Jahre der Liebe - vier Romane von Penny Jordan

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SCHATTENJAHRE

Ihr ganzes Leben lang hat Sage damit verbracht, vor der Vergangenheit zu fliehen: vor ihrer Mutter, mit der sie nichts als Hass verband, vor ihrem Vater, der sich nie für sie interessierte, vor ihrer eigenen unerfüllten Liebe. Doch als ein Schicksalsschlag sie nach Hause zurückbringt und sie das Tagebuch ihrer Mutter findet, erfährt sie von deren ungestillten Sehnsüchten. Indem sie das dunkle Geheimnis ihrer Familie Stück für Stück zusammensetzt, wird Sage mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert - und mit der einen, der einzigartigen Liebe, die niemals enden soll …

SPIEL UM MACHT UND LIEBE

Machthunger und die Gier nach Geld bringen vier Menschen zusammen, die zunächst nichts miteinander verbindet als ihr zielstrebiger Ehrgeiz:
Leo von Hessler, Erbe eines Chemiekonzerns;
Davina James, die nach dem Tod ihres Mannes ihre Pharmafirma vor dem Bankrott retten will;
Der Manager Saul Jardine, der Davina die Firma abjagen soll;
Die Ärztin Christie, die den profitgierigen Pharmakonzernen den Kampf angesagt hat.
Alle vier hat das Leben gelehrt, Enttäuschungen mit Härte zu begegnen und Gefühle als Schwäche zu empfinden. Werden sie ihrer Gier nach Macht und Einfluss die Chance opfern, endlich zu lieben und geliebt zu werden?

BROUGHTON HOUSE - HAUS DER SEHNSUCHT

Drei Frauen, die sich nie begegnen werden, die aber alle die gleiche Sehnsucht nach Liebe in sich tragen - und hoffen, dass das wunderschöne alte Landhaus sie der Erfüllung ihrer Wünsche näherbringt.

Fern - sanft, gefühlvoll und gefangen in einer kalten, lieblosen Ehe. Und nie wird sie aufhören, sich nach dem Stiefbruder ihres Mannes zu verzehren. Kann "Broughton House" ihr die Kraft geben, ein neues Leben zu beginnen?

Eleanor - glücklich verheiratet mit dem Anwalt Marcus, Karrierefrau und liebevolle Mutter. Und doch verspürt sie eine gefährliche Leere in sich. Wird sie in "Broughton House" das finden, was ihr bisher fehlte?

Zoe - impulsiv, begeisterungsfähig und voller Tatendrang. Mit ihrem Freund Ben will sie eine gemeinsame Existenz aufbauen. Macht ihre ungewollte Schwangerschaft all ihre Pläne mit "Broughton House" zunichte?

DIE GLUT IN MIR

Seit einer verhängnisvollen Nacht verfolgt Pepper nur noch ein einziger Gedanke: Rache! Simon Herries, Alex Barnett, Richard Howell und Miles French - diese vier Männer sollen für die Schrecken der Vergangenheit bezahlen. Sie wird ihr Leben und ihr gesellschaftliches Ansehen zerstören! Doch die vier haben ihre eigenen Pläne und wollen ihre Geheimnisse um jeden Preis bewahren … Und plötzlich erhält Pepper von unerwarteter Seite Hilfe - ausgerechnet von Miles. Hat sie den attraktiven Anwalt all die Jahre zu Unrecht beschuldigt?


  • Erscheinungstag 26.11.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783955765194
  • Seitenanzahl 1280
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Penny Jordan

Jahre der Liebe - vier Romane von Penny Jordan

PROLOG

Nach den Gesetzen der Logik hätte der Unfall niemals passieren dürfen.

Eine stille Seitenstraße – zumindest still nach den hektischen Londoner Maßstäben; ein klarer, heller Frühlingsmorgen; ein Taxifahrer, voller Stolz auf seine unfallfreie Vergangenheit; eine schlanke, elegante Frau, die um zehn Jahre jünger aussah; keiner der Beteiligten wirkte verwundbar. Und doch schien das Schicksal entschieden zu haben, was geschehen musste. Vor den Augen des Taxichauffeurs überquerte die Frau die Straße, dann blieb ihr hoher Absatz am Gehsteigrand hängen. Sie verlor das Gleichgewicht und stürzte, nicht in die relative Sicherheit des Gehsteigs, sondern auf die Straße, vor das Taxi, dessen Fahrer sich stets an alle Verkehrsregeln hielt, der sich nie so arrogant und gefährlich benahm wie zahlreiche Taxichauffeure in aller Welt.

Er sah die Frau fallen und bremste instinktiv – aber zu spät. Das schreckliche Geräusch, als der zarte Körper der Frau gegen das Auto prallte, würde ihn bis ans Lebensende begleiten. Sein Fahrgast, ein Geschäftsmann um die fünfzig im Nadelstreifenanzug, wurde durch den Zusammenstoß vom Sitz hochgeschleudert. Leute rannten aus den gepflegten Häusern zu beiden Seiten der Straße.

Irgendjemand musste einen Krankenwagen gerufen haben, denn der Taxifahrer hörte die klagende Sirene, die ein Trauerlied zu singen schien … Er ertrug es kaum, die Frau anzusehen, denn er bezweifelte, dass sie noch lebte. Unglücklich stand er am Straßenrand, als die Ambulanz erschien und die Profis ihre Arbeit begannen.

„Sie lebt noch“, hörte er jemanden sagen und stellte sich die Menschen vor, die in diesem Moment noch nicht wussten, welch eine Tragödie ihr Leben zu überschatten drohte. Irgendwo hatte die Frau doch sicher Verwandte und Freunde.

Ihre Mutter, bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt, lag in einer Klinik, dem Tode nah. Unglaublich, dachte Sage leicht benommen. Ihre unverwundbare, allgegenwärtige, unbesiegbare Mutter …

Vage, irreale Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf – Erinnerungen, Ängste, Gefühle. Der Porsche, den sie sich selbst zum dreißigsten Geburtstag geschenkt hatte, meisterte den dichten Verkehr. Seltsamerweise wurde ihre Fahrtüchtigkeit vom Aufruhr in ihrem Innern nicht beeinträchtigt.

Ihr Magen verkrampfte sich wie so oft während ihrer Kindheit und Jugend. Eine beklemmende Mischung aus Besorgnis, Kummer und Zorn erfasste sie. Wie konnte die Mutter ihr so etwas antun und es wagen, in das Leben einzudringen, das die Tochter sich aufgebaut hatte, und deren Unabhängigkeit zu gefährden?

Sage war kein Kind mehr, sondern erwachsen. Warum wurde sie jetzt von den alten, viel zu vertrauten Gefühlen erfüllt, von Wut, Gewissensbissen und Angst?

Das Krankenhaus lag nicht weit entfernt, deshalb hatte man vermutlich sie verständigt, nicht Faye. Und dann fiel ihr ein, dass sie die engste Blutsverwandte ihrer Mutter war. Ein Schauer rann ihr über den Rücken. Wenn die Mutter im Sterben lag … Jahrelang hatte sie sich eingeredet, nichts für die Frau zu empfinden, von der sie zur Welt gebracht worden war. Verrat und Täuschungsmanöver – damit hatte die Mutter verhindert, dass jemals andere Emotionen zwischen ihnen existieren konnten als Hass. Und deshalb fand sie es doppelt schlimm, jetzt diesen Schmerz zu verspüren, diese Angst.

Sie stellte den Wagen auf dem Parkplatz der Klinik ab, stieg rasch und ungeduldig aus. Eine typische Löwin – so hatte Liz Danvers ihr zweites Kind einmal beschrieben: temperamentvoll, ungestüm, ungeduldig, unbeherrscht und intelligent.

Das war vor fast zwanzig Jahren gewesen. Seit damals hatte die Zeit alle rauen Kanten von Sages Persönlichkeit abgeschliffen, die harten Seiten eines Wesens gemildert, das schwächeren Leuten oft zu rau erschien. Jetzt, mit dreißig, vermochte sie jene Energien zu kontrollieren, die ihre ruhigere, viel haltungsbewusstere Mutter hinter einen Wall aus distanzierter Würde getrieben hatten. Mit dem Versuch, diesen Wall niederzureißen, den verborgenen Kern von Liz’ Persönlichkeit zu erforschen, hatte Sage vergeblich einen Teil ihrer Jugend vergeudet. Nur eins wusste sie seit Langem – sie war nicht das Kind, das die Mutter sich wünschte.

Natürlich nicht – sie konnte niemals ein anderer David sein. Sie vermisste ihren Bruder immer noch, seine klugen Ratschläge, seine Liebe, sein Verständnis. Alle hatten ihn geliebt, mit gutem Grund. Seine Güte und Selbstlosigkeit waren tatsächlich liebenswert gewesen. Sie hatte ihn nie beneidet, nie den Eindruck gewonnen, die Mutter würde sie mehr lieben, wäre er nicht da gewesen. Also konnte die Kluft zwischen Liz und ihrer Tochter nicht mit Sages Eifersucht auf den bevorzugten Bruder erklärt werden.

Früher hatte es wehgetan, dieses Wissen, dass irgendetwas an ihr die Liebe der Mutter, die allem und jedem galt, in Abneigung, sogar Feindschaft verwandelte. Später hatte Sage gelernt, das zu akzeptieren, die schmerzliche Vergangenheit zu begraben. Sie vermied jeden überflüssigen Kontakt mit der Mutter, fuhr nur noch selten heim nach Cottingdean.

Cottingdean, das Haus, der Garten, das Dorf – alles die Domäne der Mutter, alles vom Willen der Mutter geschaffen und instand gehalten. Die Welt der Mutter.

Cottingdean – wie sehr hatte Sage während der Kindheit diesen Ort gehasst, der ihrer Mutter so viel abverlangte. All ihren Neid und ihre Abneigung hatte sie darauf konzentriert. Damals noch unfähig, die Barriere zwischen sich selbst und Liz zu analysieren, hatte sie geglaubt, Cottingdean trüge die Schuld an der schrecklichen Situation, weil das Anwesen der Mutter mehr bedeutete als die Tochter.

Vielleicht stimmte es. Warum auch nicht, dachte sie jetzt zynisch. Sicher hatte Cottingdean der Mutter all die darin investierte Zeit und Hingabe vergolten, so wie die Tochter es nicht vermochte.

Cottingdean, David und der Vater waren das Wichtigste in Liz’ Leben gewesen, und Sage hatte stets darunter gelitten, abseits zu stehen – eine Außenseiterin zu sein, ein Eindringling.

Sie stieß die Tafelglastür auf, ging zum Empfang der Klinik und nannte ihren Namen. Eine junge Krankenschwester blickte nervös auf eine Liste, bevor sie erklärte. „Ihre Mutter liegt auf der Intensivstation. Wenn Sie hier warten könnten – der Arzt würde gern mit Ihnen sprechen.“

Schon vor langer Zeit hatte Sage gelernt, sich zu beherrschen. Und so verriet ihre Miene nichts von ihren Gefühlen, als sie der Schwester dankte und auf einer Bank Platz nahm. War die Mutter schon tot? Wollte der Arzt deshalb zum Empfang kommen? Unerwünschte Emotionen stiegen in ihr auf, eine Panik, die sie drängte, sich gehen zu lassen und wie ein Kind zu weinen. Nein, noch nicht, dachte sie, es gibt zu vieles, was ich noch wissen möchte – zu vieles, was gesagt werden muss …

Das war lächerlich angesichts der Tatsache, dass Sage und ihre Mutter längst alles gesagt hatten, worauf es ankam. Sie selbst hatte vielleicht zu viel in Worte gefasst, zu viel enthüllt, war zu tief verletzt worden.

So ausdruckslos ihr Gesicht auch blieb, irgendetwas an ihr verriet den inneren Aufruhr. Das dunkelrote Haar schien vor Vitalität und Energie zu sprühen, die grünen Augen – von wem sie die geerbt hatte, wusste niemand – wirkten so veränderlich wie die tiefen Seen im Norden unter dem Frühlingshimmel. Gelegentlich warf die junge Schwester einen Blick auf Sage und beneidete sie. Sie selbst war klein, hübsch und ein bisschen rundlich. Niemals konnte sie die Ausstrahlung dieser eleganten Frau erreichen, diese Schönheit, die weder mit Jugend noch mit modischem Chic zusammenhing, sondern nur mit den klassischen Zügen, der Augen- und Haarfarbe, den Bewegungen, die in magnetischer Weise Aufmerksamkeit erregten.

Irgendwo in diesem großen anonymen Gebäude liegt meine Mutter, dachte Sage, so unfassbar mir das auch vorkommt. Liz war ihr stets unsterblich erschienen, ein Angelpunkt, um den so viele Schicksale kreisten. Auch das Leben der Tochter, bis sie rebelliert und sich losgerissen hatte, um ein eigenständiger Mensch zu werden. Ja, die Mutter hatte immer unzerstörbar und unverletzlich gewirkt, ein unabänderlicher Teil des Universums. Die perfekte Ehefrau, die perfekte Mutter, die perfekte Chefin – ein Vorbild für so viele Leute, die diesem Beispiel verzweifelt nacheiferten. Und sie hatte dies alles trotz der Hindernisse erreicht, die sich der Generation Sages niemals entgegenstellen würden. Liz war ihrer Zeit um dreißig Jahre voraus gewesen. Sie heiratete einen todkranken Mann und erhielt ihn über fünfundzwanzig Jahre am Leben, übernahm ein allmählich verfallendes Landgut und verwandelte es in ein florierendes Unternehmen. Nur ein zielstrebiger, entschlossener Mensch mit Visionen konnte ein solches Wunder vollbringen.

Lag darin die Wurzel der Abneigung zwischen Sage und ihrer Mutter? War sie neidisch auf Liz’ Talente gewesen, auf deren Leistungen? Maskierte sie dieses Gefühl, indem sie sich einredete, es sei ihr gutes Recht, so zu empfinden, die Mutter trage die Schuld an der Situation, nicht sie selbst?

„Miss Danvers?“

Sie zuckte zusammen, als sie die ungeduldige Männerstimme hörte. An männliche Aufmerksamkeit gewöhnt, fand sie die routinierte Professionalität des Arztes verwirrend. Sie selbst sah in ihrer mysteriösen Sinnlichkeit, die so viele Männer anlockte, eine fragwürdige Qualität. Denn sie entfachte nur Begierde, nicht Liebe. Bitterkeit regte sich in ihr – eine alte Wunde, die nie verheilt war. Um diese Emotion zu verdrängen, fragte sie betont kühl: „Meine Mutter …?“

„Vorerst lebt sie noch“, unterbrach er sie. Jetzt musterte er sie etwas genauer – ein großer, schlanker Mann, höchstens sieben Jahre älter als sie, aber in seinem Beruf vorzeitig gereift, offenbar begabt und intelligent. Aber im Moment wirkte er vor allem erschöpft und unduldsam. Angst verscheuchte Sages instinktives Mitleid, als er fortfuhr: „Bei der Einlieferung war sie bewusstlos. Wir haben noch keine Ahnung, ob sie schwere innere Verletzungen erlitten hat.“

„Keine Ahnung …“, Sage schüttelte verständnislos den Kopf. „Aber …“

„Wir waren viel zu sehr damit beschäftigt, sie am Leben zu erhalten. Deshalb konnten wir bisher nur oberflächliche Untersuchungen durchführen. Sie ist eine starke Frau, sonst wäre sie längst tot. Im Augenblick ist sie bei Bewusstsein. Sie hat nach Ihnen gefragt. Deshalb wollte ich Sie sprechen. Ernsthaft gefährdete Patienten reagieren äußerst sensitiv auf Anzeichen von Kummer oder Furcht bei ihren Besuchern – insbesondere bei nahen Verwandten.“

Sie hob erstaunt die Brauen. „Meine Mutter hat nach mir gefragt?“

„Ja“, bestätigte er und runzelte die Stirn. „Es war verdammt schwer, Sie aufzuspüren.“

Die Mutter hatte nach ihr gefragt. Sage verstand das nicht. Warum? Man sollte meinen, sie hätte nach Faye verlangt, Davids Witwe, oder Camilla, der Enkelin. Aber niemals nach ihrer Tochter. „Meine Schwägerin …“, begann sie, um ihre Gedanken in Worte zu fassen, doch der Arzt hob brüsk und abwehrend die Hand.

„Sie wurde benachrichtigt, aber vorläufig darf Ihre Mutter nur in äußerst begrenztem Umfang Besuch empfangen. Anscheinend hat sie etwas auf dem Herzen – etwas, das sie bedrückt. Bei einer so schwer verletzten Patientin müssen wir alles tun, was ihre Genesungschancen verbessert. Deshalb möchte ich Ihnen eine wichtige Anweisung geben. So geringfügig oder unerklärlich es Ihnen auch erscheinen mag, was Ihre Mutter sagen wird – versuchen Sie, sie zu trösten und zu besänftigen. Sie muss inneren Frieden finden.“

Sein Blick verriet ernsthafte Zweifel an Sages Fähigkeit, diese Forderung zu erfüllen – Zweifel, die sie teilte.

„Wenn Sie mir folgen würden …“ Er führte sie einen schmalen, leeren Korridor hinab, und es amüsierte sie ein wenig, weil er einen größeren Abstand hielt als nötig. Schüchterte sie ihn ein? Er wäre nicht der erste Mann gewesen, der so auf ihre Gegenwart reagierte. All die netten Männer, bei denen sie vielleicht kein Glück, aber zumindest Zufriedenheit hätte finden können, waren ihr mit dieser seltsamen Vorsicht begegnet. Natürlich lag es an ihrem Aussehen. Sie konnten nicht hinter die Fassade schauen, hinter die gefährliche Sinnlichkeit. Und sie glaubten, Sage würde niemals Zärtlichkeit brauchen, keine Schwächen verzeihen. Das stimmte natürlich nicht. Sie selbst war viel zu verwundbar, um die Achillesferse anderer zu verdammen. Und was die Zärtlichkeit betraf … Sie lächelte bitter. Nur sie allein wusste, wie oft sie sich nach diesem Heilmittel gesehnt hatte.

„Hier entlang“, sagte der Arzt. Sie erreichten die Intensivstation. Sage erschauerte, als er die Tür öffnete. Das instinktive Bedürfnis, kehrtzumachen und davonzulaufen, verlangsamte beinahe ihre Schritte.

Hinter irgendeiner dieser geschlossenen Türen lag die Mutter. Hatte sie wirklich nach ihr verlangt? Das war unfassbar – ein Schock, der Sages Schutzschild erschütterte. Dieser Schild wappnete sie, seit der Schmerz über Liz’ Verrat die widerstrebende, qualvolle Liebe vernichtet hatte.

Ein neuer Schauer ließ sie frösteln, als sie an das fremdartige Bild dachte, das der Arzt von ihrer Mutter gezeichnet hatte. Ein schwerverletzter, leidender Mensch musste doch nach demjenigen fragen, den er am meisten liebte. Und seit Sage denken konnte, wusste sie, dass die Liebe der Mutter – so freizügig und hemmungslos an andere verschenkt – der Tochter aus irgendwelchen Gründen nie gegolten hatte.

Pflichtgefühl, Fürsorge, Verantwortungsbewusstsein – das alles war Sage zuteil geworden, unter dem Tarnmantel vorgeblicher Mutterliebe. Aber sie hatte schon früh gelernt, zwischen Realität und Schein zu unterscheiden und die unüberwindliche Barriere gespürt.

Als sie an der Tür zögerte, wandte sich der Arzt ungeduldig zu ihr.

„Sind Sie auch ganz sicher, dass sie mich sehen will?“, flüsterte sie.

Er beobachtete, wie sich diese selbstsichere, schöne Frau, die eine so betörende erotische Ausstrahlung besaß, in ein nervöses Kind verwandelte. Die gefährliche Anziehungskraft einer solchen Frau bewog ihn, brüsker als beabsichtigt zu erwidern: „Oh, Sie haben nichts zu befürchten. Ihre Mutter hat nur innere Verletzungen davongetragen. Äußerlich …“

Sage starrte ihn an. Glaubte er wirklich, sie wäre so schwach, so eigensüchtig, dass sie vor dem Anblick der Patientin zurückschreckte? Doch ihr Ärger verflog sofort. Sie durfte ihm nichts übel nehmen, denn er wusste nichts von der komplizierten Mutter-Tochter-Beziehung. Die war ihr selber rätselhaft. Sie stieß die Tür auf und betrat einen kleinen Raum voller medizinischer Apparate mit vier Betten.

Nur ein Bett war belegt. Wie winzig die Mutter zwischen all den Geräten wirkte … Eine Kappe verbarg das ehemals natürlich blonde und jetzt diskret getönte Haar. Die bleiche Haut hätte einer Frau von Ende vierzig gehören können, keiner sechzigjährigen. Sages Blick streifte die Schläuche, an die ihre Mutter angeschlossen war, nur mit einem kurzen Blick und konzentrierte sich dann auf vertrautere, weniger beängstigende Aspekte.

Die Patientin atmete keuchend und mühsam, doch die Augen hatten sich nicht verändert – kühl, klar, Augen, die alles sahen, alles zu wissen schienen, deren Grau lavendelblau schimmern oder eine dunkle Schieferfarbe annehmen konnte, je nach der Stimmungslage.

Jetzt runzelte Liz die Stirn, nicht auf jene kaum merkliche Art, die Sage kannte, die Enttäuschung über die Fehlschläge irgendwelcher Leute ausdrückte. Wie oft hatte dieses leichte Stirnrunzeln das Herz der Tochter zusammengekrampft …

Doch nun zeigten sich tiefere Furchen, fremdartige Schatten verdüsterten die Augen. „Sage …“

War es ein Instinkt, der sie veranlasste, sich neben das Bett zu setzen und die Hand der Verletzten zu ergreifen? „Ich bin hier, Mutter.“

Mutter – welch ein kaltes, leeres Wort, ohne echte Gefühle … Als kleines Kind hatte sie „Mummy“ gesagt. Der zehn Jahre ältere David hatte die liebevoll-spöttische Anrede „Ma“ bevorzugt. Aber ihm war viel mehr Freiheit gestattet, viel mehr Liebe geschenkt worden … Hör auf, ermahnte sie sich. Sie saß nicht hier, um über die Vergangenheit nachzugrübeln. Die war endgültig vorbei.

„Alles ist gut, Mutter. Bald wirst du wieder gesund.“

Sekundenlang leuchtete schwacher Hohn in den grauen Augen auf, als wollten sie die banalen Worte mit Verachtung strafen, und Sage fühlte sich wieder wie ein Kind. „Du musst etwas für mich tun“, erklärte Liz, der die Stimme kaum gehorchte. Ihre Tochter musste sich hinabbeugen, um sie zu verstehen. „Meine Tagebücher – im Schreibtisch, in Cottingdean. Lies sie …“ Ihre Lider schlossen sich. „Auch die anderen müssen sie lesen. Sorge dafür …“

Was redete die Mutter da? Welche Tagebücher meinte sie? Hatte der Unfall ihrem Gehirn geschadet? Unsicher starrte Sage die bleiche Frau an, die jetzt wieder die Augen öffnete. „Versprich es mir …“

Pflichtbewusst nickte Sage. „Natürlich, aber …“ Unfähig, sich zurückzuhalten, stieß sie hervor: „Wieso bittest du mich darum? Wieso nicht Faye? Sie steht dir viel näher.“

Wieder schienen die grauen Augen zu spotten. „Faye ist nicht so skrupellos wie du, nicht so diszipliniert und stark.“ Die Stimme sank zu einem kraftlosen Seufzen herab.

Sage fühlte den schwachen, unregelmäßigen Puls in der Hand verebben, die sie festhielt, und eine überwältigende Angst stieg in ihr auf. Sogar Liebe durchströmte sie. „Mutter – nein!“

Der Puls flackerte wieder. „Wenn du die Tagebücher liest, wirst du alles verstehen, Sage.“ Erschöpft schloss Liz die Augen und lag so still da, dass Sage sie schon für tot hielt. Der Arzt berührte ihren Arm, seine leisen Worte belehrten sie eines Besseren.

„Sie will, dass ich ihre Tagebücher lese“, flüsterte sie, viel zu verwirrt, um zu begreifen, was sie zu diesem Geständnis trieb.

„Viele Menschen denken über gewisse Dinge in ihrem Leben nach, wenn sie dem Tode nah sind.“

„Ich wusste nichts von diesen Tagebüchern.“ Sage sprach mehr mit sich selbst. „Und ich musste es ihr versprechen …“ Sie wusste, dass sie dieses Versprechen nicht brechen durfte, und sie fürchtete die Erkenntnisse, die sie bei der Lektüre der Aufzeichnungen gewinnen würde. Sollte der Schmerz, den sie vor so langer Zeit überwunden hatte, von Neuem erwachen? Als der Arzt sie aus dem Zimmer führte, warf sie einen letzten Blick auf die Mutter. „Wird sie …?“

Wird sie sterben, wollte sie fragen, obwohl ihr vor der Antwort graute, obwohl sie sich an einen Hoffnungsschimmer zu klammern versuchte – an den Glauben, innere Kraft zu finden, solange die Mutter lebte.

Oft hatte sie die Leute sagen hören, am schlimmsten seien Leid, Schuldgefühle und das Bewusstsein der Vergänglichkeit in jenem Augenblick, wo ein Erwachsener einen Elternteil verliere. Sages Vater war während ihrer Teenagerzeit gestorben. Für ihn war es eine Erlösung gewesen, und es hatte sie kaum berührt. Wegen seiner schlechten gesundheitlichen Verfassung hatte er niemals eine große Rolle in ihrer Entwicklung gespielt. Stets war er im Hintergrund geblieben – eine Person ohne klare Konturen, aber der Mittelpunkt im Leben seiner Frau.

Bis jetzt war Sage überzeugt gewesen, sie hätte vor fünfzehn Jahren aufgehört, die Mutter zu lieben, jenes Gefühl wäre von einem zu schwerwiegenden Verrat, von zu viel Leid vernichtet worden und es gäbe nur eine einzige Möglichkeit zu überleben – die Trennung, die Unabhängigkeit.

Deshalb hatte sie sich ein eigenes Leben aufgebaut, eine Karriere gemacht, die sie zwischen London, New York, Los Angeles, Rom und Paris hin und her führte, zu all den Orten, wo man Interesse an ihren Wandgemälden fand. Überall auf der Welt standen Häuser, deren Besitzer ihr Heim niemals in glamourösen Zeitschriften für Innenarchitektur abgebildet sehen wollten, aber Sages Kunstwerke als kostbare Dekoration betrachteten. Sie war gefragt, wurde hoch bezahlt und nahm nur Aufträge an, die ihr zusagten. Ihr Leben gehörte ihr allein. Zumindest war sie dieser Meinung gewesen.

Warum ich, hatte sie sich erkundigt und war von der Mutter nicht einmal in dieser extremen Situation geschont worden. Natürlich, die sanftmütige, feinfühlige Faye würde es niemals über sich bringen, die Tagebücher eines anderen Menschen anzurühren, in einem fremden Privatleben herumzuschnüffeln. Aber warum war es so wichtig, dass Sage diese Aufzeichnungen las? Warum bestand die Mutter darauf – womöglich in der Stunde ihres Todes?

Es gab nur einen einzigen Weg, das herauszufinden.

Sage würde nichts gewinnen, wenn sie hinauszögerte, was geschehen musste. Das erkannte sie, als sie das Krankenhaus verließ. Wie es der Zufall wollte, hatte sie soeben einen Auftrag ausgeführt und noch etwas Zeit bis zum nächsten. Also wurde sie von keiner dringenden Pflicht daran gehindert, ihr Versprechen zu erfüllen und sofort nach Cottingdean zu fahren, so gern sie diese Reise auch vor sich hergeschoben hätte.

Der Familiensitz lag am Rand eines idyllischen Dorfes in den Hügeln südöstlich von Bath. In dieser ländlichen Gemeinde hatte die Mutter, liebevoll und von allen geliebt, geschaltet und gewaltet. Sage war mit Cottingdean nie so eng verbunden gewesen wie ihre Angehörigen. Aus irgendeinem Grund hatte sie sich dort wie eine Gefangene gefühlt und nach weiteren Horizonten gestrebt.

Cottingdean … Faye und Camilla würden sie erwarten, mit angstvollen Fragen nach der Mutter bestürmen.

Welch eine Ironie, dass die Schwägerin genoss, was Sage stets verwehrt worden war – die Liebe der Mutter. Trotzdem konnte sie Faye nicht hassen.

Sie seufzte ein wenig, als sie nach Westen zur M4 fuhr. Arme Faye – das Leben war nicht freundlich zu ihr gewesen, und in ihrer Schwäche vermochte sie die Schicksalsschläge kaum zu ertragen.

Deutlich erinnerte sich Sage an den Tag, an dem Faye und David geheiratet hatten. Eine bleiche, zerbrechliche Braut, von inniger Liebe erfüllt … Das Glück war nur von kurzer Dauer gewesen. Ein tragischer, sinnloser Autounfall hatte David das Leben gekostet und Faye vor die Aufgabe gestellt, Camilla allein großzuziehen.

Sage war nicht überrascht gewesen, als ihre Mutter die Schwiegertochter aufgefordert hatte, mit dem Kind nach Cottingdean zu ziehen. Später hätte David das Landgut ohnehin geerbt. Faye nahm das Angebot an, das hübsche ehemalige Pfarrhaus im Dorf, von David für seine Familie erworben, wurde verkauft. Camilla, damals ein Jahr alt, hatte nie ein anderes Heim gekannt als das Domizil ihrer Großmutter.

Während Sage an ihre Nichte dachte, lächelte sie. Achtzehn Jahre alt, maßlos verwöhnt, von allen ihren Angehörigen … David hatte eine schmerzliche Lücke im Leben seiner Familie hinterlassen, aber auch ein Geschenk, das sie ein wenig tröstete.

Cottingdean würde eines Tages Camilla gehören, und die Großmutter hatte früh begonnen, die Enkelin in die Pflichten einzuführen, die sie später übernehmen sollte. Sage beneidete das Mädchen nicht um dieses Erbe, aber manchmal um das sonnige Gemüt, die Ausgeglichenheit, die Herzenswärme, die gewinnende Art.

Aber im Grunde war Camilla noch ein Kind und wusste nicht, welchen Zauber sie auf ihre Mitmenschen ausübte.

Wieder seufzte Sage. Ihre Nichte wäre am tiefsten getroffen, wenn die Mutter … Mit zitternden Fingern umklammerte sie das Lenkrad des Porsche. Noch immer konnte sie ihren Gedanken nicht gestatten, das Wort „Sterben“ zu formulieren, diese Möglichkeit zu akzeptieren – die Wahrscheinlichkeit, dass der Tod ihrer Mutter unabwendbar war.

In den geheimsten Tiefen ihres Herzens lag die Gewissheit, eine Weigerung, ihrer Mutter jenes Versprechen zu geben, hätte deren letzten schwachen Lebenspuls zerstört. Die gleiche Wirkung würde Sage erzielen, sollte sie ihr Wort brechen. Obwohl die Mutter es nicht erfahren würde – Sage hätte das Gefühl, den dünnen Lebensfaden eigenhändig zu zerschneiden, wenn sie vor der Lektüre dieser Tagebücher zurückschreckte.

Sie erschauerte und erkannte, so wie in gewissen anderen Augenblicken ihres Lebens, die Macht ihrer tief verwurzelten, manchmal verwirrenden Instinkte, die auf keiner logischen Grundlage beruhten.

Ihre schmalen Finger schlossen sich noch fester um das Lenkrad. Von der zarten Anmut ihrer Mutter hatte sie nichts geerbt, die war auf Camilla übergegangen. Sie selbst besaß keine einzige Eigenschaft der Mutter. Und doch war es ihr in jenen wenigen Minuten am Krankenbett so vorgekommen, als hätten sich ihre Seelen vereint, als nähme sie Liz’ Angst und Leid, Verzweiflung und Entschlossenheit in sich auf. Und sie hatte erkannt, wie wichtig es war, das Versprechen zu erfüllen.

Wusste die Mutter, dass sie sterben würde? Ein heftiger Schmerz brannte in Sages Brust. So etwas durfte sie nicht empfinden. Vor vielen Jahren hatte sie sich von Liz losgerissen. Sicher, sie hatte die Beziehung mit Lippenbekenntnissen aufrechterhalten, die Mutter pflichtbewusst an deren Geburtstag im Juni besucht, auch zu Weihnachten. Während des letzten Weihnachtsfestes war sie allerdings nicht in Cottingdean gewesen, sondern in der Karibik, um die Villa eines reichen Franzosen zu verschönern. Ein guter Entschuldigungsgrund, um der Familienfeier fernzubleiben, von der Mutter kommentarlos akzeptiert …

Sie bog von der Hauptstraße ab, folgte den vertrauten Straßenschildern und runzelte die Stirn angesichts des Verkehrs, der im Lauf der Jahre auch in dieser ländlichen Gegend immer dichter geworden war. Die schmale Fahrbahn eignete sich nicht für die riesigen achträdrigen Laster. Einen überholte sie, nur noch wenige Meilen vom Dorf entfernt, und atmete auf, als sie vom Dieselgestank erlöst war.

Nach dem eisigen Winter war der Frühling doppelt willkommen, der die Hecken am Straßenrand in frisches Grün hüllte. Im Dorf schien sich nichts verändert zu haben, und es amüsierte Sage, dass sie sich darüber freute. Warum – wo sie sich doch so verzweifelt bemüht hatte, von hier zu fliehen, vor dieser fast zu vollkommenen hübschen Idylle? Wieso fürchtete sie bei jeder Rückkehr die Möglichkeit irgendwelcher tiefgreifenden Veränderungen?

Wer immer den Bauplatz Cottingdean ausgesucht hatte – es war eine gute Wahl gewesen. Die Rückseite zu den Hügeln, die Vorderfront nach Süden gewandt, wurde das Haus von alten Eichen am Rand des Parks gegen den Ostwind abgeschirmt.

Der Erbauer war ein reicher Kaufmann aus der elisabethanischen Ära gewesen, der mit seiner Familie Bristol verlassen hatte, um sich in einer stillen, gesunden ländlichen Umgebung anzusiedeln. Spätere Generationen hatten dem Haus – in der traditionellen Form des Buchstaben E angelegt – mehrere Anbauten hinzugefügt. Aber die steinerne Fassade mit der massiven Eichentür und den alten Fenstermittelpfosten war stets gleich geblieben, aus Mangel an Geld oder an Initiative.

Die Auffahrt führte zur Hinterfront, in den Hof, den die Ställe und übrigen Nebengebäude einrahmten. Nichts dergleichen behinderte die Aussicht, die man an der Vorderseite genoss.

Sages Mutter behauptete, den besten Eindruck von Cottingdean gewinne man, wenn man sich zu Fuß nähere, auf der Brücke, die den Fluss überspannte, durch das Holztor in der Gartenmauer. Dann tauchte das Bauwerk zwischen den gestutzten Eiben auf, die den Weg zur Terrasse und zum Vordereingang säumten.

Bei Liz’ Ankunft in Cottingdean war der jetzt so berühmte, viel bewunderte Park ein Durcheinander aus Unkraut und nutzlosen Gemüsebeeten gewesen. Das konnte man sich kaum vorstellen, wenn man jetzt den glatten, leuchtend grünen Rasen mit den scheinbar willkürlich verteilten Bäumen sah, die Eibenhecken, die eine geheimnisvolle Atmosphäre erzeugten. Dies alles war Liz’ Werk und keineswegs, wie manche glaubten, dem Geld ihres Mannes und der harten Arbeit anderer Leute zu verdanken. Nein, zum Großteil hatte sie den Park eigenhändig umgestaltet.

Im Hof wurde Sage von Faye und Camilla, die sie von ihrer Ankunft benachrichtigt hatte, erwartet. Sobald sie aus dem Wagen stieg, eilten beide zu ihr. „Wie geht es Gran?“, riefen sie wie aus einem Mund.

„Ich habe mit dem Arzt gesprochen. Er weiß noch nicht, wie schwer ihre inneren Verletzungen sind. Wenn wir ihn heute Abend anrufen …“

„Wann dürfen wir sie besuchen?“, fragte Camilla eifrig.

„Der Arzt meinte, sie könne erst Besuch empfangen, wenn sich ihr Zustand mindestens achtundvierzig Stunden lang stabilisiert hat.“

„Aber du warst doch bei ihr“, wandte Camilla ein.

Sage legte einen Arm um die Schulter ihrer Nichte. Davids Tochter bedeutete ihnen allen sehr viel. „Nur weil sie mich sehen wollte. Der Doktor sorgte sich, weil sie etwas auf dem Herzen hatte …“

„Was?“

„Camilla, lass Sage erst mal ins Haus gehen und Platz nehmen, ehe du sie einem Kreuzverhör unterziehst“, ermahnte Faye ihre Tochter sanft. „Heutzutage ist es kein Vergnügen mehr, von London hierher zu fahren, in diesem dichten Verkehr … Ich weiß nicht, was du vorhast, Sage. Aber ich habe Jenny für alle Fälle gebeten, dein Zimmer herzurichten.“

„Ich bin mir noch nicht sicher.“ Sage folgte ihrer Schwägerin in die Halle und blieb kurz stehen, bis sich ihre Augen an das Halbdunkel in dem holzgetäfelten Raum gewöhnt hatten, der sich bis zum Hinterausgang erstreckte. Nach der Ankunft ihrer Mutter in Haus Cottingdean hatte man beinahe ein Jahr gebraucht, um den dicken Anstrich von den alten Paneelen zu entfernen. Nun schimmerte das Holz warm und matt, und sein Anblick weckte den Wunsch, es zu berühren.

„Ich habe Jenny beauftragt, den Tee im Wohnzimmer zu servieren.“ Faye öffnete eine Tür. „Hast du dir unterwegs Zeit für den Lunch genommen?“

Wortlos schüttelte Sage den Kopf. Sie verspürte nicht den geringsten Appetit.

Das Wohnzimmer lag an der Westseite. Es war in verschiedenen Gelb- und Blauschattierungen gehalten, ein sonniger Raum mit Möbeln aus verschiedenen Epochen, die so aussahen, als wären sie füreinander bestimmt – was auf ein weiteres Talent der Hausherrin hinwies.

In dem gemütlichen Zimmer dufteten spät erblühte Topfhyazinthen, deren Farbe haargenau das Lavendelblau des Teppichs wiederholte. Ein Kaminfeuer verstärkte die einladende Atmosphäre, schmiedeeiserne Gitter verbargen diskret die Zentralheizung. Faye und ihre Schwägerin setzten sich in Polstersessel.

„Erzähl uns von Gran“, verlangte Camilla und hockte sich zu Sages Füßen auf einen damastbezogenen Schemel. „Wie geht es ihr?“ Sie war ein hübsches Mädchen, blond wie ihre Mutter, aber viel vitaler. Die schönen Gesichtszüge und die grauen Augen hatte sie von der Großmutter geerbt. „Sie wird doch wieder gesund?“

Sage zögerte und begegnete Fayes Blick, über Camillas Kopf hinweg. „Ich hoffe es.“ Tröstend fügte sie hinzu: „Sie ist sehr stark. Und wenn jemand den Willen hat zu kämpfen, am Leben festzuhalten …“

„Wir wollten sie besuchen, aber eine Krankenschwester erklärte uns am Telefon, Gran habe nach dir verlangt.“ Camilla schaute Sage ebenso erwartungsvoll an wie ihre Mutter.

„Sie sagte, wir … wir alle sollten ihre Tagebücher lesen. Das musste ich ihr versprechen.“ Sage schnitt eine Grimasse. „Ich wusste gar nicht, dass sie Tagebuch führte.“

„Ich schon“, erwiderte Camilla. „Eines Nachts konnte ich nicht schlafen und kam herunter. Da saß Gran in der Bibliothek und schrieb. Sie erzählte mir, ihre Tagebücher würden sie begleiten, seit sie vierzehn gewesen sei, aber die ersten habe sie nicht aufbewahrt.“

Wie lächerlich, sich wegen einer solchen Kleinigkeit zurückgesetzt zu fühlen, dachte Sage.

„Die Bücher liegen in den Schubfächern des großen Schreibtisches, der mal Grandpa gehörte“, fuhr Camilla fort. „Nur Gran besitzt einen Schlüssel.“

„Den habe ich jetzt.“ Nur widerstrebend hatte Sage im Krankenhaus die Handtasche ihrer Mutter samt Inhalt entgegengenommen. Und sie empfand immer noch ein heftiges Unbehagen, weil sie nur zu gut wusste, warum ihr die persönlichen Sachen der Patientin ausgehändigt worden waren.

„Ich frage mich, warum wir die Tagebücher lesen sollen.“ Eine seltsame Besorgnis lag in Fayes Augen.

Prüfend musterte Sage ihre Schwägerin, an deren stille Gegenwart in Liz’ Schatten sie sich längst gewöhnt hatte. Wieder einmal überlegte sie, warum diese attraktive, mit ihren einundvierzig Jahren noch relativ junge Frau sich mit einem solchen Leben begnügte. Sicher, Faye hatte David vergöttert. Aber nun war er seit vielen Jahren tot, und offenbar hatte es nie einen anderen Mann für sie gegeben.

Warum gab sie sich mit ihrem Schicksal zufrieden? Wie Sage wusste, blieben manche Witwen allein, weil sie wegen ihrer schlechten Erinnerungen an die Ehe keine neuen Partnerschaften eingehen wollten. Aber Faye war sehr glücklich mit David gewesen. Warum vergrub sie sich hier mit ihrer Schwiegermutter und ihrer Tochter? Nach außen hin wirkte sie ruhig und gefasst wie immer – wenn auch nicht auf so kraftvolle Art kontrolliert wie Liz.

Fayes Selbstbeherrschung war eher ein Schutzschild, hinter dem sie sich vor der Welt versteckte. Jetzt flackerte es nervös in den sanften blauen Augen. Das blonde Haar – während der Ehe offen getragen – war zu einem klassischen Knoten zusammengesteckt. Das Make-up bestand aus dezentem Lidschatten, Wimperntusche und einem Hauch von Lippenstift.

Trotz ihrer Schönheit hatte Faye stets ihr Bestes getan, um möglichst unscheinbar zu wirken. Warum, fragte sich Sage und beobachtete sie verstohlen. Oder befassten sich ihre Gedanken nur mit der Schwägerin, um dem Grund ihres Besuchs in Cottingdean auszuweichen?

Während Faye und Camilla sie bedrückt anstarrten, fühlte sie sich verpflichtet, die beiden zu beruhigen. „Wahrscheinlich sollen wir die Tagebücher lesen, weil Mutter glaubt, dass nützliche Dinge darin stehen – etwas, das uns hilft, das Landgut bis zu ihrer Genesung zu verwalten.“

Faye runzelte die Stirn. „Henry kümmert sich um die Schafherde und um die Spinnerei, obwohl sein Enkel das alles offiziell übernommen hat.“

„Und wer soll die Versammlung der Bürgerinitiative gegen den Bau der neuen Straße leiten?“, fragte Camilla.

„Welche neue Straße meinst du?“, fragte Sage bestürzt.

„Sie soll zur neuen Schnellstraße westlich zum Dorf führen“, erklärte Faye, „direkt durchs Ackerland, nur wenige Meter von unserem Grundstück entfernt. Deine Mutter hat eine Protestaktion organisiert. Vor zwei Wochen fand die erste Sitzung der Gruppe statt. Natürlich wurde Liz zur Vorsitzenden der Initiative gewählt.“

Wie Sage sich verwundert eingestand, passte ihre Empörung über die geplanten Neuerungen überhaupt nicht zu den Gefühlen, die sie für Cottingdean und das Dorf hegte. Wie froh war sie damals gewesen, diesem Ort entronnen zu sein … Warum grollte sie jetzt den Leuten, die es wagten, die Landschaft durch eine Straße zu zerstören?

„Was sollen wir bloß ohne sie machen?“, klagte Faye.

Anscheinend war sie den Tränen nahe, und Sage atmete erleichtert auf, als sich die Tür öffnete und die Haushälterin den Teewagen hereinrollte.

Der Nachmittagstee galt als Institution in Cottingdean, seit Sages Eltern eingezogen waren. Ihr Vater, schon damals ein Invalide, hatte an Appetitlosigkeit gelitten. Mit der Tradition dieser Teestunde hatte die Mutter versucht, ihn zum Essen zu animieren.

Jenny und Charles Openshaw arbeiteten seit fünf Jahren als Haushälterin und Gärtner beziehungsweise Chauffeur – ein nettes, über fünfzigjähriges Ehepaar aus dem Norden Englands.

Von Anfang an hatte Sage die beiden gemocht. Jenny und Charles erfüllten ihre Pflichten, ohne jene Unterwürfigkeit zu zeigen, die manchen Dienstboten in ländlichen Gebieten immer noch anhaftete.

Nachdem Jenny verkündet hatte, in Sages altem Zimmer sei alles vorbereitet, erkundigte sie sich nach dem Befinden der Hausherrin.

Sage informierte sie und wusste, Jenny würde erraten, was ungesagt blieb, und im Gegensatz zu Faye und Camilla auch ahnen, wie gering Mrs Danvers’ Überlebenschancen waren.

„Oh, fast hätte ich es vergessen!“, rief Jenny zu Sage gewandt. „Kurz vor Ihrer Ankunft hat Mr Dimitrios angerufen.“

„Oh, Alexi …“ Sage seufzte. Sicher würde er wütend auf sie sein. Für diesen Abend war ein gemeinsames Dinner geplant gewesen. Vor der Abreise hatte sie eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter in seiner Wohnung hinterlassen, die Situation kurz erklärt und versprochen, sich wieder zu melden. Seit zwei Monaten bemühte er sich um sie – für ihn eine ungewöhnlich lange Zeit, die er für eine Frau opferte, ohne mit ihr zu schlafen. Darauf hatte er bei der letzten Begegnung nachdrücklich hingewiesen.

Es gab keinen Grund, warum sie ihm eine intimere Beziehung verweigern sollte. Er war groß, kräftig gebaut, mit markanten Gesichtszügen. Sage hatte ihn bei einem Job in Sydney kennengelernt. Er zählte zur neuen Generation griechischer Australier – reich, selbstsicher, ein amüsanter Macho. Seit zwei Jahren gab es keinen Liebhaber in ihrem Leben, und sie hatte vergessen, wie man sich fühlte, wenn man so aggressiv umworben wurde. Ja, sie war schon sehr lange allein – ausgerechnet sie, die stets Freude am Sex gefunden hatte.

Aber guter Sex war Mangelware. Oder vielleicht lag es daran, dass sie im Lauf der Jahre immer wählerischer wurde und nicht mehr dazu neigte, augenblicklichen Impulsen nachzugeben, wenn ihr ein Mann attraktiv erschien. Natürlich ließ ihr die Arbeit wenig Zeit für gesellschaftliche Aktivitäten oder Selbstanalysen, und das gefiel ihr. Sie hatte zu viele ermüdende, unproduktive Stunden verbracht, um nach dem Unmöglichen zu suchen, sich nach Dingen zu sehnen, die sie nicht erlangen konnte, und letzten Endes beschlossen, nichts mehr erzwingen zu wollen. Sie nahm das Leben so, wie es kam, einen Tag nach dem anderen, gewöhnte sich allmählich und schmerzhaft an diese neue Geisteshaltung, wie ein Mensch, der nach einer langen Lähmung wieder gehen lernt.

Ihre mangelnde Bestürzung über Alexis Groll schien anzudeuten, dass er bestenfalls lauwarme Begierde in ihr weckte. Sie lächelte Jenny an und teilte ihr mit, sie wisse noch nicht, wie lange sie in Cottingdean bleiben würde. Am nächsten Tag wollte sie nach London zurückfahren und ein paar Sachen aus ihrer Wohnung holen. Das hätte sie bereits nach dem Verlassen der Klinik tun sollen, aber da war sie nicht in der Stimmung gewesen, solche praktischen Dinge zu erledigen, und hatte sich nur auf die baldige Erfüllung ihres Versprechens konzentrieren können. Nun gab sie Liz recht, die oft genug behauptet hatte, ihre Tochter sei zu impulsiv und würde niemals innehalten, um nachzudenken, ehe sie handelte.

Nachdem Jenny aus dem Zimmer gegangen war, trank Sage ungeduldig ihren Tee und ignorierte die appetitlichen Sandwiches. Geistesabwesend gestand sie sich ein, dass sie etwas essen müsste, aber allein schon beim Gedanken daran wurde ihr übel. Das lag vermutlich an den Auswirkungen des Schocks. Doch da sie an ihren ausgezeichneten Gesundheitszustand gewöhnt war, verschwendete sie kaum Zeit mit solchen Überlegungen.

Faye bemerkte Sages Rastlosigkeit und stellte ihre Teetasse ab. „Möchte Liz wirklich, dass wir alle diese Tagebücher lesen?“, fragte sie unbehaglich.

„Ja, leider. Mir widerstrebt es genauso wie dir, Faye. Nun, es gibt Leute wie dich und mich, die es hassen, in so intimen Dingen wie fremden Tagebüchern herumzuschnüffeln. Und andere genießen es geradezu. Ich habe keine Ahnung, warum Mutter mir dieses Versprechen abgenommen hat. Jedenfalls muss ich es erfüllen …“ Sage verstummte. Sollte sie Faye die lächerliche Befürchtung anvertrauen, sie könnte den Tod ihrer Mutter herbeiführen, wenn sie ihr Wort brach? Besser nicht. Damit würde sie die Last der Verantwortung abschütteln und Fayes zarten Schultern aufbürden.

„Ich möchte sofort anfangen. Bringen wir’s so schnell wie möglich hinter uns. Heute Abend um acht rufen wir im Krankenhaus an. Vielleicht dürfen wir Mutter morgen besuchen. Wenn ich ein Tagebuch zu Ende gelesen habe, gebe ich’s dir, und du reichst es dann an Camilla weiter, sobald du damit fertig bist.“

„Wo willst du die Bücher lesen?“, erkundigte sich Faye nervös. „Hier – oder …?“

„In der Bibliothek. Charles soll dort Feuer im Kamin machen.“

Obwohl Sage wusste, wie sinnlos es war, die unangenehme Aufgabe hinauszuschieben, verursachte sie eine Verzögerung. Brauchte sie wirklich ein Kaminfeuer in der Bibliothek? Die Zentralheizung spendete genug Wärme. Dieser Einblick in die eigene Psyche verwirrte sie. Wovor fürchtete sie sich? Vor der Bestätigung, dass ihre Mutter sie nicht liebte? Hatte sie diesen Gefühlsmangel nicht schon vor vielen Jahren akzeptiert? Oder graute ihr davor, die andere, tiefere, immer noch schmerzhafte Wunde wieder aufzureißen – Berichte über jene Zeit zu lesen, die sie aus ihrem Gedächtnis verbannt hatte? Was jagte ihr solche Angst ein?

Nichts, sagte sie sich energisch. Es gab nichts zu befürchten – gar nichts. Sie griff nach ihrer kaffeebraunen Leinenjacke, die sie über eine Stuhllehne gelegt hatte, und nahm den Schlüsselbund der Mutter aus der Tasche.

„Die Tagebücher liegen in den Schubladen auf der linken Seite des Schreibtisches“, erklärte Camilla leise. Dann fragte sie unsicher, als spürte sie, was Sage erfolgreich zu verbergen glaubte: „Sollen wir – dich begleiten?“

Sages Miene wurde etwas sanfter, dann erwiderte sie mit leichtem Spott: „Ich werde nur Tagebücher lesen, Camilla – kein Werk über mittelalterliche Hexenkünste.“ Rasch stand sie auf und ging zur Tür, wo sie sich noch einmal umdrehte. „Dinner um halb neun – wie üblich?“

„Ja“, antwortete Faye, „aber das lässt sich ändern, wenn du es möchtest.“

Sage schüttelte den Kopf. „Bis acht lese ich die Tagebücher, dann rufen wir in der Klinik an.“

Sie schloss die Tür hinter sich und blieb eine Weile in der Halle stehen. Der Frühlingssonnenschein verlieh der Täfelung die Farbe dunklen Honigs, beleuchtete die hohen Zinnkrüge mit den Blumen, die riesige Steinhöhle des alten Kamins.

Die Bibliothek lag auf der anderen Seite der Halle, gegenüber dem Wohnzimmer. Sie starrte die Tür an, dann eilte sie in die Küche und bat Charles, Feuer im Kamin zu machen.

Während er sich darum kümmerte, stieg sie die Treppe hinauf. Anlässlich ihres achtzehnten Geburtstags war ihr Zimmer neu eingerichtet worden. Die Mutter hatte die Möbel und die Farben ausgesucht, als Überraschung, und – wie Sage zugeben musste – eine gute Wahl getroffen.

Statt zarter Pastelltöne – zu langweilig für Sages Geschmack – herrschten Farben vor, die sie liebte. Blau, Rot und Grün betonten die Schönheit der Wandtäfelung. Das große Vierpfostenbett bestand aus Holz, das dem Wald von Cottingdean entstammte. Ihr Name und ihr Geburtsdatum waren eingraviert, ebenso Porträts von den Haustieren ihrer Kindheit. Mit dem Entwurf dieses Betts hatte sich die Mutter viel Mühe gegeben und die Herstellung persönlich überwacht. Für jeden anderen Menschen wäre es eine Liebesgabe gewesen, aber Sage sah darin nur einen Ausdruck mütterlicher Pflichterfüllung. Die Tochter war achtzehn geworden, und deshalb hatte sie ein besonderes Geschenk erhalten müssen.

Im angrenzenden Bad, schlicht und reinweiß, wusch sich Sage die Hände, frischte ihr Make-up auf und bürstete ihr Haar. Freudlos lächelte sie in den Spiegel. Versuchte sie immer noch, den großen Augenblick hinauszuzögern? Warum? Sie kannte die Lebensgeschichte der Mutter genauso gut wie alle Dorfbewohner – eine makellose Biografie, einer Heiligen würdig.

Als junge Ehefrau war sie hierhergekommen, mit einem Mann, dessen Gesundheit der Krieg zerstört hatte. Sie waren einander in der Klinik begegnet, wo Liz als Aushilfskrankenschwester gearbeitet hatte, und nach der Hochzeit nach Cottingdean gezogen. Liz’ Mann hatte das Landgut von einem Vetter geerbt. Unermüdlich arbeitete sie, um das baufällige Haus zu renovieren und die vernachlässigte Schafzucht rentabel zu machen. Nun produzierte sie Schafwolle von hoher Qualität. Wie es ihr gelungen war, dieses Ziel zu erreichen und auch noch die heruntergewirtschaftete Spinnerei auf Vordermann zu bringen, hatte Sage nie erfahren. Zum ersten Mal regte sich Neugier in ihr.

Liz hatte dem Dorf zu Wohlstand verholfen, Cottingdean neues Leben eingehaucht. Jeder Einheimische kannte die Freuden und Kümmernisse ihres Schicksals und entsann sich, wie sie gekämpft hatte, um das Leben ihres Mannes zu verlängern. Alle wussten von der tiefen Trauer um den tödlich verunglückten Sohn, von der widerspenstigen, schwierigen Tochter …

Nein, es gab keine Geheimnisse in Liz’ Vergangenheit, keinen Grund, warum Sage diese innere Anspannung fühlte, diese Furcht, die sie zögern ließ, nach unten zu gehen, in die Bibliothek.

Trotzdem musste es geschehen. Sie hatte es versprochen. Seufzend stieg sie die Treppe hinab, stand sekundenlang reglos vor der Bibliothekstür, öffnete sie schließlich und trat ein.

Ein helles Feuer knisterte im Kamin, und irgendjemand – zweifellos Jenny – hatte ein Kaffeetablett bereitgestellt.

Dies war die Zufluchtstätte des Vaters gewesen. Hier hatte er im Rollstuhl gesessen und in den Garten hinausgeblickt. Sage und ihre Mutter hatten in diesem Raum die Abende verbracht … Hör auf, ermahnte sie sich. Du bist nicht hergekommen, um an längst verflossene Zeiten zu denken, sondern um die Tagebücher zu lesen.

Sie staunte selbst über die plötzliche Hoffnung, es möge ihr misslingen, die Schubladen aufzusperren. Aber sie schaffte es natürlich. Sie waren alt und schwer, ließen sich jedoch überraschend mühelos aufziehen. Der schwache Geruch von Moschus und Kräutern – Liz’ Parfum – wehte Sage entgegen.

Nun sah sie die Tagebücher – viel mehr als erwartet, methodisch nummeriert und datiert, als hätte die Mutter stets gewusst, eines Tages würde jemand diese Aufzeichnungen lesen – als hätte sie es geplant …

Aber warum? Nervös nahm Sage das erste Buch aus dem Schubfach und schlug es mit zitternden Händen auf. Die Wörter verschwammen vor ihren Augen. Sie wollte nicht, konnte nicht … Doch beinahe glaubte sie, die Willenskraft der Mutter zu spüren, deren Flüstern zu hören. „Du hast es versprochen.“

Hastig blinzelte sie, um klarer zu sehen, und las den ersten Satz.

„Heute lernte ich Kit kennen.“

Kit? Sage runzelte die Stirn und überprüfte das Datum. Die Mutter hatte begonnen, ein Tagebuch zu führen, als sie siebzehn gewesen war. Kurz nach dem achtzehnten Geburtstag hatte sie geheiratet. Wer war dieser Kit?

Nebelhafte, unbehagliche Empfindungen erwachten in Sages Brust, widerstrebend betrachtete sie die regelmäßigen Schriftzüge. Es kam ihr so vor, als stünde sie vor einem dunklen Tunnel, den sie nicht zu betreten wagte, obwohl sie wusste, dass sie sich dazu durchringen musste. Wovor fürchtete sie sich?

Sei nicht albern, sagte sie sich und las den ersten Satz ein zweites Mal. „Heute lernte ich Kit kennen.“

1. KAPITEL

Frühling 1945

„Heute lernte ich Kit kennen.“

Allein der Anblick dieser Worte machte Lizzie schwindlig vor Glück, obwohl sie unmöglich ausdrücken konnten, welche neue Gefühlswelt sich ihr eröffnet hatte.

Gestern war ihr Leben noch von den anstrengenden Pflichten einer Aushilfskrankenschwester geprägt worden – lange Arbeitsstunden, niedriges Gehalt, all die grässlichen Aufgaben, mit denen die richtigen Krankenschwestern ihre kostbare Zeit nicht vergeudeten … Sie wäre lieber in der Schule geblieben. Aber nachdem ihre Eltern bei einem der vielen Bombenangriffe auf London gestorben waren, musste sie sich den Wünschen der Großtante fügen und ihren Lebensunterhalt selbst verdienen.

Tante Vi wollte nicht unfreundlich sein, aber sie war nicht sentimental und nie verheiratet gewesen. Sie hatte keine Kinder und betonte ständig, sie habe ihre Großnichte nur aus Verantwortungsbewusstsein bei sich aufgenommen. Sie selbst hatte schon mit dreizehn arbeiten müssen, als Dienstmädchen im großen Herrschaftshaus. Dort war sie allmählich zu der geachteten Position von Lord und Lady Jevesons Haushälterin emporgestiegen.

Zunächst fand Lizzie es verwirrend, die unordentliche, aber gemütliche Atmosphäre in dem beengten Haus zu verlassen, wo sie mit ihren Eltern und Großeltern gelebt hatte, und aufs Land zu übersiedeln. Hier erschien ihr alles fremd, sie vermisste Ma und Pa ganz schrecklich. Jede Nacht weinte sie sich in den Schlaf und hatte Heimweh nach London.

Die Tante war das exakte Gegenteil von Ma und sprach auch ganz anders. Es hörte sich an, als steckte ihr Mund voller Nadeln und spitzer Steine. Sie zwang die Nichte, genauso zu reden, und korrigierte sie in einem fort, bis Lizzie sich kaum noch getraute, etwas zu sagen.

Das war vor vier Jahren gewesen. Nun wusste sie kaum noch, wie Ma und Pa ausgesehen hatten. Und die Erinnerung an das Elternhaus schien einem anderen Leben anzugehören. Inzwischen hatte sie sich an Tante Vis pingelige Art und die scharfe Stimme gewöhnt.

Erst gestern hatte eine neue Aushilfsschwester, die aus einem anderen Dorf stammte, über Lizzies akzentfreie Sprechweise gespottet und ihr vor Augen geführt, welch große Veränderung mit ihr vorgegangen war. Die ungeschickte, rebellische Dreizehnjährige, die damals auf Tante Vis Schwelle gestanden hatte, existierte nur noch in verschwommenen Erinnerungen.

Tante Vi wusste genau, wie man sich benahm, und ihre Großnichte durfte nicht mit den Manieren und der Sprechweise eines Küchenmädchens aufwachsen. Das hatte sie so oft erklärt, dass Lizzie es niemals vergessen würde.

Anfangs hasste Lizzie den Job im Krankenhaus, aber die kalte Entschlossenheit in Tante Vis Augen verschloss ihr den Mund, als sie bitten wollte, wieder eine Schule besuchen zu dürfen.

Schroff verkündete die Tante, sie könne es sich nicht leisten, ein großes, faules Mädchen zu beherbergen, das ihr die Butter vom Brot esse und keinen Penny nach Hause bringe. Außerdem fügte sie bissig hinzu, falls Lizzie es noch nicht bemerkt habe – ein Krieg sei ausgebrochen und jeder habe die Pflicht, dem Vaterland zu dienen. Die Oberschwester im Krankenhaus war ihre Freundin. Und ehe Lizzie wusste, wie ihr geschah, wurde sie in einem Wohnheim nicht weit von der Klinik einquartiert, in einem Schlafsaal, zusammen mit einem Dutzend anderer Mädchen. Alle mussten die gleiche anstrengende Arbeit verrichten. Aber im Gegensatz zu Lizzie verbrachten sie die Freizeit nicht allein, sondern in kichernden, aufgeregten Gruppen. An den Samstagabenden wetteiferten sie miteinander, um möglichst hübsch auszusehen, wenn sie die Tanzveranstaltungen in der Kaserne besuchten.

Sie machten sich lustig über Lizzie, weil sie eine Einzelgängerin war, ganz anders als ihre Kolleginnen. Die strenge Erziehung der Tante trug Früchte, vor allem die ständig wiederholte Warnung vor den schlimmen Dingen, die einem dummen Mädchen zustoßen würden, wenn es auf die Schmeicheleien von Jungs hörte. Die wollten alle nur „das eine“ und würden ein Mädchen in Schwierigkeiten bringen, wenn sie es nur anschauten.

Vom männlichen Geschlecht hielt Tante Vi nicht viel, und jede vernünftige Frau sollte ihm besser aus dem Weg gehen.

Sie selbst war in einer rauen Welt aufgewachsen, wo eine alleinstehende Frau, die es zur Haushälterin in der gehobenen Gesellschaftsschicht gebracht hatte, ein viel angenehmeres Leben als ihre verheirateten Schwestern führte. Die mussten sich oft um ein halbes Dutzend Kinder und ihre Ehemänner kümmern, die vielleicht gar keine Lust hatten, zu arbeiten und die Familie zu ernähren.

Männern durfte man nicht trauen, und Lizzie, die ein angeborenes Feingefühl besaß, schreckte jedes Mal zurück, wenn ein Junge ungeschickte Annäherungsversuche unternahm.

Während des Krieges wollten die jungen Männer ihre womöglich knapp bemessene Zeit nicht verschwenden, ebenso wenig die Mühe, die sie aufwenden müssten, um ein Mädchen geduldig zu umwerben. Es gab genug andere, die keinen Wert auf so ein Getue legten.

Die wenigen anderen Männer, mit denen Lizzie zusammenkam, waren die Patienten in der Klinik, zum Teil Schwerverletzte. In stillschweigender Übereinkunft entschied das Personal, für diese Leute könne man nichts mehr tun. Und so lagen sie in dem großen, kalten, halb verfallenen Gebäude, von jungen Frauen betreut, die ihr Mitleid längst überwunden und schon zu viele verstümmelte Körper gesehen, zu viele gequälte Seelen beobachtet hatten, um Trauer zu empfinden.

Für Lizzie war es anders. Beim Antritt in der Klinik hatte sie eine Ausbildung zur Krankenschwester erwogen. Aber ein Jahr später, angesichts der zahlreichen hoffnungslosen Fälle, der Bitterkeit in den Augen der Todgeweihten, des Zorns, den die zerstörte Zukunft in den Krüppeln weckte, wusste sie, dass ihr die innere Kraft für diesen Beruf fehlte.

Mit jedem vertrauten Patienten, den die hilflosen, der Belastung nicht gewachsenen Angehörigen nach Hause holten, und mit jedem Neuankömmling blutete Lizzies Herz noch schmerzhafter. Sie verstand, warum die anderen Mädchen Ablenkung von dem Trauma suchten, indem sie ihre freien Abende mit gesunden, fröhlichen Vertretern des männlichen Geschlechts verbrachten.

Die Amerikaner seien die besten, behaupteten sie einstimmig, großzügig und amüsant. Diese Soldaten waren am anderen Ende des Dorfs stationiert, und einige hatten ein paarmal versucht, sich mit Lizzie zu unterhalten, wenn sie dorthin ging, um ihren wöchentlichen Pflichtbrief an Tante Vi abzuschicken. Sie ignorierte solche Avancen, die lächelnden Gesichter, die dreisten Einladungen. Aber sie fragte sich wehmütig, wie es wohl wäre, jene große, überwältigende Liebe zu erleben, von der sie so oft in Romanen las.

Sie war eine Leseratte und Tagträumerin. Bevor sie in Tante Vis Obhut gekommen war, hatte sie kaum ein Buch angerührt. Aber um die Ausdrucksweise der Nichte zu verbessern, hatte die Tante ihr „lehrreiche“ Bücher gegeben.

Ein wunderbares Geschenk – eine Truhe voller Bücher, die den jetzt erwachsenen Kindern einer Vikarsgattin gehört hatten – ermöglichte es Lizzie zeitweise, der strengen Herrschaft ihrer Tante zu entfliehen, in eine bisher unbekannte Welt.

Bei dieser Lektüre erfuhr sie von Tristans und Isoldes Liebestragödie und träumte von Gefühlen, die nichts zu tun hatten mit den plumpen Zudringlichkeiten der jungen Männer in ihrem Bekanntenkreis. Solche Unverschämtheiten, ebenso die unwillkommenen Gespräche und Enthüllungen der anderen Mädchen im Schlafsaal, machten es Lizzie leicht, die Ermahnungen ihrer Tante zu beherzigen. Und so lief sie nicht Gefahr, in „Schwierigkeiten“ zu geraten.

Mit „Schwierigkeiten“ meinte Tante Vi schlicht und einfach Sex, ein Thema, das in ihrem Haus nur andeutungsweise erörtert wurde. Sex musste man ignorieren, als würde er gar nicht existieren. In ihrer Naivität glaubte Lizzie, alle Frauen würden die Ansichten ihrer Tante teilen, bis sie im Krankenhaus von ihren Kolleginnen eines Besseren belehrt wurde.

Bis jetzt hatte sie selbst nichts anderes empfunden als eine vage, sehnsüchtige Vermutung, ihr Leben wäre irgendwie unvollkommen, etwas Wichtiges würde darin fehlen. Niemals hatte sie die Möglichkeit in Betracht gezogen, mit einem Mann jene Intimitäten zu teilen, von denen die anderen Mädchen so freimütig und schockierend sprachen. Bis jetzt …

Träumerisch starrte sie in ihr Tagebuch. Nur auf Tante Vis Anordnung hin hatte sie begonnen, eins zu führen, und keineswegs, um ihm ihre geheimsten Gedanken anzuvertrauen. Anfangs schilderte sie nur die banalen Ereignisse jedes einzelnen Tages. Doch seit sie in der Klinik arbeitete, notierte sie auch Gedanken und Gefühle, zunächst allerdings nur in nebulöser Form.

Kit … Das Wunder dieser Begegnung verwirrte sie immer noch. Nervöse Freude jagte einen Schauer durch ihren Körper, wann immer sie diesen Namen wisperte.

Kit … Er war so anders, etwas ganz Besonderes, einfach atemberaubend.

Bei seinem Anblick hatte sie es sofort gewusst. Er wandte den Kopf zu ihr, lächelte sie an, und plötzlich war die Welt erfüllt von Wärme und Zauber. Hätte sie beschlossen, den armen Edward nicht zu besuchen, wäre Kit ihr vielleicht nie über den Weg gelaufen. Sie zitterte, als ihr bewusst wurde, wie knapp sie dieser Katastrophe entronnen war.

Seit vielen Monaten lag Edward Danvers in der Klinik, ein in der Normandie schwer verwundeter Major. Beide Beine zertrümmert und später amputiert, das Rückgrat verletzt … In der Klinik sollte er sich von seiner zweiten Operation erholen. Aber Lizzie wusste ebenso wie alle anderen, dass es sonst keinen Ort gab, wo er sich hätte aufhalten können. Seine Eltern waren tot, eine Ehefrau hatte er nicht.

Er schien keinen Lebenswillen mehr zu besitzen, und er unterschied sich von den anderen Patienten, haderte nicht mit seinem Schicksal und akzeptierte es still und ruhig – zumindest nach außen hin. Lizzie beobachtete, wie er sich allmählich von der Außenwelt zurückzog, so als wollte er sich zwingen, endlich zu sterben.

Über seine Gebrechen sprach er nicht. Nie klagte er wie die meisten anderen Krüppel über immer noch vorhandene fiktive Gliedmaßen. Offenbar hatte er sich an die Konsequenzen der Amputationen gewöhnt. Willig erlaubte er den Schwestern, ihn in den Rollstuhl zu setzen, damit Lizzie oder eine ihrer Kolleginnen ihn in den Garten schieben konnte. Sie mochte ihn, obwohl seine Gesellschaft die anderen Mädchen langweilte, weil er niemals lachte und scherzte.

Sein Schweigen störte Lizzie nicht. Sie wusste, wie gern er sich im Garten herumfahren ließ. Einmal erwähnte er, hier fühle er sich an den Garten erinnert, der zum Haus seiner Großeltern gehörte. Es hieß Haus Cottingdean, und er schien es zu lieben. Der Gedanke daran weckte offensichtlich Freude und Kummer gleichermaßen. Manchmal sah sie Tränen in seinen Augen, wenn er von diesem Haus erzählte. Wenn es ihm so viel bedeutete – warum wohnte er dann nicht dort? Aber sie war zu feinfühlig, um diese Frage zu stellen, spürte viel zu deutlich den Schmerz, den er vor den anderen verbarg.

Im Lauf der Monate erkannte sie, dass sie sich auf die Zusammenkünfte mit Edward zu freuen begann. Und sie war glücklich, wann immer sie ihm ein widerstrebendes Lächeln entlockte. So wie sie selbst las er gern. Als er erfuhr, inzwischen habe sie alle von der Vikarsgattin gespendeten Bücher mehrmals gelesen, erbot er sich, ihr welche zu leihen. Das lehnte sie ab, aus Angst, sie könnten im Schlafsaal beschädigt werden. Die anderen Mädchen würden die Bücher zwar nicht absichtlich ruinieren, gingen aber nicht allzu sorgfältig mit fremdem Eigentum um.

Mit der Zeit entwickelte sich eine zögerliche Freundschaft zwischen Lizzie und Edward. Oft besuchte sie ihn auch an ihren freien Tagen und brachte ihn in den Garten, wenn das Wetter es zuließ. Wenn nicht, las sie ihm etwas vor, denn sie wusste, wie sehr es ihn ermüdete, ein Buch in den Händen zu halten.

In ihren Briefen an die Tante erwähnte sie Edward nicht. Tante Vi würde diese Freundschaft missbilligen, da der Patient aus einer anderen Welt stammte, und sie fand es nicht richtig, wenn verschiedene Gesellschaftsschichten miteinander verkehrten. Daraus würden nur Probleme entstehen, hatte sie ihre Nichte gewarnt.

Nun schloss Lizzie sekundenlang die Augen, als ihr bewusst wurde, dass sie an jenem Donnerstag beinahe beschlossen hatte, ihre kostbare Freizeit nicht mit Edward zu verbringen. Sie war in einer seltsam rastlosen, unangenehmen Stimmung erwacht, erfüllt von einer vagen, fremdartigen Sehnsucht. Doch dann hatte sie gedacht, Edward würde sich auf den Garten freuen, wo der Rhododendron blühte. Hell schien die Sonne am klaren Himmel. Nein, es wäre unfair gewesen, den Freund im Stich zu lassen.

Und so verdrängte sie die rebellische Sehnsucht und duschte im kalten, schäbigen Badezimmer, das sie mit den anderen Mädchen teilte. Danach gönnte sie sich den Luxus, ihr Haar zu waschen. Sollte sie wagen, es schneiden zu lassen? Sie war die Einzige im Wohnheim, die eine altmodische Zopfkrone trug. Tante Vi bestand darauf. Wie würde sie mit der schulterlangen Pagenfrisur aussehen, die manche Kolleginnen trugen? Seufzend musterte sie im fleckigen Spiegel ihr ungeschminktes Gesicht.

Die anderen Mädchen benutzten Puder, Lippenstift und billiges Parfüm, das ihnen die amerikanischen Freunde schenkten. Sie drehten das Haar auf Lockenwickler, färbten die Wimpern mit Schuhwichse, und wenn sie so glücklich waren, ein Paar dieser begehrten Nylonstrümpfe zu besitzen, kürzten sie die Rocksäume und zeigten ihre Beine.

Lizzie zog die praktische Baumwollunterwäsche an, die blütenweiß leuchtete, weil sie – von Tante Vis strenger Erziehung getrieben – ihre kostbare Seifenration verwendete, um die Hemdchen und Höschen zu schrubben. Dabei gestand sie sich wehmütig ein, dass Lippenstift und modische Pagenfrisuren nicht für sie bestimmt waren. Hinter ihrem Rücken lachten die anderen Mädchen über sie, das wusste sie, ahmten ihre Sprechweise nach und machten sich über ihre Kleider lustig.

Die Garderobe, mit der sie aus London aufs Land gekommen war, passte ihr längst nicht mehr. Die sparsame Tante hatte Kleider aus einer Truhe, ein Geschenk ihrer ehemaligen Arbeitgeber, für die Nichte geändert und ihr gleichzeitig Nähunterricht erteilt. Dass der Rock, den Lizzie jetzt trug, früher Lady Jeveson gehört hatte, beeindruckte sie ebenso wenig, wie es den anderen Mädchen imponiert hätte – allerdings aus anderen Gründen. Die Kolleginnen hätten vor Lachen geschrien, wären sie informiert worden, dass die erste Besitzerin dieses Rocks, damals ein junges Mädchen, inzwischen Großmutter war.

Wie Tante Vi energisch erklärte, nutze sich ein qualitativ wertvoller Stoff niemals ab. Und die Nichte gab ihr seufzend recht, während sie über die schweren Tweedfalten strich. Schade, dass Lady Jeveson nicht die sanften Pastellfarben bevorzugt hatte, die viel besser zu mir passen würden, sondern dunkle Brauntöne, dachte Lizzie. Die Bluse war zwar aus Seide, aber das dumpfe Beige hob ihren zarten Teint genauso wenig hervor wie die braune Kaschmirstrickjacke.

Die anderen Mädchen gingen in bunten Sommerkleidern mit weit schwingenden Röcken aus, mit Dekolletés, die Tante Vi schockiert hätten. So etwas Gewagtes hätte Lizzie niemals angezogen, aber an diesem Morgen wünschte sie, die Bluse wäre grau wie ihre Augen, mit lavendelblauem Schimmer, und der Rock aus feiner, weicher Wolle, nicht aus diesem dicken, kratzigen Stoff, der bleischwer ihre schmalen Hüften umschloss.

Sie besaß keine Nylonstrümpfe. Entweder mussten ihre Beine nackt bleiben und den juckenden Tweedrock ertragen, oder sie schlüpfte in die Wollstrümpfe, die Tante Vi für sie gestrickt hatte, ein Weihnachtsgeschenk.

Lizzie wusste nicht, warum sie sich für bloße Beine entschied, welche eitle Anwandlung sie an diesem Morgen bewog, unvernünftig zu sein und die verhassten Wollstrümpfe im Schrank zu lassen, in denen ihre schlanken Fußknöchel so schrecklich dick wirkten.

Sie schwang sich auf ihr altes Fahrrad. Wenn die Mädchen Dienst hatten, aßen sie im Krankenhaus. Sie bekamen nicht das gleiche Essen wie die Patienten, sondern „Schweinefraß“, wie sie es erbost nannten. Mit Tante Vis Mahlzeiten konnte sich diese Kost gewiss nicht messen. Die knauserige Frau drehte zwar jeden Penny zweimal um, ehe sie ihn ausgab, war aber eine gute Köchin. Lizzie vermisste die appetitlichen Speisen, das frische Gemüse und Obst, die Lebensmittel, die ihre Tante stets irgendwelchen Farmersfrauen abschwatzte und für die sie nur wenig bezahlte.

Da Lizzie an diesem Morgen freihatte, konnte sie nicht im Krankenhaus frühstücken. Im Wohnheim durften die Mädchen kein Essen zubereiten. Also gab es zwei Möglichkeiten – sie musste unterwegs etwas kaufen oder ein teures, wenig schmackhaftes Frühstück im einzigen Café des Dorfes bestellen.

Während sie sich zwang, nicht an den Haferbrei ihrer Tante mit Farmer Hobsons dicker Sahne zu denken, beschloss sie störrisch, auf ein Frühstück zu verzichten. Alle Mädchen waren immer hungrig. Da sie hart arbeiten mussten, aßen sie stets alles auf, was sie bekamen, mochte es auch noch so grässlich schmecken. Die meisten waren dünn, und wegen ihres zarten Knochenbaus wirkte Lizzie besonders schlank. Ihre zierlichen Handgelenke und Fußknöchel sahen so aus, als könnten sie jeden Augenblick zerbrechen.

Während sie die Straßen entlangradelte, spürte sie den warmen Sonnenschein auf dem Kopf und roch den Duft des Spätfrühlings, der bereits den Sommer verhieß. Blonde Haarsträhnen lösten sich aus der Zopfkrone und kräuselten sich rings um das Gesicht. Anfangs hatten die anderen Mädchen nicht geglaubt, dass ihr Haar naturblond war, und behauptet, sie würde es färben.

Lizzie beschloss, nicht durch das Dorf zu fahren, sondern außen herum. Sie folgte einer schmalen Seitenstraße, die zum Hintereingang des Krankenhauses führte.

Vor dem Krieg war die Klinik ein Herrschaftshaus gewesen, die Seitenstraße hauptsächlich von Dienstboten und Lieferanten benutzt worden. Fröhlich radelte Lizzie mitten auf der Fahrbahn dahin, als sie das Auto hörte. Das Geräusch kam so unerwartet, dass sie zunächst keine Anstalten traf, das Rad an den Straßenrand zu lenken. Während der Kriegszeiten herrschte im Dorf nur schwacher Verkehr. Die Frau des Gutsherrn benutzte ihren Wagen, um das Rote Kreuz zu unterstützen, und manche Soldaten hupten gebieterisch, um Platz für ihre Vehikel zu schaffen. Aber auf dieser stillen Straße hatte Lizzie noch kein Auto gesehen. In einen Tagtraum vertieft, reagierte sie auf das Motorengeräusch erst, als es beinahe zu spät war.

Die Erkenntnis, dass jemand hinter ihr fuhr – in einem teuren Sportcabrio, ein junger Mann mit windzerzaustem, dichtem schwarzen Haar in der schneidigen Uniform eines Luftwaffenpiloten –, traf sie wie ein Schock, als sie über die Schulter blickte. Die dunkelgrüne Motorhaube funkelte im Sonnenlicht. Erschrocken merkte sie, dass die Straße zu wenig Platz für das Cabrio und ihr Fahrrad bot. Verzweifelt riss sie es zur Seite und verlor das Gleichgewicht. Der junge Mann bremste in einer Kakofonie aus quietschenden Reifen und einem laut knirschenden Protest des Motors und äußerte lauthals seine Zweifel an Lizzies Verstand.

Sie lag auf der staubigen Straße, die Knie schmerzhaft aufgeschürft. Tränen brannten in ihren Augen. Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken. Die Wangen puterrot vor Verlegenheit, stand sie auf und hörte im selben Moment einen Wagenschlag knallen.

„Sind Sie okay?“, fragte der junge Mann. „Das war ein schlimmer Sturz. Ich dachte, Sie hätten mich gehört.“

„Ja, aber – es kam mir nicht zu Bewusstsein. Sonst fahren hier keine Autos.“ Eine innere Stimme verhöhnte den eitlen Entschluss, ihre nackten Beine zu zeigen. Würde sie die Wollstrümpfe tragen, hätte sie sich die Knie nicht zerschunden. Nur zu gut wusste sie, welchen Anblick sie diesem unglaublich hübschen jungen Mann bieten musste. Einen Kopf größer als sie, stand er vor ihr und musterte sie, mit einem Ausdruck in den Augen, der sie bewog, Lady Jevesons modischen Geschmack zu verfluchen.

Ihr Herz schlug schneller, als sie merkte, was mit ihr geschah. Zum ersten Mal in ihrem Leben verspürte sie das schwindelerregende, gefährliche Gefühl, sich hilflos in einen Fremden zu verlieben – ein Gefühl, das die anderen Mädchen so oft beschrieben hatten.

Diese Erkenntnis lenkte sie vorübergehend von der Situation ab. Verwundert starrte sie vor sich hin und fesselte Kit Danvers’ Aufmerksamkeit, trotz der grässlichen Kleidung und der Frisur, die ihn an Jugendfotos von seiner Großmutter erinnerte. Ein sehr schönes Mädchen – das registrierte er mit dem geübten Auge eines Jägers, der seine Beute oft an unerwarteten Orten entdeckte.

Perlen in dumpf schimmernden Austernschalen zu finden war seine Spezialität. Darum beneideten ihn die Kameraden. Notgedrungen erkannten sie an, welch eine unwiderstehliche Wirkung er auf Frauen ausübte.

Davon wusste Lizzie nichts. Nur eins wusste sie, während sie in die fröhlichen blauen Augen blickte, in das hübsche, gebräunte, lächelnde Gesicht – irgendetwas in ihr schmolz, unbekannte Empfindungen stiegen in ihr auf, neu für sie und doch so, wie die Menschheit sie kannte.

„Sie haben einen Fleck auf der Nase … So, jetzt ist er weg.“ Lizzie hielt den Atem an, als sie seinen Daumen im Gesicht spürte. Ihre Haut prickelte unter der leichten Berührung, wie von tausend Nadelstichen getroffen. Eine seltsame Sehnsucht erfasste sie und schnürte ihr die Kehle zu. „Mit diesem Ding können Sie nicht mehr fahren“, meinte er. „Soll ich Sie irgendwohin bringen?“

„Ich – ich wollte zum Krankenhaus“, würgte sie mühsam hervor und merkte kaum, was sie sagte, immer noch in den Anblick seiner strahlenden Augen versunken. „Dort arbeite ich.“

„Tatsächlich? Welch ein Zufall! Ich bin gerade auf dem Weg zum Krankenhaus. Man sagte mir, auf dieser Straße würde ich unbemerkt hinkommen. Eigentlich dürfte ich diesen Schlitten nicht fahren.“ Er tätschelte die Motorhaube. „Eine durstige Lady … Aber wenn man in einem Krieg an vorderster Front kämpft, hat man ein Recht auf ein bisschen Amüsement. Zum Glück sind die Yankees nicht so knauserig mit ihrem Benzin wie unsere Leute, und ich kenne diesen Yankee …“ Lächelnd unterbrach er sich. „Ich langweile Sie sicher zu Tode. Ein hübsches Mädchen wie Sie möchte nicht …“

Ein hübsches Mädchen … Hingerissen starrte sie ihn an. Er fand sie hübsch. Heiße Freude durchströmte sie, doch dann dachte sie an Tante Vis strenge Ermahnungen, wandte sich von diesem bedrohlichen Lächeln ab und versuchte ihr Fahrrad aufzuheben. „Ich muss jetzt weiter … Tut mir leid, dass ich Sie vorhin nicht kommen hörte.“

„Werden Sie sich verspäten? Was machen Sie denn in der Klinik? Sind Sie Krankenschwester?“

„Aushilfsschwester“, erklärte sie, und aus irgendeinem Grund kränkte sie das Staunen in seinen Augen. Es hatte sie nie gestört, wenn andere über ihren niedrigen Status spotteten. Aber nun wünschte sie, diesem attraktiven jungen Mann erzählen zu können, sie übe eine wichtige Tätigkeit aus.

„Ich will nicht, dass Sie meinetwegen Ärger kriegen. Und es war doch meine Schuld. Steigen Sie ein, ich schnalle Ihr Rad hinten fest.“

„Heute habe ich frei.“ Zögernd stand sie neben dem Cabrio. Wenn sie das Angebot annahm, würde sie gegen Tante Vis Regeln verstoßen. Aber irgendetwas trieb sie dazu. „Ich will nur jemanden besuchen.“

Sofort verschärfte sich sein Blick. „Ihren Freund?“

Sie wurde rot und schüttelte den Kopf. „Einen Patienten … Ich habe versprochen, ihn in den Park zu bringen, wenn der Rhododendron blüht. Der erinnert ihn an den Garten seiner Großeltern …“

„Sie sind ein gefühlvolles kleines Ding, was? Ist er ein hoffnungsloser Fall?“

Sein achtloser Tonfall verletzte sie. Obwohl sie wusste, dass Edward Danvers bestenfalls ein qualvolles, einsames Leben führen würde, erwiderte sie hastig: „Nein, natürlich nicht.“ Vielleicht war es der krasse Unterschied zwischen den beiden Männern, der sie zu dieser Antwort veranlasste. Edward – so bleich und dünn, vor der Zeit gealtert, die Manneskraft von denselben schrecklichen Verletzungen zerstört, die eine Amputation beider Beine erfordert hatte …

Es war bei der hektischen Landung an der Normandieküste geschehen. Er hatte mitgeholfen, die Operation zu organisieren, und bis zur Brust im eisigen Wasser gestanden. Ein junger Gefreiter, der nicht schwimmen konnte, geriet in Schwierigkeiten. Edward tauchte, um ihn hochzuziehen, und wurde in der allgemeinen Hast, während die Truppen an Land stürmten, zwischen schweren Ausrüstungsgegenständen eingequetscht. Sein Leben war gerettet worden, seine Beine nicht. Für diese grausame Gnade verfluchte er den Allmächtigen noch immer in seinen Albträumen.

Vor ihrem geistigen Auge sah Lizzie ihn im Rollstuhl sitzen und verglich ihn mit diesem gesunden, unverschämt heiteren jungen Mann. Der schien alle Gefahren zu missachten, die das Schicksal vielleicht für ihn bereithielt … Plötzlich wurde sie von einem heftigen Beschützerinstinkt überwältigt, von besitzergreifender Angst, von dem Bedürfnis, ihn bei sich zu behalten, auf ihn aufzupassen. Nie zuvor hatte sie solche Gefühle verspürt, die Verletzlichkeit und Schwäche hervorriefen. Und so wehrte sie sich nicht, als er darauf bestand, ihr ins Auto zu helfen, und das Rad hinten befestigte.

Die vordere Sitzbank war schmal, und sobald er einstieg, nahm sie seine Körperwärme wahr, die ihr Blut erhitzte, ihr die erregenden Unterschiede zwischen den Geschlechtern bewusst machte. Er startete den Motor, fuhr schnell und leichtsinnig, was Lizzie erschreckte, aber auch wohlig erschauern ließ.

„Wohnen Ihre Eltern hier?“, fragte er und warf ihr einen kurzen Blick zu. Ihre akzentfreie Aussprache und ihre Schüchternheit weckten seine Neugier. Wie naiv sie wirkte … Sicher war sie noch nie von einem Mann geküsst worden.

„Nein – meine Tante.“

„Und was hat Sie in diesen Teil des Landes geführt?“ Kit wusste genau, wie man sich einer Frau näherte. Und dieses Mädchen, dieses unschuldige Kind, würde wie eine reife, weiche Frucht in seine Arme fallen, wenn er vorsichtig zu Werke ging. Ein paar Schmeicheleien, verführerische Zärtlichkeiten …

Überrascht schaute sie ihn an. Sie war es nicht gewöhnt, dass man sich für sie interessierte. Wieder wurde sie von wilder Freude erfüllt, die plötzlich ein schwindelerregendes Selbstvertrauen heraufbeschwor. „Meine – meine Tante schickte mich hierher. Sie ist mit der Oberschwester des Krankenhauses befreundet.“

„Ihre Tante!“ Die Antwort schien ihn zu verwundern. „Haben Sie sonst keine Angehörigen?“

„Nein …“ Ihre Augen verdunkelten sich, als sie an den schmerzlichen Verlust der Eltern dachte. „Ein Bombenangriff …“

Mitfühlend nickte er und beglückwünschte sich. Ein Volltreffer. Keine Familie, abgesehen von einer Tante, der das Mädchen vermutlich egal war, die ihm keine Steine in den Weg legen würde. Er hatte noch ein paar Tage Urlaub, und er sah keinen Grund, sie woanders zu verbringen. Wäre er länger mit der Kleinen zusammen, würde sie ihn bestimmt grässlich langweilen. Während er belanglose Konversation machte, amüsierte er sich mit der Vorstellung, wie es weitergehen mochte. Anfangs wird sie nervös sein, aber wenn ich beteuere, wie sehr ich sie liebe, wird sie mir alles geben, dachte er und lächelte zynisch. Nur zu gut kannte er die Wirkung seines hübschen Gesichts auf empfängliche Frauenherzen. Und diesen anbetenden Blick, den die Kleine ihm immer wieder schenkte, hatte er schon in vielen weiblichen Augen gesehen.

Wie dumm die Frauen waren … Man musste nur behaupten, sie zu lieben, dann erfüllten sie alle Wünsche.

„Schade, dass Sie da hineingehen müssen“, sagte er leise, als die Klinik auftauchte. „Sonst könnten wir einfach weiterfahren, zusammen durchbrennen und bräuchten nie zurückzukehren. Würde Ihnen das gefallen, meine Süße? Möchten Sie für den Rest Ihres Lebens bei mir bleiben?“

Ein heftiger Schock, mit Entzücken vermischt, beschleunigte wieder ihren Herzschlag. Dann hörte sie ihn lachen und spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. Sicher las er in ihren Augen, was sie empfand.

„Sollen wir’s tun?“, fuhr er fort, sie zu necken. „Soll ich Sie entführen, an einen Ort bringen, wo wir ganz allein wären?“

Seine tiefe Stimme erschien ihr wie eine hypnotische Liebkosung. Unfähig, den Blick von seinem Gesicht loszureißen, merkte sie, dass sie zu atmen vergessen hatte. Verzweifelt rangen ihre Lungen nach Luft.

Entschlossen, ihre Verwirrung auszunutzen, gab er seinen Worten einen traurigen, bedauernden Klang. „Wie schön wäre das … Aber ich kann es nicht tun. Dieser Krieg muss gewonnen werden.“ Energisch hob er das Kinn. Wie er schon zu Beginn der Kämpfe festgestellt hatte, gab es etwas, das die Frauen fast noch tiefer beeindruckte als eine Liebeserklärung. Sie wussten es sehr zu schätzen, wenn man sich als Ehrenmann präsentierte, der das Wohl des Vaterlands vor persönliche Interessen stellte. Dieses Mädchen schien keine Ausnahme zu bilden.

Lizzie seufzte bedrückt. Bald würden sie wieder getrennte Wege gehen. Und sie würde ihn zweifellos nie wiedersehen, trotz allem, was er gesagt hatte. In ihrer Brust breitete sich ein brennender Schmerz aus. „Lassen Sie mich hier aussteigen“, bat sie, als sie auf das Tor des Krankenhauses zufuhren. Die Oberschwester legte Wert darauf, dass die Mädchen Distanz zu den Patienten und deren Besuchern hielten.

„Fraternisieren ist wohl verboten, was?“, erriet er und trat sofort auf die Bremse.

Sie konnte die Tür nicht öffnen und beobachtete atemlos, wie er aus dem Auto sprang und auf ihre Seite lief. Und dann öffnete er ihr nicht nur den Wagenschlag, er beugte sich zu ihr, um sie herauszuheben. Für einen kurzen, betörenden Moment drückte er sie an seine Brust. Ihr ganzer Körper spannte sich an, während er sie langsam auf die Füße stellte, auf ihren Mund schaute und flüsterte: „Was für ein winziges Ding du bist – genau richtig, um in die Arme eines Mannes zu passen. Und diese Lippen – wie geschaffen zum Küssen! Wurdest du schon einmal von einem Mann geküsst, Süße? Oder hast du dich für mich aufbewahrt?“

Ihr Herz klopfte so laut, dass sie seine Worte kaum hörte. Nebelschleier schienen vor ihren Augen zu tanzen, aber gleichzeitig sah sie alles ringsum ganz klar und deutlich, als würde sie die Welt mit neuen Augen betrachten.

„Du weißt doch, was mit uns geschieht?“, drängte er. „Du weißt, dass wir beide …“ Abrupt verstummte er, und seine Hände umklammerten ihre Oberarme fast schmerzhaft. „Ich muss dich wiedersehen. Wann hast du Zeit?“

Wann? Sie kämpfte mit sich, um ihren Verstand zu retten, aber der wurde offenbar davongeweht, besaß keine Macht mehr über ihre Entscheidungen. Viel mächtiger war dieses berauschende Gefühl, auf Wolken zu schweben, endlich das wahre Leben kennenzulernen. Zweifellos war sie dem Mann begegnet, der alles verkörperte, was sie in ihren Tagträumen ersehnt hatte. Das musste es sein, was man Liebe auf den ersten Blick nennt.

„Nach – dem Lunch“, hörte sie sich mit einer seltsam fremdartigen Stimme erwidern. „Eigentlich sollte ich meiner Tante schreiben. Das tue ich jede Woche. Sie kann meine Briefe nur selten beantworten, weil sie Arthritis hat.“

„Um halb drei hole ich dich hier ab“, kündigte er an und ignorierte ihre halb erstickten Einwände. Seine Lippen streiften ihre – nur ganz leicht. Ein anderes Mädchen hätte eine Provokation in dieser zarten Berührung gesehen. Aber Lizzie erschien sie wie eine Geste tiefer Verehrung und Hochachtung. Welch ein sanfter, keuscher Kuss … Das erinnerte sie an ihre Romanhelden, die es kaum wagten, die Angebeteten mit männlicher Fleischeslust zu besudeln, die deren Reinheit würdigten, obwohl sie sich in heißer Leidenschaft verzehrten.

Sie wusste nichts von der nüchternen Realität, von der Selbstverständlichkeit, mit der Männer wie Kit Danvers weibliche Hingabe beanspruchten, das Recht auf flüchtigen Sex, das ihnen zustand, nachdem sie täglich und stündlich dem Tod ins Auge blickten.

„Und – meine Süße …“ Stumm und bewundernd schaute sie zu ihm auf, und er berührte ihre Zopfkrone. „Trag dein Haar offen. Und zieh was Nettes an. Ich mag es, wenn meine Mädchen hübsch aussehen …“

Sekundenlang schien eine Wolke die Sonne zu verdunkeln und plötzlich Kälte zu verbreiten. Seine Mädchen, hatte er gesagt. Lizzie runzelte die Stirn. Die harte Wirklichkeit drohte ihren Traum zu zerstören. Aber da strich er über ihre Wange und verscheuchte alle Wolken.

Während sie wartete, bis er ihr Fahrrad losschnallte, wünschte sie, es wäre schon halb drei. Noch so viele lange Stunden bis zum Wiedersehen – Stunden, wo sie fürchten würde, er könnte sich anders besinnen, einem hübscheren Mädchen sein Lächeln schenken. Obwohl es ihr nicht bewusst war, hatte sie ihren ersten Schritt in eine gefährliche, unbekannte neue Welt getan.

Edward wartete auf Lizzie und las, das Gesicht ernst und angespannt.

„Tut mir leid, dass ich so spät komme“, entschuldigte sie sich. Irgendein Instinkt, der mit den Jahren der Reife gewachsen war, verschaffte ihr einen Einblick in die Gefühle anderer, und sie wünschte oft, diese Gabe nicht zu besitzen. Sie fand es zu schmerzlich, das Leid anderer zu spüren. Heute war sie besonders empfänglich für Edwards Qualen, wegen ihrer eigenen aufgewühlten Emotionen.

„Ich dachte schon, Sie hätten sich’s anders überlegt. Sie sollten Ihre Freizeit nicht mit mir verbringen. Ein hübsches Mädchen wie Sie müsste sich stattdessen amüsieren.“

Schon zum zweiten Mal an diesem Morgen wurde sie von einem Mann als hübsch bezeichnet. Aber jetzt verspürte sie nichts von jenem heißen Glück, das der andere geweckt hatte – nur Edwards bittere Gewissheit, dass er zwar Mitleid in einer Frau erregen konnte, aber niemals Verlangen.

Während sie den Rollstuhl in den Garten hinausschob, sah sie, wie der Patient das Gesicht der Sonne entgegenhob. Seine Haut wirkte fahl, die Knochen schienen zu schrumpfen unter dem dünnen Fleisch. Während seines Klinikaufenthaltes hatte er stetig abgenommen. Tiefes Mitgefühl erfasste Lizzie, als sie Edward wieder mit ihm verglich.

Der Rhododendron wuchs auf einer Böschung außerhalb des sorgsam gepflegten Parks, gepflanzt von einem ehemaligen Hausbesitzer, der vor dem Boxeraufstand häufig nach China gereist war. Der leidenschaftliche Botaniker hatte in der Wildnis verschiedene Pflanzenarten gesammelt und ihnen hier eine neue Heimat geschaffen.

Inzwischen hatte ein Großteil des Blumenschmucks den Gemüsebeeten weichen müssen, aber der Rhododendron durfte weiterhin gedeihen. Bei Edwards letztem Besuch in diesem Teil des Gartens hatte Lizzie schwaches Interesse in seinen Augen gelesen und sich vorgenommen, es noch einmal zu entfachen.

Während sie den Rollstuhl den überwucherten Weg entlangschob, geriet sie ein wenig außer Atem, aber ihre Mühe wurde belohnt. Sie bog um eine Ecke, dann hielt sie an, damit Edward die Blütenpracht genießen konnte. Sie hörte, wie er nach Luft schnappte, kniete rasch nieder, um in sein Gesicht zu schauen, und sah Tränen über seine Wangen rollen. „Wie schön“, sagte er leise. „Wie in Cottingdean … Meine Großmutter liebte ihren Garten.“

„Wer lebt jetzt in diesem Haus?“, fragte sie, nicht aus echter Neugier, sondern weil sie spürte, dass er über sein einstiges Heim sprechen wollte.

„Niemand. Am Anfang des Kriegs wurde es requiriert, aber nun steht es leer. Es liegt zu abgeschieden, um von Nutzen zu sein – am Rand eines winzigen Dorfs in den Wiltshire Hills. Ich glaube, es gehört jetzt meinem Vetter. Sein Vater war der ältere Sohn, meiner der jüngere. Ich träume manchmal, ich wäre wieder dort …“ Sein Gesicht verzog sich zu einem bitteren Lächeln. „Aber ich – ein hilfloser Krüppel – könnte dort nicht mehr durch den Garten laufen wie in meiner Kindheit …“

Lizzie biss sich auf die Unterlippe. War es richtig gewesen, ihn hierher zu bringen und Erinnerungen wachzurufen?

Schweigend drehte sie den Rollstuhl herum. Wie sie aus Erfahrung wusste, war es am besten, ihn einfach reden zu lassen, wenn ihn diese schmerzliche Verzweiflung überkam. Es war so, als flösse Gift aus einer Wunde. Aber Edwards unsichtbare Wunde konnte niemals völlig gereinigt werden und heilen.

Auf halbem Weg zur Klinik sah sie den Mann, der ihnen entgegenkam, und erkannte ihn sofort. Ein freudiger Schreck durchfuhr ihre Glieder. Die Sonne beleuchtete ihn von hinten und verlieh dem dunklen Haar einen goldenen Schimmer. Mit langen, kraftvollen Schritten näherte er sich, in einer unbewusst stolzen Haltung, die erneut ihr Mitleid mit Edward erregte. Sie sah, wie er die Armstützen des Rollstuhls fester umfasste.

In ihrem Glück über das unverhoffte Wiedersehen fragte sie sich nicht, was der geliebte Mann hier machte. Wie gern wäre sie zu ihm gerannt, um sich in seine Arme zu werfen, seine Lippen auf ihren zu spüren, das ganze Ausmaß wilder Leidenschaft kennenzulernen.

Aber er wandte sich nicht an sie, schien gar keine Notiz von ihr zu nehmen und sagte in beiläufigem Ton zu Edward: „Ah, da bist du ja, alter Junge. Eine Schwester erklärte mir, ich würde dich irgendwo im Garten finden.“

„Christopher …“

Er hieß also Christopher. Irgendwie passte der Name zu ihm. Stumm ließ sie ihn über die Zunge gleiten und bewunderte den Weitblick der Eltern, die ihren Sohn auf so angemessene Weise getauft hatten.

„Soll ich den Rollstuhl schieben?“

In Gedanken versunken, hatte sie nicht bemerkt, dass er neben sie getreten war. Nun spürte ihr Körper seine Nähe, und sie bekämpfte die Versuchung, sich an ihn zu lehnen, seinen besonderen Duft einzuatmen. Sie wollte ihn ansehen, doch sie konnte es nicht, von plötzlicher Scheu befallen.

„Lizzie, das ist Christopher Danvers, mein Vetter“, hörte sie Edward sagen. „Christopher, das ist …“

„Ich weiß, Lizzie und ich haben uns schon getroffen. Heute Morgen hätte ich sie beinahe überfahren.“ Christopher drückte ihr die Hand, und sie zitterte vor Entzücken. „Nennen Sie mich Kit“, bat er leise, und seine blauen Augen lächelten gefährlich.

Verwirrt und verzaubert brauchte sie eine ganze Weile, um Edwards innere Abwehr zu spüren. Ein seltsamer Instinkt drängte sie, sich zwischen die zwei Männer zu stellen. Aber sie widerstand diesem Impuls. Warum sollte sie so etwas tun? Wieso wollte sie Edward beschützen? Kit war doch sein Vetter. Und sie liebte diesen wundervollen Mann, sie konnte Edwards feindselige Haltung nicht verstehen.

„Du fährst immer so verdammt schnell“, tadelte der Invalide.

„Nun, glücklicherweise ist nichts passiert. Und als dein gütiger Engel mir erzählte, er würde in seiner Freizeit einen Patienten besuchen, ahnte ich nicht, dass du gemeint warst.“

„Was machst du hier, Kit?“ Die Frage klang beinahe brüsk, was Lizzie bestürzte.

„Nach dem Tod des alten Herrn bin ich mehr oder weniger das Familienoberhaupt, und ich hielt es für meine Pflicht, nach dir zu sehen und mich nach deinen Zukunftsplänen zu erkundigen.“

„Ich werde dir in Cottingdean nicht zur Last fallen, falls dich das beruhigt.“

Lizzie fühlte sich immer unbehaglicher. Irgendetwas stand zwischen diesen beiden Männern, das vor einer dritten Person nicht ans Licht kommen durfte. „Ich gehe lieber“, begann sie unsicher und wandte sich zu Kit. „Sicher haben Sie private Familienangelegenheiten zu besprechen …“

Sie schlug die Richtung zum Krankenhaus ein, aber Kit folgte ihr und hielt sie zurück. Er stand zwischen Lizzie und dem Rollstuhl, versperrte ihr die Sicht auf den Patienten. „Du hast doch unsere Verabredung nicht vergessen?“, flüsterte er. „Lange werde ich nicht bei dem alten Knaben bleiben. Halb drei – denk dran!“

„Halb drei“, stimmte sie leise zu und glaubte, ihr Herz müsste bersten vor Glück.

Die zwei Männer schauten ihr nach, als sie den Weg entlangeilte, und Kit meinte gedehnt: „Hübsches kleines Ding – für ein Dienstmädchen.“

„Sie ist kein Dienstmädchen. Eigentlich hätte sie länger zur Schule gehen müssen. Für diesen Job in der Klinik ist sie viel zu klug.“ Rastlos rutschte Edward im Rollstuhl umher und fluchte bitter: „Dieser verdammte Krieg …“

„Beruhige dich, alter Junge. Natürlich kann ich dich verstehen. An dieses Ding da gefesselt zu sein, nichts tun zu können, während so ein nettes Vögelchen um dich herumflattert … An deiner Stelle wäre ich ziemlich frustriert.“ In zynischer Belustigung beobachtete Kit, wie sich die Wangen seines Vetters röteten.

Schon immer war Edward prüde gewesen – vielleicht sogar ein Vorteil in seiner Situation. Kit hatte sich keineswegs auf diesen Besuch gefreut. Zu Lebzeiten seines Vaters hatte er den Gedanken an den Vetter und dessen unglückliche Lage sorglos verdrängt. Es gab wichtigere Dinge – zum Beispiel, den Krieg zu gewinnen und währenddessen möglichst viele Mädchen zu verführen. Das erwartete man sogar von einem Piloten der britischen Luftwaffe, und es war ihm nie schwergefallen, solche Forderungen zu erfüllen.

Aber nach dem Tod des Vaters hatte der Kommandant zu viele Kommentare über Edwards grausames Schicksal abgegeben. Schließlich hatte Kit sich bemüßigt gefühlt, hierherzufahren. Vor allem wollte er diese Begegnung nutzen, um dem Vetter klarzumachen, sie beide würden nach dem Krieg getrennt leben.

„Lass sie in Ruhe!“, hörte er Edward grimmig sagen. „Sie ist noch ein halbes Kind und versteht die Regeln nicht, nach denen du deine Spielchen treibst. Ein unschuldiges Kind …“ Er unterbrach sich, als er merkte, dass er Kit nur amüsierte. „Ich nehme an, du bist immer noch mit Lillian verlobt?“

„Natürlich. Du weißt doch, all das Geld … Ich habe keine Wahl.“

„Wenn du sie nicht liebst …“

„Liebe? Was für ein Narr du bist! Du verbringst zu viel Zeit in deiner eigenen Gesellschaft“, fügte Kit spöttisch hinzu. „Ich brauche eine Frau wie Lillian, aber das hindert mich keineswegs daran, mein Vergnügen anderswo zu suchen.“

„Du hast dich nicht verändert, Kit. Und du wirst dich nie um die Gefühle anderer Menschen kümmern.“

„Während du dich zu viel um andere kümmerst. Deshalb sitzt du jetzt in diesem Rollstuhl. Hättest du dich nicht so verdammt heroisch verhalten, wärst du immer noch ein ganzer Mann – kein elender Krüppel. Du bist ein Dummkopf, Edward, und das wirst du immer bleiben. Übrigens, du erwartest doch nicht, dass du in Cottingdean wohnen kannst, wenn ich mit Lillian verheiratet bin? Wahrscheinlich werde ich das alte Gemäuer verkaufen. Lillian träumt von einem Apartment in London. Und ich glaube, wenn der Krieg vorbei ist, wird Haus Cottingdean ohnehin abbruchreif sein.

Kit neigte schon immer zur Grausamkeit, dachte Edward. Schon als Junge genoss er es, andere zu quälen. Damals hat mich das nicht gestört … Plötzlich merkte er, wie müde und krank, hilflos und verletzlich er sich fühlte. Tränen ohnmächtigen Zorns verschleierten seinen Blick, und er wünschte sich wie so oft, er besäße die Kraft und den Mut, alldem ein Ende zu bereiten.

2. KAPITEL

„Hast du ein Rendezvous?“

Lizzie errötete, obwohl die Frage in freundlichem Ton gestellt wurde. Sobald sie die beiden Vettern allein gelassen hatte, war sie zum Schwesternwohnheim zurückgeradelt, um ihre spärliche Garderobe zu durchstöbern. Kit wollte, dass sie hübsch aussah. Aber natürlich fand sie nichts Passendes.

Nun, wenigstens konnte sie ihre Zopfkrone auflösen und ihr Haar bürsten, bis es glänzte. Das leichte Unbehagen, das sie dabei empfand, spielte keine Rolle. Nur auf Kits Wünsche kam es an. Und um ihm zu gefallen, würde sie jedes erdenkliche Opfer bringen.

Die Blicke der anderen Mädchen, die sie amüsiert beobachteten, stürzten sie in tödliche Verlegenheit. Stotternd gab sie zu, sie würde sich mit jemandem treffen.

Eine der Kolleginnen schnitt eine Grimasse. „Du willst doch nicht in diesem Aufzug zu deiner Verabredung gehen?“

Das Blut stieg noch heißer in Lizzies Wangen. Sie war es nicht gewohnt, sich anderen anzuvertrauen, Intimitäten mit ihnen auszutauschen. Tante Vi hatte ihr beigebracht, stets Abstand zu wahren. „Ich – ich habe nichts anderes.“ Es beschämte sie, das zuzugeben, und sie senkte den Kopf, damit das Haar wie ein Vorhang über ihr Gesicht fiel.

„Ich könnte dir was leihen“, erbot sich ein Mädchen. „Wir haben ungefähr die gleiche Größe.“

„Gib’s auf, Rosie!“, rief eine Kollegin. „Sie ist viel dünner als du.“

„Unsinn!“, protestierte Rosie. „Wie wär’s mit dem Kleid, das ich letzte Woche von Meg bekommen habe? Wenn Lizzie einen Gürtel um die Taille bindet …“

„Ja, das soll sie mal versuchen. Und ein bisschen Make-up braucht sie auch. Und anständige Schuhe. Was für eine Größe hast du, Schätzchen?“

Verwirrt stand Lizzie da, während die anderen eifrig und gutmütig über sie diskutierten.

„Gestern Abend hättest du dein Haar auf Lockenwickler drehen sollen“, meinte ein Mädchen.

„Nur gut, dass du blond bist! Darauf fliegen die Männer. Was ist er denn? Ein Yankee?“

„Nein, nein, er …“

„Da ist das Kleid!“, verkündete Rosie. „Komm, Lizzie, probier’s mal an!“

Plötzlich war Lizzie eine von ihnen, keine Außenseiterin mehr, aber sie zuckte zusammen, als die Mädchen über ihre praktische Unterwäsche lachten.

„Schaut euch das an!“, stöhnte eine Kollegin, die ihr die Strickjacke, den Rock und die Bluse ausgezogen hatte und nun auf den voluminösen Baumwoll-BH zeigte, ein Erbstück wie Lizzies gesamte Garderobe.

Normalerweise zog sich Lizzie unbeobachtet an und aus. Tante Vi hatte ihr stets das Gefühl gegeben, ein Körper wäre etwas, dessen man sich schämen müsste. Niemals betrachtete sie sich nackt im Spiegel. Nun errötete sie wieder, als eine ältere Hilfsschwester zynisch bemerkte: „Wer immer er auch sein mag – wenn er das sieht, wird er einen Schock erleiden. Hoffentlich ist er bei der Artillerie. Diese Jungs sind es gewöhnt, mit Panzern umzugehen.“

Die anderen lachten, aber es klang wohlwollend, wie Lizzie dankbar feststellte.

„Dieses Ding darfst du nicht tragen“, entschied Rosie und öffnete den Verschluss des BHs, ehe Lizzie protestieren konnte.

Noch nie hatte sie, nur mit einer Unterhose bekleidet, vor fremden Augenpaaren gestanden. Sie erschrak, weil ihr bewusst wurde, wie einfach es war, sich von Tante Vis strengen Regeln zu befreien.

„Die braucht gar keinen BH“, ertönte eine höhnische Stimme. „An der ist doch nichts dran.“

„Nein, aber wenigstens hat sie alles an den richtigen Stellen“, erwiderte ein anderes Mädchen.

„Hör nicht auf Mavis“, sprach Rosie besänftigend auf Lizzie ein. „Die ist nur neidisch, weil ihr Freund meint, ihre Brüste seien zu groß. So, und jetzt schlüpf mal in das Kleid.“

Unbehaglich zögerte Lizzie beim Anblick des dünnen, verwaschenen weißen Stoffs mit dem rotgelben Blumenmuster, das ihr viel zu auffällig erschien. Aber sie fürchtete, mit einer Weigerung Rosie zu kränken und vermutlich auch die übrigen Kolleginnen, die erwartungsvoll zuschauten. Also gehorchte sie.

Während sie die Knöpfe schloss, merkte sie, dass sie viel dünner sein musste als Rosie. Lose hing das Kleid an ihr, das die Taille des anderen Mädchens immer eng umschlossen hatte. Und der V-Ausschnitt – sonst so straff über Rosies pralle Brüste gespannt – enthüllte viel zu viel.

Lizzie griff wieder zu den Knöpfen und versuchte ihre Erleichterung zu verbergen. „Es ist nett von dir, Rosie, aber an mir kommt das Kleid einfach nicht so gut zur Geltung wie an dir“, sagte sie taktvoll. Verwundert gestand sie sich ein, dass sie es kaum erwarten konnte, wieder Lady Jevesons verhasste Sachen anzuziehen. Darin fühlte sie sich wenigstens anständig gekleidet. Voller Entsetzen hatte sie gesehen, wie deutlich sich unter dem dünnen Blumenkleid die dunklen Knospen ihrer Brüste abzeichneten.

„Nein, lass es an!“, protestierte Rosie. „Du brauchst nur einen Gürtel. Jean, du hast doch einen roten? Hol ihn mal, wir wollen sehen, wie er zu dem Kleid passt.“

Jean Adams, ein großes, mageres Mädchen mit dunklem Haar und ausdruckslosen braunen Augen, brachte den glänzenden roten Plastikgürtel, das Geschenk eines verliebten Gl.

Angewidert wichen Lizzies Finger vor der Berührung des schäbigen Materials zurück. Sie kannte nur weiche, oft getragene, braune oder schwarze Ledergürtel.

„Gib her, Jean“, befahl Rosie, die ihre Rolle als Modeberaterin sichtlich genoss. „Lizzie, wenn ich den Gürtel um deine Taille lege, musst du den Bauch einziehen … Mein Gott, bist du dünn! Nicht mal Jean kann das Ding beim letzten Loch zumachen. So, und jetzt schau dich an.“ Energisch zog sie Lizzie vor den fleckigen Spiegel des Schlafsaals. „Jetzt fehlt nur mehr ein bisschen Farbe im Gesicht, ein hellroter Lippenstift, ein Hauch von Rouge …“

„Und schwarze Wimpern“, schlug jemand vor. „Was für eine Schuhgröße hat sie?“

„Sechsunddreißig“, erklärte Lizzie mit schwacher Stimme.

„Nun, dann müssen Marys weiße Pumps herhalten. Du hast siebenunddreißig, nicht wahr, Mary? Wir stopfen sie an den Zehen aus. Wo triffst du deinen Freund, Schätzchen? Hier draußen?“

Lizzie schüttelte den Kopf. „Auf der Nebenstraße hinter dem Krankenhaus.“

„Nein, so weit darf sie nicht in meinen weißen Pumps gehen!“, rief Mary indigniert.

„Sie kann ja erst mal ihre eigenen tragen und dann mit deinen vertauschen, bevor der Junge auftaucht. Die anderen versteckt sie im Gebüsch und holt sie morgen.“

Lizzie wollte sagen, es sei unnötig, dass Mary ein solches Opfer bringe. Ihre Tante hatte stets betont, echte Damen würden sich nie in weißen Schuhen zeigen. Aber es war schwierig zu sprechen, während Rosie ihr die Lippen bemalte – mit etwas, das sich wie klebrige Paste anfühlte. Ein anderes Mädchen spuckte auf harte Schuhwichse, um Lizzies Wimpern zu färben.

Nach einer halben Stunde waren alle zufrieden mit dem Ergebnis ihrer Bemühungen und forderten Lizzie auf, in den Spiegel zu schauen. Verwirrt und ungläubig starrte sie in ein völlig fremdes Gesicht. Sie sah älter aus, erwachsener – und gewöhnlich, spottete eine innere Stimme. Aber von so vielen erwartungsvollen Mienen umgeben, konnte sie nur schlucken und sich mit einem gezwungenen Lächeln bedanken.

„Und denk dran!“, mahnte Rosie mütterlich. „Wenn er’s versucht, halt ihn hin. Mach ihm klar, dass er dich respektvoll behandeln muss. Diese Jungs sind alle gleich. Jeder will nur das eine. Und um das zu kriegen, lügen sie das Blaue vom Himmel runter …“

Empört wollte Lizzie versichern, Kit sei nicht so. Aber ihre Gefühle waren noch zu neu, zu kostbar, um irgendwem anvertraut zu werden.

Eine Kollegin – sie glaubte, es war Mary – gab ihr eine weiße Strickjacke, die sie glücklicherweise bis zum Hals zuknöpfen konnte. Dann wurde sie die Treppe hinab und bis vors Haus begleitet, sodass sie es nicht fertigbrachte, die großzügig zur Verfügung gestellten Leihgaben in letzter Sekunde doch noch abzulehnen und ihre eigenen, weniger aufreizenden Sachen anzuziehen.

In ihrem geborgten Staat wagte sie es nicht, mit dem Rad zum Treffpunkt zu fahren. Anfangs störte es sie, ihre vom BH befreiten Brüste zu spüren, die bei jedem Schritt wippten. Doch dann gewann sie die schockierende Erkenntnis, dass dieses Gefühl keineswegs unangenehm war. Wenn Kit sie umarmte, würde ihn nur dieser dünne geblümte Baumwollstoff von ihrer nackten Haut trennen …

Solche Gedanken waren verboten und widerwärtig. Das würde Tante Vi behaupten. Aber Lizzie empfand keinen Widerwillen, sondern prickelnde Erregung, so wie in jenem Moment, wo Kits Lippen ihre gestreift hatten. Eine seltsame Anspannung tief in ihrem Innern veranlasste sie, stehen zu bleiben, instinktiv eine Hand auf ihren Bauch zu pressen, unterhalb des Nabels, bis ihr bewusst wurde, was sie tat. Heftige Schuldgefühle trieben ihr das Blut in die Wangen.

Natürlich wusste sie, was zwischen Männern und Frauen geschah. Es wäre ja auch unmöglich gewesen, die Gespräche der anderen Mädchen zu überhören, die so freimütig von den großartigen oder mangelhaften Leistungen ihrer Liebhaber erzählten. Aber Lizzie hätte nie geglaubt, solche körperlichen Intimitäten, die ihr nur ekelhaft erschienen, könnten mit so köstlichen Emotionen zusammenhängen, wie sie jetzt in ihr erwachten. Die süße Qual drängte sie nun, ihre Schritte zu beschleunigen, dem ersehnten Wiedersehen mit Kit entgegenzueilen.

Sie war vorzeitig aufgebrochen, und als sie den Treffpunkt erreichte, konnte sie in aller Ruhe ihre praktischen Halbschuhe ausziehen und durch Marys weiße Pumps ersetzen, die zu groß und ziemlich unvorteilhaft an ihren schmalen Füßen wirkten.

Nur eins hatte man ihr nicht geliehen, ein Paar von diesen heiß begehrten Nylonstrümpfen. Nur mühsam hatte sie die Mädchen daran gehindert, ihr schwarze Linien auf die nackten Waden zu malen, die Strumpfnähte vortäuschen sollten. Ihre Knöchel sahen bleich und zerbrechlich aus, die Wollstrümpfe hätten nun wirklich nicht zu Rosies Kleid gepasst.

Die Minuten verstrichen, und es kam ihr so vor, als wartete sie schon stundenlang. Ihr Magen verkrampfte sich. Würde Kit nicht kommen? Sie besaß keine Uhr und wusste nicht, wie spät es war. Selbstverständlich konnte sie nicht bis in alle Ewigkeit hier herumstehen. Zum Glück wurde diese Nebenstraße nur selten benutzt, also gab es wenigstens keinen Zeugen der Schmach, die Lizzie erleiden musste.

Was würden die Mädchen sagen, wenn sie zurückkam und berichtete, Kit sei nicht aufgetaucht? Tränen brannten in Lizzies Augen. Mit einer solchen Niederlage hatte sie nicht gerechnet. Sie war so sicher gewesen, dass Kit ihre Gefühle erwiderte …

Gerade wollte sie ihre eigenen Schuhe wieder anziehen, als sie das Geräusch eines Autos hörte. Ihr Herz begann wie rasend zu pochen, und sie erstarrte mitten in der Bewegung.

Die vertraute Motorhaube des Cabrios bog um die Ecke, und Lizzie weinte beinahe vor Erleichterung. Sie ahnte nicht, wie leicht er ihre Reaktion durchschauen konnte. Der Wagen stoppte neben ihr, Kit lächelte sie strahlend an.

Jetzt würde der alte Edward sie nicht mehr für ein Unschuldslamm halten, dachte er zynisch. Welch eine Verwandlung … Er betrachtete den dunkelroten Mund, vertraute Gefühle regten sich in ihm. Für Kit war Sex eine Droge – je mehr er davon bekam, desto mehr wollte er. Und da er seit fünf Jahren am Boden festsaß, weil er einen Befehl missachtet und während eines heftigen Luftkampfs über dem Kanal die Formation verlassen hatte, um ein feindliches Flugzeug zu verfolgen, fand er im Sex das einzige Ventil für die zwanghafte Energie, die ihn ständig antrieb.

„Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe“, entschuldigte er sich, sprang aus dem Auto und ging zu Lizzie. Erleichterung und unvergossene Tränen glänzten in ihren Augen. „Du siehst wundervoll aus“, log er, und sie überlegte, ob sie den Mädchen vielleicht doch recht geben musste und sich täuschte, was ihre eigene äußere Erscheinung betraf. „So wundervoll … Ich kann mich einfach nicht beherrschen …“

Kit war kein Dummkopf. So willig ihm die Frauen auch entgegenkamen – alle liebten es, wenn man ein großes Getue um sie machte. Und diese hier war eher nervös als willig. Er spürte ihr Zittern, als er sie in die Arme nahm, und seine Erregung wuchs, weil er wusste, dass er der Erste sein würde, der sie berührte oder auch nur küsste. Ihr Mund verriet ihre Unerfahrenheit.

„Du bist noch nie geküsst worden, nicht wahr?“ Er presste seinen Körper an ihren, schwelgte in der Macht, die er auf sie ausübte, in ihrer Naivität und Leichtgläubigkeit. Dann legte er eine Hand auf ihr Herz, fühlte die heftigen Schläge. Seine Fingerspitzen streiften die untere Wölbung einer Brust, und da begann auch er zu beben. Seine Zunge glitt über die glänzenden roten Lippen, und Lizzie erschauerte bei dieser intimen Liebkosung.

Seine Nähe ließ sie schwindeln. Sie hatte es sofort gewusst, schon beim ersten Blick in seine Augen – ohne Worte, ohne Erklärungen –, hatte es einfach gewusst. Jetzt biss er in ihre Lippen – fast etwas zu grob. Aber sie dachte, das geschähe nur, weil er ebenso wie sie von Liebe überwältigt wurde. Sie spürte, wie seine Zunge ihren geschlossenen Mund bedrängte, und öffnete ihn gehorsam.

Die anderen Mädchen sprachen oft über diese Art von Küssen, aber sie hätte nie gedacht, dass sie so etwas selbst erleben würde, ohne Ekel zu empfinden. Aber jetzt, wo Kits Zunge ihren Mund erforschte, mit langsamen, betörenden Bewegungen, jagten köstliche heiße Wellen durch ihren Körper.

„Hier kann ich dich nicht lieben“, flüsterte er heiser. „O Gott, du bist Dynamit – weißt du das? Wir beide werden so glücklich miteinander sein.“

Lizzie entnahm dieser Prophezeiung ein Versprechen für die Zukunft, ein Liebesgeständnis.

Zynisch beobachtete er die Wirkung seiner Worte, genoss die Verletzlichkeit des Mädchens und seine eigene Anziehungskraft. Nur flüchtig wünschte er, mehr Zeit mit Lizzie verbringen zu können, sie ins Reich der sexuellen Liebe einzuführen. Seine Begierde wurde fast unerträglich, und er staunte selbst über sein intensives Verlangen nach dieser naiven Kleinen. „Komm, wir fahren irgendwohin, wo wir ungestört sind.“ Er hob sie hoch und trug sie zum Auto.

An seinen Körper geschmiegt, spürte sie die heiße Härte seiner Erregung, und die Erkenntnis, dass sie diesen Zustand herbeigeführt hatte, berauschte ihre Sinne. Aus den Gesprächen der Kolleginnen wusste sie, was diese Härte bedeutete. Aber bis jetzt hatte sie nicht gewusst, wie wundervoll es sein konnte, eine solche Wirkung auf den geliebten Mann auszuüben, sich nach der Vereinigung zu sehnen! Und wie wäre es, den harten Lustbeweis mit ihrem weichen Fleisch aufzunehmen, die wilde, schmerzhafte Freude zu verlängern?

Während er sie in den Wagen hob, glitten seine Hände – zufällig oder absichtlich – über ihre Brüste. „Wohin können wir gehen? Du kennst diese Gegend besser als ich. Natürlich würde ich dich gern in mein Quartier mitnehmen, aber die Pensionswirtin …“

Er wollte mit ihr sein Zimmer aufsuchen? Dazu war sie noch nicht bereit. Das erinnerte sie zu sehr an die Intimitäten der anderen Mädchen, die ihr stets schmutzig erschienen waren. Bei ihr musste es anders sein. Natürlich war es anders, weil sie Kit liebte, weil er ihre Liebe erwiderte. Und nach dem Krieg … Sie holte tief Atem, und der Gedanke an eine wunderbare Zukunft ließ ihr Herz höherschlagen. Doch in die Freude mischte sich die kalte Angst jeder Frau, deren Liebster sein Leben riskierte, um das Vaterland zu verteidigen. Wenn Kit im Kampf fiel – wenn alles, was ihnen vergönnt war, hier und jetzt geschehen musste? Wenn es keine gemeinsame Zukunft gab, nur diese wenigen kostbaren Stunden? Diesen Gedanken ertrug sie nicht. „Ich kenne einen Ort“, wisperte sie, „auf dem Gelände des Krankenhauses. Da kommt nie jemand hin. Aber wir müssen zu Fuß gehen.“

Sie sprach von einem vernachlässigten Sommerhäuschen auf einer Lichtung, umgeben von hohen Büschen. Dornengestrüpp überwucherte den Weg dorthin. Durch einen Zufall hatte sie die Hütte entdeckt, und sie verkroch sich oft darin, wenn sie allein sein wollte. Halb und halb hatte sie erwogen, Edward hinzubringen, der die Schönheit dieses Plätzchens ebenso genießen würde wie sie, den Anblick der ersten Primeln am Ufer eines kleinen Teichs. Aber es wäre zu schwierig gewesen, den Rollstuhl über den holprigen, überwachsenen Pfad zu schieben, und so hatte sie nichts davon erwähnt. Darüber freute sie sich jetzt, denn diese Zufluchtstätte würde ihr Geheimnis bleiben, das sie nur mit Kit teilte. Ein Tempel ihrer Liebe …

Er parkte das Cabrio am Ende der Straße. Als er Lizzie vom Beifahrersitz hochhob, klammerte sie sich schüchtern an ihn. Sein Blick wanderte zu ihrem Mund, und sie errötete. Die rote Farbe war verschwunden, jetzt schimmerten die Lippen in ihrem natürlichen Rosa, leicht geschwollen von den ersten Küssen.

„Was für ein unschuldiges kleines Ding du bist! Nicht, dass mich das stören würde …“ Ehe er sie auf die Beine stellte, presste er seine Hüften begierig an ihren Bauch, und ihr schwindelte, nachdem er sie losgelassen hatte. „Nun, wo ist dieses Plätzchen?“, fragte er ungeduldig.

Lizzie zeigte in die Richtung der Büsche und überlegte schuldbewusst, dass sie Marys Schuhe ruinieren würde. Sie mussten zwei Äcker überqueren und dann dem überwucherten Pfad folgen. Für solche Exkursionen eigneten sich die weißen Pumps nicht – ebenso wenig wie Kits Flanellhose und der Blazer, den er trug. Ärgerlich runzelte er die Stirn, als eines seiner Hosenbeine an Dornen hängen blieb, und er beklagte sich, weil sie ihn nicht vor dem beschwerlichen Weg gewarnt hatte. Sein Groll irritierte sie ein wenig, aber sie verdrängte dieses Gefühl.

Seit sie das Versteck vor ein paar Wochen zum letzten Mal besucht hatte, war das Gestrüpp auf dem Pfad offenbar noch dichter geworden. Endlich sah sie zwischen den Zweigen das Sonnenlicht auf dem Teich funkeln. Als sie die stille Lichtung betraten, fragte sie atemlos: „Gefällt’s dir hier?“

„Wenigstens sind wir ungestört.“ Kit schaute sich um und ging zu dem halb verfallenen Sommerhäuschen. Er persönlich hätte den Komfort eines Doppelbetts vorgezogen, aber Bettler durften nicht wählerisch sein. Und die Pensionswirtin, bei der er wohnte, hatte kategorisch erklärt, sie erlaube ihren Gästen nicht, „Freundinnen“ einzuladen. „Du hättest eine Decke mitbringen sollen“, meinte er, nachdem er den kleinen Raum inspiziert hatte.

„Aber hier kommt niemand her“, versicherte Lizzie ängstlich und sehnte sich verzweifelt nach einem anerkennenden Wort. Irgendwie fühlte sie sich verantwortlich für das Stirnrunzeln, das Kits strahlendes Lächeln verdrängt hatte. Und deshalb hasste sie sich selbst.

„Das glaube ich dir.“ Plötzlich lächelte er wieder, und ihr Herz schmolz. Eifrig lief sie zu ihm, und als er sie umarmte, glaubte sie in den Himmel hinaufzuschweben.

Obwohl sie mittlerweile die erregenden Gefühle kannte, die seine Zunge in ihrem Mund weckte, verloren sie nicht die Wirkung auf ihren ganzen Körper. Nicht weniger beglückend erschien ihr die Art und Weise, wie sich Kits Hüften an ihrem Bauch bewegten, seine Liebe und Leidenschaft zeigten.

„Du weißt, wie sehr ich dich begehre?“, flüsterte er. Lizzie zitterte, von ihren Empfindungen so überwältigt, dass sie nicht antworten konnte. Sie wollte ihm zeigen, wie sie ihn liebte, wie dringend sie ihn brauchte. In ihrer Unschuld glaubte sie ein Wunder zu erleben, und ihre Verwirrung machte sie blind für die Realität.

Früher, vor einer halben Ewigkeit, hatte sie tatsächlich gedacht, die körperlichen Aspekte der Liebe wären am unwichtigsten und eher ein bisschen eklig – etwas, das man erduldete, aber nicht genoss. Wie dumm war sie gewesen! Und auch jetzt kam es ihr so vor, als wäre sie unwürdig, die Liebe eines Mannes wie Kit zu empfangen.

Dass er sich nach ihr sehnte und das so deutlich zu verstehen gab, erfüllte sie mit fast mütterlicher Zärtlichkeit. Wenn sie sich später trennten, würde er diese Erinnerungen mitnehmen, und die würden ihn beschützen, ihm helfen, wohlbehalten zu ihr zurückzukehren.

Was sie in seinen Armen empfand, lag um Welten entfernt von allem, was sie sich in ihren mädchenhaften Träumen unter „Liebe“ vorgestellt hatte. Wie konnte es falsch sein, ein solches Entzücken zu verspüren, während sich ihre Pulse beschleunigten und Kit ihren Hals küsste, durch die geliehene Kleidung hindurch ihren sonnenwarmen Körper streichelte?

„Das musst du doch nicht anhaben.“ Er knöpfte die Strickjacke auf und entblößte ihren V-Ausschnitt, die weiche Haut. Plötzlich wurde sie ein bisschen nervös, weil er sie so seltsam ansah. Und Kit, der sich einbildete, seine Reaktionen schon seit Jahren unter Kontrolle zu haben, geriet beinahe in Wut über die Emotionen, die der Anblick des Mädchenkörpers im staubigen Sonnenlicht entfachte. Deutlich zeigten sich die dunklen Brustwarzen unter dem dünnen Stoff. Dass sie keinen BH trug, hatte er bereits festgestellt. Aber nun erregte ihn dieser unerwartete Anblick noch viel mehr, als hätte er ihren nackten Körper gesehen. Nachdem er ihr die Strickjacke ausgezogen hatte, wurde er plötzlich von so wildem Verlangen erfasst, dass er ihre Taille packte. Hastig suchte sein Mund eine der zarten Knospen, um sie zu bestrafen, weil sie so kühn war, ihn dermaßen zu reizen.

Noch nie hatte Lizzie eine so intime Berührung erlebt. Kits Zähne peinigten ihr weiches Fleisch und ließen sie vor Schreck erstarren. Das war zu viel, es geschah zu schnell.

Er spürte ihre Anspannung, ihren Widerstand und unterdrückte seinen Fluch. Für ein paar Sekunden hatte er ihre mangelnde Erfahrung vergessen. Ihr Körper erinnerte ihn jetzt daran und brachte ihn in heiße Wut. Beinahe fühlte er sich versucht, Lizzies Unterwerfung zu erzwingen. Aber sie war so klein und zierlich, und er fürchtete, sie zu verletzen.

Unwillig dachte er an ein anderes Abenteuer mit einem unschuldigen Mädchen, einem hübschen Ding aus dem Dorf. Es war passiert, bevor er gelernt hatte, sich nicht in seinem eigenen Hinterhof zu vergnügen. Ihr Vater hatte sich bei seinen Eltern beklagt. Natürlich war sein Dad wütend gewesen und hatte ihn gezwungen, die Familie des Mädchens finanziell zu entschädigen. Ein Pech, dass Lizzie seinen Vetter kannte. Wenn sie zu Edward rannte … Der konnte zwar nichts tun – es sei denn, er erzählte es Lillian.

Nun pressten sich seine Lippen reglos an ihren Körper. Erleichterung lockerte ihre Muskeln und füllte sie mit zitternder Schwäche. Sicher, sie wusste, dass ein Mann gern die Brüste einer Frau anfasste. Aber niemals hätte sie sich träumen lassen … Trotz des Sonnenscheins und der muffigen Wärme im Sommerhäuschen fror sie plötzlich. Ihre Zähne klapperten.

Kit begehrte sie nach wie vor, und es war noch nicht zu spät, um die Situation zu retten. „Tut mir leid, Süße“, flüsterte er in ihr Ohr, damit sie ihm die Lüge nicht anmerkte. „Aber eigentlich war es deine Schuld.“ Als sie sich wieder verkrampfte, rückte er ein wenig von ihr ab und schaute lächelnd in ihre Augen. „Wenn du dich so anziehst – und mich so herausforderst …“

Geschickt und subtil bürdete er ihr die Verantwortung auf, und Lizzie, die sich in ihrer Aufmachung von Anfang an unbehaglich gefühlt hatte, wurde feuerrot und biss sich nervös auf die Unterlippe.

„Verzeih, wenn ich dich erschreckt habe“, fuhr Kit fort. Vielleicht konnte er ihre Verlegenheit zu seinem Vorteil nutzen.

„Ich – ich wusste nicht …“, begann sie sich bedrückt zu entschuldigen.

„Natürlich nicht.“ Er nahm sie wieder in die Arme und streichelte ihr Haar. „Das Problem ist nur – ich begehre dich ganz wahnsinnig, und du bist so unerfahren.“ Sofort spannte sie sich wieder an, als sie den leichten Tadel in seiner Stimme hörte. „Versuchen wir’s noch einmal?“, schlug er vor, und sie seufzte voller Dankbarkeit, weil er sie trotz allem immer noch wollte. Schüchtern nickte sie.

Seine Finger knöpften bereits die Knöpfe ihres Kleides auf und entblößten ihre Brüste, für seine Hände, für seine Augen. Denselben Fehler wie zuvor mache ich nicht noch einmal, beschloss er. Außerdem – ein bisschen Zurückhaltung und Überredungskunst, ein paar Schmeicheleien würden ihn reich belohnen. Was er bisher von Lizzies Körper gesehen hatte, schürte den Wunsch, sie ganz zu besitzen. Sie fühlte sich so klein und weich an, so verwundbar und zerbrechlich. Würde sie da, worauf es ankam, so eng gebaut sein, wie er es erhoffte? „Du bist einfach vollkommen“, murmelte er, strich über ihre nackten Brüste und erstickte einen zögernden Protest mit einem Kuss.

Da verflog ihre Angst, und sie fing an, die Liebkosungen zu genießen. Wenn sie diesem Entzücken erlaubte, noch zu wachsen, würde es sie – das erkannte sie nun – in eine ganz neue Welt von Emotionen und Erfahrungen führen. Aber es ist falsch, was ich da tue, erinnerte sie sich. Solche Intimitäten …

Sein Mund wanderte an ihrem zarten Hals hinab. Nun verwirrten sich ihre Gedanken, fanden keinen Halt mehr in der Flut von Gefühlen, die ihren Körper durchströmte. Diesmal bezähmte Kit seine Begierde. Behutsam streichelte er Lizzie eine Zeit lang, bevor sich seine Lippen wieder ihren Brüsten näherten.

Sofort erstarrte sie, doch er ließ sich nicht wegschieben und flüsterte an ihrer warmen Haut: „Hab ich dir wehgetan, Süße? Verzeih, das wollte ich nicht. Wenn ich dich küsse, wird es gleich besser.“

Sie war immer noch zu verkrampft und schockiert, um ungetrübte Freude an diesen Liebkosungen zu finden. Und Tante Vis Warnungen hatten Lizzies Ansichten zu sehr geprägt, um ignoriert zu werden. Und doch – allmählich stieg die vage Ahnung in ihr auf, dass diese schamlose Erforschung ihres Körpers zu einem himmlischen Glück führen konnte – wenn der geliebte Kit Geduld und Zärtlichkeit bewies.

Aber Zärtlichkeit gehörte nicht zu Kit Danvers’ Tugend, von Geduld ganz zu schweigen. Dieses pubertäre Vorspiel langweilte ihn schon nach wenigen Minuten. Er zerrte Lizzies Rock nach oben, seine Hand glitt über ihren Schenkel bis zur Unterhose.

Bestürzt versteifte sie sich wieder. Tante Vis strenge Ermahnungen lieferten Lizzies Instinkten einen erbitterten Kampf. Kit küsste sie wieder, drängend und fordernd, und irgendwie spürte sie trotz ihrer Naivität die Selbstsucht, die aus seinen Liebkosungen sprach, die Entschlossenheit und Gier. Ihre Anspannung wuchs.

„Wenn du mich liebtest, würdest du dich nicht wehren“, sagte er ärgerlich. „Ich dachte, mit uns beiden – das wäre etwas ganz Besonderes.“ Ihre Unschuld, so entnervend sie auch sein mochte, erregte ihn in einem Ausmaß, wie er es schon lange nicht mehr erlebt hatte. Sonst hätte er längst das Interesse an Lizzie verloren und seine Bemühungen aufgegeben. Aber ihr Widerstreben und ihre Furcht steigerten sein Verlangen. „Ich begehre dich, meine Süße – lass mich dir zeigen, wie sehr. Dann wirst du sehen, wie schön es sein kann“, schmeichelte er, küsste sie wieder und nahm keine Notiz von dem heftigen Zittern, das ihre Schenkelmuskeln durchfuhr. „Ich werde dir nicht wehtun, ich will dir nur beweisen, wie wundervoll es ist. Du liebst mich doch?“

Was sollte sie sagen? Natürlich liebte sie ihn. „Ja“, wisperte sie hilflos.

„Dann lass mich dich berühren – lass mich dich lieben. Du gehörst nicht zu den Frauen, die unfähig sind, einen Mann glücklich zu machen – oder?“ Abrupt änderte er seine Taktik und jagte ihr einen neuen Angstschauer über ihren Rücken. Nein, zu diesen Frauen zählte sie nicht. Oder doch? Mühsam versuchte sie, ihre wirren Gedanken zu ordnen. Sie liebte ihn, das wusste sie. Warum zauderte sie dann? Wovor schreckte sie zurück? Wenn sie seine Küsse genoss – wieso graute ihr vor intimeren Berührungen?

Sie hörte die Turmuhr des Krankenhauses schlagen. Schon vier. Um fünf musste sie ihren Dienst antreten. Erleichterung mischte sich in ihre Panik, das Gefühl, noch einmal davongekommen zu sein.

Sie stemmte sich gegen Kits Brust. „Jetzt habe ich keine Zeit mehr. Um fünf beginnt meine Schicht.“

Mit einem stummen Fluch ließ er sie los. Das Ziel war nicht so einfach zu erreichen wie erwartet, und er spürte einen säuerlichen Geschmack im Mund, als hätte er eine unreife grüne Frucht gegessen. Aber er begehrte Lizzie immer noch. Zorn und mannhafter Stolz spornten ihn an. Irgendetwas an ihrer Verwundbarkeit, an ihrer Naivität weckte beinahe den Wunsch, sie zu züchtigen. Diese Gedanken stimmten ihn unbehaglich, und er wandte sich rasch ab. Jedenfalls würde er nicht so leicht aufgeben. Es widersprach seinem Wesen, Herausforderungen auszuweichen.

„Dann fahre ich dich jetzt zurück“, sagte er kurz angebunden und beobachtete die Wirkung, die seine kühlen Worte auf Lizzie ausübten. Angesichts ihres Kummers unterdrückte er ein Grinsen. Nun, es würde ihr nicht schaden, ein bisschen zu leiden, und ihr sogar die erforderliche Lektion erteilen. Wenn sie sich das nächste Mal sahen, würde sie ihm umso eifriger geben, was er wollte.

In eisigem Schweigen führte er sie zum Auto. Verzweiflung und Reue quälten Lizzie. Warum hatte sie sich so dumm benommen? Sie liebte ihn doch, und selbstverständlich hatte er mit ihrer Hingabe gerechnet. Er war kein grüner Junge, sondern ein Mann – ein Mann, der für sein Vaterland kämpfte, ein Mann, der schon heute aus ihrem Leben verschwinden konnte …

Tränen schnürten ihr die Kehle zu. Wieso war sie in Panik geraten? Warum hatte sie diese übermächtige Angst verspürt? Stimmte irgendetwas nicht mit ihr? War sie tatsächlich unfähig, einen Mann glücklich zu machen, so wie Kit es angedeutet hatte? Unfähig, sinnliche Freuden mit ihm zu teilen? Dieser niederschmetternde Gedanke krampfte ihr das Herz zusammen, und sie war leichenblass, als sie das Cabrio erreichten.

Zufrieden registrierte Kit, wie sich sein Schweigen auswirkte. Das milderte seinen Unmut ein wenig. Lässig strich er über Lizzies bleiche Wange. „Wann sehe ich dich wieder, Schätzchen?“

Dankbar lächelte sie ihn an. Er gab ihr eine zweite Chance, also musste er sie lieben. „Ich …“ „Heute Abend“, drängte er. „Wann hörst du zu arbeiten auf? Ich hole dich ab …“

Lizzie schüttelte den Kopf. „Das wird sehr spät.“

„Wann? Morgen?“

Am nächsten Tag hatte sie frei. Ihr Herz schlug so rasend, dass sie nicht sprechen und nur nicken konnte.

„Gut. Hör mal – statt dich abzuholen, warte ich lieber im Sommerhäuschen auf dich. Dann wahren wir unser Geheimnis. Es geht ja auch nur uns beide was an.“

Wieder nickte sie wortlos. Wie sollte sie die endlosen Stunden bis zum Wiedersehen überstehen? Eins nahm sie sich jedenfalls vor: Wenn er sie wieder umarmte und küsste und beteuerte, wie sehr er sie begehre, würde sie sich wie eine Frau verhalten, nicht wie ein Kind. Sie würde sich sagen, wie glücklich sie sein musste, einen solchen Mann kennengelernt zu haben, wie kostbar die kurze Zeit war, die sie zusammen verbringen konnten – und dass der Krieg die Zukunft gefährdete, sie jederzeit von Kit zu trennen drohte, für ein paar Wochen oder für immer. Ein Frösteln durchfuhr ihren Körper.

„Morgen um elf“, erinnerte er sie beim Abschied.

„Morgen“, wisperte sie. Tränen verschleierten ihren Blick. Wie heiß sie ihn liebte … Sie wollte sich in seine Arme werfen, geküsst – und geliebt werden, wie sie sich zitternd eingestand. Oh, warum nur hatte sie seine intimen Liebkosungen zurückgewiesen?

Während sie ihn davonfahren sah, erschauerte sie wieder, fühlte sich einsamer denn je, und wieder einmal wurde ihr bewusst, wie kostbar die Stunden waren, die sie mit Kit verbringen durfte. Im Schwesternwohnheim gab Lizzie die geliehene Kleidung zurück und wurde mit Fragen nach dem Rendezvous bestürmt. Aber sie antwortete nur ausweichend, immer noch unglücklich über ihr dummes Verhalten, mit dem sie Kit geärgert und ihr Liebesglück aufs Spiel gesetzt hatte.

„Siehst du ihn wieder?“, erkundigte sich Rosie neugierig.

Aber Lizzie zuckte nur die Achseln und war froh, weil sie sich beeilen musste, um rechtzeitig zum Dienst in der Klinik zu erscheinen, und weiteren Fragen ausweichen konnte.

Während der Abendschicht gab es immer viel zu tun. Die Patienten mussten auf die Nachtruhe vorbereitet werden und ihre Medikamente bekommen. Danach machten die Mädchen auf den Fluren sauber und erledigten diverse andere Pflichten.

Lizzie sah Edward Danvers nur kurz, während sie einer Kollegin half, die Verdunkelungstücher vor die Fenster zu hängen. Sie bemerkte seine fahlen Wangen und erriet, dass ihn starke Schmerzen peinigten. Sollte sie ihm zusätzliche Medikamente anbieten? Aber sie hatte bereits festgestellt, wie verletzlich sein Stolz war, sie sehr er es hasste, wenn seine körperlichen Leiden erwähnt wurden.

Unsicher schaute sie sich in der Abteilung um. Die diensthabende Krankenschwester, eine Frau von Ende fünfzig, kümmerte sich kaum um ihre jungen Helferinnen. Lizzie wusste, dass eine diskrete Bitte, Edwards Qualen zu lindern, sinnlos gewesen wäre. Diese Person glaubte wirklich, es täte der Seele gut, Schmerzen zu erdulden. Sie schüchterte nicht nur die jüngeren Schwestern, sondern sogar manche Ärzte ein. Die Hilfsschwestern verabscheuten sie, ahmten sie gnadenlos nach und machten sich hinter ihrem Rücken über sie lustig. „Ein altes Neutrum“, wurde sie genannt.

Ein Neutrum? Dieses Wort jagte Lizzie dumpfe Angst ein. Sie selber war doch keine solche Frau? Nein, natürlich nicht. Und warum hatte sie dann Kits Wünsche nicht erfüllt?

Zu jung und viel zu unerfahren, um die Gründe ihrer Weigerung in Tante Vis strengen Verhaltensregeln und in Kits mangelnden Gefühlen zu sehen, erkannte sie die Gefahr der zerstörerischen Saat nicht, die er in ihr Herz gestreut hatte.

Elf Uhr. Lizzie zuckte zusammen, als sie die Turmuhr schlagen hörte. Seit fünfzehn Minuten wartete sie im Sommerhäuschen auf Kit. Nervosität drehte ihr den Magen um, und ihre Gedanken flatterten hilflos in hundert verschiedene Richtungen auf einmal.

Im Wohnheim hatte sie sorgfältig jeden Quadratzentimeter ihres Körpers gewaschen, unter der eisigen Kälte des Wassers gestöhnt und bedauert, dass sie nur Karbolseife besaß, die kein bisschen duftete.

Das Wetter war schlechter geworden. Wolken kündigten Regenfälle an, ein kühler Wind wehte. An diesem Tag trug sie ihre eigenen, von Lady Jeveson geerbten Sachen. Die mochten ihr nicht so schmeicheln wie Rosies Blumenkleid. Aber sie fühlte sich wohler darin, auch wenn sie Kit womöglich nicht gefielen. Auf den voluminösen, hässlichen BH hatte sie allerdings verzichtet. Das bereitete ihr Gewissensbisse. Beim Anziehen hatte sie über die Schulter gespäht, als erwartete sie, Tante Vi würde hinter ihr auftauchen, um den unmoralischen Entschluss zu tadeln.

Ein kleiner blauer Fleck an der linken Brust markierte die Stelle, wo Kit sie gebissen hatte, und die Knospen schmerzten immer noch ein wenig. Aber letzte Nacht, allein in ihrem kalten schmalen Bett, hatte sie sich an die späteren, sanfteren Liebkosungen erinnert, an Kits Hände und Lippen auf ihren Brüsten, und mit derselben Intensität jenes erregende Prickeln verspürt.

Heute würde alles gut gehen, daran zweifelte sie nicht. Sie wollte Kit beweisen, wie sehr sie ihn liebte. Heute – sie holte tief Luft –, heute würde sie alles tun, was immer er auch verlangen mochte, und ihm zeigen, wie ernst sie ihre Liebeserklärung meinte.

Trotzdem fühlte sie sich nervös, verletzlich und unbehaglich. Sie hielt den Atem an, als sie Schritte hörte, die auf den Teich zukamen. Wenn es nicht Kit war, sondern jemand anderer, ein Fremder, der unwissentlich die kostbaren Stunden verderben würde? Aber dann sah sie durch die zerbrochene Fensterscheibe Kits hochgewachsene, schlanke Gestalt. Er trug seine Uniform – ein Anblick, der Stolz und gleichzeitig Angst vor den Kriegsgefahren in Lizzie weckte.

Nur zu gut wusste Kit, wie imposant er in seiner Uniform wirkte – die Verkörperung aller Qualitäten, die ein Luftwaffenpilot besitzen sollte. Auf der Schwelle blieb er stehen. Triumphierend las er Angst und Bewunderung in Lizzies Augen. „Komm her“, befahl er leise.

Sie gehorchte unsicher, ließ sich umarmen und hob das Gesicht zu ihm empor, um einen Kuss zu erbitten, die Vergebung ihrer am Vortag begangenen Fehler.

„So ist es besser“, lobte er und betrachtete genüsslich ihren zitternden Mund. „Viel besser.“ Während er seine Zunge zwischen ihre Lippen schob, drückte er sie fester an sich und ließ sie seine Erregung spüren. Seine Hände glitten rasch über ihre Hüften, drängend bewegte er seine eigenen, um Lizzies unschuldigem Fleisch die Botschaft seiner sexuellen Bedürfnisse mitzuteilen. Sobald er ihre Brust umfasste, merkte er, dass sie unter dem Pullover nackt war, und nickte anerkennend. „Braves Mädchen.“ Heiser flüsterte er in ihr Ohr: „Ich muss dich belohnen, weil du so rücksichtsvoll bist. Was möchtest du, Süße? Was soll ich tun?“

Sie hörte, wie belegt seine Stimme klang, und diese Erkenntnis sandte Warnsignale durch ihren Körper. Eher ängstlich als lustvoll wand sie sich in seinen Armen. Aber Kit war nicht bereit, Geduld zu üben. Letzte Nacht hatte er zu lange wach gelegen, unbefriedigt und voller Zorn, und deshalb wollte er an diesem Vormittag keine Zeit vergeuden. Er begehrte Lizzie, und er würde sie besitzen.

Sie bekämpfte ihre Furcht und erinnerte sich an die Erregung, die sie noch vor wenigen Stunden im Bett empfunden hatte, beim Gedanken, wie Kit ihre Brüste liebkosen würde – so, wie er es jetzt tat, erst mit den Händen, dann mit dem Mund. Trotzdem schrie sie auf vor Schmerzen, während seine Zähne die zarten Knospen misshandelten. Sollte sie ihm sagen, dass er ihr wehtat, und ihn bitten aufzuhören? Doch sie wagte es nicht, ihn zu ärgern, den Eindruck zu erwecken, mit ihr stimme etwas nicht, sie sei eine mit Mängeln behaftete Frau. Nein, mit mir ist alles in Ordnung, redete sie sich beklommen ein. Aber die Zweifel wuchsen und verkrampften ihre Muskeln.

Hastig zog er sie aus. Fast grob, dachte sie, zwang sich jedoch, nicht zusammenzuzucken, wenn seine Fingernägel über ihre zarte Haut kratzten. Entschlossen verdrängte sie die Ahnung, dass es nicht so war, wie es sein sollte, dass sie um irgendetwas betrogen wurde.

Düstere Gedanken und Ängste jagten durch ihr Gehirn. Was sie jetzt tat, war nach Tante Vis Maßstäben unverzeihlich und völlig falsch. Ihre eigenen widersprüchlichen Gefühle verwirrten sie. Kit sah sie erschauern, merkte ihr Zaudern und fluchte stumm. „Was ist los?“, fragte er abrupt.

„Ich – dürfte das nicht tun“, stammelte sie. „Es ist – nicht richtig …“

Ohne seinen Groll zu verbergen, packte er sie. Jetzt würde er sich nicht mehr zurückhalten lassen. Dafür war sein Verlangen viel zu intensiv. „O doch, es ist richtig, Süße“, entgegnete er und küsste sie. „Wie kann es falsch sein, wenn wir uns lieben – wenn wir so wenig Zeit füreinander haben? Du liebst mich doch?“

„Ja – ja … Ich liebe dich.“ Zumindest davon war sie überzeugt.

„Dann erlaube mir, dich zu lieben. Schätzchen, diese Erinnerung an dich mitzunehmen, wenn ich wieder da oben, hoch in der Luft, für England kämpfe – für uns.“

Diese Worte hatte er so oft ausgesprochen, dass sie sogar in seinen eigenen Ohren wie bedeutungslose Beteuerungen eines Gefühls klangen, das er nicht empfand. Aber für Lizzie waren sie neu, ein beängstigender Hinweis auf die Realität des Krieges. Kit las in ihren Augen, was in ihr vorging, küsste sie wieder und flüsterte: „Lass mich dich lieben – lass mich dir zeigen …“ Seine Erregung steigerte sich, als er Lizzies Zittern spürte. Um ihre Angst vor ihm auszunutzen, riss er ihr so schnell wie möglich die restlichen Kleider herunter.

Kein Mensch hatte sie splitternackt gesehen, seit sie zu Tante Vi geschickt worden war, und nun errötete sie heftig unter Kits Blick. Fand er sie schön und begehrenswert? Oder enttäuschte sie ihn? Sie war nicht üppig gebaut, besaß keine Stundenglasfigur, sondern eine zierliche Taille, schmale Hüften und schlanke Beine. Würde sie dem großen, kräftigen Kit zu dünn und unweiblich erscheinen? Verlegen schluckte sie und versuchte mit beiden Händen ihre Blößen zu bedecken. Doch das ließ er nicht zu. Lachend drehte er ihr die Arme auf den Rücken, als wäre sie seine Gefangene – eine Situation, die ihm sichtlich gefiel. „Du brauchst dich nicht zu fürchten, Mädchen“, meinte er beiläufig.

Vergeblich suchte sie nach Worten, um ihm zu sagen, die arrogante Art, wie er sie mustere, und die ganze Haltung, die er ihr gegenüber einnehme, würde ihre Liebe und ihre Person herabwürdigen.

Mit schmalen Augen beobachtete er sie und spürte ihre innere Abwehr. Mach jetzt bloß keinen Rückzieher, Kleine, dachte er ärgerlich.

Als er sie berührte, bemühte sie sich, ein Zittern zu bekämpfen. Da an diesem Tag keine Sonne ins Sommerhaus schien, war es kalt, und Lizzie wollte sich einreden, sie würde nur deshalb frieren und diese bange Nervosität empfinden. Kits wegen konnte sie doch nicht nervös sein, oder? Immerhin liebte sie ihn – und er sie. Warum weckten seine Hände, die über ihre Haut glitten, nur Angst, keine freudige Erregung?

Er drückte sie auf den Boden hinab, bedeckte sie mit seinem schweren Körper, dann erhob er sich ein wenig, und sie sah, wie er an seinem Hosenbund zerrte. Statt sich auszuziehen, öffnete er einfach nur seine Hose. Dann senkte er sein ganzes Gewicht wieder auf sie hinab, presste sie an den staubigen Holzboden und spreizte ihre Beine.

Lizzie tat ihr Bestes, um ihm entgegenzukommen, während er seine Hüften zwischen ihre Schenkel schob. Ihre Furcht schien er nicht zu bemerken, und sie wagte nicht, ihre mangelnde Begierde zu zeigen. Zu groß war ihre Angst, zurückgewiesen zu werden.

In ihrer unbequemen Lage auf dem harten Bretterboden zuckte sie gequält zusammen, als er kraftvoll in sie einzudringen versuchte und die schmerzhafte Bewegung mehrmals wiederholte. Ihr Widerstand entlockte ihm einen Fluch. „Entspann dich doch!“, murmelte er und hielt sie unbarmherzig fest.

Die Gegenwehr ihres zarten Körpers erregte und irritierte ihn gleichermaßen. Ungeduldig bemühte er sich, die Barriere ihrer Jungfräulichkeit zu entfernen. Lizzie war viel zu verkrampft. Das sagte er auch und grollte ihr, weil sie ihm den Spaß verdarb. Beim nächsten brutalen Stoß biss sie sich auf die Unterlippe, um sich ihre Qualen nicht anmerken zu lassen. Natürlich hatte sie gewusst, dass es beim ersten Mal wehtat. Aber auf die Reaktionen ihres Körpers, der sich immer mehr versteifte und ihr völlig ausgedörrt erschien, war sie unvorbereitet.

„Du hättest eine verdammte Nonne werden sollen“, fauchte Kit, als er sich endlich einen Weg zwischen den angespannten Muskeln bahnte. Lizzie stöhnte, tief verletzt von seinen grausamen Worten. Er schaut mich nicht einmal mehr an, dachte sie, zutiefst bestürzt, weil sie nicht nur ihn, sondern auch sich selbst enttäuschte. Offenbar war sie keine vollwertige Frau.

Was sie jetzt erlebte, hätte sie beglücken müssen. Stattdessen empfand sie nur Schmerzen, körperlich und seelisch. Kits keuchender Atem und die hektischen Bewegungen seines Körpers in ihrem schienen in weite Ferne zu rücken, losgelöst von ihrem Ich. Nein, so hatte sie sich die Vereinigung zweier Liebender nicht vorgestellt. Was nun geschah, wirkte auf Lizzie wie eine Zufallsbegegnung zweier Menschen, die im Grunde nichts miteinander zu tun hatten.

Der körperliche Schmerz verebbte, der seelische, der viel schlimmere Wunden schlug, dauerte an. Als Kit endlich ächzend auf sie hinabfiel, fühlte sie weder Erleichterung noch Freude – nur Kälte und wachsende Panik. Sie hatte seine Erwartungen nicht erfüllt, also war sie keine richtige Frau.

In seinen Augen las sie Verachtung, ebenso in seiner Weigerung, sie anzuschauen, als er aufstand. Er kehrte ihr den Rücken, während er seine Hose schloss. „Zieh dich an, Süße. Ich muss gehen. Bevor ich wegfahre, will ich noch den alten Edward besuchen.“

„Du – du fährst schon weg?“, stammelte sie und kämpfte mit den Tränen.

„Mir bleibt nichts anderes übrig. Die Pflicht ruft.“

„Aber – ich …“ Lizzie hatte geglaubt, sie würden länger zusammen sein.

„Keine Bange, sicher bekomme ich bald wieder vierundzwanzig Stunden Urlaub“, log Kit. Eine hysterische Szene konnte er jetzt wirklich nicht gebrauchen. Nachdem sein Verlangen gestillt war, begann er bereits zu vergessen, wie heiß er Lizzie begehrt hatte. Bald würde sie nurmehr eine Erinnerung von vielen sein – ein Mädchen wie all die anderen. Im Krieg stand einem Mann wie ihm, der ständig dem Tod ins Auge blickte, doch wohl das Recht zu, sich zu amüsieren, wo immer er eine Gelegenheit fand.

Schweigend gingen sie zu der Stelle, wo Kit das Auto geparkt hatte. Lizzie wusste, dass sie sich jetzt beherrschen musste und nicht in Tränen ausbrechen durfte. Die Männer hassten es, weinende Frauen zu sehen. Außerdem wollte sie stark sein und ihn mit einem Lächeln verabschieden, damit er schöne Erinnerungen an sie mitnahm.

Am liebsten hätte sie ihn angefleht, Edward nicht zu besuchen und den restlichen Urlaub mit ihr zu verbringen. Aber sie erkannte, wie selbstsüchtig dieser Wunsch war. Der arme Edward führte ein so elendes Leben. Seit seiner Ankunft im Krankenhaus hatte er nur von Kit Besuch bekommen. Und es kam ihr nicht zu, Forderungen zu stellen. Immerhin hatte er versprochen, sie würden sich bei seinem nächsten Urlaub wiedersehen – es sei denn, er wurde in den Kampf geschickt.

In den Kampf … Bei diesem Gedanken erschauerte sie. Zuvor waren das einfach nur Worte gewesen, die anderen Frauen Angst machten. Jetzt spürte sie das Grauen der Gefahr am eigenen Leib. Sie wurde aufgenommen in den Kreis der Geschlechtsgenossinnen, die um das Leben der geliebten Männer bangten, zwischen Verzweiflung und Hoffnung schwankten.

Von diesem Tag an würde es keine ruhigen Nächte mehr geben. Nie wieder würde sie Kampfflugzeuge dröhnen hören, ohne kaltes Entsetzen zu empfinden. Keinen friedlichen Augenblick würde sie genießen, abgesehen von den wenigen wertvollen Stunden, die Kit mit ihr verbringen konnte. Nur wenn sie ihn in den Armen hielt, würde sie wissen, dass er in Sicherheit war. Erst nach dem Kriegsende würde sie aufatmen, wenn die gemeinsame Zukunft vor ihnen lag, viele Jahre voller Liebe. Dann wollte sie ihm zeigen, wie viel er ihr bedeutete, auch körperlich. Ihre Unfähigkeit, seine sinnlichen Gefühle so zu erwidern, wie sie es wünschte – darüber mochte sie sich jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Das würde sich mit der Zeit ändern.

Zum ersten Mal in ihrem Leben sehnte sie sich nach einer Freundin, der sie ihre Probleme anvertrauen, die sie um Rat bitten konnte. Wenn man den anderen Mädchen im Schlafsaal zuhörte, musste man den Eindruck gewinnen, Sex war für sie nur Amüsement, die unbekümmerte Hingabe einer Frau als Gegenleistung für die Geschenke eines Liebhabers. Aber ihren Romanen hatte Lizzie entnommen, die körperliche Liebe zähle zu den größten Freuden, die zwei Menschen teilen konnten. Und sie selbst … Was stimmte nicht mit ihr? Warum hatte sie es nicht genossen?

Sie blieben neben dem Auto stehen, und Kit sagte leichthin: „Ich bringe dich besser nicht heim, Süße. Du willst sicher nicht, dass die Leute tratschen. Sonst kriegst du womöglich Ärger mit der Oberschwester.“

„Ja“, bestätigte sie tonlos, dann vergaß sie ihren Stolz und ihre guten Vorsätze, warf sich schluchzend in seine Arme. „Du wirst mir doch schreiben, Kit? Es tut mir so leid, dass ich dich enttäuscht habe …“

Atemlos wartete sie auf seinen Widerspruch, auf ein tröstliches Wort. Stattdessen zuckte er nur die Schultern, befreite sich aus ihren Armen und entgegnete beiläufig: „Du gehörst eben zu diesen Frauen, die beim Sex nicht so gut sind. Gib mir deine Adresse. Ich schreibe dir lieber zuerst, denn wenn ich im Einsatz bin, kann es wochenlang dauern, bis mir deine Briefe nachgeschickt werden. Angeblich will man uns ins Ausland schicken.“

„Ins Ausland? Aber …“

Er schüttelte hastig den Kopf. „Mehr darf ich nicht sagen. Ich habe dir ohnehin schon zu viel verraten. Im Moment wird das alles noch geheim gehalten.“

Lizzie nahm ein kleines Notizbuch aus ihrer Handtasche, riss ein Blatt heraus und schrieb mit zitternden Fingern ihre Adresse darauf. Er steckte den Zettel ein und lächelte sie aufmunternd an. „Kopf hoch, Kleine! Mach dir keine Sorgen, sobald ich Urlaub kriege, sehen wir uns wieder.“ Normalerweise dachte er kaum über die Folgen seiner Aktivitäten nach und kannte keine Gewissensbisse. Aber als er jetzt in ihr bleiches Gesicht schaute, die tiefe Liebe in den unschuldigen Augen las, regte sich ein seltsames, fremdartiges Gefühl in ihm, das ihn irritierte und mit wachsendem Unbehagen erfüllte. Dieses dumme Ding! Merkte es denn nicht …? Er sah die Reinheit ihrer Gesichtszüge, das weiche blonde Haar, die klare Haut, und plötzlich stieg Reue in ihm auf.

Sie war so schön, ihr Körper biegsam und schlank. Erbost stellte er fest, dass er sie immer noch begehrte, und charakteristischerweise gab er ihr die Schuld daran. Nur ihre mangelnde Erfahrung hatte das erotische Abenteuer verkürzt. Aber obwohl er ihr grollte und sie verlassen wollte, zwang ihn ein unkontrollierbarer Impuls, ihr Gesicht in beide Hände zu nehmen und sie zu küssen.

Heiße Freude stieg in ihr auf. Für ein paar Sekunden hatte sie an ihm gezweifelt. Aber sie war dumm gewesen. Natürlich liebte er sie genauso wie sie ihn.

„Ich schreibe dir, sobald ich kann“, versprach er und wusste, dass er log. Sobald sie getrennt waren, würde er dieses eigenartige, ungewohnte, unerwünschte Gefühl vergessen. Plötzlich kam ihm ein anderer Gedanke. „Du darfst meinem Vetter Edward nichts erzählen …“ Als er ihre Überraschung sah, verbesserte er sich rasch: „Zumindest jetzt noch nicht.“

Verständnisvoll stimmte sie zu. Sicher hat er recht, dachte sie. Diese Liebe war noch zu neu, zu kostbar, um einem Dritten mitgeteilt zu werden.

Sie blickte dem Cabrio nach, bis sich die letzten hochgewirbelten Staubwolken senkten.

Eine halbe Meile entfernt, runzelte Kit die Stirn, weil ihm eine unerfreuliche Möglichkeit einfiel. Lizzie hatte sich zwar bereit erklärt, seinem Vetter nichts zu verraten – aber würde sie immer noch schweigen, wenn er nichts mehr von sich hören ließ?

Im Grunde kümmerte es ihn nicht, was Edward von ihm hielt. Aber es wäre äußerst unangenehm, wenn er sich wegen dieses albernen Mädchens an meinen Vorgesetzten wenden würde, überlegte er. Verdammt, das würde mir gerade noch fehlen …

Am besten schickte er ihr von der Kaserne aus einen kurzen Brief, mit der Erklärung, man würde ihn ins Ausland versetzen, er könne ihr seine neue Adresse nicht geben und auch keine Verbindung mit ihr aufnehmen. Ja, das müsste genügen. Oder er schrieb ihr noch ein paar Briefe, nur zur Sicherheit … Leise fluchte er vor sich hin. Hätte er sich doch bloß nicht mit ihr eingelassen!

Zum Teufel mit Edward, der sich immer in alles einmischen musste … Auf keinen Fall durfte Kit riskieren, dass der Vetter ihm Schwierigkeiten bereitete, so geringfügig diese auch sein mochten. Er war bereits zweimal verwarnt worden, und nach einer dritten Disziplinarstrafe würde er nie mehr am Steuer eines Kampfflugzeugs sitzen. Das wäre unerträglich.

Wenn er etwas liebte, dann war es das Fliegen. Und der Nervenkitzel während einer Kampfhandlung übertraf alles, was ihm sexuelle Erlebnisse bieten konnten.

Eine Mischung aus Glück und Kummer erfüllte Lizzies Herz. Sie war glücklich, weil sie Kit gefunden und sich ihm hingegeben hatte, um ihre Liebe zu beweisen. Die Erinnerung an die Qualen und den Schock verdrängte sie jetzt, selbstlos dachte sie nur an Kit, seine Freude, seine Bedürfnisse, seine Befriedigung, und sie war unglücklich, weil sie nur so kurz zusammen gewesen waren.

Unwillkürlich legte sie eine Hand auf den Bauch, als sie einen leichten Wundschmerz zwischen den Schenkeln spürte. Was trieb die Männer immer wieder zu einem so heftigen Kraftakt? Und warum war das Entzücken, das sie bei Kits Küssen und Liebkosungen empfunden hatte, bei der körperlichen Vereinigung abrupt verflogen? Gerade das hätte wunderbar sein müssen, die Vervollkommnung der Liebe, die sie einander entgegenbrachten.

Woran mochte das liegen? Sie wanderte die Straße hinab, eine innere Rastlosigkeit beschleunigte ihre Schritte. Tante Vi hatte sich stets geweigert, über sexuelle Dinge zu sprechen. Den Gesprächen der anderen Mädchen entnahm Lizzie verschiedenartige, manchmal abstoßende Informationen. Aber in ihrer Naivität hatte sie immer geglaubt, die körperliche Verschmelzung zweier Liebender würde von geistigem Entzücken zu einer höheren Ebene emporgetragen und sich weit von der banalen Kopulation entfernen, die ihre Kolleginnen so anschaulich und oft sehr derb schilderten.

Nun fragte sie sich bedrückt, warum sie jene Magie, von der so viele Romane berichteten, nicht erlebt hatte – warum sie von Kit nicht in jenes Zauberreich entführt worden war, das nur den Liebespaaren gehörte. Sie sehnte sich nach ihm und wünschte, sie könnte mit ihm reden, ihm ihr Herz ausschütten.

Plötzlich fühlte sie sich sehr müde und einsam, und diese Emotionen bildeten einen krassen Kontrast zu der Freude, die ihr Kits Abschiedskuss bereitet hatte.

Niedergeschlagen, mit dunklen Schatten unter den Augen, kehrte sie ins Wohnheim zurück und sah erleichtert, dass sie den Schlafsaal für sich allein hatte. Sie wollte nicht mit den anderen Mädchen über Kit reden. Diese Liebe war etwas Besonderes, fast etwas Heiliges.

An diesem Tag hatte sie etwas getan, was sich – nach Tante Vis Regeln – kein anständiges Mädchen außerhalb der Ehe erlauben durfte. Aber sie verspürte weder Schuldgefühle noch Reue. Seit der Jugend ihrer Tante hatte sich die Welt geändert. Manchmal musste man sich mit ein paar flüchtigen schönen Stunden begnügen. Eine Aura von Leichtsinn lag in der Luft, die wilde Entschlossenheit, all die wunderbaren Dinge zu nehmen, die das Leben bot, denn man wusste nie, wann man es verlieren würde.

Nein, sie bereute keine Sekunde, die sie in Kits Armen verbracht hatte, empfand nur schmerzliche Sehnsucht nach ihm. Da er Pilot war, hatte er ihr nichts von den Gefahren seines Alltags erzählen müssen.

Sie hörte die Radionachrichten, las Zeitungen. Als intelligentes Mädchen besaß sie eine rege Fantasie. Selbst wenn sie in der Klinik nicht tagtäglich die zerstörerische Wirkung der von Menschenhand geschaffenen Waffen auf menschliches Fleisch gesehen hätte und die Eltern nicht bei jenem Bombenangriff gestorben wären, konnte sie sich nur zu gut ausmalen, was Kit während jeder Kampfhandlung drohte.

Als sie in dieser Nacht nach Dienstschluss im Bett lag, betete sie inständig wie nie zuvor. „Bitte, lieber Gott, beschütze Kit!“ Beschwörend wisperte sie diese Worte und wusste, dass sie nur wiederholte, was Millionen anderer Frauen im ganzen Land erflehten. Nicht alle Gebete wurden erhört, und Lizzie spürte fast körperlich das Leid ihrer Geschlechtsgenossinnen, die vom Schicksal so schwer getroffen wurden. Energisch verdrängte sie diesen Gedanken. Sie musste stark und tapfer sein und lächeln, wenn sie Kit wiedersah, ihre Angst verbergen. Irgendwie würde sie einen Weg finden, um ihn nicht mehr zu enttäuschen, um ihre Befürchtung zu verheimlichen, in sexueller Hinsicht wäre irgendetwas mit ihr nicht in Ordnung – etwas, das sie daran hinderte, die körperliche Liebe ebenso zu genießen wie er.

Eine gute Woche nach dem Abschied bekam Lizzie einen Brief. Mit zitternden Fingern drehte sie das Kuvert hin und her, ehe sie es öffnete, und ihr Herz schien vor Freude zu bersten.

Obwohl die wenigen Zeilen sie enttäuschten, zwang sie sich, zu akzeptieren, dass ein Mann, der bei seiner Schwadron lebte und für das Vaterland kämpfte, keine Zeit für lange Liebesbriefe fand.

Gierig verschlang sie jedes einzelne Wort, und bald konnte sie den gesamten Text auswendig.

Ich schreibe Dir nur ganz kurz, um Dir mitzuteilen, dass Du in der nächsten Zeit nichts von mir hören wirst, Süße. Wie ich bereits angekündigt habe – es sieht so aus, als müsste ich bald im Ausland „Urlaub“ machen. Ich melde mich wieder, sobald ich kann. Denk in der Zwischenzeit an mich, so wie ich an Dich. In Liebe, Dein Kit.

Sie presste die Unterschrift an die Lippen, hin und her gerissen zwischen Tränen und Glück. Einerseits war sie erleichtert, weil sie endlich Nachricht von ihm erhalten hatte und weil der Brief keinerlei Groll gegen sie zum Ausdruck brachte. Andererseits bangte sie um Kits Leben.

Auf der Rückseite des Umschlags stand kein Absender. Als ihr das auffiel, runzelte sie leicht die Stirn. Sie konnte ihm also nicht antworten. Und vermutlich würde sie lange auf den nächsten Brief warten müssen. Er schien selbst noch nicht zu wissen, wohin man ihn versetzen würde.

Sorgsam faltete sie das Blatt zusammen und steckte es ins Kuvert, das sie in ihrer Handtasche verstaute. Sie würde den Brief überallhin mitnehmen. Träumerisch schloss sie die Augen und stellte sich Kits Hand vor, die diese Zeilen geschrieben hatte, seinen dunklen Kopf, über das Papier gebeugt.

„Oh, lieber Gott, bitte, beschütze ihn!“, flüsterte sie.

Noch zweimal besuchten Lizzie und Edward die blühenden Rhododendronbüsche. Er merkte, dass sie mit dem Herzen woanders war, und wollte sie fragen, ob etwas nicht stimmte, vermochte sich aber nicht dazu durchzuringen.

Seit seiner Verwundung war er überaus empfindlich, was seine äußere Erscheinung und seine zerstörte Potenz betraf. Er spürte Lizzies Mitleid. Und in manchen Nächten, wenn er nicht schlafen konnte, wünschte er sich verzweifelt, wieder ein ganzer Mann zu sein – keine leere Hülle, unfähig, in einer Frau andere Emotionen zu erregen als Mitgefühl.

Die meisten Schwestern, die im Krankenhaus arbeiteten, bestärkten ihn im Bewusstsein seiner körperlichen Unzulänglichkeiten. Nur in Lizzies Gesellschaft ließ sein Unbehagen etwas nach. Niemals betrachtete sie ihn mit jener Mischung aus Erbarmen und Verachtung, so wie die anderen.

Und nun registrierte er ihre Veränderung. Sie war geistesabwesend, verloren in einer privaten Welt. Auf den Gedanken, diesen Zustand mit dem Besuch seines Vetters in Verbindung zu bringen, kam er nicht.

Schon in der Kindheit hatte er sich nicht gut mit Kit verstanden. Edward war mit der Erkenntnis aufgewachsen, vom Schicksal weniger begünstigt zu sein. Eines Tages würde nicht er selbst, sondern der Vetter das Landgut Cottingdean erben. Trotzdem war es Edward, der das Haus liebte und Heimweh danach hatte, wenn er sich woanders aufhalten musste, seine Eltern anflehte, ihn die Ferien dort verleben zu lassen. Aber letzten Endes würde das Anwesen Kit gehören. Edward versuchte, keinen Neid zu empfinden, und das wäre ihm vielleicht besser gelungen, hätte der Vetter dem Haus und dem Land die gleichen Gefühle entgegengebracht wie er selbst.

Seit der Regentschaft Charles’ II. befand sich Cottingdean im Besitz der Familie. Der Ahnherr – ohne Geld, Titel und Grundeigentum – hatte Charles während dessen Exil unterstützt und für ihn gekämpft. Als der König endlich den Thron bestieg, belohnte er seinen treuen Anhänger mit einem Adelstitel und der angesehenen Stellung eines königlichen Kammerjunkers. Der Ahnherr wusste, wie viel es ihn kosten würde, eine so hohe Position zu finanzieren. Statt das großzügige Angebot des Königs anzunehmen, bat er ihn um die Erlaubnis, die Witwe eines Cromwell-Anhängers heiraten zu dürfen.

Charles nahm an, es würde sich um eine Liebesheirat handeln, und gab seine Einwilligung. Wie er später erstaunt feststellte, war die Frau ziemlich unscheinbar und weit über dreißig.

Mochte sie auch unansehnlich gewesen sein – sie hatte ihrem ersten Mann immerhin fünf gesunde Töchter geschenkt. Und ihre große, wohlgeratene Schafherde weidete auf dem Land, das sie von ihren Eltern als Mitgift erhalten hatte.

Philip Danvers überlegte, eine so offenkundig fruchtbare Frau würde ihm die ersehnten Söhne gebären. Und das von ihrem ersten Mann während der Cromwell-Regierungszeit bestens instand gehaltene Weideland würde ihm mehr einbringen als ein hohler Adelstitel.

Der Witwe blieb nichts anderes übrig, als Philip ihr Jawort zu geben, nachdem der König ihr befohlen hatte, seinen Freund zu ehelichen. Sie machte sich keine Illusionen. Cottingdean stellte eine reiche Beute für einen Mann dar, der nur seine Kleider und das Schwert an seiner Seite besaß. Oh, sie wusste nur zu gut, warum sie geheiratet wurde – ganz gewiss nicht, um ihrem vitalen neuen Gemahl die Nächte zu versüßen.

Umso größer war ihre Überraschung angesichts der Aufmerksamkeit, die er ihr im Ehebett schenkte und die nach der Geburt des ersten und des zweiten Sohnes nicht nachließ.

Sehr schnell erkannte Philip, welche erotischen Qualitäten in der eher hässlichen Frau steckten, die er wegen ihres Wohlstands und ihrer Gebärfreudigkeit geheiratet hatte. So manche Kurtisane hätte sie um diese Talente beneidet. Da er ein humorvoller Mann war, lachte er oft im Schlafzimmer, wenn sie sich entspannt und zufrieden in den Armen hielten. Und wenn seine Gattin fragte, was ihn so amüsiere, erklärte er, Charles habe ihm einen der kostbarsten Schätze des Königreichs übergeben.

Doch Edward dachte nicht an seinen Ahnherrn, während er reglos im Rollstuhl saß und ins Leere starrte, sondern an die künftigen, noch ungeborenen Generationen. Eines Tages würde Kit heiraten und Söhne bekommen – die Erben Cottingdeans. Inständig hoffte Edward, sie würden das Landgut so lieben und in Ehren halten, wie er es selbst täte, hätte er das Recht dazu.

Wie er sich eingestehen musste, würde es ihm nichts nützen, wenn sein Vater der ältere Danvers gewesen wäre. Niemals würde er Söhne zeugen können. Er ballte die Hände und wünschte wie so oft, er fände den Mut, seinem elenden Leben ein Ende zu machen.

In Cottingdean durfte er nicht wohnen. Daran hatte Kit keinen Zweifel gelassen und sogar vom Verkauf gesprochen, verdammt – von der Übersiedlung nach London. Als wäre das Anwesen eine Bürde, die man schleunigst loswerden musste! Wie sehr Edward seinen Vetter verachtete … Beinahe hasste er ihn.

3. KAPITEL

„Ich störe dich nur ungern, Sage, aber Alexi ist am Telefon und besteht darauf, dich zu sprechen.“

Sage blickte so verständnislos vor sich hin, dass Faye zunächst glaubte, die Schwägerin hätte sie nicht gehört.

Der große, komfortable Polstersessel ersetzte Edwards Lederstuhl, seit Liz die Bibliothek übernommen hatte. Er war vom Schreibtisch weggerückt worden, und Sage saß darin, die Knie hochgezogen. Seidige Haare fielen über ihr Gesicht. Sichtlich gefesselt von ihrer Lektüre, erinnerte sie Faye an das viel jüngere, viel verletzlichere Mädchen, das sie bei ihrem ersten Besuch in Cottingdean kennengelernt hatte.

Doch nun hob Sage den Kopf, und die Illusion löste sich in nichts auf. Faye überlegte, ob ihre Schwägerin wusste, wie kühl, distanziert und gebieterisch sie manchmal wirkte.

„Alexi?“, fragte Sage gleichmütig, als würde ihr der Name nichts bedeuten.

Unwillkürlich schaute sie auf das geöffnete Tagebuch in ihren Händen, und Faye verspürte eine vage Angst. Was enthielten diese Aufzeichnungen? Was mochte Sage stundenlang gefesselt haben? Im Kamin war das Feuer herabgebrannt, Dunkel erfüllte den Raum außerhalb des Lichtkreises, den die Leselampe auf dem Schreibtisch verbreitete. Düstere Schatten, dachte Faye und erschauerte unbehaglich. „Ja, er will unbedingt mit dir reden. Oh – als du nicht zum Dinner kamst … Ich wollte dich nicht stören, und so rief ich im Krankenhaus an. Liz’ Zustand ist unverändert.“

Unverändert … Langsam schloss Sage das Tagebuch und stöhnte, weil ihre eingeschlafenen Beine zu prickeln begannen. Ihr war nicht aufgefallen, wie lange sie schon reglos in Liz’ Sessel kauerte. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr und erschrak. Nach Mitternacht. Nun erinnerte sie sich an ihre Absicht, Alexi um elf anzurufen, in der Überzeugung, zu diesem Zeitpunkt würde sie von den minutiösen Alltags- und Arbeitsberichten ihrer Mutter genug haben.

Doch die Wirklichkeit hätte gar keinen krasseren Kontrast zu ihren Erwartungen bilden können. Sie vermochte kaum zu glauben, dass dieses Mädchen, das so offenherzig und leidvoll Tagebuch geführt hatte, Liz Danvers war. Noch erstaunlicher fand sie den Wunsch der Mutter, die Familie möge dies alles lesen.

Würde sie selbst unter ähnlichen Umständen ein solches Eindringen in ihre Vergangenheit, in ihr Leben dulden oder sogar fördern? Vielleicht – wenn sie im Sterben läge, wenn es die letzte Chance wäre, die Hand nach den Angehörigen auszustrecken, gewisse Dinge zu klären … Plötzlich fröstelte sie. Nur widerstrebend hatte sie die Lektüre unterbrochen, als Faye in die Bibliothek gekommen war. Aber jetzt wollte sie nicht mehr weiterlesen. Vor welcher Entdeckung fürchtete sie sich?

„Alexi…“, wurde sie von Faye zaghaft erinnert.

Arme Faye. Zweifellos war Alexi sehr unhöflich zu ihr gewesen, hatte kategorisch verlangt, Sage müsse sofort ans Telefon geholt werden. Er konnte sehr anspruchsvoll sein. Trotz seiner Bildung und weltgewandten Haltung glaubte er im Grunde seines Herzens immer noch, der Mann stünde turmhoch über der Frau und es wäre deren Pflicht, alle seine Bedürfnisse und Wünsche zu befriedigen.

„Tut mir leid“, entschuldigte sich Sage. Sie stand auf, legte das Tagebuch in die Schublade und versperrte sie automatisch.

Wie erwartet, klang Alexis Stimme sehr erbost, als sie den Hörer ans Ohr hielt. „Du sagtest, du würdest anrufen!“, klagte er. „Wo warst du?“

Zu Sages Charakter zählte ein gewisser Starrsinn, ein kindlicher Wesenszug, den sie längst überwunden zu haben glaubte. Aber jetzt kam er wieder zum Vorschein, herausgefordert von Alexis arrogantem Tonfall. „Ich sagte, ich würde versuchen, dich anzurufen“, verbesserte sie ihn. „Zufällig war ich zu beschäftigt. Tut mir leid, dass ich unser Rendezvous so kurzfristig abblasen musste.“ Sie hörte, wie er wütend nach Luft schnappte. Offenbar hielt er sein Temperament nur mühsam im Zaum, und sekundenlang empfand sie spöttische Verachtung.

Armer Alexi – er musste sie schon sehr begehren, wenn er bereit war, ihre Eigenwilligkeit zu dulden. Aber seine Toleranz würde nicht weit reichen, da machte sich Sage nichts vor. Er wollte sie haben, und er beabsichtigte, sie zu beherrschen, zu unterjochen. Sicher war er ein kraftvoller, dominanter und äußerst selbstsüchtiger Liebhaber und würde ihre Sehnsucht nach seinen Liebeskünsten, ihren brennenden Wunsch, ihm Befriedigung zu schenken, für selbstverständlich halten. Natürlich ließ er sich anfangs dazu herab, ihr zu schmeicheln, sie zu verwöhnen. Aber sobald sie mit ihm im Bett liegen würde …

Dieses Spiel hatte sie schon oft gespielt. Und plötzlich ekelte ihr davor, als würde eine einstige Lieblingsspeise gallebitter in ihrer Kehle hochsteigen. Warum? Wegen der unschuldigen Ergüsse eines naiven Mädchens, das sie an die eigene Jugend erinnerte – an die Frau, die sie jetzt war? Oder zeigten sich einfach nur die Auswirkungen der Zeit mit ihrem eher kühlen sexuellen Klima, mit der stetig wachsenden Zahl von Singles, die nach materialistischen Werten strebten?

Woran immer es liegen mochte – sie erkannte, wie langweilig sie dieses Spiel mit Alexi fand. Dazu kam eine gewisse Abneigung gegen sich selbst, denn wie sie wusste, hätte sie irgendwann mit ihm geschlafen – nur, um ihm zu beweisen, dass er sie weder im Bett noch außerhalb beherrschen konnte, und gewiss nicht aus unbezähmbarer Begierde. Sie versuchte sich zu entsinnen, wann sie das letzte Mal so empfunden und den Sexualakt als Mittel benutzt hatte, ihre Macht über einen Mann zu demonstrieren – und ihre Macht über die Mutter, über deren strenge Moralbegriffe. War das alles, was dahintersteckte? Hatte sie sich wegen jener verzweifelten verlorenen Liebe in eine Frau verwandelt, die ihren sexuellen Appetit so beiläufig stillte wie ihre Hungergefühle? War es ein Ausdruck der Herausforderung, das Bestreben, die Mutter absichtlich zu schockieren und zu verletzen?

„Sage, bist du noch da?“ Nun bemühte sich Alexi nicht länger, seinen Zorn zu verbergen. Früher hätte sie in solchen Situationen ihr kleines, triumphierendes Lächeln aufgesetzt, das schon mehrere Liebhaber in helle Wut gebracht hatte. Jetzt akzeptierte sie gleichmütig, dass sie ihn geärgert hatte – so, als würde es ihr überhaupt nichts ausmachen. Und genauso ist es vermutlich, dachte sie müde. Sie spürte einen bitteren Geschmack im Mund, eine plötzliche heftige Abneigung gegen das Leben und alles, was damit zusammenhing. „Ja, ich bin noch da. Tut mir leid, wenn du mir böse bist. Ich hätte dich anrufen sollen, aber …“

„Ich will nicht deinen Anruf, Sage, sondern dich – hier bei mir, in meinem Bett. Du weißt, wie fantastisch es mit uns beiden wäre. Ich komme jetzt nach Cottingdean und fahre mit dir zusammen nach London zurück. Deine Schwägerin erzählte mir, der Zustand deiner Mutter sei stabil. Also kannst du da unten nichts für sie tun. Lass mich für dich sorgen, Sage. Außerdem bist du hier näher beim Krankenhaus. Ich sehne mich so nach dir.“ Seine tiefe Stimme klang samtweich. Er weiß, wie man Frauen umgarnt, dachte sie geistesabwesend,

„Das ist unmöglich, Alexi. Ich werde auf Cottingdean gebraucht.“ Oder ich will hierbleiben, fügte sie in Gedanken hinzu. Diese Entdeckung erschien ihr wie ein Sandkorn auf einer ansonsten glatten Fläche, irritierend, herausfordernd, so faszinierend, dass sie Alexis Antwort überhörte.

Plötzlich ärgerte sie sich über ihn, genauso wie über sich selbst. Sie machte sich nichts aus ihm, wahrscheinlich hatte er ihr nie etwas bedeutet. Welch ein schroffer Kontrast zwischen ihrem Verhalten und der Handlungsweise des unerfahrenen Mädchens in den Tagebüchern … Mochte sie auch mit vielen Fehlern behaftet sein – Selbsttäuschung gehörte nicht dazu. Sie maß sich an ihrer Mutter, wie so oft in den Jugendjahren. Und wieder einmal wurde ihr bewusst, wie wenig sie dem Standard der Mutter und den eigenen Idealen entsprach.

Alexi interessierte sie nicht. Warum trieb sie dann dieses unnötige, nutzlose Spiel mit ihm? „Es hat keinen Sinn“, erklärte sie ihm entschieden. „Ich fahre nicht nach London zurück. Und selbst wenn ich dort wäre, würde ich in meiner eigenen Wohnung schlafen. Such dir eine andere, Alexi, es ist vorbei.“

Aus der Leitung tönte wütender Protest, und als die Flüche und Beschimpfungen die erträglichen Grenzen überschritten, beendete sie das Gespräch, indem sie einfach den Hörer auflegte. Danach merkte sie, dass sie zitterte. Nicht zum ersten Mal grollte ihr ein Mann – nicht zum ersten Mal war sie beleidigt worden, so wie eben von Alexi. Aber zum ersten Mal fand sie in solch bösen Worten eine gewisse Berechtigung. Sie allein trug die Verantwortung für diese Szenen.

Sie trat in die stille, halbdunkle Halle. Vor der Bibliothekstür blieb sie stehen. Ihre Finger näherten sich der Klinke, ehe sie merkte, was sie tat. Wenn sie jetzt wieder zu lesen anfing, würde sie in dieser Nacht vermutlich keinen Schlaf finden. Am nächsten Morgen wollte sie ihre Mutter im Krankenhaus besuchen, in ihrem Büro anrufen, um sich die Post nach Cottingdean schicken zu lassen. Es war ein langer, traumatischer Tag gewesen. Ihr Körper wies sie darauf hin, auch wenn ihr Verstand all die Schwierigkeiten leugnete.

Sage wandte sich von der Tür ab. Die Tagebücher würden nicht über Nacht verschwinden. Immerhin warteten sie schon seit über vierzig Jahren. Vierzig Jahre … Welche Enthüllungen mochten die vielen Seiten noch enthalten.

Die erste Liebesaffäre ihrer Mutter – so ehrlich und qualvoll und anschaulich geschildert, dass Sage beinahe glaubte, dies alles selbst erlitten zu haben … Nie hätte sie sich träumen lassen … Und nun suchten ihre Fragen nach Antworten, die sie halb und halb fürchtete. Die wichtigste Frage lautete: Warum hatte die Mutter beschlossen, ihre Vergangenheit preiszugeben, eine Tür zu den tiefsten Geheimnissen ihres Lebens zu öffnen – ausgerechnet dem Menschen, der mehr Grund als alle anderen hatte, ihr wehzutun?

Wollte sie damit sagen: Sieh doch, auch ich habe gelitten, habe Schmerz, Demütigungen und Ängste gekannt?

Aber warum jetzt, nach all den Jahren? Spielte es keine Rolle mehr, weil Liz zu sterben erwartete?

Auf halber Höhe der Treppe blieb Sage abrupt stehen. Sie wollte, dass ihre Mutter weiterlebte. Und dieser Wunsch entsprang keineswegs dem selbstsüchtigen Widerstreben, die Bürde von Cottingdean und der Spinnerei zu übernehmen. Diese Last würde ohnehin auf andere Schultern fallen. Camilla war die Erbin, die Enkelin, die Liz für alles entschädigte, worin die Tochter versagt hatte.

Sage wollte die Mutter aus anderen Gründen nicht verlieren, und sie gelangte zu einer überwältigenden Erkenntnis – in ihrem gereiften, unabhängigen, vierunddreißigjährigen Ich existierte immer noch ein angstvolles kleines Mädchen und sehnte sich verzweifelt nach der Sicherheit, die nur die Gegenwart der Mutter bieten konnte.

In dieser Nacht schlief Sage schlecht, verfolgt von einem alten Albtraum, der sie zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder heimsuchte. Unablässig versuchte sie, den geliebten Mann zu erreichen. Er stand am Ende eines langen, dunklen Pfads. Und wann immer sie auf ihn zugehen wollte, traten andere Gestalten aus den Schatten und versperrten ihr den Weg.

Früher waren es vertraute Gesichter gewesen – die Mutter, der Vater, manchmal David. Aber diesmal wurde sie von Fremden aufgehalten. Und am Ende des Pfads wartete nicht der Geliebte, sondern die Mutter, deren reglose Züge Sage ganz deutlich erkannte, die ihr nun entgegenkam.

In ihrem Traum empfand sie so ungeheure Erleichterung, dass ihr beinahe schwindelte. Doch während sich die Schemen verdichteten und eine immer undurchdringlichere Barriere bildeten, sah sie die Mutter nicht mehr, konnte nicht mehr zu ihr eilen, konnte sich überhaupt nicht mehr rühren, als würden sie von unsichtbaren Banden gefesselt.

Zitternd und schweißüberströmt erwachte sie. Nach einiger Zeit wurde ihr bewusst, dass ihr der Geliebte in den Träumen früherer Jahre niemals entgegengegangen war. Aber die Mutter hatte es getan. Das erschien ihr so, als würde sie plötzlich in der Fremde mit einem bekannten Gesicht konfrontiert. Schaudernd registrierte sie eine Wahrheit, von der sie nichts wissen wollte. Noch nicht.

Sie setzte sich im Bett auf und zog die warme Steppdecke um ihre fröstelnden Schultern. Vor wenigen Stunden habe ich von der ersten Liebe meiner Mutter gelesen, dachte sie. Von der Beziehung zu Kit, der sie niemals wirklich liebte, obwohl sie es in ihrer Naivität glaubte. Führt mir das vor Augen, dass auch ich den Fehler beging, einen Mann zu lieben, der unfähig war, diese Gefühle zu erwidern?

Energisch protestierte sie gegen ihre eigenen Gedanken. Diese beiden Fälle ließen sich nicht miteinander vergleichen.

Ihre Mutter war kaltschnäuzig verführt worden, von einem Mann, in dem sie nur vorübergehende Begierde geweckt hatte.

Aber Sage und Scott waren in inniger Liebe verbunden gewesen. Eine körperliche Vereinigung hatte nie stattgefunden, weil … Sie biss sich auf die Unterlippe – eine kindische Angewohnheit, die sie eigentlich längst abgelegt hatte.

Grausam war sie von Scott getrennt worden. Warum? Weil die Mutter sich eingebildet hatte, ihren Erfolgen ein gesellschaftliches Glanzlicht aufsetzen und die Tochter mit dem einzigen Sohn eines Peers verheiraten zu müssen. Sicher, es war ein verarmter Peer, aber er trug immer noch seinen Adelstitel. Und Liz strebte diese Heirat nur an, um mit „meine Tochter, Lady Hetherby“ prahlen zu können. Wütend und verbittert warf Sage ihr das vor, schoss ihre scharfen Worte wie Giftpfeile ab, doch die Mutter blieb wie immer gefasst. „Jonathan wäre ein wunderbarer Ehemann, und sein Charakter würde einen Ausgleich zu deinem schaffen …“

„Gar nicht zu reden vom Titel seines Vaters, der so gut zu deinem Geld passen würde.“

„Vorerst bist du ohnehin noch zu jung, um eine Ehe einzugehen.“

„Nach deiner Ansicht – nach dem Gesetz nicht. Das ist natürlich der Grund, warum Scott von seinem Vater nach Australien zurückgeholt wurde. Wir lieben uns! Begreifst du das denn nicht?“

„Du bist neunzehn, Sage. Vielleicht glaubst du, Scott zu lieben. Aber in zehn Jahren – schon in fünf Jahren wirst du ein anderer Mensch sein. Als intelligentes Mädchen müsstest du wissen, wie selten Ehen von Dauer sind, die in deinem Alter geschlossen werden.“

„Du hast mit achtzehn geheiratet.“

„Das war etwas anderes. Im Krieg …“

„Der war praktisch schon vorbei, als du Vaters Frau wurdest. Oh, diese Diskussion ist sinnlos. Du und Scotts Vater, ihr seid nun mal fest entschlossen, uns zu trennen. Ich hasse dich – ich hasse euch beide!“, hatte Sage kindisch geschrien und war schluchzend die Treppe hinaufgerannt, hilflos und zornig.

Nein, Scott war vermutlich nichts anderes übrig geblieben, als seinem Vater nach Australien zu folgen. Aber später hätte er mit ihr Verbindung aufnehmen und zurückkommen können. Zum ersten Mal blickte sie einer Tatsache ins Auge, der sie jahrelang verzweifelt und erfolgreich ausgewichen war. Hätte Scott sie so leidenschaftlich und heiß geliebt wie sie ihn, wäre er zurückgekehrt.

Dass er das einzige Kind seines Vaters war, spielte keine Rolle – ebenso wenig seine von Geburt an festgelegte Zukunft als Erbe einer großen Schafranch und eines riesigen Investmentkomplexes. Seit er denken konnte, wusste er Bescheid über den Herzenswunsch des Vaters, der Sohn möge die Erbin der Nachbarranch heiraten und zwei gigantische Betriebe zusammenbringen. Bis zur Begegnung mit Sage war Scott recht zufrieden mit seinem Schicksal gewesen. Doch dann erklärte er ihr seine Liebe. Sie wusste, dass er es ernst meinte, und erwiderte seine Gefühle. Natürlich wollte er sie heiraten, den Rest seines Lebens mit ihr verbringen.

Oder hatte er es doch nicht so ernst gemeint? War er, wieder daheim in Australien, anderen Sinnes geworden? Hatte er irgendwie aufgehört, sie zu lieben, sie vergessen, sogar zu hassen begonnen nach allem, was geschehen war? Schaudernd erinnerte sie sich an jene Nacht im Krankenhaus, wo sein Vater die Anweisung gegeben hatte, Sage dürfe nicht zu Scott gelassen werden.

Der Vater gab ihr die Schuld an dem Unfall. Aber Scott, der sie liebte und verstand und fast ein Teil von ihr war, konnte sie doch nicht dafür verantwortlich machen? Nicht einmal, wenn sie es verdiente …

Später hatte er geheiratet, nicht die Nachbarstochter, sondern ein anderes, nach Ansicht des Vaters passendes Mädchen – die Tochter eines reichen australischen Unternehmers. Ich müsste jetzt seine Frau sein, dachte Sage, die Mutter seiner Kinder … Aber sie war es nicht, und bisher hatte sie das ihrer Mutter und seinem Vater angelastet. Jetzt wurde sie plötzlich zu der Überlegung gezwungen, dass Scotts Liebe vielleicht doch nicht so verzehrend und leidenschaftlich und unsterblich gewesen war wie ihre eigene.

Nach dem Albtraum fand sie keinen Schlaf mehr. Sie war wach, als Jenny an die Tür klopfte und ein Teetablett hereintrug, mit dem hübschen antiken Frühstücksgeschirr, das Liz im Lauf der Jahre gesammelt hatte. Wenn ihre Freundinnen Besorgnis zeigten, weil sie etwas so Wertvolles benutzte, erklärte sie lächelnd, das Vergnügen am Gebrauch schöner Dinge mache das Risiko einer Beschädigung bei Weitem wett.

Sage runzelte nachdenklich die Stirn und beobachtete, wie die Haushälterin das Tablett auf den Nachttisch stellte. „Jenny, meine Mutter liebt dieses Sèvres-Porzellan so sehr. Ich würde es ihr gern ins Krankenhaus bringen. Sobald sie sich ein bisschen besser fühlt, weiß sie es sicher zu schätzen, wenn sie etwas Vertrautes in ihrer Nähe hat.“

„Ja, das war immer ihr Lieblingsgeschirr. Und sie pflegte zu sagen, der Morgentee schmecke ihr stets besonders gut, wenn sie ihn aus einer Sèvres-Tasse trank.“

Sie pflegte zu sagen … Warum die Vergangenheitsform? Sages Magen krampfte sich zusammen. Unfähig, die Haushälterin anzusehen, fragte sie leise: „Ist schon ein Anruf gekommen – aus der Klinik?“

„Nein, nein“, versicherte Jenny hastig. „Und keine Neuigkeiten sind gute Neuigkeiten. Regen Sie sich nicht auf. Wenn jemand so einen Unfall überleben kann – dann Ihre Mutter. Sie ist sehr stark, körperlich und seelisch.“

„Das ist sie“, bestätigte Sage. „Aber auch die stärksten Menschen haben ihre Schwäche … Sind Faye und Camilla schon auf?“

„Camilla ist ausgeritten. Sie sagte, sie würde zum Frühstück zurückkommen. Der armen Faye wollte ich gerade ihren Tee bringen. Ich fürchte, sie hat schlecht geschlafen. Diese Kopfschmerzen, wann immer sie unter Druck steht …“

Erstaunt hob Sage die Brauen. Von diesen Kopfschmerzen hatte ihr bisher niemand erzählt. Aber warum hätte man das tun sollen? Sie gehörte schon lange nicht mehr zu diesem Haushalt. Vor vielen Jahren hatte sie klargestellt, sie würde ihren eigenen Weg gehen, und der war zu schmal für Reisebegleiter.

Ein perfekter Spätfrühlingsmorgen brach an. Zarte Nebelschleier über dem Rasen versprachen sich aufzulösen, sobald die Sonne höher steigen würde.

Das Telefon läutete, als Sage nach unten ging. Sie nahm den Hörer in der Halle ab. Eine Frau, deren Namen sie nicht kannte, erkundigte sich besorgt nach Liz Danvers’ Befinden. „Gestern Abend erfuhren wir von dem Unfall, und da wollten wir Sie natürlich nicht stören. Und es ist mir wirklich unangenehm, aber – heute Abend findet die Versammlung wegen der geplanten neuen Straße statt, und Ihre Mutter sollte den Vorsitz führen. So kurzfristig können wir das Treffen nicht absagen, und es gibt wirklich niemanden, der Liz ersetzen könnte …“

Sage unterdrückte einen ärgerlichen Seufzer. Die Frau musste doch wissen, dass die Familie Danvers jetzt andere Sorgen hatte als die neue Straße … Und dann begann sie zu überlegen. Ihre Mutter hatte die Bürgerinitiative organisiert. Und da sie stets über die unmittelbare Gegenwart hinaus in die Zukunft blickte, würde sie – so irritierend und lästig und unwichtig eine solche Versammlung im Moment angesichts größerer Probleme auch erscheinen mochte – erkennen, dass das Projekt später erhebliche Bedeutung gewinnen und dass sie wünschen könnte, sie hätte sich damals darum gekümmert.

„Faye und ich haben bereits darüber gesprochen“, antwortete Sage und bezähmte ihre Ungeduld. „Sie schlug mir vor, ich solle meine Mutter vertreten, als Repräsentantin der Familie und der Interessen von Cottingdean. Ich glaube, meine Mutter hat ein paar schriftliche Unterlagen bezüglich der Pläne … Die Versammlung ist für heute Abend angesetzt? Bis dahin müsste ich alles gelesen haben.“

Sie hörte die Frau am anderen Ende der Leitung erleichtert aufatmen. „Wir belästigen Sie wirklich nur ungern – unter diesen Umständen. Aber Ihre Mutter betonte, wir müssten unseren Standpunkt von Anfang an klarmachen und mit ganzer Kraft für unsere Sache kämpfen. Das Ministerium schickt einen Beamten her, um seinen Standpunkt klarzumachen, und der Aufsichtsratsvorsitzende der Firma, die diese Straßen bauen soll, wird auch da sein. Falls es Ihnen keine allzu großen Unannehmlichkeiten bereitet, wären wir sehr glücklich, wenn Sie für Ihre Mutter einspringen würden.“

Ironisch überlegte Sage, ob ihr die Anruferin, nachdem sie sich begegnet waren, immer noch die Fähigkeit zutrauen würde, Liz Danvers zu ersetzen. „Okay“, antwortete sie automatisch. Sie notierte sich, wann die Versammlung beginnen würde, und versprach, eine Viertelstunde vorher hinzukommen, damit sie die anderen Mitglieder des Komitees kennenlernen konnte.

„War das die Klinik?“ Angstvoll eilte ihre Schwägerin die Treppe herab. Sie sah schwächer und zerbrechlicher aus denn je.

„Nein, eine Mrs Henderson von der Bürgerinitiative, die den Bau der neuen Straße verhindern will. Sie rief wegen der Versammlung heute Abend an. Gut, dass wir gestern davon sprachen, sonst hätte ich keine Ahnung gehabt, worum es sich handelt. Ich gehe fünfzehn Minuten vor dem Beginn der Sitzung hin. Den Nachmittag werde ich damit verbringen, Mutters schriftliche Unterlagen durchzusehen. Also musst du den Telefondienst übernehmen und dich um etwaige Besucher kümmern. Als Jenny mir den Tee servierte, erzählte sie, gestern sei das halbe Dorf da gewesen, um sich nach Mutters Befinden zu erkundigen. Wenn dir das alles zu viel wird – wenn du für ein paar Tage verreisen möchtest …“

Faye wurde blass, als hätte Sage sie irgendwie bedroht, statt ihr einen Fluchtweg aus der zweifellos belastenden Situation anzubieten. Die ständigen Fragen nach dem Zustand ihrer Schwiegermutter, die wiederholte Erinnerung an deren geringe Überlebenschancen mussten die zarte Frau unter starken Druck setzen. „O nein – ich bleibe lieber hier, aber wenn ich dich störe …“

„Mach dich nicht lächerlich!“, erwiderte Sage und schnitt eine Grimasse. „Haus Cottingdean ist eher dein Heim als meines. Ich müsste fragen, ob ich hierbleiben darf. Bis zu Mutters Genesung würde ich gern bei euch wohnen. Bevor du dich entscheidest, will ich dich warnen. Meine Kunden werden ziemlich oft hier anrufen, und ich müsste mir ein Arbeitszimmer einrichten. Für ein paar Tage kann ich mir natürlich freinehmen, aber …“

„Aber falls Liz sich tatsächlich erholen sollte, wird es lange dauern“, vollendete Faye tonlos den Satz, und Sage nickte.

„Darüber habe ich heute Morgen nachgedacht. Als wir erfuhren, dass sie wenigstens noch lebt, waren wir so erleichtert, dass wir nicht bedachten, welch ein langwieriger Heilungsprozess ihr bevorsteht.“

„Im Grunde meines Herzens war ich nie bereit, die Möglichkeit zu akzeptieren, Liz könnte nicht mehr gesund werden. So lange hat sie mir Halt gegeben …“ Faye seufzte. „Ich wünschte, ich wäre so wie du – unabhängig und tüchtig … Seit Liz’ Unfall ist mir erst so richtig bewusst, wie sehr ich mich immer auf sie verlassen habe.“

Also deshalb ist sie so verzweifelt, dachte Sage. Nun, eins wollte sie sofort klarstellen. „Ich kann dir nicht versprechen, dass Mutter jemals genesen wird. Aber falls das Schlimmste passiert, brauchst du dich nicht um die praktischen Dinge des Lebens zu sorgen. Cottingdean wird immer dein Heim bleiben. Wie ich meine Mutter kenne, war sie so vernünftig, das zu tun, was die meisten Menschen versäumen. Sicher hat sie ein Testament gemacht und Camilla das Haus samt allem Drum und Dran vererbt …“ Sie sah, wie Faye den Mund öffnete, um zu protestieren, und hob abwehrend die Hand. „Nein, glaub bitte nicht, das würde mich stören. Ich bin hier der Eindringling, ich gehöre nicht hierher. Falls du also möchtest, dass ich nach London zurückkehre und dich hier schalten und walten lasse, dann sag es.“

„Das wäre das Letzte, was ich wollte“, entgegnete Faye wahrheitsgemäß. „Ich würde es gar nicht schaffen. Und wenn du behauptest, dies sei nicht dein Heim …“ Ärger rötete ihre Wangen. „Das ist purer Unsinn, und du weißt es auch.“

„So?“, fragte Sage trocken. „Man kann noch nicht absehen, wie lange du mich ertragen musst. Aber gib mir bitte sofort Bescheid, sollten durch meine Anwesenheit irgendwelche Probleme auftauchen. Ich bin nicht besonders taktvoll, und subtile Hinweise auf Unannehmlichkeiten verstehe ich nicht. Wenn ich also für irgendwas verantwortlich bin, das dir missfällt, sag’s mir offen und ehrlich.“

„Ich glaube, darauf sollte Jenny dich aufmerksam machen.“ Faye lächelte. „Eigentlich ist sie es, die hier den Haushalt führt.“

Sage hatte sich bereits abgewandt, um zum sonnigen Frühstückszimmer zu gehen. Doch dann blieb sie stehen, als ihre Schwägerin zögernd hinzufügte: „Wird es Alexi nichts ausmachen, wenn du hier wohnst?“

„Das spielt keine Rolle mehr“, erwiderte Sage leichthin. „Falls er anruft und dich ärgert, leg einfach auf. Heute Morgen besuche ich Mutter im Krankenhaus, dann rufe ich in meinem Büro an. Ich muss einige Arrangements treffen, damit man mir die Post nach Cottingdean schickt und die Anrufe hierher weiterleitet. Möchtest du mich mit Camilla in die Klinik begleiten oder Mutter lieber allein besuchen – nachdem der Doktor gesagt hat, man kann sie jederzeit sehen?“

„Nein, wir kommen mit dir, wenn du einverstanden bist …“

Sie betraten das Frühstückszimmer, das in sanften Gelb- und Blautönen eingerichtet war. Die Fenster gingen nach Süden hinaus. Jennys Mann arbeitete bereits im Garten.

Eine Glastür führte zu einer kleinen Terrasse, eine Treppe zu einem Weg hinab, den gestutzte Eibenhecken säumten. An seinem Ende erhob sich eine Pan-Statue.

Weder die Hecken noch die Statue hatten existiert, als Liz nach Cottingdean gezogen war, nur wild wuchernde Unkrautmassen. Wie fest musste sie an die Zukunft geglaubt haben, um ein Chaos in grüne Vollkommenheit zu verwandeln? Und was hatte sie zu diesem Glauben veranlasst? Das Haus war beinahe eine Ruine gewesen. Für die Renovierung hatte das nötige Geld gefehlt, von einem so eleganten, nutzlosen Park ganz zu schweigen. Der Ehemann war Invalide, ein Baby unterwegs. Keine Familie, keine hilfreichen Freunde … Und doch hatte sie schon während des ersten Sommers in Cottingdean die Neugestaltung des Gartens geplant, trotz der Gewissheit, dass die Verwirklichung ihres Vorhabens viele Jahre dauern würde.

Warum? Früher hatte Sage die Visionen ihrer Mutter einem hartnäckigen Stolz zugeschrieben, der Weigerung, sich irgendwelche Steine in den Weg legen zu lassen. Jetzt sah sie Liz’ Handlungsweise etwas anders – als impulsiven, verzweifelten Kampf gegen eine so gewaltige, erdrückende Bürde, dass man sich dagegen auflehnen musste, um nicht vernichtet zu werden.

„Bist du okay?“ Besorgt berührte Faye den Arm ihrer Schwägerin.

Sage wusste nichts von dem Kummer, der ihre Augen umschattete. „Ich dachte nur an Mutters Garten. Wie um alles in der Welt konnte sie glauben, ihr Traum würde sich jemals erfüllen?“

Das schien Faye nicht zu verstehen. Wie sollte sie auch? Noch hatte sie die Tagebücher nicht gelesen, und dummerweise widerstrebte es Sage, sie dazu aufzufordern, bevor … Wovor? Dieses Gefühl, die Mutter schützen zu müssen, war lächerlich. Schließlich wünschte Liz, dass alle ihre Angehörigen lasen, was sie geschrieben hatte.

„Da ist Camilla.“ Faye unterbrach Sages düstere Gedanken, wandte sich zu ihrer Tochter, die von der Terrasse her ins Zimmer rannte, und tadelte sanft: „Darling, du solltest erst nach oben gehen und dich umziehen, ehe du mit uns isst. Sage will sicher nicht neben einem Mädchen frühstücken, das nach Pferden riecht …“

„Gran hat das nie gestört“, stieß Camilla heftig hervor, als wollte sie ihre Tante zu einem Widerspruch herausfordern.

Sage hatte sich immer gut mit Davids Kind verstanden, aber nun entdeckte sie in den Augen ihrer Nichte eine gewisse Unsicherheit, sogar Ablehnung. Weil Sage den Platz ihrer Mutter einnahm. Weil Camilla von dem lieblosen Verhältnis zwischen ihrer Tante und ihrer Großmutter wusste und der ersteren um der letzteren willen grollte? Sie war ein so loyaler Mensch, so gefühlvoll.

„Mich stört es auch nicht“, erklärte Sage in beiläufigem Ton. „Hat dir das Reiten Spaß gemacht? Ich war ganz grün vor Neid, als Jenny mir erzählte, du seist zum Stall gegangen.“ Sie setzte sich – nicht auf den angestammten Stuhl der Mutter, von wo man die schönste Aussicht auf den Garten genoss. Camillas prüfender Blick entging ihr nicht, als sie sich an Faye wandte. „Du solltest Mutters Job übernehmen und den Kaffee eingießen. Ich hab das nie hingekriegt, ohne zu kleckern.“

„Gran sagte mir, früher hätten die Frauen ihre künftigen Schwiegertöchter getestet, indem sie ihnen auftrugen, den Tee einzuschenken“, bemerkte Camilla, und Sage lachte.

„Also deshalb bin ich immer noch ledig. Ich hab mich schon gewundert.“

Die anderen stimmten in das Gelächter ein, und die Atmosphäre lockerte sich ein wenig. Sage überließ es ihrer Schwägerin, Camilla mitzuteilen, sie alle würden gemeinsam die Klinik besuchen. Jenny kam mit einem Karton ins Zimmer, der mehrere in Zeitungspapier gewickelte Gegenstände enthielt – offenbar das Sèvres-Geschirr. „Ich hab auch ihren Lieblingstee dazugepackt, Russian Caravan, und diese Biskuits, die sie so gern isst.“

„Ist das für Gran?“, fragte Camilla neugierig.

Jenny nickte. „Deine Tante meinte, Liz würde sich freuen, wenn sie im Krankenhaus ihr Lieblingsgeschirr benutzen könnte, und bat mich, es einzupacken.“

„O ja, Gran liebt das Sèvres-Porzellan. Sie sagte immer – sie sagt …“ Camilla unterbrach sich und warf einen angstvollen Blick auf ihre Mutter. „Sie sagt, aus diesen Tassen würde der Tee besonders gut schmecken.“

„Nun, es wird eine ganze Weile dauern, bis sie es wirklich verwenden kann“, warnte Sage ihre Nichte, ohne die Worte hinzuzufügen, an die sie alle dachten. Wenn überhaupt jemals …

„Sage möchte, dass wir bald aufbrechen“, informierte Faye ihre Tochter. „Heute Abend vertritt sie deine Großmutter bei der Versammlung des Komitees, und vorher muss sie Liz’ Unterlagen studieren. Also zieh dich sofort um, nachdem du gefrühstückt hast.“

„Ich glaube, ab morgen kannst du wieder zur Schule gehen“, sagte Sage in ruhigem, aber entschiedenem Ton.

Nach ihrer Meinung befragt, hatte Camilla es abgelehnt, ein Internat zu besuchen. Stattdessen ging sie in eine sehr gute Tagesschule in der Nähe von Cottingdean. Jetzt war sie in der letzten Klasse, mit guten Aussichten, in Oxford aufgenommen zu werden, wenn sie hart arbeitete. Das entsprach den Wünschen der Großmutter, wie Sage annahm. „Ich weiß, du sorgst dich um deine Gran“, fuhr sie rasch fort, ehe ihre Nichte protestieren konnte. „Aber sei doch ehrlich mit dir selbst – sie würde es missbilligen, wenn du die Schule schwänzt. Sie ist doch so stolz auf dich. Jedes Mal, wenn wir uns sehen, betont sie, wie sehr sie sich auf dein Studium in Oxford freut. Wenn du deine Schulpflichten vernachlässigen würdest, wäre sie sicher sehr traurig. Und keine Bange. Du kannst sie oft besuchen, auch wenn ich dich selber nach London fahren müsste.“

„Wenn sie bloß in unserer Nähe wäre! Warum bringt man sie nicht nach Bristol oder Bath?“

„Im jetzigen Stadium wäre das unmöglich.“ Tröstend setzte Sage hinzu: „Sie ist in den besten Händen. St. Giles gehört zu den modernsten Kliniken in diesem Land. Vielleicht später, wenn sie sich einigermaßen erholt hat …“

Sie überlegte, ob sie ihre Nichte auf den Anblick vorbereiten sollte, der sie in der Intensivstation erwartete, auf das bleiche Gesicht, den schwachen Körper zwischen all den Geräten und Schläuchen. Doch sie beschloss, diese Dinge nicht zu erwähnen. Camilla gehörte einer Generation an, für die komplizierte Apparate selbstverständlich waren. Der Aufenthalt in der Intensivstation würde sie nicht so schockieren wie ihre Tante und ihr sogar die Gewissheit geben, dass die fortschrittlichste Technologie angewandt wurde, um ein Leben zu retten, das am seidenen Faden hing.

Während der Fahrt durch den dichten Londoner Verkehr fragte Camilla unvermittelt: „Wie kommst du mit den Tagebüchern voran? Das wollte ich dich schon gestern Abend fragen, aber dann ging ich ins Bett, bevor du fertig warst.“

„Ich habe noch nicht einmal das erste Buch zu Ende gelesen“, log Sage, die eine Ausrede brauchte, weil sie das Tagebuch nicht wie vereinbart an ihre Schwägerin weitergegeben hatte.

„Was steht denn drin? Irgendwas Interessantes?“

Sage wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihre Finger umklammerten das Lenkrad etwas fester, während sie nach Worten suchte. Ohne es zu wissen, kam Faye ihr zu Hilfe, indem sie ihrer Tochter erklärte: „Liz möchte, dass wir die Tagebücher getrennt lesen und uns eine individuelle Meinung bilden.“

„Ja, das stimmt“, bestätigte Sage.

„Wirst du heute Abend mit dem ersten Buch fertig?“, drängte Camilla. Offenbar spürte sie Sages Widerstreben, über dieses Thema zu sprechen. Und sie ahnte wohl auch, dass die Tante etwas verschwieg.

Am letzten Abend war Sage versucht gewesen, noch einmal nach unten zu gehen und weiterzulesen. Was den heutigen Abend betraf – sie wusste nicht, wie lange die Versammlung dauern würde. Sicher erwartete man von ihr, dass sie sorgfältig alle Einzelheiten notieren und später ihrer Mutter einen genauen Bericht vorlegen würde. Seltsam – jetzt, wo Liz unfähig war, das Verhalten ihrer Tochter zu beeinflussen, zwang sich Sage selbst, so zu handeln, wie es ihrer Mutter richtig erscheinen würde. Die Details bezüglich ihrer eigenen Arbeit behielt sie stets im Kopf. Niemals machte sie sich Notizen, zum Leidwesen ihrer Sekretärin. Nie ging sie methodisch vor, und es bereitete ihr sogar Vergnügen, von einem Schema abzuweichen und sich in scheinbar unkontrollierte Aktivitäten zu stürzen.

Und nun plante sie auf höchst penible Weise, in die geordneten Fußstapfen der Mutter zu treten, als würde sie damit eine heilige Mission erfüllen, Liz’ schwach flackernder Lebensflamme neue Kraft spenden.

Lächerlich – sentimentaler Unsinn … Und doch war der innere Zwang so übermächtig, dass sie ihm gehorchen musste.

4. KAPITEL

„Damit habe ich nicht gerechnet. Es kam mir fast so vor, als wäre Gran gar nicht da gewesen.“ Camilla erschauerte trotz der Zentralheizung im Krankenhaus.

„Sie steht unter der Einwirkung starker Medikamente“, erklärte Sage sanft. „Die Schwester sagte, man müsse dem Körper die Chance geben, den Schock des Unfalls und der Verletzungen zu überwinden.“

Camilla schluckte, dann fragte sie flehend wie ein kleines Kind: „Sie wird doch nicht sterben? Das darf sie nicht …“

„Darauf kann ich nicht antworten.“ Sage bemerkte die Hysterie, die in der Stimme ihrer Nichte mitschwang, und umarmte sie. „Nur eins weiß ich – genau wie du. Wenn jemand einen so schlimmen Unfall zu überleben vermag, dann ist es deine Großmutter.“ Nun bezweifelte sie, ob es klug gewesen war, das Mädchen in die Intensivstation mitzunehmen. Sie hatte das Mitleid in den Augen der Krankenschwester gesehen, als Camilla vor dem Anblick der Patientin inmitten der medizinischen Geräte, der reglosen Gestalt und der geschlossenen Augen zurückgeschreckt war. Allem Anschein nach ein hoffnungsloser Fall …

„Bitte, gehen wir – ich halte es nicht mehr aus“, flüsterte Camilla.

„Zuerst muss ich noch mit dem Arzt reden“, erwiderte Sage. „Warte doch im Auto, wenn dir das lieber ist. Vielleicht begleitet dich deine Mutter?“

Sie wandte sich zu Faye, die noch unglücklicher wirkte als das Mädchen und entschieden den Kopf schüttelte. „Nein, ich bleibe bei dir.“

Sage gab Camilla die Wagenschlüssel und beobachtete, wie ihre Nichte mit unsicheren Schritten den Korridor hinabging, dann biss sie sich auf die Unterlippe.

„Ich wusste, dass es ihr schlecht geht“, würgte Faye hervor. „Aber ich hätte nicht gedacht … O Gott, der Gedanke, sie zu verlieren, ist unerträglich. Ich glaubte, das Schlimmste wäre schon überstanden und die Genesung nur eine Frage der Zeit, aber jetzt … Ach, ich bin so selbstsüchtig! Sie ist deine Mutter, nicht meine.“

„Und deshalb muss ich sie inniger lieben?“ Sage lächelte grimmig. „Wie naiv du manchmal bist! Du kennst mein Verhältnis zu Mutter. Wir sind nie miteinander ausgekommen. Schon als Kind sehnte ich mich nach ihrer Liebe, bis ich begriff, dass ich niemals die Tochter sein würde, die sie sich wünschte – oder ein zweiter David. Das nehme ich ihr nicht übel. Im Gegensatz zu ihrem Sohn habe ich sie bitter enttäuscht. Wahrscheinlich kannst du das nicht nachempfinden. Die ganze Welt vergöttert meine Mutter und respektiert sie …“

„Ich verstehe nicht …“, flüsterte Faye fast unhörbar.

Erstaunt bemerkte Sage die unverhohlene Verzweiflung in den Augen der Schwägerin und wandte sich rasch ab, mit dem Gefühl, die Tür zu einem geheimen Zimmer geöffnet zu haben. Daraus zog sie sich mit der instinktiven Hast eines Menschen zurück, der es hasste, in die Privatsphäre anderer einzudringen, weil er großen Wert auf seine eigene legte.

„Sage …“

Die drängende Intensität, mit der Faye den Namen aussprach, veranlasste Sage, sie wieder anzuschauen. Sie wollte fragen, was denn los sei, aber in diesem Moment kam Dr. Alaric Ferguson auf sie zu, der Spezialist, den sie bereits kannte.

Er sah erschöpfter aus denn je. Geistesabwesend starrte er sie an und schien sie erst nach einigen Sekunden wiederzuerkennen. „Miss Danvers, sicher hat Ihnen die Schwester erklärt, dass wir Ihre Mutter mit Sedativa ruhigstellen mussten, um die Folgen des Schocks zu mildern. Solange in dieser Hinsicht keine Besserung eintritt, können wir nichts tun.“

„Was für Verletzungen hat sie eigentlich erlitten?“, erkundigte sich Sage.

Er zögerte, musterte sie nachdenklich, dann erläuterte er ohne Umschweife: „Wir glauben, dass ihr Gehirn sehr stark in Mitleidenschaft gezogen wurde – in welchem Ausmaß, lässt sich noch nicht feststellen. Falls Sie den Ernst der Lage nicht verstehen, sollte ich vielleicht erklären …“ Schonungslos betonte er, wie gering die Chancen auf eine völlige Genesung seien.

Sage sog krampfhaft ihre bebenden Lippen zwischen die Zähne. Hinter sich hörte sie Faye leise aufschreien. Sofort drehte sie sich um und wollte nach ihr greifen. Aber der Arzt war schneller und stützte ihre Schwägerin am Arm.

Er entsprach nicht dem Männertyp, der erotische Anziehungskraft auf Sage ausübte. Sicher, er war groß und wahrscheinlich recht gut gebaut, wenn man von den müde herabhängenden Schultern absah. Der blassen Haut merkte man den Mangel an frischer Luft an. Auch die blutunterlaufenen Augen und die unordentlichen, schlecht geschnittenen dunkelroten Haare trugen nicht gerade zu einem erfreulichen Erscheinungsbild bei. Aber er strahlte männliche Kraft und Verlässlichkeit aus. Und deshalb blinzelte sie verblüfft, als Faye vor ihm zurückzuckte, kreidebleich vor Angst, das Gesicht vor Entsetzen verzerrt.

Wie Sage wusste, machte ihre Schwägerin um alle Männer einen weiten Bogen. Aber so hatte sie Faye noch nie reagieren sehen. Sie war zu bestürzt, um zu sprechen oder auf andere Art zu intervenieren. Zunächst schaute der Arzt genauso schockiert drein, wie sie sich fühlte, dann wirkte er eher neugierig und besorgt, während er hastig zurücktrat. „Alles in Ordnung“, versicherte er mit ruhiger Stimme. „Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe.“ Mit diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt und ging davon.

Im drückenden Schweigen, das nun folgte, rang Faye nach Fassung und hörbar nach Atem. Sage wagte nicht, sie zu berühren oder anzureden. Die Augen ihrer Schwägerin funkelten, fast wie die Augen eines gezähmten wilden Tieres, dessen Urinstinkte hervorbrechen, von Todesängsten geweckt. Beinahe gewann Sage den Eindruck, sie könnte gebissen werden, wenn sie eine Hand nach Faye ausstreckte.

Die sonst so blassen Wangen glühten, ein heftiges Beben erfasste Fayes ganzen Körper. Langsam richtete sie ihren Blick auf Sage, der Glanz in den Augen erlosch, als der Zorn tiefer Verzweiflung wich.

Die zitternden Beine trugen sie kaum noch. Vorsichtig nahm Sage sie beim Arm und führte sie zu einer Bank. Nachdem sie sich gesetzt hatten, brannte ihr eine Frage auf der Zunge, blieb aber unausgesprochen, denn sie spürte, dass sie keine Antwort bekommen würde.

„Es tut mir so leid – furchtbar leid“, wisperte Faye. „Sicher lag es nur am Schock …“

An der Information über Liz’ schlechte Überlebenschancen oder an der Berührung des Arztes? „Er hätte uns das etwas behutsamer beibringen sollen“, seufzte Sage. „Nur gut, dass Camilla nicht mehr da war.“

Der kummervolle und zugleich dankbare Blick, den Faye ihr zuwarf, erinnerte Sage schmerzlich an ihre eigene Schwäche. Ihre Mutter wäre in dieser Situation nicht so schnell über den Zwischenfall hinweggegangen und hätte darauf bestanden, die Ursache von Fayes seltsamem Verhalten zu erfahren, und erkannt, dass es die Schwiegertochter zwar quälen, aber letzten Endes erleichtern würde, darüber zu sprechen.

Nun, ich bin nicht wie meine Mutter, dachte Sage. Niemals ermutigte sie irgendwen, sich ihr anzuvertrauen und Halt bei ihr zu finden. In ihrer Eigensucht wollte sie nicht mit den Problemen anderer Leute belastet werden. Und so war sie fast froh, weil Faye die Gründe ihrer Reaktion verschwieg.

„Ich werde mein Büro erst morgen anrufen“, verkündete Sage. „Dieser Besuch bei Mutter war ein Trauma für uns alle. Wir können ihr nicht helfen, indem wir hierbleiben – so schuldig wir uns auch fühlen mögen, wenn wir sie verlassen. Die Schwester hat versprochen, uns anzurufen, sobald eine Veränderung in Mutters Zustand eintritt …“

„Du meinst, wenn sie stirbt“, unterbrach Faye sie bitter. „Ist es dir nicht aufgefallen? Sogar hier in diesem Krankenhaus, wo alle an den Tod gewöhnt sind, haben sie es vermieden, das Wort ‚Sterben‘ auszusprechen. Man sagte uns nur, es stehe nicht gut um Liz. Aber sterben? Niemals!“

Hilflos trommelte Faye mit einer Faust auf die Armstütze der Bank, und Sage wünschte, sie könnte ihre Emotionen auch so leicht zum Ausdruck bringen. Auch sie hatte Angst, aber in anderer Form als die Schwägerin. Ich fürchte mich nur davor, die Bürden übernehmen zu müssen, die Mutter auf den Schultern getragen hat, dachte sie voller Selbstverachtung, Schuhe anzuziehen, die nicht für mich gemacht wurden, die mich verkrüppeln und behindern würden …

Und trotzdem geschah es bereits – Faye wandte sich Halt suchend zu ihr. Wann wird sie sich ganz und gar auf mich stützen – so wie früher auf David und Mutter, überlegte Sage. Entsetzt über diese egoistischen Gedanken, sprang sie hoch, umfasste Fayes Arm und zog sie sanft auf die Beine. „Camilla wartet.“

Sie hatte Faye immer gemocht, allerdings mit jener Art von Zuneigung, die man einem netten Haustier entgegenbringt. Nun merkte sie erschüttert, dass sie die Schwägerin beinahe hasste, so als hätte diese ihr eine Falle gestellt.

Faye war kein Klettentyp im eigentlichen Sinn des Wortes. Im Gegenteil, sie tat ihr Bestes, um sich nicht an andere Leute zu klammern. Und doch spürte man stets ihre verzweifelte Sehnsucht nach der Kraft, der Gesellschaft und Fürsorge aller Menschen in ihrer Umgebung. Warum sie nicht wieder geheiratet hatte, blieb Sage ein Rätsel. Wo sie doch so offensichtlich die Stärke und Liebe eines Ehemanns brauchte, eines zweiten David. Aber Männer wie David waren schwer zu finden, auch wenn man danach suchte, und das tat Faye nicht. Sie zog es vor, sich gegen den Rest der Welt abzuschirmen.

So durfte es nicht weitergehen. Das erkannte Faye, als sie mit Sage dem Korridor folgte. So hart hatte sie gekämpft, um ihr Ziel zu erreichen, und vorhin beinahe alles zerstört. Seit sie erwachsen war, bemühte sie sich darum. Und eine ausgestreckte Männerhand hatte sie fast veranlasst, alle bisherigen Errungenschaften wegzuwerfen.

Warum war sie so dumm und unvorsichtig gewesen? Warum hatte sie so übertrieben reagiert? Natürlich hing es mit der Angst um Liz zusammen, aber das war keine Entschuldigung.

Nur gut, dass Camilla das nicht miterlebt hatte … Krampfhaft schluckte Faye und warf einen Seitenblick auf Sage.

Ihre Schwägerin war viel zu scharfsinnig, um nicht zu bemerken, dass mehr hinter dem Zwischenfall stecken musste als die schrecklichen Eröffnungen des Arztes. Zum Glück stellte sie keine Fragen, so wie es andere vermutlich getan hätten. Nach all den Jahren müsste ich mich wirklich besser unter Kontrolle haben, dachte Faye. Wie konnte ich einen offensichtlich ungefährlichen, wohlmeinenden Mann so behandeln? Werde ich es schaffen, ihm jemals wieder gegenüberzutreten?

Sie hatte sein Erschrecken, seine Besorgnis und Neugier bemerkt. Kein Wunder … Inständig wünschte sie, er wäre nicht Liz’ Arzt. Dann müsste sie ihn nie wiedersehen. Durfte sie sich weigern, ihre Schwiegermutter im Krankenhaus zu besuchen? Unmöglich … Sie durfte Sage nicht zumuten, diese Tortur allein zu ertragen, und Liz auch nicht mit der kalten Leben spendenden Maschinerie allein lassen – Liz, der sie so viel schuldete. Wie konnte sie ihre eigenen Bedürfnisse vor die der beiden Frauen stellen?

Hoffentlich würde der Doktor annehmen, nur die Erschütterung über Liz’ Zustand hat mein idiotisches Benehmen verursacht, sagte sie sich. Ein Psychiater würde natürlich sofort erkennen, was los ist. Aber Liz’ Arzt ist kein Psychiater, Gott sei Dank. Der hat keinen Blick für so was. Wie albern von mir, diese Panik zu empfinden …

Aber niemand konnte sie zwingen, über die Vergangenheit zu reden, das alles in Gedanken noch einmal zu erleben. Sie sehnte sich nach Cottingdean zurück, nach dem Haus, wo sie sich so sicher und beschützt fühlte wie in einem mütterlichen Schoß. Als sie mit Sage das Auto erreichte, spürte sie ein heftiges Seitenstechen wie nach einem langen, schnellen Lauf. Doch es rührte von ihrer Anspannung her, von schmerzhaft verkrampften Muskeln.

Manchmal glaubte Faye, sie wäre ihr Leben lang auf der Flucht gewesen. Nur bei David hatte sie sich nicht bedroht gefühlt – und bei Liz, die alle ihre Geheimnisse kannte und sie davor bewahrte.

Liz … Natürlich, ich sollte an Liz denken, nicht an mich selbst, und um ihre Genesung beten, ermahnte sie sich. Nur ihr zuliebe und nicht, weil ich sie so dringend brauche. Allmächtiger, gib mir Kraft, flehte sie stumm, während sie in den Wagen stieg. Gib mir die Kraft, die ich benötige – nicht für mich selbst, sondern für Liz und Camilla. Vielleicht auch für Sage, fügte sie in Gedanken hinzu, warf einen Blick auf die Schwägerin und fragte sich, ob diese ihre eigene Willenskraft erkannte, die zu Liz’ besonderen Gaben zählte. Wie so manche Talente ein zweischneidiges Schwert waren, das zum Wohl anderer geschliffen oder bedrohlich geschärft werden konnte, um schwächere Mitmenschen zu treffen …

Dem Himmel sei Dank für Sage … Faye schloss die Augen, lehnte sich in die Polsterung zurück, seelisch und körperlich erschöpft. Sie sehnte sich nur noch nach der Flucht, nach ihrem Frieden, und wusste, welch geringe Chancen sie hatte, beides zu erlangen.

„Hast du Liz’ Unterlagen durchgesehen?“ Sie tranken Tee, von Jenny serviert, die streng dastand, bis die Tassen gefüllt waren, und den Protest ignorierte, sie seien nicht hungrig. Liz’ Gewohnheiten beherrschten auch in ihrer Abwesenheit den Haushalt. Vielleicht klammern wir uns alle auf verschiedene Art an diese Gewohnheiten, dachte Sage, im instinktiven Glauben, wenn sie sie beibehalten würden, könnte Mutter am Leben bleiben.

„Ja“, beantwortete sie Camillas Frage und runzelte die Stirn. Sie hatte die Unterlagen gelesen, aber keinen Hinweis darauf gefunden, wie ihre Mutter den Bau der Straße verhindern wollte.

„Du zweifelst am Erfolg der Bürgerinitiative“, erriet Camilla scharfsinnig.

„Das kann ich jetzt noch nicht sagen, aber es sieht nicht gut aus. Wenn die Straße in einer archäologisch oder landschaftlich interessanten Gegend gebaut würde, hätten wir stichhaltige Argumente vorzubringen. Doch soweit ich es beurteile …“

„Gran würde einen Weg finden“, behauptete Camilla kampflustig. „Und außerdem – im Grunde ist es dir egal, was? Haus Cottingdean bedeutet dir nichts.“

„Camilla!“, tadelte Faye. „Das ist unfair, und es stimmt auch gar nicht.“

„Sie hat recht.“ Sage bemühte sich, mit möglichst ruhiger Stimme zu sprechen, und stellte ihre Teetasse ab. „Ich empfinde nicht so viel für dieses Haus wie ihr. Es ist sehr schön, aber eben nur ein Haus – keine heilige Hinterlassenschaft. Doch es geht nicht nur um euer Heim, sondern auch um das Dorf, um die Existenz der Leute. Ohne die Spinnerei würden sie ihre Arbeitsplätze verlieren. Dann dürfte das Dorf bald aussterben. Trotzdem werden die Planer in Whitehall die Bedürfnisse von ein paar Dorfbewohnern nicht über die Interessen der Autoindustrie stellen.“

„Gran hat ihnen einen anderen Bauplatz angeboten, hinter den Rieselwiesen.“ „Ja, auf sumpfigem Land, das erst entwässert werden müsste. Das würde Unsummen verschlingen.“

„Ich verstehe nicht, wieso du zu der Versammlung gehst, wo es doch offensichtlich ist, dass dich das alles nicht berührt …“

„Jetzt reicht es, Camilla“, unterbrach Faye ihre Tochter.

„Doch, es berührt mich“, widersprach Sage. „Aber ich weiß nicht, wie Mutter die Behörden umstimmen wollte. Den Unterlagen ist nichts dergleichen zu entnehmen. Sicher hat sie irgendeinen Plan, und den kennt leider nur sie selbst. Hoffentlich gelingt es mir, die Bauarbeiten hinauszuzögern – bis ein Wunder geschieht und Mutter rechtzeitig gesund wird, um alles Weitere zu organisieren, ehe es zu spät ist.“

Die anderen schwiegen. Nur zu deutlich erkannten sie, dass tatsächlich ein Wunder erforderlich war.

Sage freute sich keineswegs auf die Versammlung. Das gestand sie sich ein, als sie später nach oben ging. Sie war es nicht gewöhnt, listige Tricks anzuwenden, und viel zu taktlos und direkt. Die subtile Überredungskunst der Mutter fehlte ihr. Im Umgang mit Behörden besaß sie keine Erfahrungen, und es reizte sie auch nicht, welche zu sammeln. David hatte einmal versucht, ihr das Schachspiel beizubringen, und ihre Ungeduld, ihren Mangel an Logik sanft getadelt, ihre Unfähigkeit, geradlinig zu denken, kühl und mathematisch Pläne zu schmieden. Nein, Verhandlungsgeschick gehörte nicht zu ihren Vorzügen, aber an diesem Abend musste sie es sich irgendwie aneignen und der Mutter nacheifern.

Während sie den Schrank öffnete, erkannte sie mit ironischer Belustigung, wie sehr sie sich bereits veränderte – in ihren Ansichten, in ihrer Haltung, sogar in der Kleidung. An diesem Abend entschied sie sich gegen den nonchalanten, lässigen Stil der Sachen, die sie oft impulsiv kaufte, von Farben, weichen Stoffen oder besonderen Schnitten fasziniert, um dann daheim festzustellen, dass ihre übrige Garderobe nicht dazu passte. Für sorgfältig geplante Kleidung, die ein bestimmtes Image erzeugte, brachte sie nicht die nötige Geduld auf.

Aber an diesem Abend brauchte sie den Schutzschild eines Images. Seufzend inspizierte sie den Inhalt des Schranks. Am besten eigneten sich eine cremefarbene Seidenbluse und ein kaffeebrauner Rock aus schönem Wollcrêpe. Vielleicht war er für den Geschmack ihrer Mutter etwas zu eng, aber das würde der Konferenztisch verbergen. Eine elegante Strickjacke im Chanelstil, in derselben Farbe wie die Bluse, wird das Outfit etwas offizieller gestalten, dachte Sage, nahm sie vom Bügel und sah auf ihre Uhr. Sieben. Sie musste aufbrechen. Flüchtig erinnerte sie sich an die Tagebücher, die sie während des ganzen Tages absichtlich aus ihren Gedanken verbannt hatte.

Einerseits konnte sie es kaum erwarten, die Lektüre fortzusetzen, mehr über diese Fremde zu erfahren, die ihre Mutter war. Und andererseits fürchtete sie sich. Wovor? Vor der Entdeckung, dass die Mutter menschlich und fehlbar war und sie selbst in einem solchen Fall ihren Zorn, ihre Abneigung nicht länger aufrechterhalten konnte? Warum wollte sie sich an diese Gefühle klammern? Vielleicht, weil sie ihre Weigerung rechtfertigten, der Mutter Zutritt zu ihrem Leben zu gewähren, den Entschluss, alle emotionalen Bande zu zerreißen, Liz zu bestrafen. Aber wofür? Weil die Mutter sie nicht so liebte, wie sie David geliebt hatte? Weil sie die Schuld an Sages Trennung von Scott trug?

Oder bin ich immer noch ein wütendes Kind, das an die Tür der Mutter klopft, um Aufmerksamkeit und ausschließliche Liebe zu fordern? fragte sich Sage.

Ausschließlich … Sie runzelte die Stirn und betrachtete ihr Spiegelbild. Hatte sie gewünscht, die Mutter möge nur sie allein lieben? Sicher nicht. Dass Liebe geteilt werden musste, hatte sie immer gewusst. Oder nicht? Hatte sie es im tiefsten Innern abgelehnt, die Mutterliebe mit jemandem zu teilen, Liz das Recht aberkannt, andere zu lieben? So wie sie Scott nicht zugestanden hatte, neben ihr auch seinen Vater zu lieben, ihm Loyalität zu schulden, ihm in größerem Maße verpflichtet zu sein als ihr?

Darüber hatten sie erbittert gestritten. Scott sagte, ehe er sie heiraten könne, müsse er nach Australien zurückkehren und die Situation seinem Vater erklären. Er wollte sie mitnehmen. Aber sie weigerte sich, ihn zu begleiten. Warum sollte sie sich von seinem Vater inspizieren lassen, wo sie doch beide wussten, dass er sie ablehnen würde? Niemand konnte von ihnen verlangen, in Australien zu leben. Sie brauchten weder seinen Vater noch ihre Mutter.

„Verstehst du denn nicht?“, fragte Scott. „Die beiden brauchen uns.“

Da verlor sie die Beherrschung. Der Streit wurde immer heftiger. Als Scott das Tempo des Autos drosselte, packte sie den Türgriff. Sicher hatte sie nicht wirklich beabsichtigt, hinauszuspringen. Aber in der Hitze des Gefechts … Ihr unverzeihliches heißes Temperament hatte sie zu weit getrieben.

Niemals würde sie wissen, was sie getan hätte. Denn Scott hatte seine Hand zur Beifahrertür ausgestreckt und den entgegenkommenden Wagen übersehen.

Ironischerweise war es sein Arm gewesen, der sie vor schlimmeren Verletzungen bewahrt und ihn daran gehindert hatte, sich selbst vor größerem Schaden zu bewahren. Die ganze Wucht des Zusammenstoßes hatte ihn getroffen und ihn zu einem Schicksal verdammt, das eigentlich ihres gewesen wäre.

O Gott, sie durfte nicht daran denken. Nicht jetzt. Hatte sie nicht genug gelitten in ihren Gewissensqualen? Im Erdgeschoss schlug die Großvateruhr. Viertel nach sieben. Dankbar verdrängte Sage die schmerzlichen Erinnerungen und eilte hinunter.

„Wir setzen Sie neben den Mann von der Straßenbaufirma“, erklärte Anne Henderson, nachdem sie Sage begrüßt hatte. „Ich habe vergessen, wie er heißt. Der kleine Sohn unserer Sekretärin musste ins Krankenhaus gebracht werden. Eine Blinddarmoperation … Ausgerechnet jetzt musste das passieren! Zum Glück kenne ich die Namen der beiden Leute vom Ministerium. Mr Stephen Simmonds und Miss Helen Ordman. Hoffentlich verspäten sie sich nicht. Um Viertel vor acht soll die Sitzung eröffnet werden.“

Der Gemeindesaal, ein Geschenk von Liz Danvers oder eher von der Spinnerei, lag in einem alten Schuppen, der beinahe eingestürzt wäre. Sages Mutter hatte ihn renovieren lassen. Nun wurde er als Treffpunkt, für Flohmärkte und Tanzveranstaltungen benutzt. Die Galerie des Originalgebäudes war erhalten geblieben. Dort pflegte man die Tanzkapelle zu postieren. An diesem Abend blieb sie leer.

Sage blickte sich in dem vertrauten Raum mit der alten Balkendecke um. Wenn ihn ein Fremder betrat, würde er niemals erraten, dass hinter dem traditionellen, mit Lehm beworfenen Flechtwerk der einen Wand eine moderne Küche lag oder dass man ein Drittel des Bodens bühnenförmig anheben konnte, wenn die dörfliche Theatertruppe auftrat. Liz Danvers hatte an alles gedacht. Die Stühle in den wohlgeordneten Sitzreihen waren Spezialanfertigungen, bequem und praktisch.

„Da kommen die ersten Leute“, bemerkte Anne Henderson. „Die Frau des Vikars rief mich an und sagte, ihr Mann würde sich ein bisschen verspäten. Er gehört dem Komitee an. Liz hatte gehofft, der ortsansässige Parlamentsabgeordnete würde erscheinen. Aber bis jetzt haben wir nichts von ihm gehört.“

Die übrigen Komiteemitglieder waren ein Anwalt und ein praktischer Arzt, beide wortgewandt und grimmig entschlossen, den Straßenbau zu verhindern. Die müssen meine Unzulänglichkeiten wettmachen, überlegte Sage, als sie ihr vorgestellt wurden. Sie konnte nur hoffen, eine Art Galionsfigur darzustellen und den Standpunkt ihrer Mutter zu vertreten. Wertvolle Argumente hatte sie nicht beizutragen. Ihre Rolle bestand darin, die Existenz der Kampftruppe zu demonstrieren, ohne selbst am Kampf teilzunehmen.

Der Saal begann sich zu füllen, den Mienen der Leute merkte man an, wie ernst sie die Bedrohung ihres ländlichen Friedens nahmen. Bei der Sitzung würden heftige Gefühle zum Ausdruck kommen. Aber wann hatten Gefühle jemals genügt, um die Logik zu besiegen? Daran lag es wohl, dass Sage aus vielen Kämpfen als Verliererin hervorgegangen war.

Die Aktivitäten bei der Tür nahmen zu, und Anne Henderson entschuldigte sich. „Das muss die Opposition sein. Ich werde mal hingehen und mich vorstellen.“

Sage beobachtete, wie ein Mädchen eintrat, begleitet von einem Mann, eine schlanke, elegante Brünette von Anfang zwanzig, in jenem Stil gekleidet, den Modezeitschriften als Arbeitsgarderobe für die moderne Frau propagierten. Vorausgesetzt, sie konnte sich schlichte, teure Designersachen leisten.

Aber diese junge Frau kam Sage trotz der geschäftsmäßigen Kleidung nicht wie ein Karrieretyp vor, sondern wie ein sinnliches, fast raubtierhaftes Geschöpf, das sich eher für einen Mann als für die Versammlung angezogen hatte. Die schlichte Seidenbluse war scheinbar unabsichtlich so weit aufgeknöpft, dass sie die provozierende Vertiefung zwischen den Brüsten entblößte. Der kurze, gerade geschnittene Flanellrock betonte wohlgeformte Beine. Auch die elegante, einfache Frisur und das dezente Make-up wirkten erotisch.

Eine Frau bemerkte solche Dinge sofort. Männer waren da anders, und Sage fragte sich amüsiert, was an dem ziemlich unscheinbaren, mit Jeans und Windjacke bekleideten Mann dran sein mochte, das die Bemühungen seiner Begleiterin rechtfertigte.

Sie stand auf, schüttelte beiden die Hand und stellte sich vor. Prüfend wurde sie von der jüngeren Frau gemustert und verbarg ihre Belustigung. Von mir hat sie nichts zu befürchten, dachte sie. Ihre Beute interessiert mich absolut nicht.

Der Mann vom Ministerium wollte sich neben sie setzen, aber Anne Henderson bat ihn, diesen Platz dem Aufsichtsratsvorsitzenden von der Straßenbaufirma zu überlassen.

„Ach ja“, flötete das Mädchen, „der wird sich um ein paar Minuten verspäten. Er schlug vor, wir sollten ohne ihn anfangen. Er besucht vorher eine Versammlung, um die Fragen einiger Leute nach den Vorteilen der neuen Straße zu beantworten.“

„Ist das nicht ein bisschen verfrüht?“, wandte Sage in kühlem Ton ein und erwiderte Helen Ordmans abweisenden Blick. „Sie rechnen damit, dass die Straße gebaut wird, und das steht noch keineswegs fest.“

Stephen Simmonds runzelte unbehaglich die Stirn, und Sage genoss die Genugtuung, unschmeichelhafte Röte in die gepuderten Wangen der Brünetten steigen zu sehen. Offenbar gehörte Helen Ordman zu den Frauen, die ihre äußere Erscheinung einsetzten, um ihre von der Natur weniger begünstigten Geschlechtsgenossinnen zu verunsichern und die Männer in hilflose Kapitulation zu treiben.

„Nun, wir sind hergekommen, um über das Projekt zu diskutieren“, mischte sich Stephen Simmonds hastig ein. „Natürlich verstehen wir die Bedenken der Einheimischen, und es ist unsere Aufgabe, ihnen zu versichern, dass man ihre Situation berücksichtigen und dass der Straßenbau ihr tägliches Leben so wenig wie möglich stören wird.“

„Und wenn die Straße fertig ist?“, fragte Sage trocken. „Oder betrachten Sie eine sechsspurige Straße, die das Dorf praktisch in die Hälfte schneiden wird, nicht als Störung? Vielleicht wollen Sie uns eine hübsche Brücke oder eine Unterführung spendieren, damit die eine Hälfte mit der anderen in Kontakt bleiben kann, ohne dass die Dorfbewohner erst nach London und wieder zurückfahren müssen …“

„Wir sollten anfangen“, wisperte Anne Henderson an Sages Seite. „Die Leute werden unruhig.“

Sage eröffnete die Sitzung, stellte die Gäste vor und erteilte dann Anne Henderson das Wort, die mit dem Ziel der Bürgerinitiative wesentlich vertrauter war. Aber nach den wenigen Worten, die sie mit Stephen Simmonds und Helen Ordman gewechselt hatte, wusste auch Sage, was zu erwarten war.

Auf Anne Hendersons einleitende Ansprache folgte eine Erklärung Stephen Simmonds, der die Befürchtungen der Leute zu zerstreuen suchte und die neue Straße als vernünftige, unabdingbare Voraussetzung für die weitere Existenz des Landes hinstellte.

Anne konterte mit eher emotionalen als logischen und analytischen Argumenten, und die Reaktion des Publikums bewies, dass es auf ihrer Seite stand. Danach wurden Fragen gestellt. Zynisch registrierte Sage, wie gut das Drama inszeniert war. Helen Ordman beantwortete alle Fragen der Männer, versprühte ihren ganzen Charme und wich stichhaltigen Gegenargumenten mit einem zauberhaften Lächeln geschickt aus.

Dies ist das erste von mehreren Scharmützeln, die vor der eigentlichen Schlacht stattfinden werden, dachte Sage. Den schriftlichen Unterlagen ihrer Mutter hatte sie entnommen, wie wichtig die Unterstützung eines einflussreichen Politikers wäre. War Liz deshalb in London gewesen? Vor einigen Jahren war ihr vorgeschlagen worden, für das Parlament zu kandidieren, doch das hatte sie abgelehnt, mit der Begründung, für eine politische Karriere fehle ihr die Zeit. Trotzdem besaß sie gute Kontakte zu Regierungskreisen.

Sie schaute zur Tür, als ein dunkelhaariger großer Mann eintrat. Im Gegensatz zu dem Beamten aus dem Ministerium trug er einen korrekten Anzug, aber wie seine kraftvolle Ausstrahlung verriet, war er an körperliche Aktivitäten gewöhnt, nicht an eine Schreibtischtätigkeit.

Das weibliche Interesse, das ihn empfing, war fast greifbar. Nun wusste Sage, warum sich Helen Ordman so viel Mühe mit ihrer äußeren Erscheinung gegeben hatte – für diesen Mann, der jetzt den Kopf hob und nicht sie anschaute, sondern Sage. Er erkannte sie sofort.

Daniel Cavanagh. Der Saal schien sich blitzschnell um sie zu drehen, und sie hielt sich mit zitternden Fingern an der Tischkante fest. Daniel Cavanagh … Wie lange hatte sie sich verboten, an ihn zu denken, sich an seine Existenz zu erinnern?

Gedanken, die sie jahrelang verdrängt hatte, zusammen mit ihren schmerzlichen Schuldgefühlen …

Er hatte sie nur kurz angeschaut, ohne zu zeigen, dass sie sich nicht zum ersten Mal begegneten. Sie hörte, wie Anne ihn vorstellte. Das leise Gespräch, das er dann mit Helen Ordman führte, verstand Sage nicht, nahm aber die sinnliche Herausforderung wahr, die in der Frauenstimme mitschwang. Zu ihrer Verwirrung verspürte sie heftige, völlig überflüssige, unerwünschte und lächerliche Eifersucht.

Warum beneidete sie eine andere Frau um einen Mann, den sie selbst nie gewollt, nicht einmal gemocht und skrupellos benutzt hatte, in Zorn, Bitterkeit und Selbstsucht? Und seine gnadenlose Gegenwehr hatte bewirkt, dass sie jenen Lebensabschnitt am liebsten vergessen würde.

So viele Fehler in ihrer Vergangenheit … Aber Daniel Cavanagh war mehr gewesen als nur ein Fehler – ein beinahe verhängnisvoller Irrtum, der ihre Unfähigkeit gezeigt hatte, ihre eigene Person einzuschätzen, ein Wendepunkt ihres Lebens.

Er nahm neben ihr Platz, lässig und unbefangen, ein Mann, der mit sich selbst und seinen Leistungen vollauf zufrieden war. Ohne den mildernden Einfluss der Jugend traten die Kanten seines Gesichts stärker hervor. Er war siebenunddreißig, drei Jahre älter als Sage.

Höflicher Applaus unterbrach ihre Gedanken. Sie beobachtete, wie er aufstand. Fast ärgerlich bemerkte sie, dass er einen maßgeschneiderten Anzug trug, der die breiten Schultern und die etwa einsfünfundachtzig große Figur gut zur Geltung brachte. Krampfhaft versuchte sie sich auf seine Worte zu konzentrieren, hörte aber nur den Klang seiner Stimme, der Echos aus einer anderen Zeit, von einem anderen Ort weckte. Auch damals hatte er so präzise und kontrolliert gesprochen, um ihren Stolz zu vernichten, ihre Seele auseinanderzureißen und ihr dann die Einzelteile mit kühler, demütigender Höflichkeit zu überreichen.

„Du tust mir leid“, hatte er gesagt und es ernst gemeint. In viel größerem Ausmaß als Scott war er verantwortlich für die Verwandlung des hitzköpfigen, eigensinnigen, egoistischen Mädchens in eine vorsichtige, zurückhaltende Frau, die nur noch sich selbst vertraute.

Vielleicht sollte sie ihm dankbar sein. Auch das hatte er betont, ihr mit messerscharfen Worten ins Gesicht geschleudert. „Ich finde, du müsstest mir dankbar sein …“

In all den Jahren hatte sie sich nicht gestattet, an jene Zeit zu denken, und eine einschneidende Trennlinie zwischen ihrem früheren und dem neuen Leben gezogen. Könnte sie doch aus dem Saal fliehen … Doch das war unmöglich. Die Leute bestürmten Daniel Cavanagh mit Fragen. Was immer er gesagt haben mochte, es erregte die Gemüter. Sie hätte zuhören, die Vergangenheit vergessen müssen. Schließlich saß sie hier, um der Debatte zu folgen.

Später schloss sie die Sitzung, ohne zu wissen, was besprochen worden war. Anne erklärte, der Vikar habe die Komiteemitglieder zum Tee in sein Haus eingeladen. „Leider kann ich nicht mitkommen“, erwiderte Sage, die immer noch nach Fassung rang.

„Natürlich, das verstehe ich – Sie wollen nach Hause. Haben Sie etwas Neues aus der Klinik gehört?“

Sage schüttelte den Kopf, der grässlich zu schmerzen begann. Einer der gefürchteten Migräneanfälle drohte, obwohl sie glaubte, sie hätte sie längst unter Kontrolle gebracht. Sie wollte sich nur noch irgendwo verkriechen, in dunkler Sicherheit, wo sie nicht denken und niemandem etwas vormachen musste, wo kein großer, dunkelhaariger Mann neben ihr stand, der böse Erinnerungen wachrief.

Sie verließ den Saal als Erste, mit schnellen Schritten und zitternden Beinen. Tief atmete sie die kühle, frische Luft ein. Ihr Porsche parkte nur wenige Meter entfernt. Sie zweifelte an ihrer Fahrtüchtigkeit, denn ihr Magen krampfte sich zusammen, und in ihrem Kopf dröhnte es. Manchmal hatte sie bei solchen Migräneanfällen die Besinnung verloren. Es wäre vernünftiger gewesen, Charles anzurufen und ihn zu bitten, er möge sie abholen. Aber dann hätten sie hier warten und womöglich Daniel gegenübertreten müssen.

Nun hörte sie bereits seine Stimme hinter sich, auch die sanftere, fast zärtliche seiner Begleiterin. Besaß Helen Ordman keinen Stolz? Wusste sie nicht, wie aufdringlich sie sich benahm, oder war es ihr egal? Daniel war keine leichte Beute. Er wusste alles über die weibliche Psyche.

„Sage … Wie ich soeben erfahren habe, kannst du die Einladung des Vikars auch nicht annehmen.“ Er stand neben ihr. Um die Gebote der Höflichkeit zu befolgen, hätte sie sich zu ihm wenden müssen. Aber sie konnte nicht einmal den Kopf bewegen oder den Mund öffnen, um zu antworten.

„Daniel, musst du schon gehen? Wir hätten noch so viel zu besprechen …“

Glücklicherweise gibt es Raubtierfrauen, dachte Sage erleichtert, als Helen Ordman besitzergreifend seinen Arm umfasste.

„Ja, leider muss ich mich verabschieden. Morgen habe ich eine Aufsichtsratssitzung, und vorher wartet ein riesiger Papierstapel auf mich … Sage, ich vermute, dieses scharlachrote Monstrum gehört dir. Du bist schon immer gern aufgefallen, in allen Belangen.“

Er ließ sie stehen, so wie er sie angetroffen hatte – sprach- und reglos. Sie starrte ihm nach und ärgerte sich über die Tränen, die ihren Blick verschleierten. Dann wartete sie, bis Daniel Cavanagh in seinem Oldtimer davongefahren war, in einem stahlgrauen Aston Martin, der viel mehr gekostet haben musste als ihr Porsche. Erst danach entfernte sie sich von ihrem Wagen und schlug die Richtung von Haus Cottingdean ein, das nur zwei Meilen vom Dorf entfernt lag. Ein angenehmer Spaziergang an diesem warmen Frühlingsabend … Als Teenager, vor der Fahrprüfung, hatte sie diese Strecke oft zu Fuß zurückgelegt, aber damals keine Schuhe mit zehn Zentimeter hohen Absätzen getragen und nicht an Kopfschmerzen gelitten.

Was geschah mit ihrem Leben, von dem sie geglaubt hatte, es wäre unter Kontrolle? Wann hatte diese Kontrolle begonnen, aus den Fugen zu geraten? Mit dem Unfall der Mutter? Mit der Erkenntnis, dass die stark eingeschränkten körperlichen und seelischen Kontakte mit dem anderen Geschlecht, die sie sich zugestand, keinen sexuellen Appetit mehr erregten?

Die Kette der verwirrenden Ereignisse hatte schon lange vor diesem Abend begonnen, vor dem unwillkommenen Erwachen alter Erinnerungen. Aber wie sie nicht leugnen konnte, bildete das Wiedersehen mit Daniel ein massives Glied in dieser Kette, das sie nicht herauszureißen vermochte.

Autoscheinwerfer glitten ihr entgegen, und sie trat instinktiv auf die Grasböschung am Straßenrand. Daniels grauer Aston fuhr an ihr vorbei, dann hörte sie, wie das Tempo des Wagens gedrosselt wurde, wie er anhielt. Panik erfasste sie, und sie wollte davonlaufen, sich verstecken – nicht, weil sie ihn als Mann fürchtete. In sexueller Hinsicht würde er ihr nicht gefährlich werden. Nein, sie wollte vor ihren eigenen Erinnerungen fliehen, vor ihrem Kummer, ihrer Selbstverachtung.

Der Wagenschlag wurde geöffnet und geschlossen. Wenn sie jetzt davonrannte … Doch ihr Stolz zwang sie, steif und starr stehen zu bleiben. Aber nichts konnte sie veranlassen, sich ihm zuzuwenden, als er näher kam.

„Ich dachte, du fährst nach Hause.“

„Nein, ich habe mich anders besonnen.“

„Trotz deiner hohen Absätze?“ Auch früher war ihm nichts entgangen.

„Es ist nicht verboten, Schuhe mit hohen Absätzen zu tragen“, fauchte sie. „Und wenn du deinen Willen durchsetzt und hier eine sechsspurige Straße baust, sind die Tage unserer Fußmärsche ohnehin gezählt.“

„Die Straße wird eine Meile von dieser Stelle entfernt verlaufen. Von Haus Cottingdean aus wirst du sie nicht einmal sehen. Also dürfte sie euer Leben dort kaum beeinflussen. Aber du hast schon immer eher emotional als logisch reagiert, nicht wahr?“

„Was machst du hier, Daniel? Du bist auf der falschen Seite des Dorfs. Die Straße nach London …“

„Ich weiß, ich bin falsch abgebogen. Deshalb musste ich zurückfahren.“

Sie hatte das seltsame Gefühl, dass er log, obwohl seine Erklärung plausibel klang. Fiel es ihr nur deshalb so schwer, ihm zu glauben, weil sie ihn kannte und weil es nicht zu ihm passte, falsch abzubiegen?

Daniel beobachtete sie, und sie kämpfte gegen die magnetische Kraft seiner Aufmerksamkeit. Seine Augen hatten dieselbe Farbe wie sein Auto, und sie brauchte ihn nicht anzuschauen, um die beklemmende Wirkung seines Blicks zu spüren. Sie erinnerte sich auch an seine lächerlich langen Wimpern, die seinem Gesicht früher einen fast verletzlichen Ausdruck verliehen hatten. Wie dumm von ihr! Verwundbarkeit war die allerletzte Eigenschaft, die man ihm zuschreiben konnte.

Das schmerzhafte Pochen in ihrem Kopf, das während der Wanderung etwas nachgelassen hatte, kehrte zurück. Automatisch presste sie ihre Finger an eine Schläfe.

„Migräne?“

Sie starrte ihn verblüfft an und vergaß ihren Entschluss, seinem Blick auszuweichen. „Wieso weißt du …“

Sein ironisches Lächeln trieb ihr das Blut in die Wangen, drehte die Zeit um fünfzehn Reifejahre zurück und verwandelte sie in das Mädchen, das sie einmal gewesen war.

„Ich habe ein ausgezeichnetes Gedächtnis“, erwiderte er trocken.

„Offensichtlich“, stimmte sie bitter zu. „Nun werde ich dich nach Hause bringen. Eine Frau sollte es heutzutage nicht riskieren, bei Nacht durch eine so einsame Gegend zu laufen.“

„Nein danke, ich brauche frische Luft …“

„Wenn du daheim bist, kannst du ja im Garten spazieren gehen. Dort bist du sicher.“

Die Selbstverständlichkeit, mit der er ihre Entscheidungen traf, erregte ihren Zorn. „Ich will nicht mit dir fahren“, entgegnete sie, doch er hatte bereits ihren Arm genommen und führte sie zum Auto. Zum Glück bildete die Strickjacke eine dichte Barriere zwischen seinen Fingern und ihrer Haut, und sein Griff war nicht allzu fest.

Es ist wohl einfacher, klein beizugeben, als mit ihm zu streiten, dachte sie seufzend, während er ihr höflich die Wagentür aufhielt, und stieg ein. „Es wäre wirklich nicht nötig“, bemerkte sie.

„Das weiß ich“, antwortete er und startete den Motor. Er war ein guter Fahrer, vorsichtig und kontrolliert. „Seltsam“, meinte er, als das Tor von Haus Cottingdean in der Dunkelheit auftauchte. „Ich hätte nie gedacht, dass du einmal eine Umweltschutz-Organisation leiten würdest.“

„Das tue ich auch gar nicht“, sagte sie kühl. „Ich bin nur für meine Mutter eingesprungen.“

„Tatsächlich? Die Sage, die ich früher kannte, hätte in dieser Situation eine gottgesandte Gelegenheit zur Sabotage gesehen, statt die Familienflagge zu schwenken.“

Sie versteifte sich. Genau das fürchtete sie seit der Wiederbegegnung – an das Leid und die Schatten der Vergangenheit erinnert zu werden, an den Menschen, der sie einmal gewesen war. Lag es an der Lektüre von Liz’ Tagebüchern, dass sie die Unterschiede zwischen sich selbst und der Mutter so deutlich spürte, die eigenen Unzulänglichkeiten und Fehler?

„Kein Kommentar?“, erkundigte sich Daniel leise, nachdem er den Aston gestoppt hatte.

„Hast du etwas gefragt?“, forderte sie ihn bissig heraus und griff nach der Wagentür. „Ich dachte, du hättest nur eine Bemerkung gemacht. Wie ich mein Leben führe, hat nichts mit dir zu tun. Das geht nur mich was an.“ In ihrem Ärger vergaß sie, den Sicherheitsgurt zu lösen. Sie stieß die Tür auf, und erst, als sie aussteigen wollte, erkannte sie, dass sie gefangen war.

„Immer noch dieselbe alte Sage.“ Daniel lachte zynisch. „Ungeduldig, unlogisch. Stets gewöhnt, ihren Willen durchzusetzen, sodass sie Hindernisse gar nicht wahrnimmt …“

Er öffnete seine Tür und stand an der Beifahrerseite, ehe sie sich losschnallen konnte. Während sie ausstieg, zitterte sie – nicht vor Angst, sondern vor Wut. Und dazu kam ein anderes Gefühl, das ihren Herzschlag beschleunigte und die Schmerzen aus ihren Schläfen verscheuchte. „Danke, dass du mich heimgebracht hast.“

„Es war mir ein Vergnügen.“ Im Dunkel sah sie sein Gesicht nicht, aber als er zur Fahrerseite des Aston ging, wurde es kurz vom Mondlicht beleuchtet und erinnerte sie an den alten Daniel, den sie einmal so gut gekannt zu haben glaubte – nur um später festzustellen, dass sie ihn überhaupt nicht kannte.

Daniel Cavanagh … Warum kehrte er in ihr Leben zurück, ausgerechnet jetzt, und riss alte Wunden auf, die vermeintlich längst geheilt waren?

Fröstelnd ging sie zum Haus und kämpfte mit den Gedanken an die Vergangenheit.

5. KAPITEL

Es war sinnlos – in dieser Nacht fand Sage keine Ruhe. Sie setzte sich im Bett auf. Denn sie fürchtete den Schlaf sogar, die Träume, die ihr Unterbewusstsein, von Erinnerungen aufgewühlt, spinnen mochte.

Seufzend starrte sie ihre Uhr an. Schon zwei. Sie sollte lieber etwas Sinnvolles tun, statt sich rastlos im Bett umherzuwälzen und ihre Gedanken ohne Erfolg zu verdrängen. Zum Beispiel konnte sie die Tagebücher lesen …

Was hoffte sie, darin zu finden? Oder suchte sie nur eine Ablenkung?

Sie ging nach unten und lauschte auf das vertraute nächtliche Knarren des alten Hauses. In der Bibliothek sperrte sie eine Schreibtischschublade auf und zog das Buch heraus, dessen Lektüre sie unterbrochen hatte. Sie klemmte es unter ihren Arm, dann nahm sie noch zwei Äpfel aus der Obstschüssel in der Küche und kehrte in ihr Zimmer zurück. Sie waren knackig und säuerlich und schmeckten ihr viel besser als die von Liz und Faye bevorzugten mehligen roten Früchte.

Ihre Mutter erklärte ihre Vorliebe für Süßigkeiten mit den in Kriegszeiten erlittenen Entbehrungen. Das klang immer so, als wollte sie sich verteidigen. Eine eher geringfügige Schwäche bei einer sonst so starken Frau … Sage verspürte ungewohnte Schuldgefühle bei der Erinnerung, wie oft sie kindisch und sogar grausam die Aufmerksamkeit darauf gelenkt hatte. Kinder sind nun mal grausam, sagte sie sich seufzend. Skrupellos benutzen sie alle Waffen, die ihnen in die Hände fallen – ohne Reue, ohne Gewissensbisse – besonders, wenn sie von Selbstgefälligkeit getrieben werden wie ich.

Wie alt war sie gewesen, als sie begonnen hatte, die Mutter für die Gleichgültigkeit des Vaters verantwortlich zu machen? Acht, neun – oder jünger? Jedenfalls hatte sie das gestörte Verhältnis zu ihrem Vater schon sehr früh erkannt. David durfte zu ihm gehen, wann immer er wollte. Aber wenn sie das versuchte, trat die Mutter dazwischen. Nur über sie konnte Sage Kontakt mit dem Vater aufnehmen.

Zorn, Bitterkeit, Hass – sie hatte die ganze vernichtende Kraft solcher Emotionen erlitten. Warum war es Liz nötig erschienen, die Tochter vom Vater fernzuhalten? Sicher hatte sie nicht befürchtet, eine engere Beziehung zwischen den beiden würde die Ehe bedrohen.

Er hatte Liz angebetet, mit einer Intensität geliebt, die Sage zu besitzergreifend gefunden hätte. Eine solche Liebe war eine Belastung. In ihrem Freiheitsdrang hätte sie dagegen gekämpft. Wäre sie an der Stelle ihrer Mutter gewesen, sie hätte den Vater wahrscheinlich verlassen. Aber sie war anders als die moralisch perfekte Mutter, die ihre eigenen Bedürfnisse niemals über die eines so abhängigen, hilflosen Menschen wie ihres Ehemanns gestellt hätte.

Sage runzelte die Stirn, als ihr bewusst wurde, dass sie die Ehe ihrer Eltern zum ersten Mal einer genaueren Betrachtung unterzog, eine Beziehung, die ihr jahrelang ideal erschienen war. Stets hatte sie die Mutter um deren Rolle des Angelpunkts im Leben des Vaters beneidet. Und nun erkannte sie, wie unglücklich sie in einer solchen Ehe gewesen wäre – eine Gefangene.

So hatte Liz es offensichtlich nicht empfunden. Sage zuckte die Achseln. Sie war eben ganz anders als die Mutter. Nichts verband sie miteinander, außer der zufälligen Blutsverwandtschaft, die keiner von beiden gefiel, wenn Liz die Antipathie auch besser verbarg, als es die Tochter vermochte.

Trotz allem, was geschehen war, trotz der hasserfüllten Bitterkeit fühlte sich Sage zwanghaft zu dem Mädchen hingezogen, das sie bei ihrer Lektüre der Tagebücher kennenlernte. Und deshalb blätterte sie nun um zwei Uhr morgens in den eng beschriebenen Seiten und verdrängte die Erinnerungen, die sie um den Schlaf gebracht hatten – die unerwünschten Erinnerungen an Daniel Cavanagh.

Daniel … Sekundenlang schloss sie die Augen und wehrte sich gegen den unheimlichen Eindruck, der Mann hätte es irgendwie geschafft, in dieses Zimmer zu treten. Was war er schon? Nur ein Mann, mehr nicht. Ein Mann wie so viele andere. Sie schlug das Buch an der Stelle auf, wo sie zu lesen aufgehört hatte, verbannte energisch alle Gedanken an Daniel Cavanagh und die Vergangenheit, konzentrierte sich auf den Lebensbericht ihrer Mutter.

Eine Woche verstrich, dann noch eine, und Kit meldete sich nicht mehr. Jeden Tag wartete Lizzie hoffnungsvoll auf einen Brief. Eines Morgens erwachte sie, und die Welt schien sich schwindelerregend um sie zu drehen. Von heftiger Übelkeit erfasst, rannte sie ins Bad und übergab sich. Dass ihr die Ursache des Erbrechens nicht sofort bewusst wurde, lag an der Prüderie, die das Leben ihrer Großtante beherrschte.

Lizzie fühlte sich nicht zum ersten Mal so elend. Beim Antritt ihrer Stellung im Krankenhaus hatte ihr Magen oft gegen das unappetitliche Essen revoltiert. Wenn sie während ihrer sehnsüchtigen Tagträume von Kit gelegentlich an das regelmäßige morgendliche Erbrechen dachte, vermutete sie einfach, die Übelkeit jener früheren Zeiten wäre zurückgekehrt.

Doch dann bemerkte ein anderes Mädchen, wie sie zur Toilette lief, und klärte sie unwissentlich auf, in der Annahme, Lizzie wüsste schon Bescheid.

Ein Baby … Nicht nur ein Baby, sondern Kits Baby. Dem anfänglichen Entsetzen angesichts der Tatsache, dass sie nun zur verwerflichen Schar jener Frauen zählte, die laut ihrer Tante „in Schwierigkeiten geraten“ und zu Außenseiterinnen der Gesellschaft geworden waren, folgte heiße Freude. Sie erwartete ein Kind von Kit.

Allein im Schlafsaal, sank sie zitternd auf ihr Bett und legte schützend die Hände über ihren Bauch. Ihr war schwindlig, aber nicht vor Übelkeit, sondern vor Glück. Kits Kind … Könnte sie die wunderbare Neuigkeit doch mit ihm teilen, das überwältigende Entzücken über das winzige Leben, das sie gemeinsam gezeugt hatten! Wie sehr sie sich nach ihm sehnte …

Sie starrte ins Leere, verloren in einem schönen Tagtraum, wo Kit plötzlich auftauchte, sie in die Arme riss und erklärte, sie müsse ihn sofort heiraten, er liebe sie über alles. In seinem funkelnden, kleinen grünen Auto würde er mit ihr davonfahren, um sie in aller Heimlichkeit vor den Traualtar zu führen. Danach würde sie in einem von Rosen umrankten Häuschen leben, vor der Welt verborgen, aber in der Nähe seiner Kaserne, damit sie sich in jeder freien Minute sehen konnten. Dort würde sie auf die Geburt des Kindes warten – eines Sohnes, das wusste sie. Und sie würden überglücklich sein …

Eine ihrer älteren, erfahreneren Kolleginnen holte sie auf den Boden der brutalen Wirklichkeit zurück. Die anderen hatten Donna zu ihrer Sprecherin ernannt, denn Lizzies Verhalten bestürzte sie. Wäre eine von ihnen in diesem Zustand gewesen, hätte sie nicht herumgesessen und auf den Märchenprinzen gewartet, der alles in Ordnung bringen würde. Merkte das arme Ding denn nicht, was passiert war? Wusste Lizzie nicht, wie die Krankenhausleitung reagieren würde, wenn sie von dem Baby erfuhr?

Donna Roberts, das älteste von acht Kindern, hatte zu viele Schwangerschaften ihrer Mutter miterlebt, um sich Illusionen über die Einstellung der Männer zu achtlos gezeugten, unerwünschten Babys zu machen. Aber sogar sie scheute ein wenig zurück vor Lizzies kindischem unerschütterlichen Glauben, der Vater des ungeborenen Lebens würde zurückkommen und sie heiraten.

„Hör mal, Mädchen …“, begann sie ungeschickt. Sie hatte eine Affäre mit einem amerikanischen Luftwaffenpiloten und nicht nur seine Angewohnheit, ständig Kaugummi zu kauen, sondern auch seinen Akzent angenommen. „Wir alle kennen dein Problem. Ich weiß, es ist nicht leicht, aber du musst den Tatsachen ins Auge blicken. Du willst doch nicht wie Susan Philpott enden, oder?“

„Susan Philpott?“ Lizzie starrte sie an. „Die kehrte nach Hause zurück.“

„Quatsch! Nur Gott weiß, wo sie jetzt steckt – jedenfalls nicht zu Hause. Das hat sie mir selber gesagt. Sie erklärte, ihr Dad würde sie umbringen, weil sie in Schwierigkeiten war. Als die Oberschwester, dieser Drachen, die Wahrheit herausfand, war es natürlich aus mit Susan. Wahrscheinlich geht sie jetzt auf den Strich“, ergänzte Donna und erläuterte schonungslos, was sie damit meinte, als Lizzie sie verständnislos anschaute. „Dein Freund kommt auch nicht wieder – keiner tut das“, fuhr sie in schonungsloser Offenheit fort. „Also musst du was dagegen tun.“ Sie zeigte auf Lizzies immer noch flachen Bauch.

„Was tun?“, wiederholte Lizzie verwirrt und ignorierte die Kommentare über Kit. Donna kannte ihn nicht, wusste nichts von dieser übergroßen Liebe. Aber Lizzie hatte von Anfang an in seinem Gesicht gelesen, was er für sie empfand, und es auch seiner Unfähigkeit entnommen, sein Verlangen nach ihr zu bezähmen. „Was soll ich denn tun?“

Sie sah Mitleid in Donnas Blick, fühlte es im abwartenden Schweigen der anderen, spürte auch deren Sympathie und Besorgnis, blieb aber unberührt davon. Das alles brauchte sie nicht. Sicher, die Kolleginnen meinten es gut, und sie brachte es nicht übers Herz, ihnen Vorwürfe zu machen.

Seufzend verdrehte Donna die Augen. Das war viel schwerer, als sie gedacht hatte. Warum mussten es immer die dummen, naiven Mädchen sein, die in so eine Situation kamen? Warum waren sie so unvernünftig? Natürlich kannte sie die Antwort, hatte sie immer wieder von der Mutter gehört. Die hatte ihr ältestes Kind eindringlich davor gewarnt, den Lügen der Männer zu glauben. Bei Donnas Geburt war sie erst sechzehn gewesen. Und mit fünfunddreißig – zu dem Zeitpunkt, als Donna von zu Hause weggegangen war, hatte die Mutter so ausgesehen, als wäre sie doppelt so alt, gezeichnet von zu vielen Schwangerschaften, zu bitterer Armut, einem zu mühseligen Leben.

Der Krieg bot Donna einen willkommenen Fluchtweg und ersparte ihr, in die Fußstapfen der Mutter treten zu müssen, eine frühe Ehe, zu viele Kinder. Nur zu gern verließ sie die feuchte Farmarbeiterhütte, wo sie mit ihren Schwestern ein Bett geteilt hatte. Wie froh war sie gewesen, der schlechten Laune des Vaters und den Grobheiten ihrer Brüder zu entrinnen, sich zu befreien von klammernden Händen, fordernden Stimmen …

„Du musst das Baby loswerden. Klar, ich weiß, was du denkst, aber er wird dich nicht heiraten. Keiner tut das“, versicherte sie ohne Umschweife. Ihre eigenen Lebenserfahrungen hatten sie weder Takt noch Feingefühl gelehrt. Für diese kleine Närrin konnte sie nur eins tun – sie musste ihr Vernunft beibringen. Wenn es noch nicht zu spät war, sie in ein fast kochend heißes Bad zu setzen und ihr so viel Schnaps wie möglich einzuflößen. Dann würde eines der Mädchen in sie hineinfassen und versuchen, eine Abtreibung vorzunehmen.

Manchmal funktionierte es, manchmal nicht. Es gab andere Methoden, aber die waren zu riskant. Und es würde ohnehin schon schwierig genug sein, Lizzie zu dieser Maßnahme zu überreden.

Entsetzt und ungläubig starrte Lizzie sie an. Kits Kind loswerden? Sie schreckte zurück, als hätte Donna sie tätlich angegriffen, und verschränkte schützend die Arme vor dem Bauch.

„Hör mal zu, du kleine dumme Gans – er wird dich nicht heiraten“, wiederholte Donna grimmig. „Keiner tut so was, ganz egal, was sie einem erzählt haben. Hat er dir seine Adresse gegeben? Hat er dir irgendwas über sich selbst verraten außer seinem Namen? Weißt du überhaupt, ob es der richtige Name ist. Du kannst dir doch denken, was mit dir passiert, wenn sich dein Zustand herumspricht. Du verlierst deinen Job und wirst nach Hause geschickt.“

Nach Hause? Zu ihrer Tante? Zum ersten Mal stieg kalte Angst in Lizzie auf. Sie erschauerte, immer noch unfähig, Donnas Worte zu akzeptieren. Trotzdem fürchtete sie das Zukunftsbild, das ihre Kollegin da gemalt hatte. Wie würde ihr weiteres Leben verlaufen, wenn sie zu Tante Vi zurückkehrte, schwanger und ledig? Die Tante würde sie angesichts dieser Schande nicht aufnehmen, ihr die Tür weisen und sie enterben.

Von einem schweren Schock getroffen, begann Lizzie zu zittern. Aber warum hatte sie Angst? Nichts dergleichen würde mit ihr geschehen. Kit würde sie heiraten – das wusste sie. Es gab keinen Grund zur Sorge, sie musste nur an die Wahrheit glauben und sich an Kits Liebe erinnern.

„Sei doch vernünftig, Kindchen! Die Schwangerschaft kann noch nicht allzu weit fortgeschritten sein. Wenn wir Glück haben, werden wir das Baby los.“

„Nein!“, widersprach Lizzie energisch und fügte mit ruhiger Würde hinzu: „Selbst wenn du recht hättest, wenn Kit mich nicht liebte, und ich weiß, dass du dich irrst – niemals könnte ich mein Kind töten.“

Da fand sich Donna mit ihrer Niederlage ab. Während sie eine verächtliche Bemerkung über die Dummheit ihres eigenen Geschlechts vor sich hin murmelte, ging sie davon. Sollte die kleine Närrin doch am eigenen Leib spüren, wie das wirkliche Leben aussah … Gut und schön, jetzt behauptete sie, dass sie das Balg wollte. Aber wenn sie den Job verlor, wenn sie mit Schimpf und Schande aus dem Krankenhaus gejagt wurde, kein Dach über dem Kopf hatte, kein Geld und niemanden, der ihr half … O ja, dann würde sie anders reden. Donna hatte das schon bei vielen Mädchen beobachtet. Wütend dachte sie an die vielen Bürden, die den Frauen aufgehalst wurden, und sehnte sich nach einer Zeit, wo sich die Dinge ändern, wo die Frauen das Recht erhalten würden, ihr Schicksal selbst zu bestimmen. Aber vorher mussten sie die emotionalen Fesseln abstreifen, mit denen sie geboren wurden, und aufhören, die Männer zu lieben, von ihnen abhängig zu sein. Was das männliche Geschlecht betraf, gab sie sich keinen Illusionen hin. Sie würde niemals heiraten und sich auch nicht mit Mutterpflichten belasten.

Viele Wochen schleppten sich dahin, und Lizzie bekam keinen Brief von Kit. Allmählich hatte sie sich an die Tatsache ihrer Schwangerschaft gewöhnt. Das Kriegsende in Europa wurde landesweit gefeiert, aber für sie war viel wichtiger, was in ihrem Körper geschah. Sie wusste nicht, ob Kit nach dem Sieg wohlbehalten heimgekehrt war oder immer noch irgendwo in Gefahr schwebte. Und ehe sie das wusste, konnte sie die Freude ihrer Mitmenschen nicht teilen. Auch ihr achtzehnter Geburtstag verging sang- und klanglos, abgesehen von einem kleinen Geschenk, das ihr die Tante schickte.

Im Bett presste sie manchmal die Hände auf den Bauch, in Liebe und Verwunderung, doch auch in schmachvoller Panik. Natürlich wusste sie, dass Kit sie liebte, aber sie wollte endlich wieder von ihm hören oder – noch besser – ihn sehen. Sicher, Männer wie Kit hatten so hart gekämpft, um das Vaterland zu schützen, und wie zahllose andere Frauen musste sie geduldig und ängstlich auf die Rückkehr des Liebsten warten. Aber sie sehnte sich so sehr nach seiner tröstlichen Nähe, brauchte ihn so dringend, um die mitleidigen Blicke der Kolleginnen abzuwehren, die ihr den Glauben und den Mut zu nehmen versuchten und dem Allmächtigen dankten, weil sie nicht in Lizzies Schuhen steckten.

Edward bemerkte ihre Niedergeschlagenheit und sorgte sich. Doch er stellte keine Fragen, denn er nahm an, sie wäre nur deshalb so trübsinnig, weil sie seine Gesellschaft als Belastung empfand.

Der Arzt hatte erklärt, bei einer vorsichtigen Lebensweise habe Edward noch zwanzig Jahre vor sich – eine grauenvolle Aussicht. Noch zwanzig Jahre in diesem Zustand. Wenn er morgens erwachte, erschien es ihm manchmal unerträglich, die nächsten zwanzig Stunden zu überstehen.

Obwohl Lizzie normalerweise sehr empfänglich für die Emotionen und Stimmungen anderer war, nahm sie Edwards Verzweiflung nicht wahr. Sie widmete ihm immer noch viel Zeit, reagierte aber nur mehr mechanisch auf seine Versuche, ein Gespräch zu eröffnen. Ihre Konzentration galt dem Kind unter ihrem Herzen, der Liebe zu seinem Vater.

Es wurde kälter, böige Winde und Regenfälle verschlechterten das Wetter. Durchnässt und frierend fuhr Lizzie täglich mit ihrem Rad zur Klinik. Trotz der Schwangerschaft nahm sie, ab. Die Zukunftsangst und die Sehnsucht nach Kit beeinträchtigten ihren Appetit, obwohl sie sich sagte, sie müsse um des Babys willen essen. Sobald ein Teller mit der wenig verlockenden Krankenhauskost vor ihr stand, rebellierte ihr Magen.

Bestürzt beobachtete Edward, wie sie immer dünner wurde. Längst akzeptierte er, dass sie irgendwie einen Platz in seinem Herzen gefunden hatte. Daraus konnte natürlich nichts werden, wie er sich bitter vor Augen führte. Eine schöne junge Frau, die ihr Leben noch vor sich hatte – jetzt, wo der verdammte Krieg vorbei war und er ein Invalide, der ihr nichts bieten konnte … Bedrückt verglich er sich mit seinem Vetter.

Er hatte einen Brief vom Familienanwalt erhalten und noch nicht geöffnet. Vermutlich steckte in dem Kuvert eine offizielle Warnung von Kit, sobald er verheiratet sei, dürfe Edward nicht hoffen, ins Haus Cottingdean zu ziehen.

Das wäre typisch für Kits Egoismus. Erbost starrte der Patient auf den Brief. Was bildete sich sein Vetter ein? Dass er, Edward, ihm zur Last fallen, dankbar die Verachtung seines Wohltäters ertragen und zusehen würde, wie seine Neffen und Nichten aufwuchsen, während sein eigenes Leben allmählich erlosch?

An diesem Morgen hatte Lizzie Dienst, und er freute sich wie immer auf ein Wiedersehen. Sie wollte ihn in den Park bringen. Skeptisch blickte er aus dem Fenster. Es regnete, der Wind beugte die Bäume. Normalerweise würde das Wetter Lizzie nicht davon abhalten, den Rollstuhl nach draußen zu schieben. Aber in letzter Zeit wirkte sie so schwach und zerbrechlich. Vermutlich bekamen weder die Krankenschwestern noch die Hilfsschwestern genug zu essen, trotz ihrer harten Arbeit.

Hektische Aktivitäten weiter hinten in der Abteilung kündigten den Schichtwechsel an. Edward verstaute den ungeöffneten Brief in seiner Tasche und versuchte, nicht allzu eifrig nach Lizzies vertrautem Gesicht Ausschau zu halten.

Während der Nacht hatte es in Strömen geregnet, und auf dem Weg zum Gebäude trat Lizzie versehentlich in eine tiefe Pfütze. Ihre Schuhe wurden völlig durchweicht, und sie fröstelte. Ein Ausflug in den Park war das Letzte, was sie sich jetzt wünschte. Aber als sie zu ihrer Abteilung geeilt war, wisperte das Mädchen, das sie ablösen sollte: „Hoffentlich hast du deinen Regenmantel mitgebracht. Seine Hoheit ist bereit und wartet schon ungeduldig auf dich.“

Beim Anblick der Decke über Edwards Knien unterdrückte Lizzie einen Seufzer. Während sie zu ihm ging, bemerkte er die Müdigkeit in ihren Augen und sagte rasch: „Heute möchten Sie sicher nicht hinaus, bei diesem schrecklichen Wetter.“

Ohne es zu wollen, hörte sie den schmerzlichen Unterton in seiner Stimme. Sie fragte sich, wie man sich fühlen musste, wenn man hier eingesperrt war, nur selten frische Luft atmete, kaum etwas anderes sah als die grimmigen Krankenhauswände. Sie bekämpfte ihre Erschöpfung und ihr Frösteln. So heiter wie möglich erwiderte sie: „Immerhin hat es zu regnen aufgehört.“ Aus den Augenwinkeln sah sie, wie ihr die Stationsschwester anerkennend zunickte, als sie den Rollstuhl zur Tür schob. Draußen zitterte sie, und Edward, der das schwache Vibrieren spürte, runzelte die Stirn.

Ihr Mantel, eher eine Jacke, war viel zu dünn für dieses Wetter. Sie brauchte was Warmes, Dickes aus Tweed, dachte er besorgt und erinnerte sich an den Mantel seiner Mutter mit dem großen Pelzkragen.

Sein Lieblingsplatz war ein stilles Gärtchen, wo eine Steinbank vor einem runden Fischteich mit Springbrunnen stand. Der Brunnen funktionierte nicht mehr, Unkraut wucherte über dem Wasser. Die noch verbliebenen Goldfische waren groß und dick und irgendwie furchterregend. Bedrückt verglich Lizzie die satte Gefräßigkeit dieser Tiere mit ihrem eigenen mangelnden Appetit. An diesem Morgen hatte die Übelkeit länger gedauert als sonst und sie stark geschwächt. Beim Erwachen waren ihre Wangen tränennass gewesen. Wann würde sich Kit endlich bei ihr melden? Sie fühlte sich so allein, und sie begann Angst zu empfinden. Wenn sie auch nicht fürchtete, er könnte sie verlassen – das niemals –, aber wenn ihm etwas zugestoßen war? Nun, was immer geschehen mochte, sie würde sich nie von ihrem Kind trennen.

Edward sah, wie Tränen ihren Blick verschleierten, und ihr Gesicht erschien ihm bleicher denn je. Wenn er ihr doch helfen könnte …

Plötzlich erkannte er, dass da irgendetwas nicht stimmte. Er beobachtete die Tränen, die langsam über Lizzies Wangen rannen, und wandte sich sofort ab, denn er wollte nicht in ihre Intimsphäre eindringen.

Als er sich in seinem Rollstuhl ungeschickt zur Seite drehte, knisterte das Kuvert in seiner Tasche, und er tastete danach. Den Kopf von Lizzie abgewandt, riss er es auf und gab ihr Zeit, ihre Fassung wiederzuerlangen, was immer sie auch darum gebracht hatte. Über ihr Privatleben wusste er nichts. Danach hatte er nie gefragt, aus Angst, ihre Freundlichkeit über Gebühr zu beanspruchen. Nein, er würde sie nicht mit seiner Einsamkeit belasten, mit seinem tief verwurzelten Bedürfnis, eine Bindung zu ihr einzugehen, die nie entstehen konnte.

Sie war nicht wie die anderen Schwestern, behandelte ihn nicht mit kränkendem Mitleid, mit jener typisch weiblichen Verachtung seiner Unvollkommenheit. Lizzie war sanft und rücksichtsvoll, und trotz allem besaß er immer noch seinen Stolz, seine Selbstachtung.

Ungeduldig zog er den Brief aus dem Umschlag und begann ihn zu überfliegen. Abrupt hielt er inne, als ihm der Inhalt des Schreibens bewusst wurde, und las es noch einmal von Anfang an, diesmal viel langsamer, voller Entsetzen.

Lizzie saß neben ihm auf der Bank und war dankbar für sein Taktgefühl. Sie wäre gestorben, hätte er gefragt, was ihr Kummer bereite. Wie unvorstellbar, dass dieser Mann blutsverwandt mit dem Kind war, das sie erwartete … Welch ein Unterschied zwischen Kit und seinem Vetter! Was würde Edward sagen, wenn er die Wahrheit erführe? Er würde sie nicht verachten, das wusste sie irgendwie, nicht über sie lachen wie die Kolleginnen, ihr nicht erklären, sie müsse das Baby loswerden, es sei nur eine Last, eine Strafe für ihr schandbares Liebesabenteuer.

Sie hatte keine Ahnung, warum sie sich so benahm und wie ein albernes kleines Mädchen in Tränen ausbrach. Vielleicht hing es mit dem Brief ihrer Tante zusammen, den sie an diesem Morgen bekommen hatte, pünktlich wie jeden Monat. Kühle Zeilen, strenge Ermahnungen, die Nichte möge fleißig arbeiten und sich anständig verhalten, solle nicht in schlechte Gesellschaft geraten und stets bedenken, was gut und richtig sei, auch wenn sich heutzutage die Moral erheblich gelockert habe …

Wenn sie doch wagen könnte, ihren Schützling nach seinem Vetter zu fragen … Aber sie hatte Kit versprochen, nichts zu verraten. Plötzlich hörte sie Edward flüstern: „Oh, mein Gott.“

Sofort verdrängte sie ihre eigenen Probleme und hob den Brief, der ihm entglitten war, vom Boden auf. „Was ist denn? Geht es Ihnen nicht gut? Sind Sie …“

„Nein, nein, nichts dergleichen.“ Er umfasste ihre Hände, mit erstaunlich warmem, festem Druck. Aber seine Haut fühlte sich so weich und zart an wie die einer Frau, nicht wie Kits raue, narbige Finger. „Kit … Mein Vetter …“, fuhr Edward fort. „Vielleicht erinnern Sie sich an seinen Besuch. Soeben wurde mir mitgeteilt, dass er im Krieg gefallen ist. Nun muss ich Arrangements treffen, entscheiden, was mit Cottingdean geschehen soll, und seiner Verlobten schreiben. Armes Mädchen … Aber sie wird sicher einen anderen finden, und das ist gut so. Kit hätte einen schlechten Ehemann abgegeben …“

Er verstummte und schrie erschrocken auf, als er in Lizzies Gesicht schaute. Noch nie hatte er eine so wächserne Blässe gesehen. Jeder Blutstropfen schien aus ihren Wangen zu weichen, und sie wirkte wie eine Leiche. Sekundenlang überlegte er sogar erschrocken, ob sie noch lebte. Ihre Brust schien sich kaum zu bewegen. Die Lippen, sonst so voll und hübsch geschwungen, bildeten einen schmalen Strich, die Augen hatten allen Glanz verloren, drückten eisiges Entsetzen und Ungläubigkeit aus.

Nun versuchte sie, zu sprechen. Ihr Mund öffnete sich, aber kein Laut drang heraus. Sie begann am ganzen Körper zu zittern, wie Edward es einmal bei einem Mann beobachtet hatte, der an Malaria erkrankt war. Und ihre Zähne klapperten hörbar. Verzweifelt fürchtete er, sie könnte einen Zusammenbruch erleiden. An diesem Morgen hätte er sich nicht in den Park bringen lassen dürfen. Es war zu kühl, zu feucht. Wie selbstsüchtig von ihm …

Der alte Frust angesichts seiner Hilflosigkeit, seiner Invalidität überrollte ihn wie eine schwarze bittere Welle. Alles hätte er hingegeben, was er besaß – und dazu gehörte jetzt auch Cottingdean –, wäre er jetzt imstande gewesen aufzustehen, das Mädchen ins Haus zu tragen, wie ein Mann zu handeln, nicht wie ein verrottender Fleischklumpen. So, wie die Dinge lagen, konnte er nur beten, Lizzie möge sich irgendwie in Sicherheit bringen oder von jemandem geholt werden.

Wütend über seine Unfähigkeit, ihr zu helfen, sagte er tonlos. „Offenbar ist Ihnen übel, und ich hätte nicht zulassen dürfen … Wir sollten ins Haus zurück …“

Später erkannte Lizzie, dass sie die Worte irgendwie gehört haben musste. Denn sie stand auf, ergriff die Lehne des Rollstuhls, lockerte die Handbremse und schob ihn in die Richtung der Klinik, ohne zu wissen, was sie tat. Sie nahm überhaupt nichts wahr außer dem wilden Schmerz in ihrem Innern.

Kit – tot … Kit war ihr genommen worden. Aber noch viel schlimmer erschien ihr die Neuigkeit, die Edward nur nebenbei erwähnt hatte. Er würde der Verlobten seines Vetters schreiben, hatte er erklärt. So krampfhaft sie auch versuchte, diesen Worten zu entrinnen – sie konnten keine Ausgeburt ihrer angstvollen Fantasie sein.

Wie sie das Krankenhaus erreicht hatten, wusste sie nicht. Edward rief einer Schwester zu: „Könnten Sie Lizzie helfen? Es geht ihr nicht gut!“

Sie wollte widersprechen, aber ringsum schwankte alles, färbte sich rot, dann schwarz und sog sie in einen grausigen, von Qualen erfüllten Abgrund hinab.

Den ganzen Nachmittag sorgte sich Edward und fragte alle, die in seine Nähe kamen, nach Lizzies Befinden. Schließlich verlor das Personal die Geduld, und die Stationsschwester eilte zu ihm, mit grimmiger Miene. „Aber, aber, Major Danvers! Sie dürfen sich nicht so aufregen. Miss Bailey fehlt nichts, was sie sich nicht selbst zuzuschreiben hätte. Und Sie trifft gewiss keine Schuld, Sir … Also wirklich, diese Mädchen … Man sollte meinen, sie wären zu vernünftig, um sich in solche Schwierigkeiten zu bringen.“ Natürlich hatte man Miss Bailey entlassen, sobald der Arzt sie untersucht hatte. Am nächsten Morgen sollte sie zu ihrer Tante geschickt werden. Die würde sich keineswegs freuen, nach allem, was die Oberschwester von ihr erzählte. Ein tiefer Seufzer hob den üppigen Busen der Stationsschwester unter der gestärkten Schürze. Sie war vierundfünfzig und unverheiratet. Diese albernen Mädchen mit ihren Liebschaften ärgerten sie. Normalerweise sah sie jeder an, ob sie in Schwierigkeiten geraten würde. Aber Lizzie Bailey hätte sie das niemals zugetraut. Wie man sich täuschen konnte …

Sie kräuselte die Lippen, und Edward ahnte unbehaglich, dass ihm etwas verschwiegen wurde. „So, Major Danvers, bald wird’s Zeit für Ihre Medizin …“ Freundlich lächelte sie. Was konnte es diesem Patienten schon ausmachen, was mit dem albernen Mädchen los war? Solche Dinge spielten keine Rolle mehr in seinem Leben.

Während der Nacht wuchs seine Unruhe. Aber wen immer er auch fragte, niemand wollte ihm verraten, was mit seiner Freundin geschehen war.

Lizzie, aus dem Wohnheim verbannt, lag in einem Krankenhausbett, von einer missbilligenden Schwester beaufsichtigt. Man hatte ihr mitgeteilt, bei der ärztlichen Untersuchung sei ihre Schwangerschaft festgestellt worden und man würde sie nach Hause schicken. Zunächst, in ihrer Verzweiflung über Kits Tod und seine Verlobung mit einer anderen – mochte er sie selbst auch noch so sehr geliebt haben – war es ihr unmöglich gewesen, an ihre Zukunft zu denken.

Aber jetzt, wo sie hilflos und verängstigt dalag, kam ihr die Realität ihrer Situation allmählich zu Bewusstsein. Sie würde das Kind eines toten Vaters zur Welt bringen, mit dem sie nicht verheiratet war. Nur ganz kurz spielte sie mit dem Gedanken, einfach zu behaupten, Kit habe sie zum Altar geführt. Das wäre unehrlich gewesen, und sie konnte sich nicht dazu durchringen. Also musste sie Tante Vi gegenübertreten – vorausgesetzt, die würde sie ins Haus lassen, sobald sie die Wahrheit kannte.

Zitternd zog sie sich die Decke bis ans Kinn. Ihr graute vor dem nächsten Morgen. Lautlos begann sie zu weinen.

Auch Edward fand keinen Schlaf. Bei einem nächtlichen Rundgang beobachtete eine Schwester, die erst seit Kurzem in der Klinik arbeitete, wie er sich herumwälzte. Sie holte den Arzt.

„Stimmt was nicht, alter Junge?“, fragte der Doktor. Er war längst pensionsreif, erschöpft und abgemagert unter der Last seiner Pflichten, die vier jüngere Männer hätten bewältigen müssen. In den Kriegsjahren hatte er viel Leid gesehen und, um sich selbst zu schützen, eine gewisse Distanz zu den Dingen entwickelt, ohne die er vermutlich wahnsinnig geworden wäre. Aber irgendetwas an Edward berührte ihn immer noch.

„Es geht um Lizzie – Miss Bailey“, erklärte der Patient. „Als wir heute Morgen im Park waren, fühlte sie sich nicht wohl. Und niemand will mir sagen, was mit ihr geschehen ist.“

Der Arzt war kein engstirniger Mensch. Ein Blick in das bleiche, unglückliche Gesicht des Mädchens, zu dem ihn die Stationsschwester geholt hatte, war genug gewesen. Die Kleine tat ihm schrecklich leid, und gleichzeitig ärgerte er sich über sie. Was für Närrinnen diese jungen Dinger waren! Je unschuldiger, desto dümmer.

Während er Edwards angespanntes Gesicht musterte, dachte er: Wenn ich nichts von seinen Amputationen wüsste, könnte ich fast glauben … Nun, immerhin besteht die unwahrscheinliche Möglichkeit, dass er der Vater des Kindes ist. „Die dumme Gans hat sich in Schwierigkeiten gebracht“, erwiderte er brüsk. „Das ist nun mal das große Problem dieser Mädchen. Die jungen Männer verdrehen ihnen die Köpfe, erzählen ein paar Lügen, schwören ihnen ewige Liebe … Bedauerlicherweise kann man nichts dagegen tun. Die Regeln müssen eingehalten werden, also schicken wir Miss Bailey nach Hause. Sie hat nurmehr eine Tante, und die muss ein grässlicher Drachen sein – eine Freundin unserer Oberschwester. Vermutlich wird sie das arme Kind nicht allzu gut behandeln. Aber was sollen wir machen? Für dumme junge Mädchen ist hier kein Platz.“

Schockiert starrte Edward ihn an. Lizzie – die kleine Lizzie – schwanger … Unglaublich! „Und der Vater des Babys?“

Der Doktor zuckte die Achseln. „Tot, soviel ich weiß. Das hat die Oberschwester irgendwie aus Lizzie herausgekriegt. Aber den Namen wollte die Kleine nicht nennen. Ein Luftwaffenpilot. Wahrscheinlich hatte er nie die Absicht, sie zu heiraten, aber das will sie sicher nicht wahrhaben, die Ärmste …“

Lizzie schwanger – Lizzie, selbst noch ein Kind, so rein und unschuldig, dass Edward hätte schwören können … Und plötzlich erkannte er die Wahrheit. Lizzie – seine Lizzie – erwartete ein Kind von Kit. Warum er es wusste, überlegte er nicht, auch nicht, warum er diese heftigen, besitzergreifenden Gefühle für sie empfand. Er dachte nur an zwei Tatsachen. Erstens – Kit, sein verhasster Vetter, hatte Lizzie die Unschuld genommen, sie zweifellos belogen und verlassen. Zweitens – er musste sie sehen, mit ihr reden …

Während der restlichen Nacht blieb er wach und schmiedete Pläne. Wie der Doktor verraten hatte, wollte man Lizzie am Morgen mit Schimpf und Schande heimschicken. Edward, schon immer ein fantasiebegabter Mann, verstand alles, was der Arzt nicht ausgesprochen hatte. Selbst in einer kleinen Gemeinde aufgewachsen, konnte er sich nur zu gut vorstellen, was Lizzie und ihr Kind erwartete, wenn sie bei ihrer Tante bleiben musste.

Das würde er nicht zulassen. Ein solches Leid verdiente Lizzie nicht. Ihr Baby … Plötzlich unterbrach er seinen Gedankengang. Es würde sein Neffe oder seine Nichte sein. Und sein Erbe. Eines Tages würde dieses Kind Cottingdean übernehmen. Andere Erben gab es nicht. Kit war tot – gut so …

Aber Edward konnte Lizzie helfen. Nach dem Gesetz war er immer noch ein Mann – und nicht nur irgendeiner, sondern der Besitzer des Hauses, das eines Tages ihrem Kind gehören würde.

Unter anderen Umständen wäre es seine Pflicht gewesen, zu heiraten und Erben für das Land und das Haus zu zeugen. Doch Lizzie trug bereits ein Kind unter dem Herzen – das einzige, in dessen Adern Danvers-Blut floss. Nun überschlugen sich seine drängenden Gedanken. Wenn er sie heiratete …

Seine Ohren dröhnten, und ein eigenartiges Schwindelgefühl erfasste ihn, als hätte er ein wunderbares Geheimnis entdeckt und herausgefunden, dass es auch in seinem Leben noch Hoffnung und eine Zukunft gab.

Während er im Bett lag, erschöpft von seinen ungeheuerlichen Überlegungen, fragte er sich, ob das Schicksal doch noch Erbarmen zeigte und ihm die so verzweifelt ersehnte Rettungsleine zuwarf, damit er vielleicht etwas aus den wertlosen Resten seiner zerstörten Existenz machen konnte.

Cottingdean besaß er bereits. Was hinderte ihn daran, auch noch alles andere zu ergattern? Kits Erbe gehörte ihm – warum sollte er nicht auch noch Kits Kind bekommen? In seiner Obhut, geborgen in seiner Liebe würde dieses Kind heranwachsen und viel mehr erhalten, als der leibliche Vater ihm jemals hätte geben können.

Und nicht zuletzt würde er Lizzie für sich gewinnen, die sanftmütige, schöne Lizzie, die durch das Grau seiner Tage schritt wie ein schimmernder, Leben spendender Regenbogen. Aber würde sie ihn heiraten wollen? Sie war jung, hübsch und begehrenswert. Wenn sie ihn heiratete und später verließ … Hatte er das Recht, sie an sich zu binden? Warum bot er ihr nicht einfach nur ein neues Zuhause an, einen sicheren Hafen? Nur, weil er wusste, dass die Leute tratschen würden, vor allem, sobald sie die Schwangerschaft bemerkten? Oder weil er schon seit langer Zeit den heimlichen Wunsch hegte, sein armseliges Leben mit diesem Mädchen zu verbringen?

Schlaflos warf sich Lizzie im Bett umher. Je näher der Morgen rückte, desto größer wurde ihre Angst.

Die Oberschwester hatte keinen Zweifel daran gelassen, wie Tante Vi die Neuigkeit aufnehmen würde. Kalte Furcht vor der Zukunft brach sich allmählich Bahn durch die Trauer um Kit, der – das erkannte sie jetzt – niemals wirklich zu ihr gehört hatte.

Ihr Herz hämmerte schmerzhaft gegen die Rippen, und sie fühlte sich so einsam – noch einsamer als während der ersten Tage im Haus ihrer Tante.

Zum ersten Mal wünschte sie, kein Baby zu erwarten, doch diesen Gedanken verdrängte sie sofort und schämte sich ihrer Schwäche. Wie konnte sie Kits Kind das Leben missgönnen? Schützend legte sie die Hände auf ihren Bauch und bat den wachsenden Fötus um Verzeihung. Natürlich wollte sie das Baby gebären, natürlich liebte sie es, natürlich würden sich alle Qualen lohnen, die sie noch erdulden musste.

Und dann erinnerte sie sich an die Schicksale der wenigen Frauen in ihrem Bekanntenkreis, die uneheliche Kinder zur Welt gebracht hatten. Die Dorfbewohnerinnen mieden diese armen ledigen Mütter wie die Pest, die Männer verspotteten sie, die Kinder wurden von den anderen verachtet. Tränen brannten in Lizzies Augen. Eines dieser Mädchen, etwa so alt wie sie selbst, hatte sogar Selbstmord begangen, um dem bösartigen Klatsch zu entrinnen.

Sie erschauerte voller Angst vor dem Leben, das ihr und dem Baby bevorstand. O Kit, wie konntest du mich verlassen, fragte sie in Gedanken. Ich brauche dich so sehr … Aber sie war allein, und Kit war ohnehin nie für sie bestimmt, sondern mit einer anderen verlobt gewesen. Er hatte sie hintergangen – und sie hatte ihm geglaubt. Seine heiße Liebe – für Lizzie ein so kostbares Geschenk – war niemals über körperliche Begierde hinausgegangen. Bedrückt erinnerte sie sich, dass sie sich ihm nur aus Liebe hingegeben und keinerlei sexuelle Gefühle empfunden hatte.

Edward wartete bis zum Schichtwechsel am Morgen. Zu diesem Zeitpunkt entstand immer eine gewisse Unruhe in der Abteilung.

Er bat einen Patienten, ihn in den kleinen Seitentrakt zu bringen, wo Lizzie lag. Als sie die Räder des Rollstuhls knarren hörte und ihm entgegensah, wurde sie rot vor Verlegenheit. Sofort merkte er, wie sie vor ihm zurückschreckte. Mitleid und Zorn erfüllten ihn. Sie war bereits gezeichnet vom Stigma der Verworfenheit, das sie seinem Vetter verdankte, hatte die frische Aura der Unschuld verloren, und man merkte ihr bereits die Bürde des Kindes an, das ihr Körper barg.

Sie wandte den Kopf ab. Der andere Patient entfernte sich, ließ die beiden allein in dem winzigen Raum, nachdem Edward ihn gebeten hatte, in zehn Minuten wiederzukommen.

Tränen verdunkelten Lizzies Blick, und sie konnte ihren Besucher nicht anschauen. Die anderen hatten es nicht geschafft, Schamgefühle in ihr zu wecken. Das gelang nur Edwards ruhigem, sanftem Gesicht.

Er beobachtete, wie ihre Schultern bebten, und neuer Zorn stieg in ihm auf. Allein dafür hätte er Kit umbringen können.

„Lizzie, nicht …“ Behutsam legte er eine Hand auf ihren Arm. „Es war Kit, nicht wahr? Sie erwarten ein Kind von meinem Vetter. Und es ist meine Schuld, dass Sie sich jetzt in dieser Situation befinden. Meine Ungeschicklichkeit gestern …“

„Stimmt es, dass er mit einer anderen verlobt war?“

Edward hielt den Atem an. Damit hätte er rechnen müssen. Lizzie, dieses arme Mädchen, hatte Kit geliebt. Natürlich – sie war nicht der Frauentyp, der sich einem Mann ohne Liebe hingab. Sekundenlang fühlte er sich versucht, die Wahrheit zu sagen, doch er brachte es nicht übers Herz. „Ja“, bestätigte er und fügte rasch hinzu: „Aber als ich ihn das letzte Mal sah, kündigte er an, er würde seine Verlobung lösen …“

Vielleicht war es gar keine Lüge. Soviel er wusste, hatte Kit zwar beabsichtigt, Lillian zu heiraten, sie aber nie geliebt. Edward bezweifelte, dass sein Vetter jemals eine andere Person geliebt hatte als sich selbst. Doch diesen Gedanken sprach er nicht aus.

„Ich habe nur zehn Minuten Zeit, Lizzie, und ich muss mit Ihnen reden. Bitte hören Sie mir zu. Sicher sind Sie jetzt furchtbar unglücklich. Aber was ich Ihnen zu sagen habe, ist nicht nur für Sie selbst, sondern auch für Ihr Kind wichtig.“

Er sah, wie sich ihr Körper versteifte, und obwohl sie ihm den Kopf nicht zuwandte, wusste er, dass sie ihm ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte.

„Dieses Kind wird eines Tages mein Erbe sein und Cottingdean erhalten, das mir von Kit hinterlassen wurde. Dr. Marshall erklärte mir, man würde Sie heute zu Ihrer Tante schicken. Und wie ich seinen Worten entnahm, wird diese Frau Sie nicht willkommen heißen. Lizzie, Sie wissen genauso gut wie ich, dass ich für den Rest meines Lebens ein Invalide bleiben werde, abhängig von anderen Menschen. Ob ich jemals ein Kind zeugen kann, ist zweifelhaft. Aber Ihr Kind, Kits Kind, hat das Recht, in Haus Cottingdean aufzuwachsen. Immerhin wird es eines Tages ihm gehören. Ich wünschte, ich könnte Ihnen den Schutz meines Hauses als Ihr Schwager anbieten und Kits Witwe bei mir aufnehmen – oder wir könnten Ihre Beziehung zu ihm freimütig bekannt geben. Aber das ist leider unmöglich. Begleiten Sie mich mit dem Baby nach Cottingdean. Das ist Ihr Recht. Wäre Kit am Leben geblieben, hätte er sie geheiratet und selbst dorthin gebracht.“ Natürlich hätte sein Vetter das niemals getan, aber es wäre zu grausam gewesen, die Wahrheit zu sagen. „Heiraten Sie mich, Lizzie.“

Sie setzte sich im Bett auf und starrte ihn an. Träumte sie, oder hatte Edward ihr soeben einen Antrag gemacht? Sie unterdrückte das hysterische Bedürfnis, in Gelächter auszubrechen. Es wäre ein bitteres Lachen gewesen, kein belustigtes. So lange hatte sie den Augenblick herbeigesehnt, in dem Kit sie bitten würde, ihn zu heiraten, und sich die Ehe mit ihm ausgemalt. Edwards Vorschlag erschien ihr nun wie eine Parodie ihrer inständigen Wünsche, wie ein brutaler, fast unerträglicher Hohn des Schicksals.

Edward zu heiraten … So nett und gütig er auch sein mochte, er würde zeitlebens ein Invalide bleiben, das hatte er selbst betont. Ein richtiger Ehemann konnte er wohl niemals werden, und daran wäre sie auch gar nicht interessiert – nicht in sexueller Hinsicht. Diese Dinge gehörten endgültig der Vergangenheit an. Nie wieder würde sie einem Mann erlauben, sie so zu lieben, wie Kit es getan hatte.

Natürlich konnte Edward nie den Platz seines Vetters einnehmen. Aber er würde sie beschützen, flüsterte eine innere Stimme, und sie mitsamt ihrem ungeborenen Kind in den Mantel der Ehrbarkeit hüllen. Und er konnte verhindern, dass sie zu ihrer Tante geschickt wurde.

Nein, er war nicht Kit, aber welcher Mann würde das jemals sein? Sie erschauerte und versuchte vergeblich, sich vorzustellen, sie könnte mit einem anderen solche Intimitäten teilen wie mit Kit, die sie sogar in den Armen des Geliebten schmerzhaft widerwärtig gefunden hatte. Wenn sie ehrlich war, empfand sie sogar Erleichterung, weil sie davon verschont werden sollte.

Edward zu heiraten … Sie müsste Nein sagen. Warum tat sie es nicht?

„Denken Sie an das Kind!“, drängte er und wusste, was ihr durch den Kopf ging. Deutlich vermochte er in ihren klaren Augen zu lesen, was sie dachte. „Ich verstehe, welch ein Opfer Sie bringen würden. Aber es wäre Kits Wunsch, dass sein Sohn oder seine Tochter in Cottingdean aufwachsen könnte.“ Seinem Vetter wäre es verdammt egal gewesen, doch das würde Lizzie nie erfahren. „Heiraten Sie mich!“, verlangte er. Plötzlich kühn und entschlossen, erinnerte er sie in diesem Moment so qualvoll an Kit, dass sie in Verwirrung geriet.

Sie fühlte sich schwach und hilflos. Die ganze Nacht hatte ihr vor der Zukunft gebangt, und nun bot Edward ihr eine Zufluchtstätte an, neue Hoffnung für ihr Baby und sie selbst. Und er hat recht, überlegte sie und holte tief Atem. Kits Sohn musste im Haus seines Vaters heranwachsen, vor dem Makel der unehelichen Geburt bewahrt werden.

„Es wäre Kits Wunsch“, wiederholte Edward eindringlich.

„Kits Wunsch …“ Ja, natürlich. Auf einmal erschien ihr alles ganz einfach. Sie musste Edward heiraten. Dann würde sie, zusammen mit ihrem Kind, für immer in Sicherheit sein, das Baby vor bösartigem Tratsch, sie selbst vor grausamer männlicher Sexualität gerettet werden.

Wenn sie Edwards Frau war, konnten ihr andere Männer nichts mehr anhaben. Und er würde niemals imstande sein, jene körperlichen Intimitäten von ihr zu fordern, die sie so fürchtete. Obwohl sie erst achtzehn Jahre zählte, kam sie sich plötzlich wie eine Greisin vor.

6. KAPITEL

„Heute haben Edward und ich geheiratet.“ Lizzie starrte auf die Worte, als wären sie in einer Fremdsprache geschrieben und würden ihr nichts bedeuten. Welch ein Unterschied zu dem heißen Glück in jenem Augenblick, als sie ihrem Tagebuch die Begegnung mit Kit anvertraut hatte …

Alles war so schnell geschehen. Wegen ihrer Minderjährigkeit hatte Edward vor der Hochzeit Tante Vis Erlaubnis einholen müssen. Wie ihm das gelungen war, verstand Lizzie nicht, denn die Tante wollte nichts mehr mit der Nichte zu tun haben. Lizzie hieß jetzt Mrs Danvers. Schmerzhaft krampfte sich ihr Herz zusammen. Mrs Edward Danvers. Eigentlich müsste ihr Name Mrs Christopher Danvers lauten. Ihre Augen fühlten sich trocken an, wie ausgedörrt. Sie hatte schon zu viele Tränen vergossen. Nun waren keine mehr übrig.

Plötzlich konnte sie es nicht mehr erwarten, das Krankenhaus zu verlassen, das neue Leben zu beginnen, das Edward ihr versprochen hatte. Wie ein kleiner Junge freute er sich auf die Rückkehr in das Heim seiner Kindheit. Er beschrieb es in so glühenden Farben, dass sie es deutlich vor ihrem geistigen Auge sah. Würde sie in eine so elegante Umgebung passen? Mit ihrer Tante hatte sie solche Häuser besucht und war immer etwas eingeschüchtert gewesen. All die hübschen Antiquitäten, das kostbare Porzellan, die pastellfarbenen Teppiche, die glänzend polierten Parkettböden …

Aber in Cottingdean würde es anders sein. Das war ihr neues Heim. Dort würde sie als Hausherrin leben, ihr Kind als der künftige Erbe. Nicht nur ihr, sondern auch Edwards Kind.

Der Einzige, der versucht hatte, ihr die Hochzeit auszureden, war Dr. Marshall gewesen. Wisse sie tatsächlich, was diese Ehe für ihr ganzes weiteres Leben bedeute, fragte er bärbeißig, während sie ihn apathisch anstarrte, und fügte dann fast wütend hinzu: „Um Himmels willen, Kindchen, Ihnen muss doch klar sein, dass Edward niemals ein richtiger Ehemann sein wird. Im Augenblick stört Sie das nicht – kein Wunder bei Ihrem Zustand. Aber in späteren Jahren …“

Lizzie war errötet, nicht vor Verlegenheit, sondern wegen ihres schlechten Gewissens. Sie fühlte sich erleichtert, weil sie nie wieder diese widerwärtigen Intimitäten ertragen musste. Wenn sie den Sex nicht einmal mit Kit genossen hatte – wie sollte sie dann mit einem anderen Freude daran finden? Offensichtlich gehörte sie zu den Frauen, die von ihrem Wesen her unfähig waren, sinnliche Lust zu verspüren. Kit hatte das angedeutet, und sie gab ihm recht.

Nur vage nahm sie Edwards Freundlichkeit und Fürsorge wahr, sein Bemühen, sie zu schützen. Die Trauer um Kit, das Wissen, dass sie den schmerzlichen Verlust um des gemeinsam gezeugten Kindes willen verkraften musste, beherrschte ihre Gedanken und ließ keinen Raum für etwas anderes.

Mithilfe einer besonderen Alchimie, die dem weiblichen Geschlecht eigen war, hatte sie den arroganten, selbstsüchtigen, leichtfertigen Kit in das Gegenteil verwandelt. In ihrer Erinnerung bewahrte sie ihn als vollkommenen Menschen, ihre einzige große Liebe. Das Leben mit Edward würde nur ein düsterer Schatten sein, verglichen mit dem hellen Glanz ihrer Gefühle für Kit.

Der Vikar, der in den Kriegsjahren mehr überstürzte Trauungen vorgenommen hatte, als er sich entsinnen wollte, war beim Anblick des Paares erschrocken. Die Braut – zu jung, der Bräutigam – viel älter und sichtlich krank … Zu Lizzies Überraschung hatte Edward einen Fotografen bestellt, der sie beide beim Verlassen der Kirche knipste, beobachtet von einer großen Zuschauermenge.

„Für das Kind“, erklärte Edward später, und sie runzelte in plötzlicher Eifersucht die Stirn, bestrebt, Kits Rechte an seinem Sohn zu schützen. Es war Kits Kind, das sie unter dem Herzen trug. Wenn es alt genug sein würde, wollte sie ihm alles über seinen Vater erzählen … Abrupt unterbrach sie ihre Gedanken. Was wusste sie schon von Kit? Sie würde sich auf die Informationen verlassen müssen, die Edward ihr geben konnte. Aber er beabsichtigte, das Kind als sein eigenes großzuziehen. Das hatte er bereits erklärt, und sie war zu betäubt von ihrem Schock gewesen, zu verzweifelt über Kits Tod, um zu protestieren.

„Wenn wir nicht heiraten, werden die Leute reden“, hatte Edward sie gewarnt. Nun erschauerte sie, während sie in dem dünnen Baumwollkleid, das er ihr gekauft hatte, vor der Kirchentür an seiner Seite stand. Eine Gänsehaut überzog ihren ganzen Körper. Sie war schrecklich verlegen gewesen, als er ihr das Geld gegeben und sie gedrängt hatte, ein hübsches Brautkleid auszusuchen. Und sie war nahe daran gewesen, ihm zu sagen, sie würde sein Geschenk lieber verwenden, um etwas für das Baby zu kaufen. Aber ein ungewohnter weiblicher Instinkt mahnte sie zur Vorsicht, und sie schwieg. Das einzige Kleid, das sie gefunden hatte, war zu groß, aus billigem, dünnem Stoff, kein Schutz vor dem heulenden kalten Wind auf dem kleinen Friedhof.

Als sie den Rollstuhl an den Zuschauerreihen vorbeischob, merkte sie plötzlich, wie trostlos und melancholisch ihre Umgebung wirkte. Stumm zeugten die Grabsteine von vergangenen Generationen. Kit hatte keinen Grabstein. Nichts markierte seinen viel zu kurzen Erdenaufenthalt. Sie fröstelte wieder und wandte sich impulsiv an Edward. „Gibt es in Cottingdean eine Kirche? Könntest du irgendeine kleine Gedenkstätte für Kit errichten lassen?“

Er tätschelte ihre Hand, sein Mitleid kämpfte mit seiner Eifersucht. Wie jung sie war, wie verletzlich … Und in ihrer jugendlichen Naivität erkannte sie noch immer nicht, wie Kit wirklich gewesen war. Beinahe konnte er in ihrem Herzen die Absicht lesen, das Bild seines Vetters darin zu bewahren. Trotz seines Todes würde Kit sein Leben beherrschen.

Edward war nicht grausam. Die harten Schicksalsschläge, die ihn getroffen hatten, lehrten ihn Verständnis für die Schwächen anderer. Lizzie war jung und formbar. Und viel wichtiger: Sie erwartete das Kind, das eines Tages Cottingdean erben würde. Er wollte sich ihr nicht entfremden, ihren Traum nicht zerstören, ihr nicht wegnehmen, was sie vielleicht als lebensnotwendige Stütze brauchte. Aber er würde keineswegs erlauben, dass dieses Kind – sein Kind – voller Bewunderung für ein fiktives Bild seines Vetters aufwuchs.

Sein Kind … Das würde Kits Sohn oder Tochter sein, in allen Belangen, die eine Rolle spielten. Er musterte seine junge Frau. Später würde er genug Zeit finden, um ihr klarzumachen, dass niemand außer ihnen beiden von der wirklichen Herkunft des Kindes wissen durfte. Genug Zeit … Er liebte sie, und vielleicht – irgendwann …

Eine Hochzeitsfeier fand nicht statt. Die Lebensmittel wurden rationiert, und die Oberschwester der Klinik war wütend, weil sie glaubte, Lizzie hätte sich nicht nur auf raffinierte Weise vor der selbst verschuldeten Schande gerettet, sondern wäre auch noch unverdientermaßen in eine höhere Gesellschaftsschicht aufgestiegen. Edward Danvers mochte ein Invalide sein und kaum einen Penny besitzen, aber er gehörte nach wie vor zur Elite, zur mysteriösen Hierarchie der oberen Klasse. Die Oberschwester verachtete Lizzie. Das Mädchen hatte kein Rückgrat, war immer viel zu sanft mit den Patienten umgegangen. Trotzdem hatte es dieses schamlose hinterhältige Ding irgendwie geschafft, einen dieser Männer zu heiraten …

Sie verließen die Klinik mit nur zwei Gepäckstücken, Edwards altem, abgewetztem Lederkoffer, der immer noch die Initialen seines Vaters aufwies, und einem ähnlichen, der nicht von Lizzies Vater, sondern von Lady Jeveson stammte. So wie das dicke Tweedkostüm, das sie vor der Kälte schützte.

Das einzige Taxi des Dorfes brachte sie zum Bahnhof. Auf dem Bahnsteig drängten sich amerikanische Soldaten mit ihren Freundinnen – hübschen Mädchen, die schimmernde amerikanische Nylonstrümpfe trugen und die Lippen grellrot bemalt hatten. Der Zug war überfüllt, sogar in dem Erste-Klasse-Waggon, auf dem Edward bestanden hatte. Nie zuvor war Lizzie erster Klasse gefahren. Sie hatte erwartet, ihre Mitreisenden würden den Leuten gleichen, die Tante Vi manchmal besuchte – steife, hochnäsige Witwen mit eingeschüchterten Töchtern, Schwiegertöchtern, Enkeln und Hunden, die besser behandelt wurden als die Kinder. Aber die Insassen des Abteils waren zwei amerikanische Soldaten mit ihren Mädchen. Einer erinnerte Lizzie an Kit, nicht vom Aussehen, sondern vom Verhalten her, und neue Verzweiflung erfasste sie.

Stumm saß Edward neben ihr im Rollstuhl. Seit sie in den Zug gestiegen waren, hatten sie kein einziges Wort gewechselt, und sie schämte sich, weil sie auch gar nicht mit ihm reden mochte. Sie wollte mit ihren Gedanken an Kit allein sein, mit dem Wissen, dass sie sein Kind gebären würde. Wie desorientiert und verwirrt sie sich fühlte … Zu viel war in kurzer Zeit geschehen, zu schnell.

Auf den gegenüberliegenden Plätzen lachten und rauchten die Amerikaner mit ihren Mädchen. Der Mann, der Lizzie an Kit erinnerte, legte einen Arm um die Taille seiner Freundin, die kichernd protestierte. „Komm schon, Baby!“, rief er. „Letzte Nacht warst du nicht so widerspenstig.“ Er grinste seine Kameraden an, und zu Lizzies Entsetzen griff er ungeniert in den Ausschnitt seiner Begleiterin.

Von schmerzlichem Unbehagen erfüllt, sah sie in dem Paar plötzlich keine Fremden, sondern sich selbst und Kit. Und sie versteifte sich angesichts der offenkundigen sexuellen Gefühle zwischen den beiden. Sie erschauerte, und das andere Mädchen fragte besorgt: „Alles in Ordnung mit Ihnen, Kindchen?“ Als Lizzie nickte, fuhr die junge Frau fort: „Ihr Vater sieht gar nicht gut aus. Jetzt ist er eingeschlafen – sicher das Beste für ihn.“

Lizzie starrte sie an. Das Mädchen hielt Edward für ihren Vater. Sie wusste, wie alt er war – knapp dreißig. Das erschien ihr ziemlich alt, aber Kit war nur wenige Jahre jünger gewesen. Natürlich sah ihr Mann älter aus, mit seinem grauen Haar und dem schmerzverkrümmten Körper. Aber ihr Vater …

Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie der Soldat, der sie an Kit erinnerte, seine Freundin küsste. Er presste sie so leidenschaftlich an die staubige Rückenlehne, dass Lizzie wegschauen musste. Erleichtert atmete sie auf. Nie mehr würde sie sich männlicher Begierde unterwerfen, nie wieder solche Gefühle vortäuschen müssen … Sie akzeptierte ihre Abneigung gegen Sex als Charakterzug und kam gar nicht auf den Gedanken, Kits mangelndes Feingefühl dafür verantwortlich zu machen, seine Lieblosigkeit oder die Prüderie ihrer Tante, die ihr eingebläut hatte, Intimitäten zwischen Mann und Frau dürften nur erduldet und nie genossen werden. Zu jung, um sich eine eigene Meinung zu bilden und eigene Wertmaßstäbe zu entwickeln, bezweifelte sie nicht, dass Tante Vi den richtigen Standpunkt vertrat.

Ein Impuls, den sie nicht ganz verstand, veranlasste sie, ihre Hand mit dem zerkratzten Ehering zu heben, der Edwards Mutter gehört hatte und viel zu locker am Finger saß. „Edward ist nicht mein Vater, sondern mein Mann.“ Tapfer blickte sie der jungen Frau in die Augen, forderte sie heraus, Mitleid oder Bestürzung zu zeigen. Obwohl sie es selbst nicht erkannte, war dies der erste Schritt zu einer neuen Reife.

Edward schlief nicht. Dafür quälten ihn zu starke Schmerzen. Er hatte zugehört und fragte sich nun bedrückt, was die Zukunft bringen würde. War es verrückt gewesen, Lizzie zu heiraten? Vorläufig befand sie sich immer noch im Zustand eines Schocks, war zu verzweifelt über Kits Tod, um zu begreifen, was mit ihr geschah. Sicher verspürte sie eine gewisse Dankbarkeit, weil er ihr half, vor ihrer Tante zu flüchten, vor der Armut, weil er sie vor dem Stigma eines unehelichen Kindes bewahrte. Aber wenn der Schock nachließ, wenn ihr die Realität dieser Ehe bewusst wurde – was würde sie dann empfinden? Würde sie ihm immer noch dankbar sein oder ihn hassen, als Bürde betrachten? Sie war erst achtzehn, viel zu jung, um an einen Mann wie ihn gefesselt zu werden. Aber er liebte sie so sehr und brauchte sie.

In Bath mussten sie aussteigen und drei Stunden auf den langsamen Lokalzug warten, der sie nach Cottingdean bringen würde. Lizzie bemerkte Edwards Erschöpfung und ahnte, dass ihn heftige Schmerzen peinigten. Dr. Marshall hatte ihr Medikamente für ihren Mann gegeben, auch einen Brief für den Hausarzt der Danvers, sie vor möglichen Komplikationen gewarnt und betont, Edward würde stets das Leben eines Invaliden führen. Sie hatte es kommentarlos hingenommen, ohne sich klarzumachen, was es bedeutete.

Während sich die Lokalbahn durch kleine Dörfer wand, bemerkte sie, was Edward neue Kraft gab – die Rückkehr an den Ort, wo er einmal glücklich gewesen war. Sie versuchte sich Haus Cottingdean vorzustellen, indem sie sich an die Beschreibungen ihres Mannes erinnerte, sah aber nur ein formidables, abweisendes, riesiges Gebäude vor sich, ähnlich den Häusern, die ihre Tante nur durch die Hintertür betreten hatte. Und sie selbst würde nun die Herrin von Cottingdean sein. Dieser Gedanke ließ sie frösteln. Und als der Zug in der kleinen Station hielt, war Lizzie müde und nervös. Bald stand sie auf dem Bahnsteig, allein mit Edward, und ihr Magen verkrampfte sich.

Edward hatte dem älteren Ehepaar, das sich um das Haus kümmerte, seine Ankunft mit Lizzie telegrafisch mitgeteilt. Aber vor dem Bahnhof wartete kein Taxi.

Schließlich ging Lizzie in das schäbige Bahnhofsbüro und wandte sich an den Beamten, einen älteren Mann, der verständnislos die Stirn runzelte, als sie ihr Anliegen vorbrachte. „Hier gibt’s kein Taxi, Missie. Wenn die Leute irgendwohin wollen, benutzen sie die Kutsche vom alten John Davies – oder die eigenen Beine“, fügte er hinzu. „Der Einzige, der hier ein Auto hat, ist der Doktor. Und der hat gerade auf Millers Farm zu tun, wo Maisie Miller ihr fünftes Kind kriegt.“

Lizzie kehrte zu Edward zurück, um zu berichten, was sie erfahren hatte. Sie erschrak über seine aschgrauen Wangen. Kein Wunder, dass das Mädchen im Zug ihn für älter gehalten hatte … Jetzt wo sie ihn fern von der vertrauten Umgebung des Krankenhauses sah, fiel ihr erst so richtig auf, wie gebrechlich er wirkte, und das beunruhigte sie. In der Klinik war ihr seine Schwäche selbstverständlich erschienen. Aber nun verglich sie ihn mit anderen Männern, mit den amerikanischen Soldaten, sogar mit dem älteren Bahnbeamten, dessen wettergegerbte Haut kerngesunde Röte zeigte. Zum ersten Mal wurde ihr voll und ganz bewusst, wie krank Edward war. „Wie weit ist es bis Cottingdean?“, fragte sie ihn.

„Etwa zwei Meilen.“

„Oh, dann werden wir’s schon schaffen.“ Sie versuchte zu verbergen, wie entmutigt sie sich fühlte, wie verängstigt und einsam. Plötzlich erkannte sie, dass sie nicht nur für Kits Baby die Verantwortung trug, sondern auch für Edward. Sie war seine Frau, er ihr Mann. Eigentlich müsste er sie beschützen, nicht umgekehrt.

Er protestierte, aber sie merkte ihm an, wie müde er war, wie sehr er sich nach seinem Heim sehnte. Sicher würde der Fußmarsch nicht so lange dauern wie die Suche nach einem Fahrzeug. Und sie hatte den Rollstuhl schon oft über weite Strecken durch den Krankenhauspark geschoben. Doch da war sie nicht schwanger gewesen, noch nicht Edwards Frau, noch nicht so hilflos und allein.

Sie hatten Cottingdean am Spätnachmittag erreicht. Das Dorf war verlassen, die einzige Straße so malerisch, wie Lizzie sich das vorgestellt hatte, mit einer einladenden Aura, verstärkt durch die grüne sommerliche Landschaft. Edward dirigierte sie zu einem Weg, der von der Hauptstraße abzweigte. Zu beiden Seiten schimmerten Mohnblumen im reifen schwankenden Getreide, in dichten Hecken blühten bleiche wilde Rosen. Gras wuchs auf dem Weg, der offenbar nur selten benutzt wurde. Er führte leicht bergauf, und bald geriet Lizzie außer Atem, während sie den schweren Rollstuhl vor sich her schob. Immer wieder musste sie ihn über Steine bugsieren, die sich zwischen Grashalmen versteckten. An die glatten Pfade im Krankenhauspark gewöhnt, fand sie das sehr mühsam. Sie wünschte, sie könnte stehen bleiben und sich ausruhen, ihre Knie zitterten, die Armmuskeln schmerzten. Aber ein seltsamer Zwang verwehrte ihr eine Rast.

Es kam ihr so vor, als müsste sie einen Kampf in ihrem Innern ausfechten und in Cottingdean eintreffen, ohne dem körperlichen Bedürfnis nach einer Ruhepause nachzugeben. Irgendetwas schien sie zu mahnen, es sei an der Zeit, ihre Verletzlichkeit und Angst abzulegen, ihr Leben und sich selbst unter eiserne Kontrolle zu bringen, so schwer ihr das auch fallen mochte.

In diese sonderbaren Gedanken versunken, hatte sie aufgehört, die Umgebung zu betrachten. Plötzlich rief Edward aufgeregt: „Schau, Lizzie, da ist Cottingdean!“

Seine Stimme klang so freudig und stolz, dass Lizzie automatisch über die niedrige Ansammlung von Gebäuden mit den hohen, schiefen Schornsteinen hinwegblickte und instinktiv nach etwas Imposanterem suchte, das zu Edwards enthusiastischen Beschreibungen passen würde. Nur langsam wurde ihr bewusst, dass es da nichts gab außer diesen spitzen Dächern, den Schornsteinen, die jeden Moment zusammenzubrechen drohten. Das also war Edwards geliebtes Cottingdean.

Später seufzte sie erleichtert, weil er ihr Gesicht in jenen Sekunden nicht gesehen hatte und neben all seinen anderen Problemen nicht auch noch mit dem ungläubigen Entsetzen seiner Frau fertig werden musste. Wie konnte man einen so vernachlässigten, halb verfallenen Haufen aus Steinen und Dachziegeln lieben?

„Haus Cottingdean!“, verkündete Edward triumphierend. Offenbar sah er das Anwesen mit anderen Augen als Lizzie, nahm den desolaten Zustand der Gebäude, die eingesunkenen Dächer, die feuchten, von Flechten überwachsenen Mauern nicht wahr.

Der Weg endete an einem offenen, altersschwachen hölzernen Doppeltor, das – in eine Gartenmauer eingelassen – Edward zu verwirren schien. Er starrte es an, während Lizzie ihre Bestürzung zu verbergen suchte. Diese Ruine zwischen üppig wucherndem Unkraut, umgeben von ertraglosen, armseligen Äckern, war also das Paradies, das ihr Mann so begeistert beschrieben hatte, das Paradies, wo ihr Kind aufwachsen sollte.

Sie traute ihren Augen nicht, schaute Edward an und erwartete, seine Miene würde ihre eigene Enttäuschung widerspiegeln. Doch er schien die Zeichen des Verfalls nicht zu bemerken. „Cottingdean! Endlich! Das Tor sieht ein bisschen mitgenommen aus, aber jetzt, nach dem Krieg, wird sich vieles ändern.“

Lizzie staunte, weil er an so etwas denken konnte. Ihre eigene Sorge galt den unmittelbaren Bedürfnissen. Sie brauchten etwas zu essen. Und wo sollten sie die Nacht verbringen? Sicher nicht in dieser unbewohnten Ruine. Wo mochte das Ehepaar sein, das sich laut Edward um das Haus kümmerte? Sie hatte geglaubt, der Luxus dieses Gebäudes, die historischen Traditionen, das zahlreiche Personal würden sie überwältigen. Doch ihr neues Heim war offensichtlich nur eine leere Hülle.

„Ich frage mich, was aus den Johnsons geworden ist.“ Edward runzelte die Stirn, als Lizzie den Rollstuhl die von Unkraut überwachsene Zufahrt hinter dem Tor entlang schob. „Kit sagte mir, die beiden würden hierbleiben, bis er das Haus verkauft hätte. Zu Beginn des Kriegs wurde es requiriert, aber nie benutzt. Seit dem Tod meiner Großmutter hat keiner meiner Angehörigen hier gelebt.“

Erkannte er nun den gewaltigen Unterschied zwischen seinen Erinnerungen und der Realität? Plötzlich empfand sie den fast mütterlichen Wunsch, ihn zu beschützen, damit er sich noch ein bisschen länger an seine Träume klammern konnte. Nur zu gut wusste sie, wie weh der Verlust solcher Träume tat. Sie selbst fand jetzt nur noch bei Kits Kind Trost.

Beim Anblick der sperrangelweit geöffneten Haustür wurde ihr das Herz schwer. Nein, hier wohnte schon lange niemand mehr, was immer man Edward erzählt haben mochte. Sie brachte den Rollstuhl zum Stehen und vermutete, nun würde ihr Mann vorschlagen, ins Dorf zurückzukehren und ein Nachtquartier zu suchen. Aber er schwieg, und sie trat vor ihn hin, um ihn anzuschauen. Sein Gesicht verzerrte sich, als wäre er ein entsetztes, verzweifeltes Kind. „Ich begreife das nicht. Wo sind die Johnsons? Warum ist niemand da? Das Haus wirkt fast verlassen …“

Aus seiner Stimme hörte sie deutlich die flehende Bitte heraus, sie möge ihm widersprechen, doch das konnte sie nicht. Und sie brachte es auch nicht fertig – obwohl es nötig gewesen wäre –, ihm zu sagen, sie müssten ins Dorf zurück, es sei sinnlos, hineinzugehen, wo nur weitere Enttäuschungen warten würden. Stattdessen hörte sie sich fröhlich antworten: „Nun, dann wollen wir uns mal drinnen umsehen.“

Spinnweben überzogen das morsche Holz der Haustür. Dahinter lag eine dunkle Halle mit Steinfliesen – so düster, von einem so abscheulichen Modergestank erfüllt, dass Lizzie unwillkürlich zurückschreckte. Die Schwangerschaft hatte ihren Geruchssinn geschärft, und dieser Angriff auf ihre empfindliche Nase jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Es roch nach Verfall und Tod, nach versteckten, unterirdischen, von Licht und Wärme abgeschnittenen Räumen.

Aber Edward wollte offenbar hineingebracht werden, und so schob sie den Rollstuhl weiter. Dabei bemerkte sie den Grund der Finsternis. Nachlässig befestigte Verdunkelungsvorhänge verdeckten die Fenster. Als sich ihre Augen an das Dunkel gewöhnten, sah sie die Umrisse eines großen steinernen Kamins. An der gegenüberliegenden Wand führten Stufen zu einer Galerie hinauf. Die Holztäfelung verrottete, einzelne Paneele waren herausgerissen. Mehrere Türen gingen von der Halle ab.

Während Lizzie sich umschaute, rannte eine große Ratte über den Boden und quiekte erbost angesichts der Eindringlinge. „Eins müssen wir jedenfalls tun“, erklärte Lizzie und schlug, ohne es zu wissen, den Ton ihrer Tante an.

„Was?“, fragte Edward bekümmert. Offenbar vermochte er nicht zu glauben, was er erblickte. Anfangs hatte sich Lizzie über seine Weigerung, die Realität wahrzuhaben, geärgert.

Nun tat er ihr leid, und es drängte sie, ihm zu versichern, es sei nicht so schlimm, wie es aussehe.

„Wir sollten uns eine tüchtige Katze besorgen, die all diese Ratten verscheucht.“

„Da kann uns Vic, der Schäfer, bestimmt helfen. Falls wir noch einen Schafhirten und Schafe haben. Was ist bloß mit Cottingdean geschehen? Ich begreife es nicht.“ Seine Schultern hingen nach vorn, er wirkte alt und müde und gleichzeitig fast kindlich.

Instinktiv kniete sie neben dem Rollstuhl nieder und umfasste tröstend Edwards Hand. „So schlimm ist es gar nicht. Man muss nur sauber machen. Wenn die Johnsons zurückkommen, werden wir erfahren, was passiert ist …“

Er lachte rau. „Denk doch nach, Lizzie! Die kommen nicht wieder. Hier hat schon lange niemand mehr gewohnt. Es ist mir völlig rätselhaft.“

„Vielleicht sehen die anderen Räume besser aus“, versuchte sie ihn zu ermuntern. „Sehen wir uns doch mal um.“

Eine halbe Stunde später starrten sich Lizzie und Edward wortlos an. Offenbar hatte jahrelang niemand einen Fuß in dieses Haus gesetzt. In allen Zimmern zeigten sich die Spuren von Verfall und feuchter Kälte und Schimmel. Kein Raum war bewohnbar. Selbst wenn man überall gründlich sauber gemacht hätte, wäre es unmöglich gewesen, hier zu wohnen, weil es fast keine Möbel gab.

Lizzie kämpfte mit einem albernen Lachreiz, als sie an die Antiquitäten, das exquisite Porzellan, die Seiden- und Damaststoffe dachte, die sie sich vorgestellt hatte. Stattdessen traf sie nur Spinnweben und Schimmelpilze an, zerbrochene Fensterscheiben hinter Verdunkelungsvorhängen, ehemals teure Tapeten, die sich von den Wänden lösten, zerbröckelnde Zimmerdecken. Vom Mobiliar waren nur ein paar wackelige Tische und Stühle übrig geblieben, offenbar für die Soldaten bestimmt, die hier ursprünglich hätten stationiert werden sollen.

Nur die Küche entsprach einigermaßen Lizzies Erwartungen, mit einem großen antiquierten Herd, einem zerkratzten Tisch, zwei Schaukelstühlen und einem Schrank voll schmutzigem Geschirr und Kupfer. In einer Ecke stand eine Spüle mit einem einzigen Wasserhahn. Versuchsweise drehte sie ihn auf, schnitt eine Grimasse angesichts des verschmutzten Beckens und beobachtete, wie das Wasser zu fließen begann. Sie hielt einen Finger unter den Strahl und sog daran. Die paar Tropfen schmeckten klar und frisch, die Kälte verriet, dass das Wasser aus einer unterirdischen Quelle stammte.

Sie blickte sich um und beurteilte, ohne es zu merken, diese Küche nach den Maßstäben ihrer Tante. Der Herd, wo man das Wasser offenbar erhitzen musste, eignete sich zum Kochen und Backen. Vielleicht würde er genügen, um den großen Raum zu erwärmen. Irgendwo in einem der Nebengebäude musste sich Brennholz stapeln – falls überhaupt welches vorhanden war. Als sie ein leises Geräusch hörte, drehte sie sich um. Zusammengesunken saß Edward im Rollstuhl, das Gesicht in den Händen verborgen. Und der Laut, der die Stille des Hauses zerriss, war ein Schluchzen. Er weinte um seine verlorene Liebe, so wie sie tagelang den Verlust ihrer eigenen beklagt hatte, um die betrogenen Erinnerungen an sein Heim, die ihn in dieser ganzen Zeit aufrechterhalten hatten. Nun wurde er mit der brutalen Wirklichkeit konfrontiert.

Hier konnten sie unmöglich bleiben. Aber welche Alternativen gab es? Sollte sie den Rollstuhl ins Dorf zurückschieben, zum Bahnhof, um auf einen Zug zu warten? Wohin? Nach Bath? Was würden sie dort tun?

Edward besaß zwar Cottingdean, aber nur sehr wenig Geld. Das hatte er ihr bereits erklärt. Die Schafherde, einst der Grundstock des Familienreichtums, war noch zu Lebzeiten seiner Großmutter durch Epidemien dezimiert worden, und es hatte an den nötigen finanziellen Mitteln gefehlt, um die Tiere zu ersetzen. Dann war der Krieg ausgebrochen. Unkluge Investments des Großvaters hatten die Lage weiterhin verschlechtert.

Nun lebte Edward von seiner Pension und den Einkünften aus einem kleinen Treuhandfonds. „Mein Gott, was habe ich dir angetan“, hörte sie ihn sagen. „Kit muss davon gewusst haben. Zum Teufel mit ihm!“ Sie sprach den Protest nicht aus, der ihr auf der Zunge brannte, denn sie hielt diesen Zeitpunkt für ungeeignet, um den Vater ihres ungeborenen Kindes zu verteidigen. Edward benahm sich wie ein Mann, der plötzlich von der Untreue seiner Geliebten erfahren hatte, war keiner Logik zugänglich, akzeptierte nichts außer der Vermutung, dass der Verfall des Hauses schon lange, bevor sein Vetter es geerbt hatte, eingesetzt haben musste. „Wir können nicht hierbleiben“, meinte er.

„Das müssen wir wohl“, erwiderte sie sanft. „Zumindest heute Nacht. Wenn ich Brennholz finde, mache ich Feuer im Herd. Vielleicht gibt’s oben ein paar Matratzen. Das wäre möglich. Immerhin wollte man hier Soldaten stationieren. Wenn wir sie vor dem Herd auslüften …“

„Du willst hier schlafen?“ Er starrte in ihre Augen, als zweifelte er an ihrem Verstand. „Ausgeschlossen!“

Allmählich verließ sie die Geduld. „Wir haben keine Wahl“, entgegnete sie energisch. „Verstehst du denn nicht? Ich kann den Rollstuhl unmöglich ins Dorf zurückschieben. Wer weiß, wann wieder ein Zug geht. Und wohin sollten wir fahren? Nach Bath? Was würden wir dort machen? Du sagtest, du hättest nicht viel Geld, wir müssten sparen, unser Gemüse und Getreide selbst anbauen, Schafe züchten.“ Bei diesen Worten schwebte ihr ein Leben vor, wie es ihre Tante führte – Milch von einer Jersey-Kuh, frisches Gemüse, saftiges Obst, Eier von eigenen Hennen. Doch dann erinnerte sie sich an die Wildnis zu beiden Seiten des Wegs und dachte bitter, dass es sehr lange dauern würde, einen Gemüsegarten anzulegen, die Felder zu bestellen.

„Ich wusste nicht, wie es hier aussehen würde“, flüsterte Edward. In seiner Erschöpfung und Niedergeschlagenheit glich er wieder einem Kind, einem sehr alten, gebrechlichen Kind.

Um ihre eigene Verzweiflung zu überspielen, sagte Lizzie betont munter: „Du wartest hier. Ich suche Brennholz. Und wenn wir Feuer im Herd machen …“

„Wir!“ Er lachte freudlos. „Wir!“ Doch sie hörte nicht mehr zu und eilte durch die Hintertür in den Hof.

Die Nebengebäude befanden sich in einem ähnlichen Zustand wie das Haupthaus, und sie konnte nicht hoffen, Brennholz zu finden. Offenbar hatte irgendjemand einen Teil der Wandtäfelung verheizt, also würde es keinen Holzvorrat geben. Trotzdem durchstöberte sie methodisch ein paar kleine, dunkle Schuppen. Im leeren Stall roch es immer noch nach Heu, Pferdemist und Leder. Eine große Plane verdeckte irgendetwas in einer Ecke. Lizzie hob sie nur aus reiner Neugier hoch. Darunter stapelten sich zahlreiche Holzscheite, und es kam ihr so vor, als hätte sie einen Goldschatz aufgespürt. Zunächst glaubte sie an eine Halluzination und blinzelte mehrmals. Aber das Brennholz verschwand nicht, und sie packte rasch ein paar Scheite in einen Eisenblecheimer.

Als sie mit ihrer schweren Last in die Küche taumelte, hob Edward kaum den Kopf. Seine Haut war aschfahl, und er rieb sich die Hände so wie immer, wenn ihn etwas bedrückte. Diese Gewohnheit hatte sie im Krankenhaus auch bei anderen Patienten beobachtet. Dies war kein gutes Zeichen. Sie sprach mit ihm, versuchte ihn aufzuheitern. Aber wann immer er ihren Blick erwiderte, schien er durch sie hindurchzuschauen.

Lizzie bat ihn um seine Streichhölzer, und er starrte sie verständnislos an. Vorsichtig zog sie das Schächtelchen aus seiner Tasche. Sie hatte kein Papier, um ein Feuer zu entzünden, und keine Axt, um die Scheite zu zerkleinern. Und so beschloss sie, den Verdunkelungsvorhang am Küchenfenster zu verwenden. Dann öffnete sie die Herdklappe. Wer immer hier zuletzt Feuer gemacht hatte, es war ihm zu mühsam gewesen, die Asche zu entfernen. Wenigstens schien der Herd noch zu funktionieren. Sie hatte schon befürchtet, der Schornstein könnte verstopft sein.

Sie musste auf den Rand des Spülbeckens klettern, um den Vorhang abzunehmen. Verwirrt schaute Edward ihr zu, und sie lächelte ihn beruhigend an, sagte aber nichts. Sie musste ihm Zeit lassen, damit er die Realität von Cottingdean akzeptieren lernte. Seltsam – jetzt, wo es etwas zu tun gab, fühlte sie sich nicht mehr so hilflos und verängstigt. Die schlichte Aufgabe, ein Feuer zu machen, wies sie irgendwie auf ihr Recht hin, ihr Leben zu kontrollieren. Und während sie wartete, bis die ersten Flammen aus dem glücklicherweise trockenen Holz züngelten, überlegte sie, dass sie ihr Geschick tatsächlich zum ersten Mal fast allein bestimmte. Keine Tante, keine Oberschwester – nur noch Edward würde ihren Lebensweg lenken.

Armer Edward … Wie konnte er das, wo es doch offensichtlich war, wer sich in dieser Ehe auf wen stützen würde? Wieso ihr das auf einmal klar wurde, konnte sie nicht ergründen. Anscheinend war die Erkenntnis allmählich aus dem Unterbewusstsein an die Oberfläche gedrungen. Von nun an würde sie die Verantwortung für drei Leben tragen. Und sie erinnerte sich an eine simple Wahrheit, auf die ihre Eltern und ihre Tante so oft hingewiesen hatten: Nichts auf der Welt bekommt man umsonst. Für alles musste man einen Preis zahlen. Das Schicksal hatte ihr Kit geschenkt, dann sein Leben dafür gefordert und ihr sein Kind überlassen – ein Bonus. Und es gönnte ihr auch noch Edward, den respektablen Status einer Ehefrau und ein Heim, Zukunftsaussichten für ihr Baby. Diese Zukunft würde sie allerdings erst gestalten müssen. Dass sie dies durfte – dafür würde sie wieder einen Preis zahlen und ihre Pflichten Edward gegenüber getreulich erfüllen. Sie würde ihn umsorgen und schützen, Cottingdean in den Traum zurückverwandeln, der ihn stets begleitet und sich jetzt als Illusion erwiesen hatte.

Woher all diese Gedanken kamen, wusste sie nicht, und es waren auch nur vage, nebelhafte Vorstellungen, die ihr durch den Sinn gingen wie Wolkenschleier, während sie das Feuer schürte. Später lief sie hinaus, um den Rauch zu prüfen, der aus dem Schornstein quoll, sprach mit Edward, versicherte, bald würde es warm in der Küche sein, stieg die Treppe hinauf und suchte nach Matratzen. Sie hoffte, der Herd würde den Wasservorrat im Waschküchenboiler erhitzen. Wenn nicht, wollte sie die großen Kessel auf dem Tisch benutzen. Hinter der Waschküchentür hatte sie bereits einen Holzbottich entdeckt.

Mit all diesen praktischen Aktivitäten beschäftigt, nahm sie ein Gefühl wahr, das in ihr wuchs – so intensiv, dass sie sich fragte, ob es eher von der Schwangerschaft als von ihrem eigenen Wunsch geweckt worden war. Dieses Gefühl glich einer inneren Stimme, die ihr befahl, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, Kräfte zu sammeln, um allen weiteren Schicksalsschlägen trotzen zu können. Dazu kam die sonderbare Überzeugung, ihre Fähigkeit, dem Gebot zu gehorchen, würde irgendwie mit diesem verfallenen Haus zusammenhängen. Wenn sie ihm neues Leben einhauchte, würde es ihr auch gelingen, ihr Leben unter Kontrolle zu bringen, die Trauer um Kit zu überwinden.

Dachte sie das nur um des Kindes willen, das einmal Cottingdean erben würde? Spürte sie seinetwegen den Wunsch, dieses Haus in altem Glanz erstrahlen zu lassen und lieben zu lernen? Oder war das alles nur ein närrischer, unerfüllbarer Tagtraum?

Sie konnten die Schlafzimmer nicht benutzen und mussten in der Küche übernachten, auf Matratzen, die Lizzie im Oberstock gefunden und über dem Herd von der feuchten Kälte befreit hatte. Ihre Gedanken ließen ihr noch keine Ruhe. Sie lag unter ihren eigenen Decken, während Edward in einiger Entfernung schlief, und erinnerte sich an seinen ungeschickten Versuch einer Umarmung. Es war nur aus Dankbarkeit geschehen, nicht aus Begierde – das wusste sie. Trotzdem hatten seine trockenen Lippen auf ihrer Wange heftigen Ekel erregt, und es war fast unmöglich gewesen, ihre Gefühle zu verbergen …

Während sie jetzt an den kleinen Zwischenfall dachte, erschauerte sie unwillkürlich. Ihre Reaktion auf Edwards Berührung bestätigte sie in der Überzeugung, wie angenehm es sein würde, von den sexuellen Aspekten der Ehe verschont zu bleiben.

Welch ein Glück, dass ich Edward gefunden habe, überlegte sie naiv, dass ich einen so gütigen, rücksichtsvollen Mann gefunden habe, der mein Kind als sein eigenes akzeptiert und uns beiden ein Heim bietet … Und was ihr fast ebenso wichtig erschien – niemals würde er ihre mangelnde sexuelle Lust kritisieren, so wie Kit es getan hatte.

Die Ehe begann nicht gerade auf konventionelle Weise. Trotzdem beschloss Lizzie, ihrem Mann eine gute Frau zu sein, ihm alle Fürsorge zu schenken, die er brauchte, ihn zu lieben und zu ehren, selbst wenn zu dieser Liebe niemals Leidenschaft gehören würde. Ehe sie endlich einschlief, nahm sie sich ganz fest vor, alles zu tun, um Edward ihre Dankbarkeit zu zeigen. Irgendwie würden sie Mittel und Wege finden, um Cottingdean wohnlich zu gestalten, in ein richtiges Heim zu verwandeln, in ein Heim voller Wärme und Liebe. Ihr Kind sollte ein Zuhause finden, so wie sie selbst es nicht mehr bewohnt hatte, nachdem sie zu ihrer Tante gezogen war.

7. KAPITEL

„Heute erfuhren wir, Japan habe offiziell kapituliert und der Krieg sei vorbei.“

Liz blickte auf die Worte, die sie geschrieben hatte, und Schuldgefühle erfassten sie. Seit der Ankunft in Cottingdean wurde ihr Leben von so vielen Hindernissen und Problemen bestimmt, dass sie dem Krieg keine Bedeutung mehr beimaß. Das lag auch an der abgeschiedenen Lage des Hauses. Hier gab es kein Radio, niemand brachte die Tageszeitungen, Besucher kamen nur selten. Den Grund für diesen letzteren Mangel hatte sie zunächst bei sich selbst gesucht. Aber die wenigen Besucher belehrten sie bald, wenn auch unwissentlich, eines Besseren.

Es verblüffte sie, wie bereitwillig die Leute sie als Edwards Frau akzeptierten, ihre Jugend und die großen Unterschiede zwischen der Achtzehnjährigen und dem viel älteren kranken Mann ignorierten. Doch wie sie bemerkt hatte, vermied es sogar der Vikar, Edward direkt anzuschauen. Nur Ian Holmes, ein robuster Nordengländer um die fünfzig, ging unbefangen mit den Gebrechen seines Patienten um.

Sicher, die Dorfbewohner begegneten Liz ziemlich reserviert, aber offenbar nicht, weil sie die Wahrheit über sie erraten hatten. Es lag einfach nur daran, dass die Danvers diesen Leuten fremd waren.

Vom Doktor erfuhren sie, das Ehepaar, das sich um Haus Cottingdean hätte kümmern sollen, sei vor über einem Jahr ausgezogen. Edward vermutete, sein Vetter müsste von dieser Situation gewusst haben. Jetzt konnte er Kit natürlich nicht mehr fragen, warum das Haus so sträflich vernachlässigt worden war.

Liz brauchte nur vierundzwanzig Stunden, um zu erkennen, wie dringend sie nun die Fähigkeiten benötigen würde, die Tante Vi ihr beigebracht hatte. Etwas langsamer kam ihr zu Bewusstsein, in welch hohem Maße auch die unbesiegbare Willenskraft der älteren Frau auf sie übergegangen war. Ein Mensch, der die Wahl hat, würde nicht hier wohnen wollen, sagte sie sich am ersten Morgen verzweifelt, als sie mit steifen Gliedern in der Küche erwachte, auf der immer noch feuchten Matratze, den Modergeruch in der Nase.

Aber gab es denn eine Alternative? Sie las das Entsetzen und die Verwirrung in Edwards Augen, nachdem er sie blinzelnd geöffnet hatte, das Unglück, das Gefühl tiefer Erniedrigung. Und in diesem Moment lud sie die Bürde, die sie für den Rest ihres Lebens tragen würde, endgültig auf ihre Schultern.

Mühsam versetzte sie Edward in etwas bessere Laune und bestand darauf, ihn im Rollstuhl ins Dorf zu schieben. Dort wollte sie Lebensmittel kaufen, nach dem Verbleib der Johnsons fragen und dem Arzt Dr. Marshalls Brief geben.

Edward nannte sie nun Liz, nicht mehr Lizzie. Das überraschte sie anfangs, dann gefiel es ihr. Der neue Name klang erwachsener und bestärkte sie in ihrem Entschluss, sich nicht mehr wie ein hilfloses Kind zu fühlen.

Der Doktor gab ihnen die Adressen mehrerer Farmer, die vielleicht für einen halben Tag ihre Arbeitskräfte entbehren konnten. Mit deren Unterstützung gelang es Liz, einen kleinen Teil des Hauses bewohnbar zu machen. In der Küche schrubbte sie den Boden, die Wände und Regale mit gelber, im Stall aufgestöberter Kernseife. Das Ergebnis dieser Bemühungen hätte Tante Vi zwar nicht befriedigt, war aber zumindest ein Fortschritt.

Genauso wurden die saubersten, trockensten Räume im Erdgeschoss behandelt, um als provisorische Schlafzimmer zu dienen. Auf dem Dachboden hatte Liz primitive, wackelige Betten entdeckt, offenbar für das Militär bestimmt, das man dann doch nicht in Haus Cottingdean einquartiert hatte. Mit den dünnen Matratzen waren diese Schlafstätten nun unkomfortabler als die Betten im Schwesternwohnheim. Doch man konnte zumindest darauf liegen. Und abends kroch sie so erschöpft unter die Decken, dass sie die Klumpen in der Rosshaarunterlage gar nicht bemerkte.

Edward fiel es schwerer, einzuschlafen. Zunächst erschrak sie, weil Dr. Holmes ihm Schlaftabletten verordnete. Aber wie sie eine Woche später zugeben musste, sah ihr Mann besser aus, seit er genug Schlaf fand.

Glücklicherweise war das Wetter warm und sonnig, und er konnte im Rollstuhl die frische Gartenluft genießen, während sie drinnen arbeitete. Der desolate Zustand des Hauses, mit dem ihn so viele schöne Erinnerungen verbanden, hatte ihn tief getroffen. Angesichts seiner Verzweiflung überlegte Liz, ob es richtig war, in Cottingdean zu bleiben. Wäre es besser für ihn, wenn er nicht mehr mit der Realität des verfallenen Hauses konfrontiert würde? Aber wohin sollten sie gehen?

Erst einen knappen Monat nach der Ankunft nahm sie sich Zeit, die Umgebung außerhalb des Gartens zu erforschen. Eine alte Landkarte, die sie in einem Schrank gefunden hatte, inspirierte sie dazu. Sie zeigte Edward ihre Entdeckung und schlug vor, man könne die Karte über den Kamin in den Raum hängen, den er Bibliothek nannte. Doch dann sah sie den Kummer in seinen Augen und machte sich Vorwürfe, weil sie offensichtlich etwas Falsches gesagt hatte. Wie gefühllos von ihr …

Gerade die Bibliothek hatte er immer mit besonderer Begeisterung beschrieben. In seinen Erinnerungen war dies ein gemütlicher Raum, von Feuerschein, dem Duft ledergebundener Bücher und Tabakgeruch erfüllt, mit Samtvorhängen an den Fenstern. Der Schreibtisch des Großvaters war eine große Insel aus blank poliertem Holz gewesen. Zu beiden Seiten des Kamins standen Lehnstühle. Wenn man darin saß, konnte man die Füße auf das Kamingitter legen. Die Großmutter stellte immer eine Vase mit frischen Blumen auf den Schreibtisch. Die Erlaubnis, sich in diesem Raum aufzuhalten, war für Edward stets eine Belohnung gewesen.

Jetzt konnte man den Raum aufgrund dieser Beschreibung nicht wiedererkennen. Die Möbel waren verschwunden, die eingebauten Regale teilweise herausgerissen – ob versehentlich oder mit Absicht, wusste Liz nicht. Die Bücher, deren Duft ihr Mann so geliebt hatte, lagen am Boden verstreut, manche zerfleddert, mit verschimmelten Seiten, von Mäusen angenagt, die das Zimmer anscheinend zu ihrem Lieblingsplatz erkoren hatten.

Liz bemühte sich, den Raum einigermaßen in Ordnung zu bringen, denn sie spürte, es würde sein Leid mildern, wenn seine Erinnerungen an die Bibliothek und die Wirklichkeit der Gegenwart nicht mehr so krass auseinanderklafften. Kaum ein Tag verging, ohne dass er sich die Schuld an der Situation gab und erklärte, er hätte sie niemals heiraten und mit ihr hierherkommen dürfen. Offenbar hasste er es, sie so hart arbeiten zu sehen, während sie selbst zu ihrer Verblüffung Freude daran fand. Es missfiel ihr keineswegs, die Böden zu schrubben, eifrig in Abfallbergen herumzustöbern, zu verhindern, dass womöglich etwas Wertvolles weggeworfen wurde. Wenn sie einen Gegenstand fand, dessen Zweck sie vergeblich zu enträtseln suchte, verwahrte sie ihn trotzdem, in der Hoffnung, Edward würde vielleicht einmal einen Schatz aus Kindertagen darin wiedererkennen.

Was mit der Einrichtung des Hauses geschehen war, schien niemand zu wissen. Liz verdächtigte die Johnsons, und Edward ließ sie lieber in diesem Glauben, als ihr seine Vermutung mitzuteilen, Kit müsste alle Wertgegenstände verkauft und den Verfall des Hauses nicht nur zugelassen, sondern sogar gefördert haben.

Bedrückt entdeckte Edward die Entweihung des kleinen Weinkellers, wo sein Großvater so liebevoll kostbare Tropfen gesammelt hatte. Zerbrochene Flaschen und Gläser am Boden zeugten von wilden Partys, andere Spuren verrieten, dass Kit nicht nur männliche Gäste hierhergebracht hatte, um mit ihnen die edlen Jahrgänge zu trinken.

Davon erzählte Edward seiner Frau nichts. Er hatte sie schon grausam genug getäuscht und ihr eingeredet, sie würde in ein komfortables Haus ziehen, zusammen mit ihrem Kind umsorgt werden. Stattdessen lag sie nun auf den Knien und schrubbte die Böden. Wie er es hasste, sie dabei zu beobachten und selbst nichts tun zu können … Er war ein konservativer Mann, von zurückhaltenden, förmlichen Eltern erzogen. Nach seiner Ansicht hätte die zarte, zerbrechliche Liz nicht so hart arbeiten dürfen.

Sie selbst sah das anders. Nachdem sie den anfänglichen Schock überwunden hatte, genoss sie es sogar, sich den Herausforderungen von Haus Cottingdean zu stellen. Und da ihre Schwangerschaft bereits fortgeschritten war, wurde sie mittlerweile von der schwächenden morgendlichen Übelkeit verschont.

Ian Holmes hatte sie mit einem Farmer bekannt gemacht, der ihr nur widerwillig erlaubte, seine vier Arbeitskräfte für die vorerst nur notdürftige Reparatur des Dachs zu bezahlen. Ebenso widerwillig riet er ihr, sich ein Ziegenpaar anzuschaffen. Das sei gut für den Garten. „Außerdem geben sie gute Milch. Die mag zwar nicht jedermanns Geschmack sein …“

Liz fand, das wäre fast zu schön, um wahr zu sein. Die Ziegen würden den verwilderten Garten roden, sodass er im nächsten Frühling umgegraben werden konnte, und gleichzeitig Milch spenden. Sie hätte Edward gern nach seiner Meinung gefragt, fand aber bald heraus, dass er nichts von der Landwirtschaft wusste und sich auch gar nicht damit beschäftigen wollte. Hingegen interessierte sie sich selbst brennend für die Hühnerart, die diese großen gefleckten braunen Eier legte. Mrs Lowndes steckte ihr großzügig ein paar zu, als Liz ihren ganzen Mut zusammennahm und die Farm der Frau besuchte. Edward fand ihre Aktivitäten undamenhaft. Lachend wollte sie einwenden, sie sei keine Dame, besann sich aber anders, um seine Gefühle nicht zu verletzen.

Sie begann Wesenszüge an ihm zu entdecken, die sie zuvor nicht bemerkt hatte. Vielleicht war er ein bisschen versnobt, nicht auf unfreundliche Art. Aber die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen sich selbst und den Farmern nahm er wichtig, obwohl Letztere, im Gegensatz zu ihm, einen gewissen Wohlstand genossen. Und er legte Wert darauf, dass seine Frau sich an diesen Wertmaßstäben orientierte und Distanz zu diesen Leuten wahrte, was ihr gründlich widerstrebte. Sie wollte ihren Mann zwar zufriedenstellen, aber sich selbst wohlfühlen. Und es störte sie, wenn sie von den Farmarbeitern mit Mrs Danvers angeredet wurde, während sie, die viel jünger war, sie bei den Vornamen nannte.

Durch ihre Heirat hatte sie eine fremde Welt betreten, wo der gesellschaftliche Status einer Person nicht vom Geld bestimmt wurde. Es war die Welt, die ihr die Tante so entzückt beschrieben hatte. Aber nun sah Liz die andere Seite der mit grünem Fries bespannten Tür, die Tante Vis Herrschaft von den Dienstboten getrennt hatte.

Eine weitere nützliche Information, Jack Lowndes entlockt, betraf die erstaunliche Tatsache, dass einige der fruchtbaren Felder auf der anderen Dorfseite zu Haus Cottingdean gehörten. „Das sind Rieselwiesen“, erklärte der Farmer. „Jimmy Sutton hat sie vor über vierzig Jahren vom alten Master gepachtet und gutes Geld dafür bezahlt, aber dann starb der alte Master, und sein Sohn übernahm Cottingdean …“

Liz kannte die Eigenarten der Landbevölkerung, die sie im Heimatdorf ihrer Tante lange genug beobachtet hatte. Vorsichtig fragte sie Edward, ob er irgendwas von Pachtgeldern wisse. Da wurde sie mit einem anderen Wesenszug ihres Mannes konfrontiert, der ihr ebenfalls neu war. Was gewisse Themen anging, konnte er sehr empfindlich und stolz sein. Sicher würde er es missbilligen, sich vom Mitglied einer Gesellschaftsschicht beraten zu lassen, die er im Grunde seiner Seele verachtete.

Und Liz’ Vorsicht war berechtigt. Er runzelte die Stirn und wollte wissen, was sie zu dieser Frage bewegte. So unschuldig wie möglich berichtete sie, auf der Karte des Landguts habe sie Felder am Fluss entdeckt. Das war keine Lüge, aber sie zweifelte, ob sie die Karte studiert hätte, wären die Rieselwiesen nicht von Lowndes erwähnt worden.

Sie beobachtete, wie Edward unbehaglich im Rollstuhl umherrutschte. Er hasste es, auf Fakten hingewiesen zu werden, von denen er nichts geahnt hatte. Inzwischen kannte sie die kleinen Gesten seines Missvergnügens, und sie versuchte, unbefangen zu lächeln. Er hatte doch zugegeben, wie dringend sie Geld brauchten, und wenn ihnen eine Pacht zustand … „Vielleicht könnte der Anwalt deines verstorbenen Onkels mit dem Pächter sprechen“, schlug sie zögernd vor.

Dankbar ging er darauf ein. Er litt immer noch unter dem Schock, den ihm der beklagenswerte Zustand von Haus Cottingdean versetzt hatte. Und nach der Hochzeit, nach der unverhofften Freude auf den Erben, den Liz ihm schenken würde, war die Realität ein umso grausamerer Schicksalsschlag gewesen. Er fühlte sich verloren, entwickelte beinahe eine gewisse Abneigung gegen Cottingdean, manchmal sogar gegen seine Frau. Natürlich hatte er kein Recht, so etwas zu empfinden. Sie war so gut zu ihm, stellte seine Bedürfnisse stets über ihre eigenen, und wenn sie ihn auch wie einen gebrechlichen alten Onkel behandelte – was hatte er denn erwartet? Dass sie niemals Verlangen nach ihm verspüren würde, war ihm von Anfang an klar gewesen.

Er sah die Sorge in ihren Augen, die neue Reife in ihrem Gesicht. Nun war sie trotz ihrer Jugend eine Frau, kein Kind mehr. Diese Erkenntnis verstärkte seine Schuldgefühle. Er hatte ihr das alles angetan, sie hierher gebracht und ihr – ähnlich wie Kit – falsche Versprechungen gemacht.

Nur Ian Holmes wusste die Wahrheit über das ungeborene Kind. Er hatte Kit gekannt und den Kopf über Edwards Entschluss geschüttelt, das wundervolle Bild seines Vetters, das Liz in ihrem Herzen bewahrte, unangetastet zu lassen. „Sie ist eine intelligente junge Frau. Früher oder später wird sie die Wahrheit herausfinden. Kit war keineswegs beliebt im Dorf. Vorerst halten die Leute noch den Mund, aber irgendwann werden sie reden. Er kam oft hierher, schleppte Frauen mit …“ Angewidert hatte der Doktor das Gesicht verzogen. „Klar, es war Krieg, und die Soldaten, die unter diesem starken Druck standen, mussten sich entspannen. Aber was Kit trieb …“

Trotzdem beabsichtigte Edward, seiner Frau die Illusionen so lange wie möglich zu erhalten. Woraus sollte die Ärmste denn ihre Kraft schöpfen?

Nun musterte er ihre geröteten, vom Schrubben geschwollenen Hände, die zerkratzten Finger. Einen ganzen Nachmittag lang hatte sie im einstigen Gemüsegarten das dichte Gestrüpp durchforstet, um Himbeeren zu pflücken. Das erinnerte ihn an die weichen weißen Hände seiner Großmutter und seiner Mutter, und er verfluchte sich selbst. „Ich werde Peter Allwood schreiben“, versprach er. „Seit den Lebzeiten meines Urgroßvaters arbeiten nur Anwälte aus Peters Familie für die Danvers. Aber mach dir keine zu großen Hoffnungen, Liebes.“ Er verschwieg, dass Kit wahrscheinlich jedes einigermaßen wertvolle Stück Land verkauft hatte. Das mochte der Grund sein, warum für die Rieselwiesen keine Pacht mehr gezahlt wurde. Doch er wollte erst einmal abwarten, um Liz nicht überflüssigerweise zu enttäuschen.

Die Entdeckung der Rieselwiesen veranlasste sie, einen Rundgang über die Ländereien zu unternehmen. An einem frühen Nachmittag vergewisserte sie sich, dass Edward es möglichst bequem hatte, dann brach sie auf. Sie hatte ihr Bestes getan, um die Bibliothek herzurichten, aber nichts konnte Edward dazu bringen, den Raum zu benutzen. Er klagte über die Kälte und zog die Nähe des Herdfeuers vor, obwohl er es hasste, praktisch nur in der Küche wohnen zu müssen. Die war nach seiner Ansicht für Dienstboten bestimmt, und Liz vermutete, dass er früher kaum einen Fuß hineingesetzt hatte.

Mittlerweile zeigte sich ihre Schwangerschaft, und zwar umso deutlicher, weil sie abgesehen von ihrem Bauch sehr schlank geblieben war. Lebensmittel und Geld waren knapp, und es tat ihr in der Seele weh, den Gemüsegarten brachliegen zu sehen. Sie hatte Mrs Lowndes überredet, ihr ein paar Hühner zu verkaufen. Doch vorerst weigerten sich diese launischen Vögel, Eier zu legen. Sie fürchtete, die Kosten für das Hühnerfutter würden letzten Endes den durch die Eier erzielten Gewinn übersteigen. Was die Ziegen betraf, zog sie diskrete Erkundigungen ein. Leider schien kein Einheimischer zu wissen, wo man solche Tiere erwerben konnte. Mrs Lowndes hatte erklärt, Mrs Danvers solle am besten ihren eigenen Schäfer fragen.

Das überraschte Liz. Sie war dem jungen Vic nur ein einziges Mal begegnet. Drei Tage nach ihrer Ankunft, von der er offenbar gerüchteweise erfahren hatte, war er ins Haus gekommen. Aufgrund von Edwards Erzählungen hatte sie sich den Schäfer als knorrigen Greis vorgestellt. Nun betrachtete sie erstaunt den hochgewachsenen dunkelhaarigen Fremden, nur wenige Jahre älter als sie. Zunächst eingeschüchtert von seiner Größe und den breiten Schultern, wich sie automatisch zurück, als er in der hinteren Küchentür auftauchte. Vorübergehend vergaß sie ihren Status einer Ehefrau und werdenden Mutter und fühlte sich irgendwie bedroht von diesem kräftigen, offenbar kerngesunden jungen Mann.

Als er unsicher nach Edward fragte, bat sie ihn notgedrungen herein, hielt aber neben dem Rollstuhl Wache wie eine Löwin, die ihr Junges beschützen muss. Vic, der von Frauen ebenso wenig verstand wie sie von Männern, spürte instinktiv, dass ihre stumme Aggression nur Angst verbarg – Angst um ihre eigene Person und Groll angesichts seiner kraftstrotzenden Gestalt und ihres invaliden Ehemanns.

Schon früh verwaist, war Vic bei seinem Großvater aufgewachsen, der ebenfalls als Schäfer für die Danvers gearbeitet hatte. Den Großteil seiner Zeit verbrachte Victor bei der Herde und den Hunden, fern von seinen Altersgenossen. Vom Großvater lernte er alles, was man von diesem Beruf wissen musste. Und der alte Mann entdeckte schon bald eine besondere Begabung seines Enkels. „Der Junge ist ein Naturtalent“, hatte er vor seinen Freunden bei seinen seltenen Besuchen im Gasthof „Lamb“ geprahlt. „Der Junge hat ein ganz besonderes Gespür für die Biester. Dieser Weichling liebt sie geradezu und scheint immer zu wissen, wann eins krank wird.“

Dieses Feingefühl befähigte Vic nun, durch Liz’ abweisende Fassade hindurchzuschauen, ihre Angst zu erkennen, und sie weckte sein Mitleid. Er erkannte auch die innere Kraft dieser Frau und wusste, dass es nur ihr gelingen würde, das Erbe ihres Mannes zu retten.

Im letzten Winter war sein Großvater gestorben, und seither wohnte Vic allein in der Schäferhütte. Früher war die erstklassige Schafwolle von Cottingdean berühmt gewesen. Inzwischen hatte sich die Herde durch Epidemien erheblich verringert. Trotz seiner verschwenderischen Fürsorge befanden sich die Schafe immer noch in schlechtem Zustand. Abends, wenn er nichts anderes zu tun hatte, las er eifrig und eignete sich umfassende Kenntnisse über die Kunst der Mischrassenzucht an. Er träumte davon, Schafe zu züchten, deren Wolle auf der ganzen Welt Spitzenpreise erzielen würde. Aber dazu brauchte er einen anständigen Schafbock, nicht die gelegentlichen Dienste von Tim Bensons altem Klappergestell, dessen Nachkommen viel zu mager waren. Ihr Fleisch taugte ebenso wenig wie ihre Wolle.

Gute Schafböcke, so wie sie ihm vorschwebten, kosteten Geld. Die Schafzüchter in Australien und Neuseeland führten gerade Experimente mit britischen Böcken durch. Deren Sprösslinge sollten weniger anfällig für Krankheiten werden und eine andere Art von Wolle hervorbringen, die sich besser für die Maschinerie in den modernen Spinnereibetrieben eignete.

Sollten andere von der Produktion besseren Fleisches träumen … Vielleicht war er tatsächlich ein Weichling, wie der Großvater behauptet hatte. Aber kein Lamm in seiner Obhut sollte gemästet und geschlachtet werden, wenn es stattdessen weiterleben und seine Mühe und Geduld alljährlich mit großartiger Wolle belohnen konnte.

Oft malte er sich aus, wie die Kenner eines Tages voller Ehrfurcht von seiner Herde sprechen würden. Ein Blick auf Edward genügte ihm allerdings, um zu begreifen, dass dieser Mann einen solchen Traum niemals teilen konnte. Nicht entsetzt und angewidert, sondern mitleidig betrachtete er den Invaliden und spürte, dass dessen Seele ebenso verwundet worden war wie der Körper. Das Kind, das die junge Frau erwartete, konnte nicht von ihrem Ehemann stammen. Auch das erkannte Vic. Doch es ging nur die beiden etwas an – nicht ihn.

Beim Anblick des jungen Schäfers empfand auch Edward Abneigung und Aggressionslust, aber aus anderen Gründen als Liz. In Vics Augen las er die Kraft eines Mannes, der dem Leben niemals erlauben würde, ihn zu zerstören. Ein so gesunder, starker Junge hätte während der letzten Jahre dem Vaterland dienen müssen, statt Schafe zu hüten.

Diesen Gedanken sprach Edward auch aus, und dann wartete er gespannt auf Vics Reaktion. Der Schäfer lächelte. Dieses Thema wurde von Fremden häufig erwähnt, mehr oder weniger angriffslustig. Solche neugierigen Fragen störten ihn nicht, und er verstand auch, was dahintersteckte. Als Kind hatte er an akutem Gelenkrheumatismus gelitten und davon eine gewisse Herzschwäche zurückbehalten. Bei der Musterung war er von einem Army-Arzt für untauglich erklärt worden, und Dr. Holmes hatte ihn sanft darauf hingewiesen, er würde niemals Kriegsdienst leisten können. Im Frühling, wenn die Mutterschafe lammten, wenn er Tag und Nacht bis zur Erschöpfung arbeitete, spürte er manchmal ein schmerzhaftes Ziehen in der Brust und im linken Arm. Wenn er sich dann eine Weile ausruhte, verging der Schmerz, und seine Tätigkeit befriedigte ihn so sehr, dass er nicht über Dinge nachgrübelte, die sich seiner Kontrolle entzogen.

Nun erklärte er seine kleine Behinderung, ohne sich zu entschuldigen oder Selbstmitleid zu zeigen. Es war unmöglich, an seinen Worten zu zweifeln, an seinem ehrlichen, offenen Gesicht.

Für Liz wäre es die einfachste Sache von der Welt gewesen, Vic zu bitten, er möge sie über die Ländereien führen und sie in die Geheimnisse der Schafzucht einweihen. Sie hätte ihn auch fragen können, wie man einen so ertragreichen Gemüsegarten anlegte, wie sie ihn während eines kurzen Besuchs bei der Schäferhütte bewundert hatte. Aber sie unterließ es, aus einer angeborenen Zurückhaltung heraus, oder weil sie gewisse Ressentiments gegen den jungen Mann hegte.

Natürlich war es ein Fehler, solche Emotionen zu empfinden. Man hatte ihr versichert, ohne Vics mühevolle Arbeit würde die Herde gar nicht mehr existieren. Beschämt ahnte sie, dass er seit dem Tod von Edwards Großvater keinen Lohn bekommen hatte. Doch sie brachte es nicht über sich, mit ihrem Mann darüber zu reden. Vielleicht würde sie mehr erfahren, wenn sich der Anwalt meldete.

Während sie das Landgut erforschte, orientierte sie sich an einer Kopie der Originalkarte, von ihr selbst angefertigt. Vic und der Herde wich sie aus, ohne zu wissen, warum. Instinktiv spürte sie, dass sie von ihm nichts zu befürchten hatte. Aber seine männliche Kraft machte ihr irgendwie Angst.

Der Besuch des Anwalts war sehr aufschlussreich. Die Rieselwiesen gehörten nach wie vor den Danvers, und er schüttelte verständnislos den Kopf, als Edward ihm mitteilte, die Pacht würde nicht mehr bezahlt. Diese Angelegenheit müsse sofort geregelt werden, betonte er.

Peter Allwood war ein kleiner, dünner Mann mit präziser, trockener Sprechweise. Sein Entsetzen angesichts des verfallenen Hauses verbarg er ebenso wie seine Verblüffung über Edwards Heirat und die Schwangerschaft der jungen Frau.

Nachdem er sich verabschiedet hatte, konsultierte Edward den Doktor, um sich erklären zu lassen, wie man das Problem der ausstehenden Pacht am besten lösen könnte. Liz stellte fest, dass er Ian Holmes zu vertrauen begann. Auch sie mochte die zupackende Art des Doktors.

Nun näherte sie sich dem siebenten Monat ihrer Schwangerschaft, und der Körper bereitete sich auf die Geburt vor. Sie verspürte den seltsamen Wunsch, ihr Kind möge im Frühling zur Welt kommen, wenn der Lebenszyklus der Natur begann, nicht im Januar, wenn er endete. Wenn sie Edward auch nicht alarmieren wollte – sie fürchtete den bevorstehenden Winter. Schon im November lag Schnee in der Luft, und der Brennholzstapel im Stall hatte sich bedrohlich verkleinert. Auf ihren Spaziergängen hatte sie Bäume gesehen, die gefällt werden konnten, aber wer sollte diese Arbeit übernehmen? Sie durften nicht ständig auf die Hilfe ihrer Nachbarn bauen. Und Edward war so empfindlich, was seine Unfähigkeit betraf, irgendwelche Tätigkeiten auszuführen.

Ian Holmes erbot sich, Jim Sutton mitzuteilen, der Gutsherr wolle ihn wegen der Pacht sprechen. Dann erkundigte er sich nach Liz’ Befinden. Die Danvers hatten zwar den Sommer und den Herbst bewältigt, doch er war sich nicht sicher, wie sie den Winter überstehen würden. Darüber hatte er mit dem jungen Vic geredet, dem er am Vortag im Dorf begegnet war. Die beiden brauchten einen tüchtigen, verlässlichen Farmarbeiter – jemanden, der Holz hackte, das Unkraut im Gemüsegarten jätete, jeden Morgen Feuer im Herd machte, um Liz diese Mühe zu ersparen, und kleinere Reparaturen vornahm, damit das Haus nicht noch mehr verfiel.

Das erwähnte er auch Edward gegenüber und meinte, das Pachtgeld könnte verwendet werden, um eine Hilfskraft zu bezahlen.

„Ja, wir müssten jemanden einstellen“, stimmte Edward zu, fuhr aber skeptisch fort: „Aber es gibt keine guten Leute, die arbeitslos sind.“

„Täglich kommen Männer aus dem Krieg zurück und suchen Jobs“, erinnerte ihn der Arzt.

Liz hoffte, die von Ian gestreute Saat würde Wurzeln schlagen. Schon längst hatte sie Edward bitten wollen, eine Hilfskraft zu engagieren. Doch mittlerweile kannte sie ihn gut genug, um zu wissen, wie altmodisch er dachte und wie sehr es ihn störte, wenn solche Anregungen von ihr stammten. Sie war eine Frau, und deshalb gehörte sie in den Salon, von wo aus sie den Haushalt und das Personal überwachen sollte. So sah er ihre Rolle im Leben, ohne zu berücksichtigen, dass im Salon die Tünche von der Decke abblätterte und Schimmelpilze die Tapeten zerfraßen. Er hatte seine fixen Ideen, und er weigerte sich, die aufzugeben, wohl aus Angst, sonst könnte seine ganze Welt zusammenbrechen. Und so schwieg Liz voller Mitleid und wünschte, Ians Worte würden auf fruchtbaren Boden fallen.

Sie durfte nicht an der Unterredung mit Jim Sutton teilnehmen, einem großen, angeberischen Mann, den sie auf Anhieb unsympathisch fand. Vermutlich erschien er nur unter dem Druck der öffentlichen Meinung in Haus Cottingdean und keineswegs, weil er erkannte, wie sträflich er seine Pflichten als Pächter vernachlässigt hatte.

Was zwischen den beiden besprochen wurde, erfuhr sie nicht – nur, dass Sutton die Pacht entrichten würde. Wie hoch die Summe war, verriet Edward ihr nicht, und sie fürchtete, er hatte sich um das Geld, das ihm zustand, betrügen lassen. Wie auch immer, sie würden sicher genug erhalten, um eine Arbeitskraft einstellen zu können. Davon sprach er allerdings nicht mehr, und Liz widerstrebte es, das Thema anzuschneiden.

Ende November fiel der erste Schnee. Eines Morgens wurde sie vom ungewohnt hellen Licht vor dem Fenster geweckt. Edward und Liz schliefen in getrennten Räumen im Erdgeschoss und teilten sich ein großes, zugiges Bad. Vor jeder körperlichen Intimität schreckte sie zurück, und deshalb wurde sie oft von Schuldgefühlen gequält.

Nach der Ankunft in Cottingdean hatte Edward eine gewisse Unabhängigkeit erzielt. Beim Ankleiden brauchte er die Hilfe seiner Frau nicht mehr. Er hatte gelernt, den Rollstuhl zu steuern, und fuhr im Erdgeschoss umher. Aber bei kaltem, feuchtem Wetter peinigten ihn die Schmerzen in den Beinstümpfen. Dann wurde er reizbar und wortkarg. Und so seufzte Liz tief auf, als sie die Bedeutung der Helligkeit vor den Fenstern erkannte.

Früher – es musste eine halbe Ewigkeit her sein – hatte sie sich in jedem Winter über den ersten Schnee gefreut. Und sie bewunderte immer noch die Natur, die eine Landschaft über Nacht so völlig verwandeln konnte. Aber nun wurde dieses Entzücken von praktischen Erwägungen verdrängt. Der Brennholzvorrat ging zur Neige. Die Hühner brauchten für den Winter einen Stall, und die Ziegen … Mittlerweile hatte sie sich damit abgefunden, niemals solche Tiere zu besitzen.

Sie machte gerade Feuer im Herd, als sie lautes Hundegebell hörte. Sobald ihr die Ursache dieses Lärms bewusst wurde, erstarrte sie.

Die einzigen Hunde in Cottingdean gehörten dem jungen Vic. Sie richtete sich auf und trat steifbeinig ans Fenster. Und da sah sie ihn in den Hof kommen, den Rücken gebeugt von der Last des Schlittens, den er hinter sich herzog. Sie runzelte die Stirn und öffnete die Tür. Trotz der Kälte wirkte seine Haut warm, glühend vor Vitalität. Diese Eiseskälte, die Liz bis auf die Knochen kroch, schien er nicht zu spüren. Und die dicken Flocken schienen ihm ebenso wenig anzuhaben wie seinen Hunden.

„Ich habe ein paar Holzscheite mitgebracht“, erklärte er unbefangen. „Die staple ich an der üblichen Stelle, wenn’s Ihnen recht ist. Tut mir leid, dass ich so spät dran bin, aber ich hatte Schwierigkeiten mit einem Mutterschaf. Eigentlich müsste dieses Holz bis zum nächsten Winter gelagert werden, wenn es richtig brennen soll.“

Liz starrte ihm nach – während er den Schlitten zum Stall zog und eine Plane entfernte. Darunter lag ein hoher Stapel Brennholz, säuberlich zerkleinert – genug, um den Boiler für den ganzen Winter mit Warmwasser zu füllen. Unerwartete Tränen stiegen in ihre Augen und schnürten ihr die Kehle zu. Als sie dagegen ankämpfte, merkte sie, wie lange sie nicht mehr um ihre tote Liebe geweint hatte. Kit … Nur noch selten gestattete sie sich, an ihn zu denken. Was hätte das auch für einen Sinn? Nie wieder würde er sie in den Armen halten, nie wieder beteuern, wie sehr er sie liebe …

Sie ahnte nicht, dass Vic die ganze Nacht gearbeitet hatte, um Bäume zu fällen und das Holz zu hacken. Das gehörte keineswegs zu seinen Routinepflichten, was seine lässige Haltung allerdings nicht verriet. Er hatte es für Liz getan, aus Mitleid mit ihrer Schwäche, aus Achtung vor ihrer Kraft.

Der Schlitten war halb leer, als sie sich endlich dazu durchrang, dem Schäfer eine Tasse Tee und eine Scheibe von ihrem selbst gebackenen Brot in den Stall zu bringen. Sein warmherziges, natürliches Lächeln und die sichtliche Wertschätzung ihrer Gastfreundlichkeit führten ihr wieder einmal vor Augen, was für ein guter Mensch er war – obwohl sie sich angesichts seiner maskulinen Stärke unbehaglich fühlte.

Später, nachdem er das gesamte Brennholz abgeladen hatte, kam er mit der leeren Tasse in die Küche. Liz dankte ihm, und er erklärte beiläufig: „Jetzt muss ich mich wieder um die Herde kümmern.“

Bald schmolz der Schnee, der über Nacht gefallen war, aber er warnte vor dem Einzug des Winters – eines Winters, auf den sie nicht vorbereitet waren, wie Liz in ihrem kalten Schlafzimmer fröstelnd feststellte.

In der zweiten Dezemberwoche herrschte ungewöhnlich schönes Wetter. Die Sonne schien, und aus unerklärlichen Gründen zog es Liz ins Freie hinaus. Im Herbst hatte sie begonnen, die fehlenden Paneele der Hallentäfelung zu ersetzen. Aber in den letzten Wochen der Schwangerschaft wurde ihr Körper immer schwerfälliger, und sie konnte sich nicht mehr bücken oder hinknien, um die unteren Teile der Wände zu bearbeiten. Jedes Mal, wenn sie die Halle durchquerte, schien ihr der Raum ihren mangelnden Pflichteifer vorzuwerfen.

An diesem Morgen war die Vikarsgattin zu Besuch gekommen und hatte taktvoll nach den Vorbereitungen auf die Geburt gefragt. In diesen Zeiten, wo alle Waren knapp waren und rationiert wurden, müsse es Liz doch sehr schwerfallen, eine Babyausstattung zu beschaffen, insbesondere, weil sie keine Familie habe, die sie um Hilfe bitten könne.

Das stimmte. Liz hatte stundenlang die Kleidertruhen auf dem Dachboden durchstöbert und gewünscht, eine Nähmaschine zu besitzen, um etwas aus den vergilbten Leinentüchern und den altmodischen Babysachen machen zu können. Immerhin hatte sie eine Wiege voller Staub und Spinnweben gefunden, aber ohne Hilfe vermochte sie das schwere Ding nicht hinunterzutragen. Davon erzählte sie Louise Ferndean, die prompt versprach, ihren Gärtner herzuschicken. Der würde die Truhe heruntertragen. Liz dürfe auf keinen Fall versuchen, etwas Schweres zu heben.

Sie erbot sich auch, der werdenden Mutter ihre Nähmaschine zu leihen, und verbarg ihr Mitgefühl. Welch eine blutjunge Frau und ein so schwer verletzter Ehemann, wirklich ein leidgeprüftes Paar – und so tapfer … Da wohnten sie in dieser armseligen Ruine. Das Pfarrhaus war schon schlimm genug, aber zumindest stabil und trocken.

Liz hielt es für besser, ihrem Mann nichts von der Hilfsbereitschaft der Vikarsgattin zu erzählen. Mittlerweile kannte sie seinen verbissenen Stolz. Sie wusste, wie sehr er es hasste, von anderen abhängig zu sein, wie eifersüchtig er wurde, wenn sie mit irgendwelchen Leuten Freundschaften schloss, die ihn nicht einbezogen. Seine besitzergreifende Art missfiel ihr, aber sie wollte sich nicht den Kopf darüber zerbrechen. Dazu hätte ihr auch die Kraft gefehlt. Und so nahm sie das alles hin. Immerhin würde sich die finanzielle Situation bessern, sobald Sutton die Pacht bezahlte. Doch die Zeiten waren hart für alle Menschen und für einige ganz besonders.

Im Dorf entstand Unruhe, während die Soldaten allmählich von den Fronten zurückkehrten. Die Frauen klagten, ihre Männer seien verändert, es falle ihnen schwer, sich daheim einzugewöhnen. Und Edward versäumte es immer noch, eine Hilfskraft zu engagieren.

Als Liz sich vom Haus entfernte und dem schmalen Bergweg folgte, überlegte sie, wie einschneidend sich ihr Leben in den letzten Monaten verändert hatte. Manchmal bedrückte es sie, dass Kit – indirekt für diese Veränderungen verantwortlich – nur noch eine Schattengestalt in ihrer Erinnerung war. Hin und wieder erwachte sie mitten in der Nacht, das Gesicht tränenüberströmt vom angestrengten Versuch, in ihren Träumen ein klares Bild des Toten heraufzubeschwören. Natürlich liebte sie ihn immer noch, nichts würde das jemals ändern. Aber sein Gesicht, das so lange vor ihrem geistigen Auge gestanden hatte, verblasste unaufhaltsam.

Cottingdean, die Probleme des Zusammenlebens mit Edward und die Alltagssorgen verdrängten allmählich die Gedanken an Kit. Und auch diese Schwierigkeiten traten nun in den Hintergrund, verscheucht von der fordernden Kraft des Kindes, das in ihr wuchs.

Irgendwann hatte sie aufgehört, in ihrem Baby mit leidenschaftlicher Intensität Kits Sohn zu sehen. Dafür verschmolzen nun das Kind und Cottingdean zu einer Einheit, als wäre die bevorstehende Geburt untrennbar mit dem Entschluss der Mutter verbunden, auch dem heruntergekommenen Haus neues Leben einzuhauchen.

8. KAPITEL

Der Pfad führte immer steiler bergan, und Liz musste stehen bleiben, um ihr Seitenstechen zu mildern. Niemand im Dorf wusste genau, wann sie Edward geheiratet hatte. Da sie Edward gut kannte, schon seit Monaten, konnte sie die Leute leicht glauben machen, das Eheleben hätte sich längst eingespielt. Falls sich manche wunderten, was ein so junges Mädchen bewogen haben mochte, einen Mann wie Edward zu heiraten, waren sie zu höflich, um Fragen zu stellen. Vielleicht dachten einige sogar, die Hochzeit hätte vor seiner Kriegsverwundung stattgefunden. Und keiner von beiden ließ etwas verlauten, das einen solchen Irrtum korrigiert hätte.

Sie wusste, wie wichtig es für Edward war, dass ihr Kind als seines galt. Und wenn sie jetzt auch ein entbehrungsreiches Leben führte – es wäre schlimmer gewesen, das Kind allein in Schimpf und Schande großziehen zu müssen. Deshalb war sie ihrem Mann dankbar und berücksichtigte seinen Wunsch.

In ihrer zunehmenden weiblichen Reife erkannte sie auch die Vorteile, die es ihrem Kind bringen würde, wenn Edward es als sein eigenes betrachtete, statt ständig an den leiblichen Vater erinnert zu werden. Er hatte Kit nicht gemocht, das war ihr inzwischen klar geworden. Und um der ganzen Familie willen musste sie verhindern, dass diese Abneigung auf das Baby abfärbte.

Der Aufstieg ermüdete sie. Bei ihrer ersten Wanderung auf diesem Hang hatte sie den Weg nicht so steil gefunden. Doch das war vor drei Monaten gewesen, an einem warmen Herbstnachmittag. Nun spürte sie die Winterkälte trotz des Sonnenscheins, und sie trug nur einen dünnen Mantel. Aber vom Gipfel aus würde sie einen prachtvollen Ausblick auf Cottingdean und das Land ringsum genießen. Nicht nur diese Gewissheit trieb sie bergan. Woran es sonst noch lag, konnte sie sich nicht erklären. Sie wusste nur, dass sie unbedingt da hinauf musste.

Unterhalb des Gipfels wuchs kein Gras, der Boden war steinig und unfruchtbar bis auf ein paar verkümmerte Pflanzen. Als Liz dieses Gebiet erreichte, keuchte sie, ihre Beine und ihr Rücken schmerzten. Sicher hatte sie sich zu weit heraufgewagt, aber nun war der Gipfel in Sicht, und sie setzte ihren Weg entschlossen fort.

Plötzlich trat sie versehentlich auf loses Geröll. Sie rutschte aus, verlor das Gleichgewicht und konnte ihren Sturz nicht verhindern. Erschrocken blieb sie liegen, wie erstarrt und unfähig, ihre Situation zu überdenken. Sie zitterte am ganzen Körper, ihr Herz schlug wie rasend.

Mehrere Minuten verstrichen, ehe sie sich zu bewegen wagte. Sie streckte die Arme und Beine und stellte erleichtert fest, dass nichts gebrochen war. Mühsam stand sie auf. Doch sie hatte nicht nur ihre eigene, sondern auch die Sicherheit des Babys aufs Spiel gesetzt. Das wurde ihr schmerzlich bewusst, während sie vorsichtig bergab stieg.

Wie hatte sie nur so leichtsinnig sein können? Die Sehnsucht nach der Sicherheit des Hauses glich einem verzweifelten Puls, der drängend in ihr pochte. Sie musste sich zwingen, langsam und bedächtig einen Fuß vor den anderen zu setzen, nicht Hals über Kopf loszulaufen. Immer wieder berührte sie ihren gewölbten Bauch, um sich selbst und das Kind zu beruhigen. Leise sprach sie mit ihm, klagte sich an, sie sei eine idiotische Mutter, und bat es um Verzeihung. In letzter Zeit redete sie oft mit dem Baby. Manchmal saß sie dabei sogar neben der leeren Wiege, die der Gärtner des Vikars vom Dachboden heruntergeholt und mitgenommen hatte, um sie ein paar Tage später zurückzubringen, makellos gereinigt und mit Babybettzeug versehen, einem Geschenk von der Vikarsgattin.

Die gute Frau verriet nicht, dass sie ihrer Schwägerin in den Ohren gelegen hatte, um die Babysachen von deren Tochter zu erbetteln, die nach der Geburt ihres dritten Kindes schwor, sie würde nie wieder eins bekommen.

Auf halber Höhe des Hangs begann Liz gerade etwas freier zu atmen und die verkrampften Muskeln zu entspannen, als die erste Schmerzwelle durch ihren Körper fuhr. Abrupt blieb sie stehen und erschauerte. An der Bedeutung dieses intensiven Stechens gab es keinen Zweifel.

Entschlossen ging sie weiter, jetzt etwas schneller, und flehte ihr Baby an, noch ein kleines bisschen zu warten. Erneut machte sie sich bittere Vorwürfe wegen ihres Leichtsinns. Andererseits versuchte sie sich einzureden, es gebe keinen Grund zur Panik, denn sie rechnete erst in vier Wochen mit der Geburt. Kurz nachdem dieser Gedanke sie besänftigt hatte, begann die nächste Wehe.

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