Liebe auf den zweiten ... Kuss?

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Einst ließ er sie mit gebrochenem Herzen zurück, jetzt steht der atemberaubende Womanizer überraschend wieder vor ihr: Jonathan Kinley – Millionenerbe, blond und so pflichtbewusst wie eh und je. Eigentlich wollte die inzwischen selbstbewusste Rowan in den Cotswolds einen Marathon laufen und nicht mit ihrem Jugendschwarm auf seinem Anwesen um die Wette flirten. Schließlich ist sie immer noch gekränkt! Doch dann erkennt sie hinter Jonathans stets so kontrollierter Fassade neben Begehren auch dunkle Schatten. Können etwa ihre Küsse sein Herz heilen?


  • Erscheinungstag 20.09.2022
  • Bandnummer 2563
  • ISBN / Artikelnummer 0800222563
  • Seitenanzahl 144

Leseprobe

1. KAPITEL

„Was … was machst du hier?“

Jonathans Herz setzte einen Schlag aus, als ihm klar wurde, wer vor ihm stand. Seine Stimme drohte zu kippen. Kein Wunder, wenn er nach sieben Jahren unerwartet die Frau vor sich sah, die er nie vergessen hatte!

Rowan wirkte nicht weniger schockiert als er und starrte ihn nur stumm an.

Vor wenigen Minuten war Jonathans Schwester Liv ohne eine Erklärung an ihm vorbei in sein Haus marschiert. Genauer gesagt in das kleine Herrenhaus in den Cotswolds, das seine Großeltern ihm vor Jahren vererbt hatten und das jetzt für den geplanten Verkauf vorbereitet werden sollte. Liv war geradewegs die Treppe hinaufgestürmt, ohne auch nur ein Wort darüber verlauten zu lassen, was ihre beste Freundin hier suchte.

„Livia hat mich eingeladen“, erklärte Rowan zögernd, und Jonathan hätte zu gern gewusst, was ihr in diesem Moment durch den Kopf ging. „Ich hatte keine Ahnung, dass du hier sein würdest, sonst wäre ich nicht gekommen. Tut mir leid. Ich glaube, ich erwische noch den letzten Zug zurück nach London, wenn ich mich beeile.“

Er konnte nicht aufhören, sie anzustarren, und ihr schien es ebenso zu gehen.

Ein Flashback drohte ihn zu überwältigen – oder besser gesagt, die Erinnerung an ihre letzte Begegnung. Doch das durfte er nicht zulassen. Er hatte sich verboten, an jene Nacht zu denken, und sich nur dadurch davon abhalten können, etwas Dummes zu tun …

Jonathan schaute auf seine Uhr. „Den Zug hast du jetzt schon verpasst.“ Er machte eine kurze Pause. „Warum hat mir Liv nichts davon erzählt, dass sie dich mitbringen wird?“

„Ist es denn so schrecklich, dass ich hier bin?“, fragte Rowan leise.

Jonathan seufzte. Was sollte er darauf antworten? Es war Folter und wundervoll zugleich, aber das konnte er unmöglich zugeben, nicht einmal vor sich selbst. Besser war es, seinen Gedanken eine andere Richtung zu geben.

„Das Dach ist undicht.“ Es klang wie ein Vorwurf, und Rowan hob irritiert eine Braue. „Keiner der Räume im zweiten Stock ist bewohnbar. Ich habe nur für Liv und Caleb Zimmer vorbereitet, ansonsten ist kein Bett mehr …“

„Ich werde das Zimmer mit Liv teilen“, unterbrach sie ihn.

Er zögerte, nickte aber schließlich. Warum hatte er dieses verfängliche Thema nur angeschnitten? Rowan und das Wort Bett in einem Atemzug …

„Was ist? Wo bleibst du?“, rief Liv von oben nach ihrer Freundin.

„Bin gleich bei dir“, versprach Rowan. „Also, Jonathan …“, wandte sie sich dann wieder mit beneidenswert gleichmütiger Stimme ihm zu, was ihn hoffen ließ, dass sie vergessen hatte, was zwischen ihnen vorgefallen war.

„Es ist ganz schön lange her“, murmelte er rau.

Himmel! Warum hatte er nicht einfach auf dem Absatz kehrtgemacht und sich in der Bibliothek verschanzt, um dort in Ruhe abzuwarten, bis sie wieder verschwunden war?

„Sieben Jahre.“ Rowan verschränkte die Arme, jetzt wanderte auch die zweite Braue nach oben.

Er seufzte ergeben und wappnete sich innerlich.

„Ich habe am Wochenende ein Rennen, und Liv wird meine Support-Crew sein.“ Ihr verstecktes Lächeln signalisierte ihm, dass sie es offenbar nicht bewusst darauf anlegte, ihn zu quälen. Oder ihn zur Rechenschaft zu ziehen? „Und quasi als Einstimmung hat sie mir angeboten, hier vorher ein paar Relax-Tage mit ihr zu verbringen. Hätte ich geahnt, dass das eine Art Familienkiste ist …“

„Es ist tatsächlich eine Familienangelegenheit“, korrigierte er ein wenig pikiert wegen ihres legeren Tons. „Deshalb wird auch Caleb hier sein. Ich habe beide gebeten zu entscheiden, ob sie etwas vom Interieur behalten möchten, bevor der Immobilienmakler nächste Woche kommt. Ich …“ Abrupt klappte Jonathan den Mund zu und fragte sich, warum er ihr das alles anvertraute. Und warum hörte sie ihm überhaupt noch zu?

„Ich habe jede Menge zu tun“, trat er abrupt den Rückzug an und fand sich selbst richtig spießig. So, als wäre er ihr Professor oder – noch schlimmer – ihr Großvater, anstatt ein nur wenig älterer Mann, der sich einmal als ihr Freund und Vertrauter betrachtet hatte.

„Es liegt mir fern, dich aufhalten zu wollen“, behauptete Rowan mit feinem Lächeln.

Jonathan biss die Zähne zusammen. Das hatte er verdient, aber in ihrer Nähe stand er ständig in Gefahr, seine Wachsamkeit zu verlieren und schwach zu werden.

Doch das war keine Option, zumal er wusste, wie gefährlich es war und mit der Zeit dazu führte …

Er konnte es sich nicht leisten, sie zu lieben.

Er liebte bereits seine Familie und seinen Job als Chef des Unternehmens, das ihm seine Großeltern und Eltern hinterlassen hatten. Die Verantwortung, die damit einherging, verschlang den letzten Rest seiner Energie und Reserven.

Gerade, wenn es um Rowan ging, musste er besondere Vorsicht walten lassen.

Er hatte sich schon kaum vor seinen Emotionen schützen können, als sie nur gute Freunde gewesen waren. Und das hatte ihn genau dahin geführt, wo er nie hatte landen wollen. Wie demütigend und qualvoll, sich eingestehen zu müssen, dass er das, was er sich von Herzen wünschte, nur bekommen konnte, wenn er es sich erlaubte, egoistisch zu sein. An manchen Tagen hatte er sich so einsam und verloren gefühlt, dass er glaubte, es keine Sekunde länger ertragen zu können.

Trotzdem war es ein kleiner Preis, weil er wusste, dass die Alternative den Menschen schaden würde, die er liebte. Darum hatte er beschlossen, sich von Rowan fernzuhalten und alles zu tun, um sie zu vergessen.

Jonathans gesamtes Erwachsenenleben hatte aus einer wohlüberlegten Entscheidung nach der anderen bestanden. Darin, seine Verantwortlichkeiten auszubalancieren und seine Aufmerksamkeit dorthin zu lenken, wo sie am meisten gebraucht wurde. In den zehn Jahren, seit seine Eltern sich dafür entschieden hatten, lieber frei von jeglicher Verantwortung in einem südamerikanischen Land leben zu wollen, hatte er alles getan, um ihr Familienunternehmen Kinley – seit mehr als einem Jahrhundert eine Prestigemarke der britischen Mode – vor dem finanziellen Ruin und dem damit verbundenen Untergang zu bewahren.

Ganz zu schweigen von der andauernden Fürsorge für seine Geschwister. Tatsächlich war es ihm gelungen, die Firma am Leben zu erhalten, und auch auf der Geschwisterschiene hatte es keine gravierenden Probleme gegeben. Zumindest bis jetzt!

Kläglich versagt hatte er eigentlich nur in einem Punkt – darin, sein Herz zu schützen.

Und warum? Weil es ihm unmöglich gewesen war, Rowan zu vergessen. Was ihm gerade noch einmal mit erschreckender Klarheit vor Augen geführt worden war, als sie völlig unerwartet hier auf der Türschwelle auftauchte, womit all die Anstrengungen der letzten Jahre, die er in dieser Hinsicht unternommen hatte, wie weggewischt waren.

„Wir sehen uns dann ja noch …“, warf sie ihm jetzt lässig über die Schulter zu, schon auf dem Weg zur Treppe und ohne ihn anzusehen.

Zum Glück!

Denn hätte sie den Blick aufgefangen, mit dem er ihr folgte, wäre er auf der Stelle tot umgesunken oder hätte seine Schwester für ihre Gedankenlosigkeit töten müssen.

2. KAPITEL

Ob ich unten in der Halle womöglich erneut auf Jonathan treffe? Rowan schluckte trocken, während sie sich am späten Nachmittag endlich wieder die Treppe hinunterwagte.

„Liv duscht, also gönne ich mir vor dem Essen noch einen kleinen Spaziergang!“, annoncierte sie ins Nirgendwo, um zu signalisieren, dass sie keineswegs auf eine weitere Begegnung mit ihm aus war.

Tatsächlich hatte sie sich seit ihrer Ankunft oben im Schlafzimmer versteckt und gegen zunehmende Klaustrophobie angekämpft, die ihr das Atmen schwer machte. Doch das hätte sie niemals und vor niemandem zugegeben. Jetzt brauchte sie dringend frische Luft, und das ließ in den Cotswolds nur zwei Optionen zu – spazieren zu gehen oder sich mit Joggen auszupowern.

Allerdings durfte sie nicht übertreiben, da sie am Samstag einen Marathon lief. Jeder Schritt musste wohlüberlegt sein, doch die ganze Zeit über im Haus eingesperrt zu sein, war ein No-Go!

Vielleicht hätte sie ihrem Instinkt folgen und gleich für morgen früh den ersten Zug zurück nach London buchen sollen.

Seufzend machte sich Rowan in dem kombinierten Wirtschafts- und Garderobenraum auf die Suche nach den Wanderschuhen, die Liv ihr angeboten hatte. Dabei tat sie ihr Bestes, um die sich nähernden Schritte auszublenden. Mit zusammengebissenen Zähnen widerstand sie der Versuchung, sich umzudrehen, obwohl sie Jonathans Anwesenheit mit jeder Pore ihres verräterischen Körpers spürte. Sieben Jahre war es inzwischen her, und immer noch glaubte sie, seine Lippen auf ihren zu spüren.

Sie schauderte – auch bei der Erinnerung, wie offen sie ihm damals gezeigt hatte, was sie für ihn empfand. Es hätte sie nicht härter treffen können, wenn er ihr vorsätzlich das Herz gebrochen hätte.

„Rowan, kann ich kurz mit dir sprechen?“

„Bitte nicht …“, flüsterte sie rau und warf einen Blick über die Schulter, um sich abzusichern, dass Liv und Caleb nicht irgendwo im Hintergrund lauerten. „Lass die alte Geschichte doch einfach ruhen“, fügte sie so gelassen wie möglich hinzu und hoffte, damit zumindest ihn überzeugen zu können.

Sie wollte nicht in alte Erinnerungen abtauchen, die nur um so quälender waren, da sie Jonathan nach all den Jahren nun plötzlich wieder so nah war … viel zu nah!

Damals hatte sie ihn gern wegen seiner demonstrativen Ernsthaftigkeit geneckt und ihn sogar einen Spießer genannt, schon allein, um die angespannte Atmosphäre zwischen Livia und ihrem großen Bruder zu mildern, der versuchte, seinen Geschwistern gleich beide fehlenden Elternteile zu ersetzen.

Immer öfter war es ihr gelungen, ihn wenigstens ab und zu zum Lachen zu bringen, wenn der Druck seiner neuen Verantwortung zu schwer auf seinen Schultern lastete. Wie stolz war sie auf das erste Lächeln gewesen, das sie dem ernsten Bruder ihrer besten Freundin hatte entlocken können. Fortan hatte sie es als Challenge betrachtet, ihm ein breites Strahlen oder sogar lautes Lachen abzuringen.

Doch irgendwann konnte sie sich nicht länger vormachen, dass sie das nur für Jonathan und nicht in erster Linie für sich selbst tat. Zumal ihre Gespräche die aufrichtigsten und aufregendsten waren, die sie je geführt hatte und auf die sich jedes Mal freute.

Besonders ihre nächtlichen Talks, wenn Livia vorschlug, bei sich zu Hause einen Film anzuschauen und dort zu übernachten, anstatt in Clubs oder Bars zu gehen. Von ihren Gesprächen mit Jonathan erzählte sie der Freundin nie, weil sie wusste, dass Livia sie auslachen würde. Als strenger großer Bruder war er in Livs Augen jemand, den man lächerlich machen musste, was Rowan jedoch zunehmend ganz anders wahrnahm.

Jonathan war groß, breitschultrig und hatte sandfarbenes, widerborstiges Haar. Sein sorgfältig gestutzter Bart wirkte ebenso stylisch wie elegant und eine Spur unnahbar wie die sorgfältig gebügelten Hemden.

Nach dem Befreiungsschlag seiner Eltern hatte er klaglos die Verantwortung für seine Geschwister und das Familienunternehmen übernommen, anstatt sich mit Alkohol und heißen Küssen in dunklen Bars zu trösten – Livias bewährter Verdrängungsmethode in Zeiten von Not und Frust. Stattdessen demonstrierte er mentale Stärke und eiserne Kontrolle, was das Geschäftliche, seine Familie und das äußere Erscheinungsbild betraf.

Doch da Livia sich demonstrativ gegen den allzu ernsthaften großen Bruder stellte, blieb Rowan nichts anderes übrig, als ihre wahren Gefühle für Jonathan zu verbergen. Was auch bedeutete, dass sie mit ihrer besten Freundin nie über die Nacht gesprochen hatte, in der sie spontan beschlossen hatte, sich dem hinzugeben, was sich für sie selbst wie der eine richtige Moment angefühlt hatte.

Sie und Jonathan waren an jenem Abend allein gewesen, während Livs Zug auf dem Heimweg Verspätung hatte, weshalb sie nicht rechtzeitig zu Pizza und einer Flasche Wein mit der Freundin eintrudeln konnte.

So hatten Jonathan und sie stundenlang auf dem Sofa gesessen, sich angeregt unterhalten und waren einander dabei immer nähergekommen. Wegen der zunehmenden Kälte kuschelten sie sich unter einer Decke zusammen … und bis heute verstand Rowan nicht, wie es überhaupt dazu gekommen war, jedenfalls nicht mit Absicht!

Doch irgendwann hatten ihre Füße den Weg in Jonathans Schoß gefunden, sein Arm lag um ihre Schulter, und er begann, mit ihrem Haar zu spielen. Wer von ihnen sich zuerst bewegt hatte, konnte sie nicht sagen, doch plötzlich berührten sich ihre Lippen, zuerst sanft, dann voller Begehren, getrieben von einer Leidenschaft, die sie nie zuvor empfunden hatte.

Wohin die Reise noch führen könnte, hatte sie nicht einmal im Ansatz ahnen oder entscheiden können, sondern sich nur brennend gewünscht, sie möge nie enden.

Als sie Jonathan auf sich spürte, wusste sie, wonach sie sich gesehnt und worauf sie die ganze Zeit gewartet hatte. Zu fühlen, wie er mit einem Knie zwischen ihre Schenkel glitt, ihre Hüften mit beiden Händen umfasste und sie seine Erregung überdeutlich spüren ließ, war alles, wonach sie sich gesehnt hatte.

Doch dann hatte Jonathan sich entsetzt zurückgezogen, und als sie ihn angeblickt hatte, um ihr eigenes Verlangen in dem geliebten Gesicht widergespiegelt zu sehen, war sie einem geschockten Ausdruck in seinen dunklen Augen begegnet, der an Abscheu grenzte.

Mit einer gemurmelten Entschuldigung hatte er sich zurückgezogen und sein derangiertes Äußeres gerichtet, während Rowan sich fragte, was sie falsch gemacht hatte.

„Entschuldigung, ich durfte nicht, ich hätte nicht …“ Sein wilder Blick streifte die leere Weinflasche, und er stöhnte gequält auf. „Du hast getrunken und wusstest nicht, was du tust. Lieber Himmel, du bist fast noch ein Kind. Ich hätte niemals … es tut mir unendlich leid, Rowan.“

Sie hatte nicht gewartet, um im Einzelnen zu erfahren, was genau er so vehement bedauerte. Mit einem erstickten Laut hatte sie ihr T-Shirt heruntergezogen, das wirre Haar in einem Pferdeschwanz gebändigt und war geflohen, bevor die Tränen fließen konnten.

Diese demütigende Erfahrung lag inzwischen Jahre zurück, und Rowan hatte sich in trügerischer Sicherheit gewähnt, weil sie davon ausgegangen war, dass sich ihre Wege nie mehr kreuzen würden und er sich wahrscheinlich längst nicht mehr an sie erinnern konnte. Doch in der Sekunde, als sie ihm vorhin im Flur gegenübergestanden hatte, begriff sie, wie gründlich sie sich getäuscht hatte. Jonathan erinnerte sich nicht nur, ihm war ihre naive Aufdringlichkeit von damals offenkundig immer noch peinlich.

Und sie? Nie zuvor hatte sie sich derart gedemütigt gefühlt wie in dem Moment, als er ihr gesagt hatte, dass sie nicht wisse, was sie tue. In der Sekunde, als sie seine Lippen auf ihren gespürt hatte, war ihr erst bewusst geworden, wie lange sie auf diesen Moment gewartet und gehofft hatte. Doch sobald Jonathans Libido von seinem Gehirn eingeholt und zur Rechenschaft gezogen worden war, hatte er ihr vorgeworfen, zu viel getrunken zu haben und sie dann quasi rausgeworfen.

Nach all den Jahren, die zwischen diesem demütigenden Erlebnis und ihrem jetzigen Leben lagen, war Rowan überzeugt gewesen, jede Erinnerung an Momente überwunden zu haben, in denen sie glaubte, sich vor Scham oder Selbsthass auflösen zu müssen. Doch das war wohl ein Irrtum gewesen.

Unerwartet fühlte sie sich wieder in ihre Schulzeit zurückversetzt, wo man sie als Freak bezeichnet und ihr vorgehalten hatte, dass kein Typ ein Mädchen sexy finden könne, das größer und tougher war als er selbst. Worte, die noch lange in ihr widergehallt hatten, nachdem sie die Schule längst hinter sich gelassen hatte.

Offenbar hatte nicht einmal die lange Therapie Wirkung gezeigt und den Schaden beheben können, den ein Jahrzehnt School-Mobbing angerichtet hatte. Rowan musste sich nur daran erinnern, wie ihr Gesicht gebrannt und ihre Hände gezittert hatten, als Jonathan sie an jenem Abend voller Mitleid betrachtet hatte.

Gut, damals war sie erst einundzwanzig und noch auf der Uni gewesen. Heute war sie älter, reifer und wusste es besser.

Jetzt konnte sie Jonathan ansehen und dabei nichts empfinden, außer vielleicht Mitleid mit dem naiven Ding, das sie früher gewesen war, voller Unsicherheiten wegen ihres schlaksigen Körpers und der Häme, die sie Tag für Tag ertragen musste. Eine verblendete Romantikerin, die den großen Bruder ihrer Freundin für eine Art Sir Galahad gehalten hatte, der über den Dingen stand … bis er sie von allen Menschen am tiefsten verletzt hatte.

Sie spürte ihn dicht hinter sich, während sie Livs Wanderstiefel aus dem Schuhregal fischte und überzog.

„Rowan?“

Sein ernster Tonfall ließ sie aufhorchen. Sie blickte hoch, versuchte wenigstens innerlich Distanz zu wahren und sagte: „Ich hatte keine Ahnung, dass du hier sein würdest.“

Auf jeden Fall sollte er wissen, dass sie dieses Zusammentreffen nicht absichtlich geplant oder auch nur billigend in Kauf genommen hatte. Ginge es nach ihr, hätte sie ihn nie wiedersehen wollen.

„Es ist nur so, dass mein Rennen am Wochenende zufällig in der Nähe stattfindet und Liv mich gefragt hat, ob ich nicht vorher ein paar Tage mit ihr zusammen hier verbringen möchte. Ich wäre nicht gekommen, wenn ich gewusst hätte …“

„Du musst mir nicht ausweichen.“

Seine ungewohnte Kühle traf sie wie ein Schlag. Hätte Jonathan sie gemieden, wäre ihr das lieber gewesen als seine demonstrierte Gleichgültigkeit.

„Ich gehe dir nicht bewusst aus dem Weg“, konterte sie spitz. Doch sein Blick entlarvte diese Behauptung als kindische Reaktion, was ihr heiße Röte auf die Wangen trieb.

„Okay, dann benennen wir es doch so“, fuhr sie rasch fort, ehe er den Mund aufmachen konnte. „Wir meiden uns nicht, suchen aber auch nicht die Nähe des anderen. Wir sind einfach zwei Personen, die unabhängig voneinander in Livs Umlaufbahn existieren.“

„Das scheint es auf den Punkt zu bringen“, kam es trocken zurück.

„Ehrlich, Jonathan …“, seufzte sie resigniert. „Alles ist in bester Ordnung. Uns geht es beiden gut, also besteht nicht der geringste Anlass für ein klärendes Gespräch. Vor heute Abend habe ich seit Jahren nicht an unsere letzte Begegnung gedacht, und momentan möchte ich mir nur an der frischen Luft ein wenig die Beine vertreten.“

Seine Erleichterung war so offensichtlich, dass sie sie fast schon wieder verletzte. Oder zumindest beleidigte, weil ihr letztes Zusammentreffen ihn offenkundig weit weniger berührt hatte als sie.

„Ich werde wahrscheinlich gleich morgen früh mit dem Zug zurück nach Hause fahren, sodass du keine Angst haben musst, mir ständig zu begegnen. Ich meine, wir haben es die letzten sieben Jahre geschafft, uns nicht über den Weg zu laufen, da sollte es zukünftig auch kein Problem in dieser Hinsicht geben.“

Eine geschlagene Stunde stapfte Rowan auf dem weitläufigen Gelände des Herrenhauses herum und versuchte, Jonathans Gesicht vor ihrem inneren Auge auszulöschen. Sie hatte schon so viel Zeit ihres Lebens damit verbracht, ihn sich aus dem Kopf zu schlagen. Hatte unzählige Verabredungen wahrgenommen, um jemanden zu finden, der ihr helfen könnte, ihn zu vergessen. Alles vergeblich …

Mit den Jahren war es ihr gelungen, weniger an ihn zu denken. Und ein, zwei Dates hatten sie vorübergehend auch tatsächlich abgelenkt, doch sobald sie sich zum nächsten Schritt entschied, war Jonathans Gesicht wieder vor ihrem inneren Auge aufgetaucht und hat ihr Kopf und Herz verdreht.

Zu Rowans großem Bedauern konnte niemand mit dem Bild des Mannes mithalten, der ihr damals das Herz gebrochen hatte. So fand sie sich selbst nach sieben langen Jahren noch in der Rolle der ‚letzten Jungfrau Londons‘ wieder, die zwar verzweifelt versucht hatte, am echten Leben anzudocken, es aber nie geschafft hatte.

Während sie ruhelos die malerischen Gartenanlagen durchstreifte, suchte Rowan verbissen nach einem Weg, dieses Problem ein für alle Mal ad acta legen zu können. Jonathans Zurückweisung in jener Nacht hatte all ihre Komplexe und Selbstzweifel nur weiter verstärkt, und jeder Versuch, ihn zu vergessen und aus ihrem Universum zu verbannen, war zum Scheitern verurteilt gewesen.

Vielleicht musste sie einen anderen, radikaleren Kurs einschlagen, um sich endlich mutig, selbstbestimmt und frei zu fühlen.

Was würde wohl passieren, wenn sie es war, die diesmal die Initiative ergriff und alles zu ihren Bedingungen geschah? Wenn sie Jonathan ohne Vorwarnung und voller Verlangen küsste, um das, was danach vielleicht folgte, mit allen Sinnen zu genießen … ohne Scham und ohne Selbsthass.

Vielleicht könnte sie danach endlich mit diesem leidigen Thema abschließen und weiterziehen. Einen Versuch wäre es wert. Schließlich konnte sie ihn nicht bis an ihr Lebensende aus der Ferne anschmachten oder sich in heiße Träume flüchten.

Beflügelt von ihrer neuen Idee und dem unerwarteten Wagemut machte sie sich mit knurrendem Magen auf den Weg zurück ins Haus. Kurz darauf klopfte Caleb an ihre Schlafzimmertür und fragte, ob er Pizza für alle bestellen sollte.

Rowan hatte schon immer eine Schwäche für Caleb gehabt, der ins Internat gekommen war, nachdem seine Eltern sich nach Südamerika verabschiedet hatten. Damals hatte sie nicht viel von ihm mitbekommen, und jetzt – als Erwachsener – erschien er ihr noch mysteriöser als damals. Sie hatte nie verstanden, was genau sein Job war, nur dass er erschreckend begabt im Umgang mit Computern war und irgendetwas mit Kryptowährung zu tun hatte. In der kurzen Zeit seit seinem Eintreffen hatte sie ihn während irgendwelcher Video-Calls in mindestens drei verschiedenen Sprachen verhandeln hören.

Liv und Rowan entschieden sich für ihre gewohnte Lieblingspizza. Calebs Wunschliste ließ vermuten, dass er eine Nachtschicht vor dem PC plante.

„Kann eine von euch nach unten gehen und Jonathan fragen, ob er etwas will, während ich versuche, hier zu einem Ende zu kommen?“, bat er, ohne dabei den Blick vom Bildschirm zu nehmen.

Als Rowan sich Liv zuwandte, setzte die Freundin skrupellos ihren berühmt-berüchtigten Hundeblick ein, was so viel hieß wie: Kannst du das nicht übernehmen? Bitte, bitte!

Seit Jonathan sich dazu aufgeschwungen hatte, die Elternrolle für seine Geschwister zu spielen, war das Verhältnis zwischen seiner Schwester und ihm extrem angespannt. Genau genommen sprachen sie kaum noch ein Wort miteinander und wenn doch, dann gerieten sie meist aneinander. Da hineingezogen zu werden, war das Letzte, was Rowan wollte.

Abgesehen davon bot die Pizzabestellung den perfekten Vorwand, um die Lage zu sondieren und herauszufinden, ob ihr verwegener Plan überhaupt eine Chance hatte …

Es war sinnlos, all ihre Hoffnungen auf einen weiteren Kuss und mehr zu setzen, wenn sie nicht sicher sein konnte, dass Jonathan das ebenso sehr wollte wie sie. Und das würde sie nicht herausfinden, wenn sie sich vor ihm versteckte.

„Okay, ich frage ihn“, willigte sie so beiläufig wie möglich ein und marschierte los in Richtung Bibliothek, wo sie ihn unter Garantie finden würde. Immer im Raum mit der höchsten Bücherdichte, und hier im Herrenhaus war das die altehrwürdige Bibliothek mit den deckenhohen Bücherregalen, der Schiebeleiter und den französischen Türen, durch die er mürrisch in den Garten stieren konnte.

Nur mit dicken Socken an den Füßen gelangte sie lautlos die Treppe hinunter und weiter über die abgewetzten alten Steinplatten der Eingangshalle. Dass sie tatsächlich keinen verräterischen Laut verursacht hatte, merkte Rowan daran, dass sie die Tür zur Bibliothek erreichte und Jonathan an einem Schreibtisch in der Größe eines Ozeandampfers vorfand, den Kopf in eine Hand gestützt, eine steile Falte zwischen den dunklen Brauen. Den Blick hielt er auf den Monitor seines Laptops gerichtet. Während er konzentriert las, bewegten sich die Augen zügig von einer Seite zur anderen.

Atemlos und voller Sehnsucht beobachtete sie ihn, obwohl er jeden Moment den Blick heben und sie beim Starren ertappen konnte. Oder Liv könnte hinter ihr auftauchen, weil sie zu lange wegblieb, und dann geriete sie in Erklärungsnot.

Aber es war so verdammt lange her, dass sie seine markanten Züge betrachtet und dabei ihr Herz ganz oben im Hals schlagen gespürt hatte. Um ihm offen gegenüberzutreten, war sie damals viel zu schüchtern gewesen. Mit dem Voranschreiten ihrer Freundschaft war sie mutiger geworden, hatte sich seinem Blick gestellt und ihn in ihren Gesprächen sogar festgehalten. Aber diese Vertrautheit und das Gefühl, als ebenbürtig angesehen und akzeptiert zu sein, war vor Jahren zerstört worden.

Jetzt musste sie sich nehmen, was sie bekommen konnte … und sei es ein sehnsüchtiger Blick von der Tür her, während er arbeitete.

Rowan schluckte trocken und räusperte sich energisch, damit Jonathan nicht womöglich auf die Idee verfiel, dass sie etwas anderes im Sinn hatte, als seinen Pizza-Wunsch zu erfragen.

Als Jonathan aufsah und den Kopf schräg legte, war sie sicher, in der nächsten Sekunde sein charismatisches Lächeln erwidern zu können, doch das war offenbar eine Fehleinschätzung gewesen. Denn als sie blinzelte, war seine Miene völlig ausdruckslos.

„Ja?“, fragte er und zerschmetterte damit endgültig jede Illusion von Intimität.

Fast hätte sie auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre zurück nach oben geflüchtet, doch sie war aus einem bestimmten Grund hier, und der war absolut unverfänglich.

Autor

Ellie Darkins
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