines Vaters wird in Kürze hier sein. Sobald alles abgeladen ist, machen wir uns auf den Heimweg.“

Er erwiderte nichts darauf, nickte lediglich.

Endlich begriff sie, dass er sich nicht in Bewegung setzen würde, solange sie ihn anstarrte. Sie wandte sich um und folgte Gran und Josephine in den Salon.

Verdammter Mist! Das Letzte, was er im Augenblick gebrauchen konnte, war ein Besuch von Martha York und ihrer Familie.

Sie sei ihm eine unschätzbare Hilfe, hatte ihr Vater mehrmals geschrieben. Martha versteht von meinem Torpedo genauso viel wie ich.

Zum Teufel mit ihr! Er brauchte sie nicht. Er brauchte Yorks Nachlass nicht. Und weder seine Aufzeichnungen noch seine Einsichten. Nichts. Entweder schaffte er es ohne Hilfe, verdammt, oder gar nicht.

Er stand da, das vertraute schmerzhafte Pochen im Bein, das ihn für alle Zukunft an seine Behinderung erinnern würde.

Vier unerwünschte Besucherinnen im Haus. Und Reese.

Ein Grund, weswegen er Yorks Freundschaft so sehr geschätzt hatte, war, dass der Mann nie irgendwelche Erwartungen an ihn gehabt hatte. Er hatte geschrieben und vielleicht eine Lösung für ein Problem vorgeschlagen, von dem Jordan ihm berichtet hatte, aber ohne mit einer postwendenden Antwort zu rechnen. Und vor allem wäre York nie unangekündigt auf Sedgebrook aufgetaucht, so wie seine Familie.

Eines musste er Martha York indes lassen, sie gab nicht auf. Als sie ihm das erste Mal geschrieben hatte, war er überrascht gewesen. Er hatte nie mit irgendwelchen Verwandten von Matthew York korrespondiert, und vielleicht hatte er geahnt, was in dem Brief stand, und sich nicht damit befassen wollen. Weil es ihm einfach zu viel gewesen war und der Genesungsprozess ihn zum wehleidigen Eigenbrötler gemacht hatte. Er hatte keinen ihrer Briefe geöffnet, bis auf den letzten, dessen Lektüre ihn mit Scham erfüllt hatte. Wie vermutet, war Matthew York gestorben. Tiefe Trauer hatte ihn erfasst. Der Mann war ihm ein Mentor gewesen. Er hatte sein Bedürfnis, Dinge zu verstehen und zu gestalten, verstanden.

Dennoch wollte er Matthews Nachlass nicht haben. Vielleicht weil es irgendwo tief in ihm einen Teil gab, der glaubte, ihn nicht zu verdienen. Aber hauptsächlich, weil er es schaffen wollte, seine Erfindung selbst zu entwickeln.

Von Geburt an trug er ein Brandmal, war nur eine Speiche in einem Rad, ein Zahnrädchen unter vielen. Er war ein Hamilton of Sedgebrook, ein jüngerer Sohn, von dem dennoch erwartet wurde, dass er eine Spur hinterließ in der Welt. Er war Marineoffizier mit einem gekauften Offizierspatent, doch sein Ehrbegriff verlangte es, dass er etwas leistete und erreichte.

Seine Erfindung war das Einzige, was er ganz allein geschafft hatte, er verdankte sie niemandem und nichts außer sich selbst. Zugegeben, Matthew hatte ihn ein paar Mal in die richtige Richtung gelenkt, aber die Arbeit hatte er selbst geleistet, Hunderte von Berechnungen angestellt und mit verschiedenen Typen von Pendeleinrichtungen experimentiert.

„Kommst du?“ Reese stand im Korridor. „Ich habe sie in den Rokokosalon gebracht und veranlasst, dass ihnen Erfrischungen serviert werden.“

Er nickte und schlurfte mühsam einen Schritt voran. Reese schaffte es nicht, sich eines bedauernden Blicks zu enthalten. Jordan seufzte lautlos. Er hätte nicht sagen können, was schlimmer war, das Mitleid seines Freundes oder der Überfall auf sein Heim.

4. KAPITEL

Wie geht es dir, Gran?“ Martha setzte sich auf das seltsam geformte Sofa neben ihre Großmutter.

Gran hatte den Kopf gegen den geschnitzten Rahmen der Rückenlehne gelegt und die Augen geschlossen. So blass und mitgenommen wirkte sie viel älter, als sie war.

Martha biss sich auf die Unterlippe. Sie hätte niemals darauf bestehen sollen herzukommen. Wenn ihrer Großmutter etwas passierte, war es ihre Schuld.

„Eine Tasse Tee würde mir guttun.“ Gran machte die Augen auf und lächelte matt. „Mach dir keine Sorgen, Kind. Ich bin nur ein bisschen erschöpft. Das ist ganz normal. Wenn ich mich ein wenig ausruhen kann, geht es mir gleich wieder gut.“

Mr. Burthren hatte sie in den Salon geführt, breit gelächelt und sich mit dem Hinweis, dass er nach Erfrischungen schicken wolle, entschuldigt. Wenn man sie nicht bald servierte, würde sie sich aufmachen und ihrer Großmutter selbst etwas besorgen.

„Ein merkwürdiger Raum.“ Ihre Großmutter blickte sich um. „Wie nannte Mr. Burthren ihn doch gleich?“

„Den Rokokosalon“, antwortete Josephine wie aus der Pistole geschossen und nahm in einem der Sessel Platz.

Martha sah zur Decke hinauf. Ein komplettes Fresko zierte den Plafond. Es zeigte einen älteren Mann, der eine Gruppe leicht bekleideter Frauen zu einem Hügel führte. An den Wänden unterhalb des Gemäldes lief eine üppige weiße Stuckkante entlang, die in allen vier Ecken von einer Säule gestützt wurde. An den mit blassblauer Seidentapete dekorierten Wänden hing ein Dutzend Gemälde, Landschaften, in denen Menschen Picknicks veranstalteten oder unter Bäumen und an Bachläufen ruhten.

Auf was auch immer ihr Blick fiel, es erschien ihr ein ganz kleines bisschen überladen. Ob es die Porzellanschäferinnen waren, die ihre Röcke rafften, während sie ihre Herde mit winzigen Blashörnern herbeiriefen, oder die fantasievollen Vögel mit den langen Federn aus Messing, die die einzelnen Teile des Kaminbestecks zierten.

„Das ist französisch, glaube ich.“ Gran wollte offenbar fortfahren, doch nach einem flüchtigen Blick auf Josephine schien sie sich eines Besseren zu besinnen.

„Ich finde es einen reizenden Raum.“ Josephine sah sich um wie ein Kind in einer Konditorei, dem man gesagt hatte, es dürfe alles haben, was sein Herz begehrte.

Würde der Duke sich zu ihnen gesellen? Martha bezweifelte es. Er hatte wenig begeistert gewirkt von ihrer Ankunft und wünschte sich vermutlich, sie so schnell wie möglich loszuwerden.

Der Ärmste. Vermutlich war er auch wenig begeistert über ihr Mitleid.

Plötzlich stöhnte ihre Großmutter und sackte zur Seite.

„Gran? Gran? Was ist los?“

Martha umfasste das Handgelenk ihrer Großmutter, und obwohl sie den Puls kräftig schlagen spürte, war sie beunruhigt, als die alte Dame erneut aufstöhnte.

„Was hat sie?“ Josephine war aufgestanden und trat zu ihnen. „Ist sie krank?“

Ihre Schwester war immer gut für eine Binsenwahrheit. Martha schluckte ihren Ärger hinunter und wandte sich zu Amy um.

„Seien Sie so gut und holen Sie jemanden her“, bat sie die Zofe leise und deutete auf den Klingelzug in der Ecke.

Sie bückte sich und hob Grans Füße auf das Sofa. Zu dumm, dass sie kein Kissen hatte oder wenigstens etwas, um sie zuzudecken. Die Hand auf den Fußgelenken ihrer Großmutter hielt sie die Luft an, als eine Welle von Angst über sie hinwegschwappte.

Langsam, wie es seit einiger Zeit seine Geschwindigkeit war, hinkte Jordan in Richtung des Rokokosalons.

Der Raum war ein Geschenk seines Großvaters an seine Ehefrau gewesen, die die Geste und die Gestaltung anscheinend zu schätzen gewusst hatte. Der Salon zählte zu den kleineren Zimmern des Anwesens, und die Ausstattung ließ ihn hoffnungslos überladen wirken.

Er hatte den Raum schon als Junge gemieden. Reese dagegen mochte ihn. Aber dass sie gute Freunde waren bedeutete nicht, dass sie in allem einig sein mussten. Neuerdings gab es herzlich wenig, über das sie einer Meinung sein konnten.

Die Großmutter ruhte auf dem verschnörkelten Sofa, und die Zofe fächerte ihr Luft zu. Beide Enkelinnen wandten sich zu ihm um, als er eintrat.

Mary, eine der Dienerinnen seines Haushalts, blieb zögernd vor dem Türdurchgang stehen. Er trat aus dem Weg, damit sie das mit Tee und Erfrischungen beladene Tablett hereinbringen konnte. Sie war ein gutes, umgängliches Mädchen, das immer ein Lächeln für ihn übrighatte. Noch nie hatte er sie bei einem mitleidigen Blick ertappt, und wenn er nicht ausdrücklich darum bat, bot sie ihm keinerlei Hilfe an.

Autor

Karen Ranney
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