Julia Ärzte zum Verlieben Band 156

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DAS GEHEIMNIS DER KRANKENSCHWESTER von SCARLET WILSON
Eine Romanze mit Dr. Harry Beaumont? Undenkbar für Esther! Der attraktive Chirurg bringt zwar ihr Herz ins Stolpern, aber er ist arrogant und noch dazu ein Herzog. Während Esther als Krankenschwester Doppelschichten schiebt, um ihre verarmte Familie zu unterstützen. Auch wenn da dieses Prickeln zwischen ihnen ist ihre Welten sind zu verschieden!

GIBT ES LIEBE AUF REZEPT? von ANNIE O’NEIL
Dr. Ty Sawyer ist ein brillanter Arzt – allerdings leidet er immer noch unter dem Verlust seiner Frau. Als er seiner zauberhaften Kollegin Kirri West gegenübersteht, empfindet er zum ersten Mal wieder Leidenschaft und Verlangen. Die charmante Australierin weckt in ihm die Sehnsucht nach einer neuen Beziehung. Soll er sein Herz wirklich noch einmal riskieren?

TÜR AN TÜR MIT DR. MCGREGOR von KATE HARDY
Ryan McGregor will nach einem anstrengenden Tag in der Klinik nur seine Ruhe. Damit ist es vorbei, als unvermutet eine süße Blondine vor seiner Tür steht. Georgie ist seine neue Mitbewohnerin! Gegen seinen Willen fühlt Ryan sich zu der jungen Frau hingezogen. Doch nach einer zerbrochenen Beziehung hat er geschworen, sich nie wieder zu binden!


  • Erscheinungstag 17.09.2021
  • Bandnummer 156
  • ISBN / Artikelnummer 9783751501637
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Scarlet Wilson, Annie O’Neil, Kate Hardy

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 156

SCARLET WILSON

Das Geheimnis der Krankenschwester

Eine Romanze mit Dr. Harry Beaumont? Undenkbar für Esther! Der attraktive Chirurg bringt zwar ihr Herz ins Stolpern, aber er ist arrogant und noch dazu ein Herzog. Während Esther als Krankenschwester Doppelschichten schiebt, um ihre verarmte Familie zu unterstützen. Auch wenn da dieses Prickeln zwischen ihnen ist – ihre Welten sind zu verschieden!

ANNIE O’NEIL

Gibt es Liebe auf Rezept?

Dr. Ty Sawyer ist ein brillanter Arzt – allerdings leidet er immer noch unter dem Verlust seiner Frau. Als er seiner zauberhaften Kollegin Kirri West gegenübersteht, empfindet er zum ersten Mal wieder Leidenschaft und Verlangen. Die charmante Australierin weckt in ihm die Sehnsucht nach einer neuen Beziehung. Soll er sein Herz wirklich noch einmal riskieren?

KATE HARDY

Tür an Tür mit Dr. McGregor

Ryan McGregor will nach einem anstrengenden Tag in der Klinik nur seine Ruhe. Damit ist es vorbei, als unvermutet eine süße Blondine vor seiner Tür steht. Georgie ist seine neue Mitbewohnerin! Gegen seinen Willen fühlt Ryan sich zu der jungen Frau hingezogen. Doch nach einer zerbrochenen Beziehung hat er geschworen, sich nie wieder zu binden!

1. KAPITEL

Esther McDonald rieb sich auf dem Weg zur Arbeit zum x-ten Mal die Augen. Sie hatte gehofft, etwas wacher zu werden, wenn sie auf dem Pfad an der Themse entlangging. Aber die Müdigkeit blieb.

Gestern Abend hatte sie in einem anderen Londoner Krankenhaus bis Mitternacht einen Dienst übernommen und wollte heute nach der Arbeit bei der Agentur wieder anfragen, ob sie Bedarf hätten.

Nicht, dass ihre Stelle in der NICU, der Säuglingsintensivstation, am Queen Victoria Hospital nicht gut bezahlt würde. Und sie liebte ihre Arbeit dort. Zurzeit brauchte sie jedoch jeden Penny, den sie kriegen konnte, und das bedeutete Extraschichten.

Wieder einmal war sie froh darüber, dass sie zwei Ausbildungen gemacht hatte. Deshalb konnte sie nicht nur als Hebamme, sondern auch als Krankenschwester arbeiten. Normalerweise sprang sie am Queen Victoria in der Notaufnahme ein, doch inzwischen war aufgefallen, wie oft sie arbeitete, und der Pflegedienstleiter hatte entsprechende Bemerkungen gemacht. Also meldete Esther sich bei einer Agentur an.

Zusammen mit anderem medizinischen Personal, das zum Frühdienst eintraf, betrat sie das Krankenhaus. Esther machte sich Gedanken um ein winziges Frühchen, das sie in den letzten Tagen betreut hatte. Gestern Nachmittag wirkte der kleine Billy, der in der 24. Schwangerschaftswoche mit einem Herzfehler zur Welt gekommen war, schwächer als sonst. Die junge Mutter wich seit der Geburt nicht von seiner Seite und schien selbst kränker zu werden.

Esther hoffte nur, dass der „Wunderarzt“, von dem alle sprachen, sich das Baby endlich ansehen würde. Billy brauchte eine Operation, die nur wenige auf Neugeborene spezialisierte kardiologische Chirurgen durchführen konnten. Das Problem war nur, dass der Mann in Frankreich ein anderes Kind operiert hatte und Billy deshalb warten musste.

Esther zog sich die hellblaue OP-Kleidung über und band ihr Haar zu einem Pferdeschwanz. Dabei fiel ihr Blick in den Spiegel des Umkleideraums. Puh, sie sah schrecklich aus! Das dezente Make-up, das sie heute Morgen schnell aufgetragen hatte, konnte die dunklen Schatten unter ihren Augen nicht verbergen.

Während sie zur Treppe eilte, knurrte laut und vernehmlich ihr Magen. Sie war so müde gewesen, dass sie bis zur letzten Minute im Bett und für ein Frühstück keine Zeit mehr geblieben war. Vielleicht konnte sie ihre Kolleginnen überreden, dass sie ihr die erste Pause überließen. Bei dem Gedanken an die frisch gebackenen Scones, deren Duft morgens die Cafeteria erfüllte, lächelte sie versonnen.

„Morgen!“, grüßte sie fröhlich, als sie die Intensivstation betrat, verstaute ihre Tasche und wusch sich gründlich die Hände. Jedes Mal, wenn sie durch diese Tür kam, verspürte sie eine besondere Energie. Ein aufblitzender Funke, der sie glücklich machte. Die gedämpfte Beleuchtung, die Geräusche, die Patienten, die ruhige Geschäftigkeit der Kollegen und Kolleginnen, der Geruch – all das sorgte dafür, dass sie sich hier in ihrem Element fühlte.

Nach ihrer Krankenpflege-Ausbildung in Edinburgh war sie nach London gezogen, um sich zur Hebamme ausbilden zu lassen. Nur wenige spezialisierte Krankenhäuser boten ein 18-monatiges Kompakttraining an, und sie war außer sich vor Freude gewesen, als sie den Platz am Queen Victoria ergatterte. Esther schloss Freundschaften, einige der besten ihres Lebens, und auch nach der Ausbildung blieb der Kontakt, obwohl manche Freundinnen inzwischen in der ganzen Welt verstreut waren.

Anfangs erwartete sie noch, eines Tages als Gemeindehebamme zu arbeiten, aber nach ihrem ersten Einsatz auf einer Frühchen-Intensivstation wusste sie, wofür ihr Herz schlug. Die Verletzlichkeit der kleinen Wesen rührte sie, und sie wollte helfen, sie in den ersten Tagen ihres zerbrechlichen Lebens nach Kräften zu schützen. Und sie war froh und dankbar selbst für winzige Fortschritte.

Natürlich ging nicht immer alles gut, und oft musste sie verzweifelte Familien trösten. Dennoch konnte sie sich nicht vorstellen, woanders zu arbeiten.

Eine der Hebammen stand auf und hängte sich ihre Tasche über die Schulter.

„Wie geht es Billy?“ Esther warf einen Blick auf das Whiteboard, um sich zu vergewissern, dass sie für ihren Lieblingspatienten eingeteilt war. Perfekt! Billy und ein 8-Monatskind in dem Bettchen daneben waren heute ihre Schützlinge. Letzteres würde wahrscheinlich nur ein paar Stunden zur Beobachtung seines Blutzuckerspiegels bleiben. Seine Mutter war Diabetikerin.

Ruth seufzte. „Du siehst fertig aus.“

„Bin ich auch. Seltsam, Extradienste machen mir normalerweise nichts aus.“ Esther dehnte den Rücken. „Du weißt, was los ist. Gewinn du im Lotto und gib mir etwas ab, dann verspreche ich dir, mich nie wieder für Zusatzschichten zu melden. Bis es so weit ist, nehme ich, was ich kriegen kann.“

Ruth sah sie nur vielsagend an und begann mit der Übergabe. „Billy hatte keine gute Nacht. Die Sauerstoffsättigung im Blut sank, seine Magensonde hat sich gelöst. Aus der Radiologie war bisher niemand hier, der feststellen kann, ob die neue Sonde richtig sitzt. Und das bedeutet, dass seine Ernährung noch nicht wieder fließt.“

Esther schüttelte den Kopf. Es war immens wichtig, dass die Sonde tatsächlich im Magen und nicht in einer Lunge des Babys gelandet war. Bis zur Bestätigung durfte das Kind keine Nahrung bekommen. „Ich rufe gleich noch einmal dort an. Wenn Callum Dienst hat, schickt er bestimmt sofort jemanden.“

Die Kollegin lächelte. „Großartig. Er hört immer auf dich.“

„Gibt es noch etwas?“

„Ja, Billys Chirurg soll heute eintreffen. Keine Ahnung, wann, aber die Voruntersuchungen sind abgeschlossen, sodass er sich die Ergebnisse ansehen, Billys Brust abhorchen und hoffentlich den Eingriff planen kann.“

Esther nickte. Bitte, lass es heute sein.

„Übrigens“, meinte Ruth, während sie ihr die nächste Patientenkarte reichte. „Er soll ein Herzog oder so etwas sein.“

Esther las bereits die Eintragungen. Ihr zweiter Schützling hieß Laura und war per Notkaiserschnitt entbunden worden. Die Mutter litt an Diabetes Typ 1, und Lauras Blutzuckerspiegel hatte nach der Geburt ein Zeit lang verrücktgespielt, sich in den letzten Stunden jedoch stabilisiert. Es genügte, die Werte noch ein paarmal zu überprüfen, dann konnte das Kind wieder zu seiner Mutter.

„Was hast du gesagt?“, meinte Esther gedankenverloren.

Ruth lachte auf. „Ich sagte, der neue Chirurg soll ein Prinz oder ein Herzog sein.“

Esther zuckte mit den Schultern. „Na und? Verspätet er sich deshalb? Ist er zu beschäftigt …“ Sie hakte imaginäre Anführungszeichen in die Luft. „Das will ich ihm bei meinen Babys nicht geraten haben.“

„Bleib locker. Vielleicht ist er Single.“ Ruth betrachtete sie, und Esther hätte am liebsten die Flucht ergriffen. Sie hasste diesen mitfühlenden Blick. „Ich sage ja nur, das Leben besteht nicht allein aus Arbeit.“ Schulterzuckend machte sich die Kollegin auf den Weg zur Tür, drehte sich allerdings noch einmal um. „Und benimm dich. Der neue Gastchirurg soll nicht Crabbie Rabbie kennenlernen, sondern unsere Superhebamme Esther.“

Sie sah sich nach etwas um, das sie nach Ruth werfen konnte, aber die war schon zur Tür hinaus verschwunden. Kopfschüttelnd machte sich Esther daran, nach ihren Babys und den Müttern zu sehen.

Den Spitznamen hatte sie sich schon in den ersten Monaten ihrer Ausbildung eingefangen. Als examinierte Krankenschwester hatte sie nebenher einige Dienste auf den Stationen übernommen. Allerdings waren ihr Nachtschichten noch nie gut bekommen. Der veränderte Tag-Nacht-Rhythmus machte sie gereizt – crabbit, wie man in ihrer schottischen Heimat sagte.

Eines Abends war sie mit einem Assistenzarzt aneinandergeraten. Der hatte mehrere Anläufe genommen, bei einem älteren Patienten den Venenzugang neu zu setzen, statt zu ihr zu kommen und um Hilfe zu bitten. Als sie feststellte, dass er es ganze vier Mal versucht hatte, war ihr der Kragen geplatzt.

Die gesamte Station hatte mitbekommen, wie sie ihn abkanzelte, wobei ihr schottischer Akzent deutlicher zu hören war, je wütender sie wurde.

Es war der 25. Januar gewesen, in Schottland ein Feiertag zu Ehren des Nationaldichters Robert Burns. Jener Arzt hatte das gewusst und, bevor er das Weite suchte, in Anspielung auf die schottische Version der Kurzform von Robert gemurmelt: „Komm runter, Crabbie Rabbie.“ Sehr zu Esthers Verdruss und zur Freude der Kolleginnen und Kollegen, die von da an keine Gelegenheit ausließen, sie mit diesem Namen liebevoll zu necken.

Er blieb an ihr hängen, obwohl sie ihr Temperament recht gut im Griff hatte.

Eine Krankenschwester kam zu ihr. „Probleme?“

„Nein, alles stabil. Ich habe die Röntgenaufnahme für Billy noch einmal angemahnt und warte darauf, dass endlich jemand kommt. Laura nehme ich mit auf die Mütterstation. Ihr Blutzucker ist in Ordnung, und sie fängt an zu greinen. Wahrscheinlich hat sie Hunger.“

„Okay, tu das, und danach machst du deine erste Pause. Du siehst aus, als hättest du sie nötig. Ich behalte Billy im Auge.“

Esther lachte auf. „Ich muss schrecklich aussehen, wenn du mich schon in die Pause schickst!“

„Geh, bevor ich es mir anders überlege.“

Erst sah Esther noch einmal nach Billy, redete dann kurz mit seiner Mum und notierte sorgfältig sämtliche Werte. Nach einem weiteren Anruf in der Radiologie suchte sie alles zusammen, was sie für Laura brauchte. Zehn Minuten später lag die Kleine an der Brust ihrer Mutter und trank gierig.

Esther streckte den schmerzenden Rücken und lief zur Kantine. Sonst machte ihr der Rücken keine Schwierigkeiten, aber vielleicht beklagte er sich nun wegen der vielen Extradienste. Kaum hatte sie die Kantine betreten, schlug ihr der Duft frischer warmer Scones entgegen. Es dauerte nicht lange, und auf ihrem Tablett standen ein großer Kaffee und ein Teller mit einem Scone, Butter und Himbeermarmelade.

Sie sah sich im Raum um. Carly oder Chloe, die Freundinnen, mit denen sie normalerweise zusammensaß, waren nirgends zu sehen. Zwar entdeckte sie eine Gruppe Krankenschwestern, die sie kannte, aber der einsame Platz ganz hinten in der Ecke rief buchstäblich nach ihr. Für Geselligkeit war sie einfach zu müde.

Schnell sicherte sie sich den Sessel, ehe jemand anders ihn besetzte. Die meisten Sitze hatten eine harte Rückenlehne und waren um Tische gruppiert. Es standen jedoch auch einige gemütlichere Exemplare dort, wahrscheinlich ausgemustert nach einer neuen Möblierung auf einer der Stationen.

Das Scone hatte sie im Handumdrehen verputzt, und Esther lehnte sich zurück, den Kaffeebecher in der Hand, nippte daran und schloss die Augen.

Da sprang die Tür in ihrer Nähe geräuschvoll auf, und ein Pulk von Leuten strömte herein, laut lachend und plaudernd.

Esther knirschte mit den Zähnen. Fünf Minuten Ruhe, mehr wollte sie nicht! Unbehaglich rutschte sie in ihrem Sessel hin und her, zog sich das Oberteil vom Körper ab. Ziemlich warm hier …

Der Lärm blieb. Aus halb geschlossenen Augen beobachtete sie die aufgedrehte Gruppe. Mittendrin fiel ihr ein Mann auf, gut aussehend wie die Ärzte einer TV-Serie, groß, breitschultrig, mit dunklem, attraktiv zerzaustem Haar. Alle anderen um ihn herum schienen an seinen Lippen zu hängen, warfen ab und zu ein Wort ein, sichtlich bemüht, seine Anerkennung zu erringen. Vielleicht war er wirklich ein Fernsehstar?

„Dies ist ein Krankenhaus, kein verdammter Zirkus!“, murmelte sie.

Sie blickte zur Wanduhr. Von ihrer Pause blieben ihr fünf Minuten. Eigentlich war es nicht ihre Art, darauf zu bestehen. Meistens schnappte sie sich irgendetwas zu essen, schlang es hinunter und eilte zurück zur NICU. Aber heute war sie ungewöhnlich müde. Erschöpft lehnte sie sich im Sessel zurück. Ausnahmsweise würde sie ihre Pause voll auskosten.

„Esther! Esther!!“

Die Stimme kam aus dem Nichts. Unsanft wurde Esther aus ihrem Schlummer gerissen. Liz, die Verwaltungsassistentin der Frühchenstation, rüttelte sie leicht an der Schulter. „Wach auf!“

Esther sprang auf und stieß dabei den halb vollen Kaffeebecher um, den sie auf der Armlehne abgestellt hatte. Braune Brühe spritzte ihr auf die Kittelhose, während Liz mit einem Sprung rückwärts auswich.

„Oh nein!“ Aufstöhnend warf Esther einen Blick auf die Uhr. Sie hätte schon vor einer Viertelstunde wieder auf der Station sein müssen.

Liz schnitt eine Grimasse. „Abi hat mir aufgetragen, dich zu holen. Der Chirurg ist da. Er sieht sich gerade Billy an.“

Zögernd starrte Esther auf die Pfütze, die sich zu ihren Füßen auf dem Linoleumboden ausbreitete.

„Lass nur“, sagte Liz. „Ich mache das. Lauf los.“

„Danke, Liz. Du hast etwas gut bei mir.“

Sie lief den Flur entlang, hieb auf den automatischen Türöffner zur Station, eilte weiter zwischen den aufgleitenden Türen hindurch und zum nächsten Waschbecken, um sich die Hände zu waschen. Abi stand in einer Gruppe Unbekannter, zu denen der Chirurg gehören musste.

„Oh, gut, da ist Billys Hebamme“, sagte sie lauter als gewöhnlich. „Sie wird Sie auf den neuesten Stand bringen.“

Rasch trocknete sie sich die Hände und bahnte sich ihren Weg durch die Menge. „Hi zusammen, ich bin Esther McDonald.“ Sie sah sich um, versuchte auszumachen, wer von all den Weißkitteln der Herzchirurg war. Abi reichte ihr ein Patientenblatt, und ein flüchtiger Blick darauf verriet Esther, dass Billy in der Zwischenzeit geröntgt und auch die künstliche Ernährung wieder aufgenommen worden war. Erleichtert seufzte sie leise auf.

„Sie sind die Hebamme?“

Die tiefe Stimme erklang so nahe an ihrem Ohr, dass sie zusammenfuhr und fast über ihre Füße stolperte.

Sie fuhr herum. Die Arme vor der Brust verschränkt, stand Mr. Fernsehstar dicht vor ihr und musterte sie abschätzig von oben bis unten. Okay, die Intensivstation war vielleicht nicht groß genug für all diese Leute, was erklären mochte, warum er ihr derart auf die Pelle rückte. Und mit Kaffeeflecken auf ihrer Hose bot sie vielleicht nicht gerade einen professionellen Anblick. Ihr stieg der Duft seines Aftershaves in die Nase, während sie aufgrund mangelnder Distanz gezwungen war, ihm tief in die toffeebraunen Augen zu blicken.

„Sind Sie nicht die Schwester, die in der Kantine geschlafen hat?“

Ihr schoss das Blut ins Gesicht. Für wen hielt der Kerl sich, dass er mit seiner Entourage die Intensivstation überschwemmte? Esther fuhr die Krallen aus.

„Ihnen ist sicher bewusst, dass auf einer neonatologischen Intensivstation begrenzte Besuchsregeln gelten. An anderen Krankenhäusern mag man für Sie und Ihr Gefolge eine Ausnahme machen, hier am Queen Victoria jedoch nicht!“

Stumm zählte sie, wie viele Menschen er mit hereingeschleppt hatte, und war bei zwölf angelangt, als wieder die tiefe Männerstimme ertönte.

„Ist dies nicht ein Lehrkrankenhaus? In der ganzen Welt bekannt für seine Ausbildungsprogramme?“ Der spöttische Unterton war nicht zu überhören.

Esther war lange genug Krankenschwester, um sich mit arroganten Medizinern auszukennen. Sie war schon einigen begegnet – Ärzten und Ärztinnen.

Und in dem Punkt ließ sie sich nichts gefallen. Sie verschränkte ebenfalls die Arme vor der Brust und setzte ein kühles Lächeln auf. „Möchten Sie mir nicht sagen, wer Sie sind und warum Sie glauben, dass Ihre Bedürfnisse wichtiger sind als die der Babys in diesem Raum?“

Sarkastisch konnte sie auch sein!

Er holte tief Luft, als wollte er ihr zeigen, wie breit seine Brust war. Allerdings hatte sich Esther noch nie leicht einschüchtern lassen.

„Ich bin Harry Beaumont und hier, um Ihren Patienten zu operieren.“

Sie hob die Brauen und nickte. „Ach, Sie sind hier, um Billy zu operieren.“ Esther deutete mit dem Zeigefinger auf ihn. „Wenn das so ist, können Sie bleiben. Alle anderen warten bitte draußen. Es sei denn, Sie haben Ihren eigenen Anästhesisten mitgebracht“, fügte sie schulterzuckend hinzu. „Dann darf er oder sie auch bleiben.“

Elf Augenpaare tauschten betretene Blicke.

Esther schüttelte langsam den Kopf und fügte hinzu: „Diese Säuglinge sind hochgradig infektionsanfällig. Aus gutem Grund gilt hier eine strenge Besuchsregelung.“ Sie sah in die Runde. „Da ich Sie nicht kenne – und ehrlich gesagt, bin ich etwas eigen, was Fremde in meiner Intensivstation angeht –, nehme ich einfach einmal an, dass Sie entweder Ärzte oder Medizinstudenten sind. Deshalb brauche ich Ihnen die Prinzipien der Infektionskontrolle nicht zu erklären. Sie werden also verstehen, dass eine große Gruppe wie diese übertrieben ist …“ Sie wandte sich zu Harry um. „… selbst für einen Herzchirurgen.“

An seinem Kinn zuckte ein Muskel. Der Mann war wütend. Was sie nicht weiter interessierte. Aber sie hätte gern an ihrem Kittel gezupft, um sich Luft zuzufächeln. Auf Intensivstationen herrschte zwar immer eine höhere Raumtemperatur, doch die vielen Menschen brachten sie ins Schwitzen. Sie rührte sich jedoch nicht, weil sie dann nicht mehr die Arme vor der Brust verschränken konnte und Schwäche signalisiert hätte.

Lange sagte niemand etwas, bis Harry schließlich kaum merklich nickte. „Francesca, bleiben Sie bitte hier? Die anderen bitte ich, draußen zu warten. Wir finden einen Lehrbereich, wo ich Ihnen alles erläutern kann.“

Francesca, ein zierlicher Rotschopf, lächelte Esther verschwörerisch zu. Sobald die Entourage verschwunden war, fragte sie: „Kann ich die Röntgenbilder von Billy sehen, bevor wir ihn untersuchen?“

„Selbstverständlich.“ Sie bedeutete den beiden, ihr zum nächsten Computerbildschirm zu folgen. „Haben Sie Ihre Log-in-Daten schon bekommen?“

„Ja“, antwortete Harry, trat zu ihr und tippte den Zugangscode ein.

Gleich darauf verfinsterte sich seine Miene. „Ich hatte vorab eine Liste mit Untersuchungen geschickt, damit die Ergebnisse vorliegen, wenn ich hier bin. Einige Werte fehlen.“

„Tatsächlich?“ Esther beugte sich vor. Gestern bei Dienstschluss standen noch einige Tests aus, aber Ruth hatte bei der Übergabe gesagt, dass sie gemacht worden waren. „Was genau suchen Sie?“

„Seine Blutwerte. Von heute Morgen.“

„Ich bin sicher, dass Blut abgenommen wurde. Wahrscheinlich sind die Ergebnisse noch nicht hochgeladen worden. Keine Sorge, ich rufe gleich im Labor an und mache ein bisschen Druck.“

Harry richtete sich auf und blickte sie ungläubig an. „Was heißt das, Sie sind sicher? Dass Sie es nicht genau wissen? Und warum wurde nicht längst ‚ein bisschen Druck‘ gemacht?“

Esther zuckte insgeheim zusammen. Er klang, als wäre sie völlig unfähig. Natürlich sollte sie wissen, ob Billys Blut heute Morgen untersucht wurde oder nicht. Die Laborkraft musste in Esthers Pause hier gewesen sein. Wäre ich nicht zu spät gekommen, hätte ich mich längst davon überzeugt …

Sie ließ sich nichts anmerken. Auch nicht, dass sie grässliche Rückenschmerzen hatte. „Der Auftrag erreichte uns gestern Abend. Zu dem Zeitpunkt hatten Sie uns weder mitgeteilt, wann Sie kommen, noch, ob Sie einen OP-Termin für Billy vorgesehen haben. Sonst hätten wir den Test mit einem entsprechenden Eilvermerk versehen.“

Verärgert ging Esther zum Tisch und griff nach dem Telefon. Sie war stolz auf ihre sorgfältige Arbeit. Darauf, dass es ihr in Fleisch und Blut übergegangen war, alles doppelt und dreifach zu prüfen!

„Ich bin es gewohnt, mit Fachleuten zu arbeiten. Anscheinend entsprechen die Standards hier nicht dem, was ich sonst kenne.“

„Verzeihung?“ Das konnte sie nicht auf sich sitzen lassen. Sie ließ sich doch nicht vorwerfen, unprofessionell zu sein! Das war die schlimmste Kränkung, die man einer Krankenschwester oder Hebamme zufügen konnte.

Aber Harry kam in Fahrt. Zwar sprach er leise, sodass niemand außer ihr ihn verstand, aber die Fragen prasselten auf sie ein wie Ohrfeigen. „Warum hat Billy noch die Ernährungssonde? Bevor Francesca die Narkose einleiten kann, muss sie sicher sein, dass sein Magen leer ist. Die Nahrungszufuhr hätte schon vor Stunden gestoppt werden müssen.“

Esther hatte schon eine schneidende Antwort auf der Zunge, da klickte es in der Leitung.

„Labor“, meldete sich eine matte Stimme.

Sie nahm sich zusammen. Wer auch immer gerade dort arbeitete, war genauso erschöpft wie sie. „Hier ist Esther von der NICU. Wir brauchen die Blutwerte eines Babys, das bald operiert werden soll.“ Sie nannte Billys Daten.

Ein Seufzer, dann eine gemurmelte Zustimmung. Esther legte auf und wandte sich zu Francesca um, ohne Mr. Entourage eines Blickes zu würdigen.

„Wenn Sie die Seite in ungefähr fünf Minuten neu laden, werden Billys Werte eingetragen sein. Eins der Geräte war am Morgen für ein paar Stunden ausgefallen, aber nun funktioniert es wieder. Billys Blutwerte waren bereits im System … man hat nur noch auf den Gerinnungsfaktor gewartet.“

Francesca nickte. „Perfekt.“

Esther blickte zu Harrys Monitor. Er studierte das gestrige Echokardiogramm. Der kleine Junge brauchte die OP dringend.

Sie stellte sich neben den Chirurgen. „Ich besitze viele Fähigkeiten, Dr. Beaumont, Gedankenlesen gehört allerdings nicht dazu. Wie gesagt, wenn Sie uns eher unterrichtet hätten, wäre dafür gesorgt worden, seine Ernährung rechtzeitig zu unterbrechen. Heute Nacht hatte sich die Sonde gelöst und musste ersetzt werden. Durch die Prozedur musste Billy bereits einige Stunden ohne Nahrung auskommen. Die Fütterung hat erst in der letzten Stunde wieder begonnen.“

Esther straffte die Schultern und sah ihn an. „Und unprofessionell ist in meinen Augen, dass ein Arzt mit einem Gefolge von zwölf Personen eine Babyintensivstation stürmt, ohne auf die Patienten oder deren Eltern, die unter starker Anspannung stehen, Rücksicht zu nehmen. Von einem Chirurgen mit Ihrer Erfahrung hätte ich mehr erwartet.“

Harry gab sein Bestes, nicht die Beherrschung zu verlieren, aber diese Hebamme stellte seine Geduld auf eine harte Probe. Nicht nur, weil sie in ihrem Ärger eindeutig Grenzen überschritt, sondern auch, weil sie dann so schnell sprach, dass er sich darauf konzentrieren musste, jedes Wort zu verstehen. Ihr schottischer Zungenschlag war heftig. Genau wie sie.

Bei dem Temperament hätte sie wilde feuerrote Haare haben müssen. Stattdessen waren sie dunkel und zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ihr Teint schien eine leichte Sonnenbräune gehabt zu haben, war jedoch jetzt auffallend blass. Auch waren ihm die dunklen Schatten unter ihren blauen Augen aufgefallen – gleich nach der schmutzigen Kleidung. Er war nicht sicher, was er davon halten sollte.

Als gefragter Herzchirurg kannte er sich in Säuglingsintensivstationen auf der ganzen Welt aus. Es gab nur wenige Operateure, die an winzigen Herzen und Blutgefäßen arbeiten wollten – vor allem, wenn das Gewebe so fein war und das Leben der kranken Kinder buchstäblich auf Messers Schneide stand.

Harry hatte gehofft, im Queen Victoria auf zuverlässige Fachkräfte zu treffen. Sein erster Eindruck von dieser Hebamme war jedoch alles andere als beruhigend. Auf keinen Fall würde er ihr die postoperative Betreuung des kleinen Billy übertragen!

Am meisten störte ihn allerdings, dass sie ihm klipp und klar gesagt hatte, seine Begleitung hätte auf „ihrer“ Intensivstation nichts zu suchen.

In der Sache hatte sie recht. Das Immunsystem der Frühchen war noch zu schwach, sodass der Kontakt zu anderen so gering wie möglich gehalten werden musste. Die meisten Menschen waren wandelnde Petrischalen! Sie trugen tagelang Krankheitserreger mit sich herum, bevor irgendwelche Symptome sichtbar wurden.

Ein leichter Schnupfen bei einem Erwachsenen konnte für ein zu früh geborenes Baby tödlich sein. Auch wenn das Queen Victoria ein Lehrkrankenhaus war, hätte selbst Harry nicht erwartet, dass in der Säuglingsintensivstation so viele Besucher zugelassen wurden. Doch er war in Eile gewesen und gleichzeitig mitgerissen von der Begeisterung der jungen Medizinerinnen und Mediziner, sodass er nicht nachgedacht hatte. Ein Fehler, der ihm nicht passieren durfte. Er ärgerte sich immer noch darüber.

„Sie müssen gewusst haben, dass Billy heute operiert wird“, sagte er unwirsch.

Die Hebamme sah ihn an, als verschwende er ihre Zeit. „Ich hatte gehofft, dass Sie heute hier aufkreuzen. Ich hatte gehofft, dass Billy nicht noch einen Tag länger auf seine Operation warten muss. Mir wurde gesagt, dass Sie vielleicht heute kommen würden. Aber niemand wusste, wann. Ich kümmere mich um beide, um Mutter und Baby. Und wenn Sie ein bisschen besser kommuniziert hätten, wann wir mit Ihnen rechnen dürfen, hätte ich seine Mum darauf vorbereiten können, dass der Eingriff heute stattfindet!“

Sie legte die Hände auf ihren unteren Rücken und lehnte sich zurück. Dabei zuckte sie zusammen, als hätte sie Schmerzen.

„Die Blutwerte sind da“, verkündete Francesca fast beschwichtigend. Anscheinend wollte sie Druck aus dem Kessel nehmen. „Seine Blutgaswerte sind mir ein bisschen zu niedrig, sonst ist alles wie erwartet.“

Ihr leiser Seufzer entging ihm nicht, und es tat ihm leid, was sich hier gerade abspielte. Harry hielt große Stücke auf sie. Sie war eine erfahrene Anästhesistin, mit der er seit Langem zusammenarbeitete.

Francesca schob ihren Stuhl zurück und stand auf. „Ich muss seine Brust abhorchen.“

Harry folgte ihr zum Waschbecken, um sich auch die Hände zu waschen. Dazu musste er um Esther herumgehen, die aussah, als würde sie gleich im Stehen einschlafen. Unabsichtlich streifte er ihren Arm, und sie wich hastig aus. Trotz der flüchtigen Berührung hatte er die Hitze gespürt, die von ihr ausging. „Sind Sie krank?“

Schockiert blickte sie ihn an. „Wie bitte?“

„Sie glühen. Haben Sie Fieber?“ Mit ausgestrecktem Arm deutete er auf die Bettchen ringsherum. „Falls Sie irgendeine Atemwegserkrankung haben, setzen Sie das Leben dieser Kinder aufs Spiel!“

„Habe ich nicht!“, fauchte sie. „Meine Brust ist völlig frei.“

Unwillkürlich blickte er auf ihre Brüste, die sich unter dem Kittel abzeichneten. Rasch wandte er sich wieder Francesca zu. „Wir sollten uns dieses Baby allein ansehen.“

Esther stellte sich ihm in den Weg. „Nein, das tun Sie nicht. Ich kenne seine Mum. Jill braucht Halt. Mir vertraut sie.“

Als Harry sie verärgert musterte, hob sie beide Hände. „Okay, ich werde Billy vorerst nicht anfassen. Sobald Sie ihn untersucht haben, laufe ich runter in die Notaufnahme und hole mir eine Gesundheitsbescheinigung. Aber Sie gehen nicht ohne mich zu ihm.“

Er presste die Lippen zusammen, um sich nicht auf einen sinnlosen Streit einzulassen. „Sie sprechen nur mit der Mutter“, sagte er schließlich.

„Hier entlang“, antwortete sie kurz angebunden.

Harry und Francesca folgten ihm zu der Frau, die zusammengesunken am Bettchen ihres Babys saß. Für Harry kein ungewöhnlicher Anblick. Intensivstationen machten Eltern Angst, weil ihnen hier ihre Hilflosigkeit besonders stark bewusst wurde. Diese Mutter war jung. Ihr strähniges Haar wurde am Hinterkopf von einer Spange gehalten und schien länger nicht gewaschen worden zu sein. Und so, wie die Frau aussah, fragte er sich, wann sie zuletzt etwas gegessen hatte. Inzwischen verstand er, warum Esther sie beschützte wie eine Löwin ihr Junges. Billys Mum schien nicht viel Unterstützung zu haben.

„Jill, dies ist Dr. Beaumont, der Chirurg, der Billy operieren wird“, stellte sie ihn vor.

„Freut mich, Sie kennenzulernen, Jill“, begrüßte er sie mit einem freundlichen Lächeln. „Ich bin hier, um mir Ihren Kleinen anzusehen. Wir werden ihn hoffentlich im Laufe des Tages operieren können. Darf ich ihn untersuchen?“

Jills Augen füllten sich mit Tränen, doch sie nickte kaum merklich. „Natürlich.“

Harry desinfizierte sich die Hände, während Francesca sich ebenfalls mit der Mutter bekannt machte. Als er dann während der Untersuchung ruhig und leise mit Billy redete, schien sich Jill zu entspannen.

„Hi, Billy, wir wollen uns mal dein Herz und deine Lungen anhören.“ Harry ließ sich Zeit, horchte die schmale Brust ab, überprüfte die Sauerstoffsättigung im Blut, die Magensonde und die Hauttönung. Bei kleinen Babys wie diesem war die Haut fast durchsichtig. Ihre Durchblutung funktionierte nicht richtig, sodass Anästhesie und operative Eingriffe hohe Risiken bargen. Schließlich nickte er Francesca zu und hielt sein Stethoskop wieder an Billys Brust. „Möchtest du auch mal?“

Sie stellte sich neben ihn und hängte sich die Bügel in die Ohren. Es war nicht nötig, dass sie das Kind berührte.

Harry spürte, wie Esther sie genau beobachtete. Als die Anästhesistin mit ihrer Untersuchung fertig war, fiel ihm auf, dass Esther und Jill den gleichen Anblick boten: Beide wirkten erschöpft und müde. Bei der Mutter konnte er es verstehen. Bei der Hebamme hingegen, die schwerkranke Babys betreuen sollte, war es verantwortungslos!

Nachdem er sich neben Jill gesetzt und ihr die Operation erklärt hatte, reichte er ihr ein Informationsblatt, auf dem die wesentlichen Punkte noch einmal beschrieben waren. So konnte sie alles noch einmal nachlesen. Seiner Erfahrung nach waren Eltern während eines solchen Gesprächs so aufgeregt, dass sie sich später kaum daran erinnerten.

„Haben Sie Fragen?“ Als sie den Kopf schüttelte, nickte Harry. „Sie können mich jederzeit ansprechen. Ich kümmere mich gleich um einen OP-Termin. Wahrscheinlich wird es Spätnachmittag werden. Der Eingriff dauert ungefähr sechs Stunden. Im OP-Trakt gibt es einen Raum für Angehörige. Wenn Sie dort warten, komme ich sofort nach der OP zu Ihnen und berichte, wie sie verlaufen ist. Okay?“

Jill nickte stumm.

„Ich unterhalte mich kurz mit Ihrer Hebamme, und danach erledigen wir die Formalitäten. Wir brauchen noch eine Einverständniserklärung von Ihnen.“

Lächelnd verabschiedete er sich und ging mit Francesca und Esther zur Stationszentrale. Die Anästhesistin setzte sich hin, um sich Notizen zu machen.

Esther wandte sich ihm zu. „Lassen Sie sich die Erklärung nicht jetzt unterschreiben?“

„Nein. Ich möchte ihr ein bisschen Zeit lassen, um alles zu verarbeiten, was ich ihr erzählt habe. Vielleicht hat sie noch Fragen.“

Sie nickte nur.

Harry stutzte. Hörte sie ihm überhaupt richtig zu? Er warf einen Blick auf den Dienstplan.

Die nächsten Tage waren für Billy entscheidend. Wer auch immer ihn betreute, musste topfit sein. Morgen hatte Esther Dienst. Das war ihm zu riskant.

„Sie sind müde. Nein, schlimmer noch, völlig erschöpft. Und ich glaube, dass Sie krank sind. Sie sollten nicht arbeiten und schon gar nicht für Billy verantwortlich sein. In den kommenden Tagen braucht er jemanden, der aufmerksam und konzentriert ist.“ Er schwieg ein Moment, weil er wusste, dass das, was er jetzt sagen würde, nicht gerade nett war. „Und ehrlich gesagt, bezweifle ich, dass Sie dazu in der Lage sind. Ich möchte eine andere Hebamme für Billy.“

„Was?“ Jetzt war sie hellwach.

„Tut mir leid, aber ich kann nicht riskieren, dass die postoperative Betreuung den Erfolg dieser Operation gefährdet.“

„Was fällt Ihnen ein!“, zischte sie und blickte an sich hinunter. „Nur weil ich ein paar Kaffeeflecken auf dem Kittel habe und noch nicht die Gelegenheit hatte, mich umzuziehen? Weil ich es gewagt habe, in der Kantine – während meiner Pause – die Augen zu schließen? Das genügt Ihnen, um mir die Kompetenz abzusprechen? Für wen halten Sie sich?“

Harry zuckte zusammen. Er hatte es zwar nicht so ausgedrückt, aber gedacht. „Ich glaube wirklich, dass Sie krank sind“, sagte er rasch. „Vielleicht sollten Sie sich durchchecken lassen und einige Tage zu Hause bleiben.“ Zwei Krankenschwestern blickten zu ihm hinüber, als hätten sie gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Auf keinen Fall wollte er beim Pflegepersonal Unruhe verbreiten. „Der Patient steht bei mir an erster Stelle“, fügte er leise, aber bestimmt hinzu.

„Ach, und bei mir nicht?“ Inzwischen war sie auf hundertachtzig.

So hatte er es nicht gemeint, doch anscheinend war es so rübergekommen. Andererseits – wollte er wirklich, dass diese Hebamme sich um seinen Patienten kümmerte? Angeschlagen, wie sie war?

Francesca warf ihm einen düsteren Blick zu. Auch das noch. Normalerweise hielt sie zu ihm.

Harry holte tief Luft. „Esther, ich muss die Dinge beim Namen nennen können. Meiner Meinung nach haben Sie Fieber. Sie wollten sich in der Notaufnahme untersuchen lassen. Warum tun Sie das nicht, und dann sehen wir weiter?“

Mit unbewegter Miene rief sie am Computer Dateien auf.

„Sehen Sie sich meine Arbeit an, Dr. Beaumont. Hier ist alles, was ich während meiner Dienste in den letzten Tagen für Billy geordert habe. Hier sind meine Notizen. Hier sämtliche Temperatur-, Blutdruck-, Puls- und Atemfrequenzmessungen. Hier die von mir verabreichte Medikation, hier das Ernährungsprotokoll, des Weiteren Vermerke über Hautpflege und Beobachtungen der Hautfärbung. Hier sehen Sie, wie oft ich ihm die Brust abgehorcht habe, wie oft er eine nasse oder schmutzige Windel hatte.“

Esther deutete auf eine letzte Seite. „Und hier steht, wann ich Ärzte verständigt, mit anderen Abteilungen telefoniert, Testergebnisse angefordert habe … alles, um sicherzustellen, dass Billys Pflege meinen hohen Ansprüchen genügt.“ Sie hielt sich sehr aufrecht, doch ihre Stimme zitterte leicht. „Nehmen Sie sich die Zeit, und lesen Sie sich durch, was ich gemacht habe. Weil ich alles akribisch aufzeichne“, betonte sie. „Und wenn Sie fertig sind, kann ich Ihnen ähnlich detaillierte Informationen über seine Mutter zeigen.“

Esther schwieg kurz, während er die Einträge überflog. „Leider bin ich nicht vierundzwanzig Stunden im Dienst, sodass ich Ihnen nur zeigen kann, was ich für Billy getan habe. Wie Sie sicher wissen, passiert in einem Krankenhaus immer wieder Unvorhergesehenes. Geräte fallen aus, Magensonden lösen sich und können erst wieder sicher benutzt werden, wenn der Patient geröntgt wurde, ein Arzt die Aufnahmen begutachtet und sein Okay gegeben hat. Für dadurch entstehende zeitliche Verzögerungen bin ich nicht verantwortlich.“

Er las die Notizen und musste ihr recht geben. Die Aufzeichnungen waren präzise und lückenlos, mit das Beste, was er je gesehen hatte – und er war schon auf vielen NICUs gewesen.

Die Hitze, die ihre Haut ausstrahlte, hatte er sich nicht eingebildet, aber während sie sprach, hatte er nichts gehört, was auf eine Erkältung oder Schlimmeres hindeutete. Vielleicht hatte sie keinen Infekt. Vielleicht war eine erhöhte Körpertemperatur bei ihr normal.

Den Grund für sein Verhalten konnte er ihr allerdings nicht nennen. Es musste niemand wissen, dass er eine Art tief sitzender Paranoia hatte, wenn es um das Wohl seiner Patienten ging.

Unerwartet baute sie sich vor ihm auf. „Wissen Sie, Harry, ich bin froh, dass Sie hier sind – auch wenn Sie ein unerträglich arroganter Kerl sind. Aber Billy braucht diese Operation, da ist alles andere für mich nebensächlich. Doch eins sage ich Ihnen, und ich sage es nur ein Mal: Reden Sie nie wieder so mit mir, und stellen Sie nie wieder meine Kompetenz infrage.“ Sie stemmte beide Hände in die Hüften. „Heute wünsche ich Ihnen bei Billys Operation von Herzen Glück, aber danach muss ich Sie hoffentlich nie wiedersehen.“ Damit ließ sie ihn stehen und ging davon.

Harry fühlte sich in etwa so willkommen wie ein Dorn im Weltraumanzug.

Francesca schnalzte mit der Zunge und schenkte ihm ein ironisches Lächeln. „Gut gemacht, Harry. Dein erster Tag im neuen Job, und schon Freunde gefunden.“ Sie griff nach ihrer Tasche. „Und ehrlich gesagt“, murmelte sie, als sie an ihm vorbeiging. „Gegen sie hast du keine Chance.“

2. KAPITEL

Die Warnzeichen waren deutlich gewesen. Zu beschäftigt – mit Jill, mit den Sorgen um ihre Mum –, hatte sie sie nur nicht wahrgenommen. Auf dem Weg in die Notaufnahme ärgerte sich Esther kolossal, dass erst dieser aufgeblasene Prinz, Herzog oder sonst was sie auf die Symptome aufmerksam machen musste, ehe bei ihr der Groschen fiel.

Abi bot ihr an, auf Billy zu achten, während Esther sich durchchecken ließ. Da ahnte sie schon, was mit ihr los war. In einem der Behandlungsräume hatte sie Fieber gemessen, und tatsächlich, sie glühte. Esther holte eine Paracetamol aus ihrer Handtasche, spülte sie mit Wasser hinunter. Irgendwo musste sie ja anfangen.

Rob, einer der erfahrenen Krankenpfleger, stand am Stützpunkt. Ein Blick genügte ihm. „Bist du okay?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich vermute eine Harnwegsinfektion. Kann ich dich die nächsten fünf Minuten beschäftigen?“

„Klar.“ Lächelnd reichte er ihr einen sterilen Behälter für die Urinprobe. „Dann wollen wir mal.“

Es dauerte länger als fünf Minuten. Rob war sehr gründlich. Als er erfuhr, dass sie als Kind unter Nierenproblemen gelitten hatte und für Harnwegsinfektionen anfällig war, nickte er, testete die Harnprobe, maß Esthers Temperatur und ließ sich ihre Symptome beschreiben. Starke Müdigkeit und Schmerzen im unteren Rücken.

„Konntest du nicht eher herkommen?“

Sie seufzte. „Anfangs war ich nicht so müde, und die Schmerzen haben erst heute Morgen angefangen. Außerdem ist der neue Herzchirurg da und hat mich auf Trab gehalten.“

Rob machte sich Notizen. „Was hilft sonst am besten?“

Esther nannte ihm ein Antibiotikum, er schrieb ein Rezept, ging zu einem der Schränke, holte ein Pillenfläschchen heraus und vermerkte die Entnahme. „Hier, damit du nicht extra zur Apotheke laufen musst. Die Urinprobe schicke ich trotzdem ins Labor. Ich möchte sichergehen, dass das Antibiotikum passt. Die Ergebnisse sind morgen im System. Ich habe Dienst, kann ich dich dann anrufen?“

„Großartig, danke, Rob.“

„Gern geschehen. Gehst du nach Hause?“

„Ich?“ Lächelnd schüttelte sie den Kopf. „Diese Tabletten wirken bei mir schnell. Morgen um diese Zeit wird es mir viel besser gehen. Bis dahin nehme ich zusätzlich Paracetamol.“

„Okay, aber sag Bescheid, wenn du noch etwas brauchst.“

„Vielleicht eine Abreibung für einen gewissen Herzchirurgen?“

Überrascht blickte Rob auf. „Hat er Crabbie Rabbie geärgert? Der Mann hat Mut!“

„Keine Sorge. Ich habe ihm bereits gesagt, wie sehr ich ihn liebe. Von mir aus kann er operieren, mein Baby gesund machen und wieder verschwinden.“

Esther nickte Rob zu, verließ die Kabine und eilte den Flur entlang. Erleichtert, dass sie endlich wusste, warum sie sich so schlapp gefühlt hatte. Dank des Antibiotikums würde sie in ein paar Tagen wieder fit sein!

Als sie die Notaufnahme verlassen wollte, kam ihr die Stationsschwester entgegen. Shirley hatte beide Arme voll, und Esther hielt ihr die Tür auf.

„Meine Rettung.“ Shirley grinste. „Danke.“

„Keine Ursache.“

Shirley schien etwas einzufallen. „Hey, du kannst nicht zufällig Donnerstag einen Dienst übernehmen?“

Esther überlegte. Donnerstag. Also in drei Tagen. Ihr nächster freier Tag. Bis dahin dürfte es ihr wieder blendend gehen. „Klar.“

„Wunderbar!“, rief Shirley ihr über die Schulter zu, bevor sie den Korridor entlanglief.

Harry unterdrückte mit Mühe seinen Ärger, als Francesca ihm die Leviten las.

„Dein Verhalten gestern war völlig daneben“, sagte sie leise, als sie sich am nächsten Morgen trafen.

„Wieso das denn? Ich will nicht, dass sich irgendeine verrückte Krankenschwester um mein Baby kümmert.“

„Dein Baby?“ Francesca zog die Brauen hoch.

„Du weißt, was ich meine. Wenn ich sie operiere, sind es meine Babys.“

„Spiel nicht den Empfindlichen. Du warst unfreundlich. Und warum, weil sie Kaffee verschüttet hat? Wem ist das nicht passiert? Wenn ich zu einem Herzstillstand gerufen wurde, hatte ich nicht nur einmal meinen halben Lunch auf dem Kittel.“

„Hast du auch in der Kantine geschlafen?“

„Manchmal. Wenn ich die ganze Nacht Dienst hatte, habe ich schon mal fünf Minuten die Augen zugemacht, weil ich hundemüde war. Kannst du ernsthaft behaupten, dass du so etwas nie getan hast?“

Harry seufzte. „Okay, du hast recht.“

Francesca sah ihn eindringlich an. „Du hast zum ersten Mal hier operiert. An deiner Stelle würde ich es mir nicht gleich mit jedem verscherzen, wenn du in Zukunft am Queen Victoria als Gastchirurg arbeiten willst.“ Sie setzte sich an einen der Computer und rief Laborergebnisse auf. „Ich wäre vorsichtig. Sie hat übrigens einen Spitznamen.“

„Einen Spitznamen?“

Francesca lächelte. „Jepp. Crabbie Rabbie.“

„Was?“ Harry runzelte die Stirn.

„Hat etwas mit dem schottischen Nationalbarden zu tun.“

„Ich weiß, wer Robbie Burns ist.“

„Nun, den Namen haben sie ihr anscheinend gleich bei Dienstantritt verpasst. Weil man deutlich hört, dass sie aus Schottland kommt, und wegen der Tatsache, dass sie nicht zögert, jemandem den Marsch zu blasen, wenn er sie ärgert.“

„Willst du mir etwas sagen?“

„Nun, es sieht ganz danach aus, dass du dich in die Kategorie ärgerlicher Zeitgenossen katapultiert hast.“

„Oh, herzlichen Dank!“

Die Tür zur Notaufnahme öffnete sich, und der Tagdienst, unter ihnen Esther, kam herein.

Ihr dunkles Haar hatte sie zu einem ordentlichen Zopf geflochten und hochgesteckt. Sie wirkte immer noch müde, war jedoch nicht mehr so blass wie gestern. Wahrscheinlich hatte sie mehr Make-up aufgelegt. Heute trug sie einen Kittel in leuchtendem Pink.

Es war seltsam. Unter anderen Umständen hätte er zugegeben, dass er sie attraktiv fand. Aber er traf sich in der Regel nicht mit Kolleginnen. Zu kompliziert. Außerdem hatten Esther und er keinen guten Anfang miteinander gehabt.

Allerdings hätte er sie gern gefragt, ob sie fit war. Ob sie noch Fieber hatte. Er verkniff es sich. Jemand, der auf Intensivstationen arbeitete, war sich der Risiken für die Babys genau bewusst, und würde nie Infektionen einschleppen. Harry musste sein Misstrauen für sich behalten.

Francesca tippte ihm auf den Arm. „Okay, ich sehe mir einen anderen kleinen Patienten an. Benimm dich, ja? Sei nett.“

Kopfschüttelnd sah er ihr nach.

Esther hatte eine schlechte Nacht hinter sich. Unglaublich! Da sehnte sie sich den ganzen Tag nach ihrem Bett, und als sie dann in ihrem gemütlichen Schlafanzug unter der weichen Decke lag, konnte sie nicht einschlafen. Das Gedankenkarussell sprang an, und sie malte sich die schlimmsten Szenen mit diesem unmöglichen Chirurgen aus. Der Mann raubte ihr den Schlaf!

Über einiges, was er gesagt hatte, regte sie sich immer noch auf. Am schlimmsten war jedoch seine Drohung, Billy von einer anderen Hebamme betreuen zu lassen. Allerdings war Esther ziemlich sicher, dass die Stationsschwester ihn in die Schranken weisen würde. Oona stammte aus Nordirland und hatte ein ähnliches Temperament wie Esther. Auf ihrer Intensivstation würde sie ziemlich verschnupft reagieren, wenn ein Gastchirurg versuchte, ihr die Dienstpläne zu diktieren.

Als Esther die Säuglingsintensivstation betrat, sah sie Harry am Stützpunkt stehen. Es war sechs Uhr fünfzig, und sie hatte das Gefühl, dass für sie gerade der schrecklichste Arbeitstag der Welt begann!

Harry sah in seinem hellblauen Hemd, das am Kragen noch leicht feucht war, umwerfend aus, was es nicht gerade besser machte. Anscheinend hatte er vor Kurzem geduscht und bezauberte nun die wenigen Schwestern um ihn herum. Es wurde gescherzt und gelacht.

Sie versuchte, sich seelisch darauf einzustellen, dass man ihr die Fürsorge für den kleinen Jungen entzogen hatte. Zögernd blickte sie zur Weißwandtafel. Ihr Name stand neben Billy Rudd und Akshita Patel. Esther seufzte vor Erleichterung und ging hinüber, um sich den Bericht anzuhören.

Bei jedem Schritt spürte sie Harrys Blicke. Worauf wartete er?

Esther ignorierte ihn. Billys Operation schien gut verlaufen zu sein. Um sich persönlich ein Bild zu verschaffen, eilte sie an sein Bettchen und umarmte Jill zur Begrüßung.

Zuerst fiel ihr auf, dass seine Gesichtsfarbe sich verändert hatte. Zwar hatte er immer noch die durchscheinende Haut eines Frühchens, aber Esthers geübtem Auge war nicht entgangen, dass sie heller wirkte als vorher.

Als sie einatmete, nahm sie einen Duft wahr. Sie erkannte ihn von gestern wieder, eine warme holzige Note. Harry. Esther wandte sich bewusst nicht um.

Jill war aufgestanden, um sich in der kleinen Küche einen Tee zu kochen.

„Ist alles gut gegangen?“, fragte Esther. Sie mochten einen schlechten Start miteinander gehabt haben, doch das war kein Grund, unfreundlich zu sein.

„Ja und nein“, antwortete er mit gesenkter Stimme.

„Wie meinen Sie das?“

„Der Eingriff dauerte länger als erwartet. Es gab Probleme. Letztendlich haben wir acht Stunden lang operiert.“

Erschrocken drehte sie sich zu ihm um. „Aber …“

„Alles in Ordnung“, beruhigte er. „Die Operation war erfolgreich. Billy muss genau beobachtet und engmaschig kontrolliert werden, und deshalb …“ Seine dunklen Augen suchten ihren Blick. „… sind die nächsten Tagen entscheidend.“

Ihre Haut prickelte. Nicht, dass er es laut ausgesprochen hätte, doch es fühlte sich an, als hätte er ihr etwas vorzuwerfen.

„Meiner Erfahrung nach treten in Fällen wie diesen Komplikationen innerhalb der ersten achtundvierzig Stunden auf.“

Der Zeitraum, in dem sie für Billy zuständig war.

Trotzig hob sie das Kinn, weil sie sich über die versteckte Anspielung ärgerte. Esther sah zur Wanduhr. Sie wusste, wann der Eingriff begonnen hatte. Acht Stunden, das bedeutete, dass er weit nach Mitternacht beendet gewesen war. Harry war bereits hier gewesen, als sie ihren Dienst antrat. Sie wusste, dass sie kaum geschlafen hatte. Was war mit ihm?

„Wohnen Sie in der Nähe? Sie sind früh wieder hier.“ Kaum hatte sie das gesagt, bereute sie es auch schon. Ihr gefiel nicht, wie es geklungen hatte.

Harry störte es anscheinend nicht. „Nur ein paar Meilen entfernt, in Belgravia, aber ich bin heute Nacht im Krankenhaus geblieben, um Billy im Auge zu behalten.“

„Oh.“ Sie nickte. Belgravia. Klar. Wenn er eine Art Royalty war, lebte er natürlich in einem der nobelsten Stadtteile von London. Anders als sie, die täglich fast eine Stunde zur Arbeit und wieder zurück pendeln musste.

Er zog etwas aus seiner Tasche und räusperte sich. „Ich hatte für den Nachtdienst aufgelistet, welche Beobachtungen ich bei Billy im Einzelnen protokolliert haben möchte.“

Esther warf einen Blick auf den Notizzettel. „Harry, ich weiß, was bei postoperativer Pflege zu beachten ist. Ich mache es nicht zum ersten Mal.“ Ohne die Liste anzurühren, überflog sie sie mit einem Blick. Es war das am Queen Victoria übliche Prozedere, mit Ausnahme eines Tests, der einfach zusammen mit den anderen Blutuntersuchungen geordert werden konnte.

Sie presste die Lippen zusammen, um ihn nicht anzufahren. Alles an diesem Mann schien sie zu reizen. Selbst sein Aftershave, das zwar dezent, aber deutlich wahrnehmbar in der Luft hing. „Sie reisen viel herum, deshalb vermute ich, dass Sie sich damit auskennen, was in der jeweiligen Intensivstation normal ist und was nicht. Im Queen Victoria brauchen Sie sich allerdings keine Gedanken zu machen. Unser Ruf ist exzellent, weil wir ihn uns erworben haben.“

Harry trug nicht den üblichen weißen Arztkittel, sodass sie unwillkürlich auf die Muskeln unter dem hellblauen Hemd schaute. Ein maßgeschneidertes Hemd, nahm sie an, weil es seine athletische Gestalt an den richtigen Stellen betonte. Es war kurzärmelig, wie es bei Ärzten, die im klinischen Bereich arbeiteten, erwartet wurde. Aber dadurch lenkte es Esthers Aufmerksamkeit auf seinen Bizeps. Gegen ihren Willen!

„Ein Punkt für Sie“, entgegnete Harry frostig. „Trotzdem möchte ich, dass meine Anweisungen für die postoperative Zeit befolgt werden.“

Noch immer hielt er ihr das Blatt hin. Esther hatte das Gefühl, in einer Sackgasse zu stecken. Sie wollte es nicht nehmen. Absolut nicht. Aber da kam Jill aus der Küche zurück. Um sie nicht zu beunruhigen, griff Esther nach dem Notizzettel und stopfte ihn sich in die Kitteltasche. Billys Mum sollte nicht einmal ansatzweise vermuten, dass sich ein Arzt und eine Krankenschwester in der Betreuung ihres Babys uneinig waren.

„Fein.“

Harry zog eine Braue hoch. „Fein“, sagte auch er und ging.

Esther machte sich an die Routineprüfungen bei Billy und danach bei dem kleinen Mädchen, ihrem zweiten Schützling.

Sie hatte gehofft, dass Harry den Wink mit dem Zaunpfahl verstand und aus der Intensivstation verschwand. Er musste doch müde sein! Oder wenigstens woanders zu tun haben … Aber nein, zu ihrem Leidwesen machte er es sich neben einem der Telefone bequem und öffnete seinen Laptop.

Ein Telefonat nach dem anderen folgte. Anscheinend konsultierte man ihn bei vielen Fällen nicht nur im Vereinigten Königreich, sondern auch in der EU.

Nicht, dass sie ihn belauschen wollte. Natürlich nicht. Esther hoffte nur, dass einer der Anrufe ihn dazu brachte, ihre Station zu verlassen.

Denn irgendwie fühlte sie sich die ganze Zeit von ihm beobachtet. Zuerst dachte sie, dass sie sich das einbildete, aber sobald sie aufsah, trafen sich ihre Blicke, und zu ihrem Ärger wurden ihre Wangen heiß.

Schließlich setzte sie sich an einen PC, um ihre Notizen zu Billy zu aktualisieren, und loggte sich ein. Esther sah in der rechten unteren Ecke des Bildschirms ein kleines rosa Lämpchen blinken. Außer ihr hatte sich noch jemand Zugang zu Billys Akte verschafft. Was nicht ungewöhnlich wäre. Vielleicht lud jemand vom Labor die neuesten Werte hoch. Oder jemand anders betrachtete Röntgen- und Ultraschallbilder. Doch da wurde das Lämpchen blau, und Esther sah rot!

Jetzt sah sich jemand die Pflegenotizen an. Ihre Notizen, die sie bisher nur zum Teil eingegeben hatte. Esther konnte sich denken, wer es war.

Der Kerl überprüft mich! dachte sie wütend. So etwas hatte sie nicht einmal während ihrer Ausbildung erlebt. Als sie ans Queen Victoria gekommen war, hatten Kolleginnen und Kollegen ihr schon nach wenigen Diensten vertraut, dass sie als examinierte Krankenschwester kompetent genug war. Natürlich wurden Wehentätigkeit und Geburtsvorgang kontrolliert, aber wenn sie Medikamente ausgab oder Berichte schrieb, sah ihr niemand über die Schulter. Doch nun fühlte sie sich wie unter einem Mikroskop. Und es gefiel ihr gar nicht!

Verschwinden Sie! Am liebsten hätte Esther einen bissigen Kommentar eingetippt. Aber einmal getätigt, war er für immer im elektronischen System hinterlegt. Sie könnte ihn zwar Sekunden später löschen, doch bei einer Recherche würde er im Verlauf wieder auftauchen.

Ihr blieb nichts anderes übrig, als Harry zu ignorieren. Sie gab ihre letzten Beobachtungen und Messungen zu Billy ein und fügte Bemerkungen hinzu. Dann wechselte sie zu Jills Akte und trug ebenfalls Notizen ein.

Eine Stunde später tauchte Harry wieder neben ihr auf. Nicht, dass er etwas gesagt hätte, aber seine Schuhe gerieten in ihr Blickfeld. Italienische Lederschuhe, handgenäht. Etwas, das sie bisher nur bei Filmstars gesehen hatte.

Was war los mit ihr? Selbst über seine Schuhe regte sie sich auf!

Sie wartete, bis er Billys Brust abgehorcht hatte. „Warum kontrollieren Sie meine Eintragungen?“

Seine Hände zuckten zurück. „Ich habe mir nicht speziell Ihre Notizen angesehen, Esther.“

„Doch. Ich kann es sehen, wenn jemand dieselbe Seite aufgerufen hat wie ich.“

Harry warf ihr einen Seitenblick zu. „Ich habe seine gesamte Akte gelesen. Angefangen bei seiner Geburt über sämtliche Untersuchungen und alle medizinischen und pflegerischen Einträge. Mir ist das ganze Bild wichtig, wenn es um meine Patienten geht.“ Er wandte sich ihr zu, widerstrebend, wie ihr schien. „Oft denke ich, dass die Beobachtungen der Hebammen oder der Krankenschwestern, die die Patienten betreuen, am wichtigsten sind. Sie bemerken entscheidende Details, die anderen entgehen.“

Er schwieg und fuhr sich mit einer Hand durch das dichte, leichte zerzauste Haar. Die Geste rührte sie an, genau wie sein Gesichtsausdruck. Esther hielt unwillkürlich für einen Moment den Atem an. Seine Miene verriet Kummer, Schmerz, Bedauern.

„Mit den Jahren habe ich bei rückblickender Überprüfung unerwünschter Ereignisse wie auch kindlicher Todesfälle in den Fallnotizen scheinbar unbedeutende Kommentare gefunden, mit denen man auf den ersten Blick nichts anfangen konnte“, fuhr er fort. „Betrachtete man sie jedoch im größeren Zusammenhang, waren sie ein wichtiger Teil des Puzzles. Ein Puzzle, das wir meistens erst zusammenfügen, wenn es längst zu spät ist.“

Ihr Ärger verrauchte, als er sich auf die Lippen biss … So, als hätte er Mühe, seine Emotionen im Griff zu halten.

Harry atmete tief durch. „Also habe ich gelernt, genau hinzusehen. Ich lese alles, was über den Patienten verfügbar ist, und behalte es im Kopf.“ Toffeebraune Augen blickten sie eindringlich an. „Denn welchen Sinn haben solche nachträglichen Überprüfungen, wenn man nicht aus ihnen lernt?“

Esther war sprachlos. Zu viel ging ihr durch den Sinn. Ja, sie fühlte sich von ihm kontrolliert. Und ja, seine Worte gestern waren nicht gerechtfertigt. Aber jetzt wusste sie, warum er so penibel war, und sie verstand ihn.

Er arbeitete in den verschiedensten Krankenhäusern. Dass manche Abteilungen besser geführt wurden als andere, war ein offenes Geheimnis. Esther hätte aus dem Stegreif eine Liste der Einrichtungen schreiben können, bei denen sie sich nie um eine Stelle bewerben würde. Kein Wunder, dass Harry seine postoperativen Anweisungen sicherheitshalber schriftlich festhielt.

Noch immer stand er da, wenige Schritte von ihr entfernt. Sie sah, wie sich die breite Brust unter dem maßgeschneiderten Hemd hob und senkte. Ein Hemd, das mehr gekostet haben mochte als das teuerste Outfit in ihrem Schrank.

Die Unterschiede zwischen ihnen könnten nicht größer sein. Seine akzentuierte, geschliffene Art zu sprechen ärgerte und faszinierte sie zugleich. Wie mochte es sein, zur Oberschicht zu gehören? Bisher war sie niemandem begegnet. Hatte Harry allein durch seine Geburt das Recht erworben, an einer der besten medizinischen Fakultäten zu studieren? Oder war das altmodischer Unsinn? Esther hatte keine Ahnung.

Eins wusste sie jedoch genau. Harry hatte nicht für die Schule lernen und sich gleichzeitig mit zwei Teilzeitjobs Geld verdienen müssen. Oder bis in die Nacht pauken müssen, um gute Noten zu bekommen. Esther war keine Überfliegerin gewesen. Den Zugang zur Universität in Schottland hatte sie sich hart erarbeitet. Und ohne einen schottischen Millionär, der in ihrer Gegend ein Stipendium ausgelobt hatte, hätte sie sich die Zusatzausbildung zur Hebamme in London nicht leisten können. Ihre Heimat gehörte zu den wenigen Ländern der Erde, in denen der Nachwuchs kostenlos die Universität besuchen konnte. Doch wenn schottische Kinder in London lernen wollten, mussten sie zahlen. Das Stipendium deckte auch ihre Miete, sodass sie mehr Glück gehabt hatte als viele andere.

Harry Beaumont hingegen hatte sich in seinem ganzen Leben noch keine Gedanken über Schulgeld machen müssen oder darüber, wovon er Unterkunft und Essen bezahlte.

Ihre Gedanken schweiften weiter ab. Ob er im Buckingham Palace gewesen war? Jemanden dort näher kannte? Vielleicht war er mit einem der jüngeren Prinzen befreundet?

Esthers Blick fiel wieder auf seine Arme. Er hatte kraftvolle Muskeln. Ruderte er in seiner Freizeit? Bestimmt gehörte er zum Ruderteam in Oxford oder Cambridge.

Ein zaghaftes Husten ertönte, und Esther fuhr leicht zusammen. Als sie sich umdrehte, bemerkte sie, dass Jill sie eigenartig ansah. „Alles in Ordnung, Jill?“

Die junge Mutter blickte von einem zum anderen. „Das wollte ich Sie fragen. Sie stehen hier schon so lange. Stimmt etwas nicht mit Billy?“

Sofort trat Harry vom Bettchen zurück. „Nein, nein, ich bin sehr zufrieden mit Billys Zustand.“ Rasch fügte er hinzu: „Natürlich werden wir ihn in den nächsten Tagen weiterhin genau beobachten. Aber bis jetzt macht er Fortschritte.“

Esther hatte aufgehorcht, als er seine ersten Worte relativierte. Vielleicht wollte er vor Jill nicht allzu zuversichtlich wirken, damit sie nicht glaubte, dass nichts mehr schiefgehen konnte.

Sie dehnte den schmerzenden Rücken. Sonst wirkten die Antibiotika normalerweise längst, aber Esther nahm weiterhin Paracetamol gegen ihr Fieber. Außerdem fühlte sie sich immer noch müde und abgeschlagen und hatte keinen Appetit. Das eine Scone morgens in der Kantine und am Abend eine leichte Suppe waren alles, was sie gestern gegessen hatte. Heute Morgen hatte sie nicht einmal gefrühstückt, sondern nur einen Karamell-Latte getrunken und bis jetzt keinen Hunger gehabt.

„Ich gehe nachher in die Kantine“, sagte sie zu Jill. „Möchten Sie nicht mitkommen?“

Ihr ging es nicht darum, selbst etwas zu essen. Nicht nur einmal hatten Kolleginnen oder Kollegen in ihren Notizen über Jill vermerkt, dass Billys Mum kaum etwas aß. Das Krankenhausessen wurde auch immer für die Eltern in der Säuglingsintensivstation gebracht, aber Jill hatte ihrs nicht angerührt. Gelegentlich verließ sie die Station, um sich einen Snack zu holen, wahrscheinlich am Automaten, aber Esther genügte das nicht. Vielleicht wurde es Zeit für eine neue Taktik.

Jill blickte zu ihrem Sohn hinüber. „Aber wer passt dann auf Billy auf?“, fragte sie besorgt.

„Ich“, ertönte Harrys tiefe Stimme. „Die meiste Zeit des Tages werde ich hier sein. Sagen Sie einfach Bescheid, wann Sie gehen wollen. Dann mache ich mir einen Kaffee und beziehe meinen Posten im bequemsten Stuhl der Abteilung.“

Er deutete auf den Liegestuhl neben Billys Bett, und Jill lachte auf. Nicht alle Stühle besaßen eine verstellbare Rückenlehne, und viele Eltern beneideten Jill darum.

„Versprechen Sie mir, dass Sie ihn nicht allein lassen?“ Sie sah Esther, dann wieder Harry an. „Ich weiß, hier sind alle sehr gut, aber Esther vertraue ich am meisten. Wenn ich sonst für ein paar Minuten weggehe, dann nur, wenn sie bei ihm bleibt.“

Lachend hob er die Hände. „Und was bin ich? Der schäbige Ersatz?“

Jill stieg das Blut ins Gesicht, doch Esther trat auf Harry zu und stieß ihn kurz mit dem Ellbogen an. „Das gefällt mir. Ein Chirurg, der seinen Platz kennt.“

Dabei konnte sie sich kaum das Lächeln verkneifen. Ihre erste Begegnung mochte nicht erfreulich gewesen sein, aber inzwischen verstand sie ihn besser. So arrogant, wie sie gedacht hatte, war er gar nicht.

Auf einmal knurrte ihr der Magen.

„Oh“, meinte Jill. „Sollen wir jetzt gehen? Ich hole schnell meine Tasche.“

Esther presste die Hand auf den Bauch und lachte verlegen. „Ups.“

„Dann mache ich mir besser schnell meinen Kaffee.“ Harry verschwand in der Stationsküche.

Um abzusprechen, ob sie Pause machen konnte, ging Esther zu einer ihrer Kolleginnen. „Harry passt auf Billy auf.“

Danielle sah sie verblüfft an. „Der Herzchirurg? Wie hast du das denn geschafft?“

„Gar nicht.“ Es war wirklich ungewöhnlich. Sie konnte sich nicht erinnern, dass ein Chirurg jemals eingesprungen war, um auf ein Baby aufzupassen. Jedenfalls nicht, damit jemand in die Pause gehen konnte. „Er hat es angeboten.“ Nach kurzem Überlegen fügte sie hinzu: „Wahrscheinlich macht er sich Gedanken um Billys Mum. Ich hatte ihr vorgeschlagen, zusammen in der Kantine etwas zu essen, aber sie wollte Billy nicht allein lassen.“

„Okay, das ergibt Sinn. Vielleicht schaffst du es, dass sie auch ein bisschen frische Luft schnappt. Das wird ihr guttun.“ Danielle förderte ein paar Münzen aus ihrer Kitteltasche. „Bring mir etwas Süßes mit, ja? Die Diät, die ich angefangen habe, bringt mich um. Ich brauche einen Schoko-Kick.“

Esther lächelte. „Kein Problem. Bis später.“

Sie ging zu Billy zurück. Harry hatte es sich bequem gemacht und sprach leise mit dem Baby. Als Esther näher kam, tat er so, als würde er sie nicht bemerken.

„Pass auf, Billy, Crabbie Rabbie ist im Anmarsch. Wenn wir nicht brav sind, kriegen wir Ärger.“

Ihr blieb fast der Mund offen stehen. „Wer hat Ihnen das erzählt?“ Sie wusste von ihrem Spitznamen, wurde oft genug damit aufgezogen. Allerdings hätte sie nicht erwartet, dass ein Gastchirurg ihn kannte. Anscheinend hatten die Leute über sie geredet.

„Was?“ Schalk blitzte in seinen Augen auf. Harry blickte erst über eine, dann die andere Schulter. „Habe ich etwas gesagt?“

Esther beugte sich über das Bettchen. „Hüte dich vor schlechten Einflüssen, Billy. Du weißt, wer dein Liebling ist.“ Als sie sich aufrichtete, berührte sie Harry kurz an der Schulter. „Und Sie haben recht. Sie sollten brav sein. Vergessen Sie es nicht.“

Jill eilte auf sie zu. „Können wir los?“

Harry lächelte. „Natürlich. Ihr Sohn ist in guten Händen. Lassen Sie sich ruhig Zeit, ich bleibe so lange hier.“

Esther hielt Jill die Tür auf und warf einen letzten Blick zurück. Ihr wurde warm ums Herz. Die meisten Chirurgen erledigten ihren Job und konzentrierten sich auf die nächste Operation. Harry war auf beruhigende Art anders.

Über Billy gebeugt, redete er, sein Kaffeebecher stand auf dem Tischchen neben dem Stuhl. Esther sah, wie er ein Gel in den Händen verrieb, bevor er dem kleinen Jungen eine Hand hinhielt. Billy umklammerte den Zeigefinger.

Ein Lächeln erhellte Harrys markante Züge.

Da wusste Esther, dass sie in Schwierigkeiten steckte.

3. KAPITEL

Esther hatte kaum geschlafen. Da hätte ich auch die Nachtschicht übernehmen können, dachte sie, als sie zum x-ten Mal aufstand, um auf die Toilette zu gehen.

Auf dem Weg zur Arbeit übermannte sie eine derartige Müdigkeit, dass sie sich an einem Straßenstand den größten Kaffee holte, extrastark, um nicht im Stehen einzuschlafen.

Erleichtert stellte sie fest, dass Harry nicht auf der Intensivstation war. Sie wollte nicht von ihm hören, wie müde sie aussah. Wahrscheinlich war er wieder in Frankreich, um nach dem Baby zu sehen, das er vor Billy operiert hatte. Gestern hatte sie ihn ein paarmal mit dem dortigen Krankenhaus telefonieren hören.

Abi stieß sie leicht mit dem Ellbogen an. „Was ich dir noch sagen wollte … Wir haben herausgefunden, von welcher royalen Linie unser neuer Chirurg stammt.“ Sie lächelte strahlend. „Er kommt aus deiner Ecke! Ein Herzog. Aus Schottland. Er ist der Duke of Montrose.“

Esther rümpfte die Nase. „An dem ist nichts schottisch. Hast du nicht gehört, wie er spricht?“

Abi lachte. „Was … Habt ihr etwa keine vornehmen Leute in Schottland?“

Da musste Esther lächeln. „Doch, natürlich, aber nicht in meiner Gegend. Außerdem hat der Titel gar nichts zu sagen. Der Prince of Wales ist auch nicht in Wales geboren und aufgewachsen, oder?“

Die Kollegin stutzte. „Stimmt. Wie auch immer, ich wollte nur, dass du es weißt.“

„Wie kommst du darauf, dass es mich interessieren könnte?“

Abi grinste. „Nur für den Fall, dass du einen Mord planst. Ich dachte, du möchtest wissen, wer er ist, bevor du ihn um die Ecke bringst.“ Sie winkte ihr zu, bevor sie ging.

Man redete also schon über sie.

Esther beschloss, noch mehr darauf zu achten, dass sie sich professionell verhielt. Ihre Patienten waren das Wichtigste, alles andere war zweitrangig. Sie musste nicht lächeln, aber sie sollte in der Lage sein, sich zivil zu verhalten, wenn sie auf Harry traf.

„Hey, Esther, Harry Beaumont ist am Telefon. Er möchte einen Bericht über Billy.“

Sie drückte den Rücken durch und griff nach Billys Karte. „Okay.“ Anscheinend musste sie ihren Vorsatz gleich in die Tat umsetzen. Unwillkürlich lächelte sie, bevor sie sich meldete.

„Hier ist Esther McDonald, Billys Hebamme. Wie kann ich Ihnen helfen?“

Am anderen Ende herrschte kurz Pause.

„Hier ist Harry Beaumont, der Neonatalchirurg, der Billy gestern operiert hat. Können Sie mir bitte sagen, wie es ihm zurzeit geht?“

Esther lächelte. Sie gab Harry die aktuellen Vitalzeichen, Laborwerte, Beobachtungen der Hautfarbe und … tat dann, was sie immer tat: Sie teilte ihm mit, was sie fühlte. Selbst wenn es nicht an medizinischen Fakten festzumachen war, sollte das Gespür einer Pflegekraft ihrer Meinung nach nicht unterschätzt werden. Ihr Instinkt ließ sie nicht im Stich, das hatte Esther oft genug erlebt.

Also verließ sie sich auch diesmal darauf. „Billy geht es gut. Ich glaube, er ist auf dem Weg der Besserung.“

„Ist das Ihre professionelle Einschätzung?“ Es lag ein besonderer Unterton in seiner Stimme. War die Frage ironisch gemeint, oder hatte Harry begriffen, worum es ging?

„Auf mein Gefühl kann ich mich verlassen“, antwortete sie.

„Okay“, sagte er nachdenklich und schwieg einen Moment. „Danke für das Update. Morgen sollte ich zurück sein. Dann sehe ich ihn mir persönlich an. Wie geht es seiner Mum?“

Wieder einmal überraschte er sie. Die Chirurgen, mit denen sie bisher zusammengearbeitet hatte, nahmen sich kaum Zeit für die Eltern. „Sie schläft … Seit Tagen zum ersten Mal. Außerdem hat sie geduscht und sich die Haare gewaschen. Wenn sie wach ist, bitte ich eine Kollegin, mit ihr in die Kantine zu gehen und darauf zu achten, dass sie etwas isst.“

„Hat sie wirklich keine Unterstützung? Kommt niemand sonst Billy besuchen?“

Esther staunte. Dieser Chirurg war nicht nur interessiert, sondern klang sogar besorgt. „Nein, jedenfalls nicht, während ich Dienst hatte.“

„Hmm …“ Er schien zu überlegen. „Esther, ich muss kurz nachfragen. Sie haben keine erhöhte Temperatur mehr, oder?“

„Das Fieber ist gesunken.“

„Wodurch?“

Das brachte sie wieder in Harnisch – wie immer, wenn sie mit ihm zu tun hatte. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich so oft über jemanden geärgert hatte. Der Kerl versuchte ständig, sie zu kontrollieren.

Esther beschloss, die Karten auf den Tisch zu legen. „Keine Sorge, ich habe keine Atemwegserkrankung.“ Wäre das der Fall gewesen, hätte sie einen großen Bogen um die Intensivstation gemach. „Sondern eine Harnwegsentzündung. Das ist eine lange Geschichte, und ich nehme Antibiotika.“

So viel brauchte sie ihm gar nicht zu erzählen, doch sie hatte keine Lust darauf, dass er ihr ständig im Nacken saß.

Am anderen Ende der Leitung herrschte eine Weile Schweigen, dann hörte sie seine tiefe raue Stimme. „Ich hoffe, dass Sie sich bald besser fühlen, Esther.“

Während sie auflegte, spürte sie ein Kribbeln im Arm. Und ihr war wieder warm geworden. Vielleicht sollte sie noch eine Paracetamol nehmen?

Ihr Handy vibrierte, als sie auf dem Weg in die Notaufnahme war. Esther holte es aus der Kitteltasche. „Hi, Mum, alles okay?“

Sie lauschte ein paar Minuten, während ihre Mutter erzählte. Esther zuckte insgeheim jedes Mal zusammen, wenn der Name ihrer Mum auf dem Display erschien. So, als wollte sich ihr Herz gegen mögliche schlechte Nachrichten wappnen.

Vor einigen Jahren war ihre Mutter an Krebs erkrankt. Hinzu kam, dass sie anfangs nichts davon gesagt hatte, damit Esther sich ungestört auf ihre Ausbildung konzentrieren konnte. Erschüttert musste Esther irgendwann feststellen, dass ihre Mum Diagnose und die erste Therapie ganz allein verarbeitet hatte. Außerdem war sie während der Behandlung nicht in der Lage gewesen zu arbeiten. Deshalb übernahm Esther jede Schicht, die ihr angeboten wurde.

Zum einen musste sie in London die übliche horrend hohe Miete zahlen und zusätzlich die Hypothekenzahlungen auf das Haus ihrer Mutter in Edinburgh leisten. Zwei Jahre noch. Zwei Jahre musste sie durchhalten, dann war das Haus abbezahlt. Mit Extradiensten schaffte sie das.

„Schön, dass es dir gut geht“, sagte Esther erleichtert.

„Arbeite nicht zu hart, Honey“, kam die Antwort. „Das alles tut mir so leid.“ Worte, die bei jedem Telefonat fielen. Ihre Mum hatte ein schlechtes Gewissen, dass ihre Tochter sie nun unterstützen musste.

Doch was blieb ihr anderes übrig? Vor wenigen Jahren war ihr Dad gestorben, ein wundervoller Mensch, nur ein bisschen zu sorglos. Während ihre Mutter praktisch den Lebensunterhalt für die Familie verdiente, jobbte ihr Vater hier und dort, immer nach Lust und Laune. Mal arbeitete er für Filmgesellschaften als Double, dann ließ er sich zum Stuntman ausbilden oder verdingte sich als Fremdenführer. Er schien von Ort zu Ort zu springen, bevor er zu seinen Mädchen nach Hause kam und die herrlichsten Geschichten zu erzählen hatte.

Obwohl beide ihn innig liebten, musste ihre Mum jeden Penny zweimal umdrehen und stand immer unter finanziellem Druck. Esther zog daraus die Lehre, dass Sicherheit und ein fester Arbeitsplatz mit das Wichtigste im Leben waren.

„Mach dir keine Sorgen, Mum. Du hast die ersten dreiundzwanzig Jahre gezahlt, lass mich den Rest übernehmen.“ Sie unterhielten sich noch kurz, dann verabschiedete sich Esther.

Das Whiteboard in der Notaufnahme war mit Eintragungen übersät. Vor ihnen lag eine anstrengende Nacht.

Esther machte sich auf den Weg zur Übergabe.

Der Erste, den sie sah, war Rob, der Fachkrankenpfleger. Der stöhnte auf und packte sie am Ellbogen. „Ich habe gestern versucht, dich anzurufen. Hast du meine Nachricht nicht bekommen?“

Sie schüttelte den Kopf. Rob bedeutete ihr mitzukommen und zog in einem der Behandlungsräume einen Schlüssel aus der Tasche. „Die Laborwerte zeigen, dass das Antibiotikum nicht wirken wird.“ Er schloss einen Schrank auf. „Du brauchst etwas anderes.“

Rob drückte ihr ein Tablettenfläschchen mit ihrem Namen darauf in die Hand.

„Ich hatte mich schon gewundert, dass es mir nicht besser geht. Okay, dann tausche ich.“ Esther schraubte das Fläschchen auf, schüttete sich eine Tablette in die Hand und schluckte sie mit Wasser hinunter. „Alles gut“, meinte sie lächelnd.

„Sicher?“

„Klar. Lass uns Übergabe machen.“

Im Wartebereich war es voll.

„Wo willst du mich haben?“, fragte Esther die Stationsschwester.

„Kannst du die Kabinen übernehmen?“

„Kein Problem.“ Sie schnappte sich die Karten und überflog die Daten. Platzwunden, Schnittverletzungen, Handgelenksfraktur. Dazu ein Patient, der einen Katheter brauchte, weil er nicht Wasser lassen konnte. Ein anderer, ein verwirrter älterer Herr, den man unterkühlt in einem Park gefunden hatte. Zu tun gab es genug!

Sechs Stunden lang arbeitete sie pausenlos durch. Esther wusste, dass sie wieder ihr Antibiotikum und mehr Paracetamol nehmen musste. Sie hatte nur noch keine freie Minute gehabt.

„Wo ist die Schwester von der Säuglingsintensivstation?“, hörte sie eine gehetzte Stimme. „Und kann jemand den Kinderarzt holen?“

Esther streckte den Kopf aus der Kabine, wo sie gerade eine Schnittwunde genäht hatte. „Hier bin ich. Brauchen Sie mich?“

Der Arzt, den sie bisher nur vom Sehen kannte, nickte. „Ja, bitte. Ich habe hier ein Neugeborenes, das mir gar nicht gefällt.“

„Komme sofort.“ Sie streifte sich die Handschuhe ab und zupfte ein neues Paar aus dem Spender. Während sie den Arzt begleitete, spürte sie förmlich seine Panik. Verständlich, fand sie. Er war neu in der Abteilung und noch jung. Und es ging um verletzliche kleine Babys. Pädiatrie war nicht jedermanns Sache.

Beim Betreten der Kabine sah sie, dass die Mutter ihr Kind fest in den Armen hielt. Esther setzte sich neben sie. „Hi, ich bin Esther, Hebamme und Krankenschwester. Möchten Sie mir erzählen, was passiert ist?“

Ein dezenter Duft stieg ihr in die Nase, und Esther begriff, dass jemand nach ihr die Kabine betreten hatte. Doch sie konzentrierte sich auf das Baby.

„Ich … Ich hatte letzte Woche eine Hausgeburt“, antwortete die Mutter zitternd. „Alles war gut. Aber … es ging ihm von Tag zu Tag schlechter. Er trinkt nicht gut, erbricht sich ständig, und er keucht so beim Atmen.“

Esther nickte beruhigend und streckte die Arme aus. „Wie heißt Ihr Sohn?“

„Jude.“

„Darf ich mir Jude ansehen?“ Sie lächelte die Mutter an.

Die Frau zögerte, gab ihr jedoch schließlich das Baby. Esther stand auf und legte es behutsam auf den Rollwagen.

Inzwischen ahnte sie, dass der Mann, der jetzt neben ihr stand, Harry war. Und zum ersten Mal freute sie sich, ihn zu sehen.

Er war kurz nach Esther in den Untersuchungsraum gekommen. In der Pädiatrie hatte man drei dringende Anrufe aus der Notaufnahme erhalten. Zwar verstand Harry nicht, warum Esther hier unten arbeitete, aber er hielt sich im Hintergrund, während sie mit der verängstigten Mutter redete. Da sie die Lage im Griff hatte, wartete er, bis sie das Kind auf den Wagen gelegt hatte, und trat an die andere Seite.

Harry nickte der Mutter zu und setzte zum Sprechen an, doch Esther kam ihm zuvor.

„War Jude bei der Geburt voll ausgetragen?“

Die Mutter schüttelte den Kopf. „38. Woche, aber die Hebamme meinte, das wäre nicht schlimm.“

Harry nahm sein Stethoskop vom Hals und lächelte der jungen Frau zu. „Ich bin Harry Beaumont, einer der Kinderärzte. Wenn Sie einverstanden sind, untersuche ich Jude jetzt.“

Sie nickte, und er wartete, bis Esther ein Pulsoximeter auf Judes winzigen Finger geschoben hatte.

Mit der Zeit hatte er gelernt, sich nicht gleich als Chirurg vorzustellen. Es machte den Leuten Angst. Eigentlich hätte der diensthabende Kinderarzt sich das Kind ansehen sollen, aber der war zu einem Meningitisfall gerufen worden. Als Harry hörte, dass ein Baby mit Atemwegsproblemen eingeliefert worden war, bot er an, die Untersuchung zu übernehmen.

Und er war froh darüber.

Der Knirps bekam kaum Luft. Sekunden später hatten sie festgestellt, dass er bradykard und die Sauerstoffsättigung im Blut alarmierend niedrig war.

Esther sagte keinen Ton, sondern griff nach dem Sauerstoff. Sie handelte effektiv, das musst er ihr lassen. Geschickt befestigte sie die Nasenbrille und prüfte mit dem Ohrthermometer die Temperatur des Kleinen. Harry horchte Judes Brust ab und fand seine Vermutung bestätigt.

Definitiv ein Herzfehler. Einer, den er mit weiteren Untersuchungen genauer diagnostizieren musste. Harry begann mit einem Ultraschall.

Esther sprach leise mit dem kleinen Jude. Der Säugling reagierte, strampelte mit den Beinchen und fuchtelte mit den Armen. Seine Haut wirkte grau, aber nicht so stark verfärbt, dass Harry sich große Sorgen machte. Er war zuversichtlich, dass er ihm mit einer Operation helfen konnte. Es war nicht ungewöhnlich, dass Herzfehler, vor allem die leichteren Fälle, bis zur Geburt unentdeckt blieben.

Er ging um den Rollwagen herum und setzte sich zur Mutter. Da fiel ihm ein, dass er ihren Namen nicht kannte.

Anscheinend konnte Esther seine Gedanken lesen. Sie blickte auf die Patientenkarte, die er auf der anderen Seite des Wagen liegen gelassen hatte, und lächelte freundlich. „Claire, Dr. Beaumont wird Ihnen erklären, was mit Jude los ist.“

Harry nickte ihr dankbar zu. „Hat jemand Sie herbegleitet, Claire?“

Tränen schimmerten in ihren Augen, als sie den Kopf schüttelte. „Ich habe Panik bekommen und bin sofort losgefahren. Meinen Mann und meine Schwiegermutter konnte ich bisher nicht erreichen, habe aber eine Nachricht hinterlassen.“

„Soll ich draußen im Warteraum nachsehen, ob einer von ihnen schon da ist?“, bot Esther an.

Autor

Kate Hardy
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