Liebe gegen jede Vernunft

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Ist es Schicksal? Als sich Kellys Sohn beim Surfen verletzt, sieht sie Dr. Matt Eveldene wieder, den verhassten Bruder ihres Ex. Gegen jede Vernunft sprühen statt Funken der Wut bald die Funken der Leidenschaft. Ist Matt doch nicht so herzlos, wie Kelly immer dachte?


  • Erscheinungstag 18.11.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783751504638
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Sie kauerte in einem der großen Polstersessel im Foyer des Bestattungsunternehmens, so weit entfernt von der Empfangsdame am Anmeldetresen wie nur irgend möglich. Wie sie dasaß, die Füße hochgezogen, wirkte das Mädchen ausgesprochen zierlich.

Das zerzauste, von der Sonne gebleichte Haar war verfilzt und hätte dringend einen vernünftigen Schnitt gebraucht. Die abgeschnittenen Jeans waren ausgefranst, die übergroße Windjacke sah aus, als wäre sie aus der Kleidersammlung, und die bloßen Füße waren schmutzig. Unter den großen grauen Augen lagen dunkle Schatten.

Normalerweise hätte Matt Eveldene ihr einen mitfühlenden Blick zugeworfen, vielleicht sogar ein bisschen Geld gegeben, damit sie sich etwas Ordentliches zu essen kaufen konnte.

Aber nicht jetzt. Nicht diesem Mädchen.

Er wusste mehr über sie, als ihm lieb war. Sie hieß Kelly Myers. Nein, Kelly Eveldene. Sie war siebzehn und die Witwe seines Bruders.

Als sie ihn bemerkte, stand sie auf. Sie wusste, dass er gerade seinen Bruder gesehen hatte, der im hinteren Raum des Bestattungsinstituts lag.

„Es … es tut mir leid“, sagte sie leise.

Doch sie kam nicht näher. Vielleicht weil sein Gesichtsausdruck sie davon abhielt. Matt war außerstande, seine Wut zu verbergen. Diesen glühenden Zorn.

Was für eine Verschwendung.

Ja, er hatte Jessie gesehen. Seinen geliebten großen Bruder. Jessie, der mit ihm gelacht und herumgealbert und ihn so gut es ging vor ihrem tyrannischen Vater beschützt hatte.

Jessie war tot. Mit vierundzwanzig Jahren. Jessie, der aus irgendeinem unerklärlichen Grund zwei Wochen vor seinem Tod dieses Mädchen geheiratet hatte.

„Wie kannst du mit ihm verheiratet sein?“, fuhr Matt sie an. Eine dumme, vielleicht sogar grausame Frage, aber etwas anderes fiel ihm nicht ein. Er wusste so wenig darüber, wie Jessie die letzten Jahre verbracht hatte. „Du bist doch erst siebzehn.“

„Er wollte mich heiraten.“ Ihre Stimme klang wie aus weiter Ferne. „Er wollte es unbedingt. Er war sogar bei meinem Vater und hat sich die Erlaubnis von ihm geholt. Ich schätze, mein Vater ist immer noch mein Vormund, auch wenn …“ Sie brach ab und setzte sich abrupt wieder hin, als könnten ihre Beine sie plötzlich nicht mehr tragen.

Aber Matt stand nicht der Sinn nach Mitleid. Er hatte seinen großen Bruder geliebt. Jessie war wild und frei gewesen, fast ein bisschen verrückt, doch er hatte Matts Leben erhellt. In der herrschaftlichen alten Villa oberhalb des berühmtesten Strandes von Sydney, dem Bondi Beach, war es Jessie gewesen, der Leben ins Haus gebracht hatte.

Doch dieses Leben war immer mehr außer Kontrolle geraten. Das letzte Mal hatte Matt seinen großen Bruder in einer Entzugsklinik in West-Sydney gesehen. Damals war Jessie zweiundzwanzig gewesen. Mit seinen achtzehn Jahren hatte Matt schreckliche Angst um seinen Bruder gehabt.

„Ich kann nicht wieder zurück, Matt“, hatte Jessie damals gesagt. „Ich weiß, was Dad von mir hält, und das macht es nur noch schlimmer. Es ist der schwarze Hund, die Depression … Na ja, wenn du älter bist, verstehst du’s vielleicht. Sobald ich hier raus bin, gehe ich ins Ausland. Ich folge der Surfer-Szene. Das Surfen ist das Einzige, womit ich wirklich den Kopf freikriege. Wenn ich von den Drogen wegbleiben will, dann brauche ich das.“

In den nächsten zwei Jahren schickte er ab und zu eine Postkarte, gelegentlich auch mal einen Zeitungsausschnitt über einen kleineren Sieg in einem Surf-Wettbewerb. Und er bestand darauf, dass seine Eltern nicht versuchen sollten, mit ihm Kontakt aufzunehmen, bis er sich selbst gefunden hätte.

Hatte er sich jetzt gefunden? Aufgebahrt in einer Leichenhalle auf Hawaii? Jessie …

Matt dachte zurück an jenes letzte Mal, als er seinen Bruder als Drogensüchtigen auf Entzug besucht hatte. Der Entzug hatte offenbar nichts gebracht, und jetzt sah Matt sich diesem Mädchen gegenüber. Jessies Ehefrau.

Er konnte seine Wut kaum zügeln. Am liebsten hätte er ihr die Ärmel hochgezerrt, um die unvermeidlichen Einstichstellen freizulegen und die junge Frau dann von sich wegzustoßen. Doch irgendwie gelang es ihm, ruhig zu bleiben. Er wagte es nicht, seinem Zorn freien Lauf zu lassen.

„Er möchte verbrannt werden“, flüsterte sie. „Er möchte, dass seine Asche vom Diamond Head aus verstreut wird, wenn die Wellen am schönsten sind. Bei Sonnenuntergang. Er hat Freunde dort …“

Ganz bestimmt, dachte Matt. Noch mehr solche Leute wie sie.

Verheiratet! Sein Vater hatte recht. Er sollte ihr das Geld geben und sie möglichst schnell loswerden. Falls seine Mutter von ihr erfuhr, würde sie das Mädchen vielleicht zu sich nach Hause holen wollen. Und dann würde die ganze traurige Geschichte wieder von vorne anfangen.

Bitte geh in die Klinik. Bitte lass dir helfen. Bitte!

Matt fühlte sich zu jung für all das hier. Er war zwanzig, kam sich aber fast noch wie ein Kind vor. Eigentlich hätte sein Vater hier sein sollen, um seinem Zorn Luft zu machen und das zu tun, was er seinem jüngsten Sohn befohlen hatte. Matt war übel, er fühlte sich erschöpft und hilflos.

„Können Sie sich eine Einäscherung überhaupt leisten?“, fragte er herausfordernd.

Kelly, das Mädchen, schüttelte den Kopf. Es überraschte ihn, wie offen und direkt sie ihn mit ihren grauen Augen anblickte.

„Nein.“ Ihre Stimme klang so trostlos wie der Warteraum, in dem sie sich befanden. „Ich hatte gehofft, dass Sie mir helfen könnten.“

Wieso sollte er einer Frau helfen, die zugesehen hatte, wie sein Bruder sich selbst zerstörte? Auch wenn sie aussah …

Nein, denk nicht dran, wie sie aussieht, ermahnte sich Matt.

Bring die Sache einfach hinter dich, und dann nichts wie raus hier.

„Ich nehme meinen Bruder mit nach Hause“, erklärte er. „Meine Eltern werden ihn in Sydney begraben.“

„Bitte.“

„Nein.“ Jessie zu sehen, war so schmerzhaft gewesen, dass Matt kaum sprechen konnte. Er musste jetzt allein sein. Er fühlte sich, als müsste er ersticken. Wie konnte sein Vater so etwas von ihm verlangen?

Vielleicht wollte er ihn bestrafen, weil er seinen Bruder geliebt hatte? Matt reichte es. Er zog ein Scheckbuch aus der Tasche und fing an zu schreiben.

Kelly sank wieder in den Sessel zurück, die Beine angezogen. Ihre Augen wirkten leer.

Er versuchte, ihr den Scheck zu geben. Doch da sie ihn nicht annahm, legte er ihn ihr auf ihre schmutzigen Knie.

„Mein Vater hatte eine Lebensversicherung auf meinen Bruder abgeschlossen.“ Matt bemühte sich, seine Verzweiflung zurückzuhalten. „Obwohl wir die Gültigkeit Ihrer Ehe anzweifeln, erkennt mein Vater an, dass Sie möglicherweise Anspruch darauf haben. Dies entspricht der Gesamtsumme der Lebensversicherung. Sie wird Ihnen überlassen unter der Bedingung, dass Sie keinerlei Kontakt mit meinen Eltern aufnehmen und meiner Mutter niemals erzählen, dass Jessie verheiratet war. Wir erwarten, dass Sie sich für alle Zeiten aus unserem Leben fernhalten. Ist das klar?“

Sie nahm den Scheck nicht. „Ich möchte Ihrer Mutter gerne schreiben“, sagte sie kaum hörbar.

„Es gibt hundert Gründe, warum Sie das nicht tun sollten“, erwiderte Matt finster. „Der wichtigste ist der, dass sie schon genug Kummer hat und nicht auch noch mit Ihrem verkorksten Leben belastet werden sollte. Mein Vater hat beschlossen, ihr diese Ehe zu verschweigen, und ich kann verstehen, warum.“

Kelly schloss die Augen, als hätte er sie geschlagen, und sein Zorn verrauchte.

Das war unfair, dachte er. Das Mädchen sah katastrophal aus, aber Jessies Leben war auch eine Katastrophe gewesen. Er durfte seine Trauer nicht an ihr auslassen, aber er musste unbedingt hier raus.

„Nutzen Sie den Scheck“, sagte er. „Bringen Sie Ihr Leben in Ordnung.“

„Ich will Ihren Scheck nicht“, antwortete sie.

„Es ist Ihr Geld.“ Erneut wurde er wütend. „Das hat nichts mit mir zu tun. Ich will nur, dass Sie, seine Witwe …“, dabei verlieh er dem Wort eine verächtliche Betonung, „… mit Ihrer Unterschrift seine Leiche freigeben, damit ich ihn mit nach Hause nehmen kann.“

„Er hätte nicht gewollt …“

„Er ist tot“, erklärte Matt schroff. „Wir müssen ihn beerdigen. Und meine Mutter hat doch wohl ein Recht darauf, oder?“

Kelly hatte die Hände auf den Knien zusammengepresst. Langsam richtete sie sich auf, doch dann beugte sie sich unvermittelt vornüber, hielt sich den Bauch, und alle Farbe wich aus ihrem Gesicht.

Erschrocken bückte sich Matt, um sie aufzufangen, falls nötig. Innerhalb von Sekunden hatte sie sich jedoch wieder unter Kontrolle.

Als sie den Kopf hob, sah sie ihn mit eisigem Blick an. „Dann nehmen Sie ihn eben mit nach Hause und bringen ihn seiner Mutter.“

„Danke.“

„Ich will Ihren Dank nicht. Gehen Sie einfach“, entgegnete sie.

„Dann brauchen wir uns nie wiederzusehen. Ich wünsche Ihnen viel Glück, Miss Myers“, sagte er steif. Er klang wie sein eigener Vater und fühlte sich, als wäre er hundert Jahre alt.

„Ich heiße Kelly Eveldene“, gab sie unerwartet heftig zurück. „Und für Sie bin ich Mrs. Eveldene, wie für alle anderen auch.“

„Aber nicht für meine Eltern“, widersprach Matt.

„Nein.“ Sie sank wieder in sich zusammen. „Jessie hätte nicht gewollt, dass seine Mutter noch mehr leidet, als sie es schon getan hat. Wenn Sie es ihr nicht sagen wollen, dann lassen Sie es eben.“

Ihre Lippen zitterten, und Matt musste den verrückten, völlig unvernünftigen Impuls unterdrücken, sie in die Arme zu nehmen und zu trösten wie ein verletztes Kind.

Aber sie war kein Kind. Sie war Teil der Gruppe, die seinen Bruder zerstört hatte. Drogen, Surfen, Drogen, Surfen. Solange sich Matt erinnern konnte, war es immer so gewesen.

Sieh zu, dass du hier rauskommst, sagte er sich. Dieses Mädchen hatte nichts mit ihm zu tun. Durch den Scheck war er von jeder Verantwortung befreit. So hatte sein Vater es jedenfalls ausgedrückt.

„Unterschreiben Sie die Papiere.“ Entschlossen richtete er sich wieder auf. „Und schießen Sie sich nicht die ganze Summe des Schecks in die Adern.“

Erneut sah er das Feuer in ihren Augen. „Fahren Sie zurück nach Australien“, erklärte sie abweisend. „Ich kann verstehen, warum Jessie abgehauen ist.“

„Das hat nichts damit …“

„Ich höre Ihnen nicht mehr zu“, fuhr sie ihn an. „Ich werde Ihre Papiere unterschreiben. Gehen Sie.“

Noch lange, nachdem Matt gegangen war, saß Kelly nur da. Die Empfangsdame wäre sie sicher gerne losgeworden. Kelly konnte das verstehen, aber sie war die Witwe des Verstorbenen. Das Bestattungsinstitut würde an der Rückführung der Leiche einiges verdienen. Daher gehörte es sich wohl für die Empfangsdame, sie höflich zu behandeln, auch wenn sie vielleicht die Möbel beschmutzte.

Kelly wusste, dass sie dringend eine Dusche brauchte. Außerdem brauchte sie frische Kleidung, etwas zu essen und Schlaf. Ungefähr einen Monat lang.

Sie war so erschöpft, dass sie sich kaum bewegen konnte.

So unendlich müde.

Die letzten paar Tage waren entsetzlich gewesen. Zwar hatte sie gewusst, dass Jessies Depression sich verstärkt hatte. Aber nicht, wie sehr. Als er verschwand, hatte sie das Schlimmste befürchtet. Und als sich ihre Befürchtungen bestätigten, war es ein Albtraum gewesen. Und jetzt …

So lange hatte sie hier gesessen und gewartet.

Allerdings nicht auf Matt, sondern auf seinen Vater. Sie hatte nicht mit einem jungen Mann gerechnet, der kaum älter war als sie selbst.

Sie schaute auf den glänzenden neuen Ring an ihrem Finger, den Jessie ihr erst vor wenigen Wochen angesteckt hatte. „Jetzt bist du sicher“, hatte er gesagt. „Das ist alles, was ich tun kann. Aber der Ring wird dich schützen.“

Kelly hatte von seiner Krankheit gewusst. Sie hätte ihn nicht heiraten sollen, doch sie war verängstigt gewesen. Er hatte ihr Halt gegeben, und sie hatte sich an ihn geklammert. Aber sie hatte ihn nicht fest genug gehalten. Deshalb war sie jetzt hier, an diesem schrecklichen Ort.

Fast vierundzwanzig Stunden lang hatte sie auf jemanden aus Jessies Familie gewartet. Denn sie musste einfach fragen.

„Wenn mir etwas passiert, streust du dann meine Asche ins Meer, Baby?“, hatte Jessie zu ihr gesagt. Obwohl es erst eine Woche her war, kam es ihr vor wie ein Jahr.

Auch da hatte sie versagt. Matt hatte sie mit seiner dominanten Art einfach komplett überfahren.

Wie der Vater, so der Sohn? Jessie hatte ihr von seinem herrischen Vater erzählt. Und Kelly hatte sich darauf vorbereitet, Henry Eveldene zu begegnen. Dass Matt an seiner Stelle gekommen war, hatte sie völlig aus der Fassung gebracht.

Sie hatte versagt.

„Es tut mir leid“, sagte sie zu der Tür, hinter der Jessies Leiche aufgebahrt lag. „Es tut mir so leid, Jess.“

Mehr konnte sie nicht tun.

Kelly stand auf und holte tief Luft, um die Kraft zu finden, nach draußen zu gehen, einen Bus zu nehmen und diesen Ort des Todes hinter sich zu lassen. Wieder überkam sie Übelkeit, die sie jedoch so gut es ging verdrängte. Sie hatte keine Energie, um sich zu übergeben.

„Mrs. Eveldene?“, sagte die Empfangsdame.

Kelly hielt inne. „Ja.“

„Sie haben Ihren Scheck vergessen.“ Die junge Frau kam von ihrem Schreibtisch herüber, bückte sich danach und gab ihn ihr. Dabei warf sie einen Blick darauf, und ihre Augen wurden groß. „Wow. Den wollen Sie doch bestimmt nicht verlieren, oder?“

Matt stand draußen vor dem Bestattungsinstitut, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, und wartete, bis die Wellen des Schocks und der Trauer, die ihn überfluteten, nachließen. Das Bild von Jessie war in seine Netzhaut eingebrannt. Sein schöner, geliebter großer Bruder. Jessie. Kalt und tot auf einer Bahre in der Leichenhalle.

Matt spürte die Übelkeit bis ins tiefste Innere. Seine Wut steigerte sich immer mehr, doch er wusste, dass dies nur eine Abwehr gegen die vernichtende Trauer war.

Wenn er jetzt seiner Wut freien Lauf ließe, würde er wieder hineingehen, sich dieses Stück Strandgut vornehmen und sie schütteln, bis ihr die Zähne klapperten. Aber das würde nichts bringen. Denn sie war nur ein Überbleibsel aus Jessies nutzlosem, vergeudetem Leben.

Was für eine entsetzliche Verschwendung.

Doch plötzlich musste er wieder an das Mädchen denken. An diese riesengroßen, unglücklichen Augen. Noch ein Leben, das auf den Abgrund zusteuerte.

Aber diese Augen … Er hatte den aufblitzenden Zorn in ihren Augen gesehen.

Das war mehr als nur Verschwendung. Da war etwas an ihr, das Jessie geliebt hatte. Eine Art Schönheit, die Matt trotz seiner grenzenlosen Wut erkennen konnte.

Ich könnte wieder reingehen und versuchen, ihr zu helfen, dachte er.

Ja, klar. So wie er versucht hatte, Jessie zu helfen. Umsonst. Es hatte keinen Sinn.

Er hatte ihr Geld zum Überleben gegeben. „Wirf nicht alles zum Fenster raus“, sagte er laut vor sich hin. Zu niemand Bestimmtem. Zu dem Mädchen dort drin. Zur hawaiianischen Sonne. Doch es war eine vergebliche Hoffnung. So wie seine Hoffnungen bei Jessie immer wieder vergeblich gewesen waren.

Schluss damit. Es wurde Zeit, weiterzumachen und die zerbrechliche Schönheit des Mädchens an diesem grauenhaften Ort zu vergessen. Zeit, seinen Bruder nach Hause zu begleiten, um ihn dort zu begraben.

Zeit, sein Leben weiterzuleben.

1. KAPITEL

Sie hatte den besten Job der Welt. Abgesehen von diesem Augenblick.

Dr. Kelly Eveldene war die betreuende Ärztin der International Surf-Pro-Tour. Seit vier Jahren leitete sie das medizinische Team, das mit den weltbesten Surfern unterwegs war. Kelly galt als kompetent und beliebt. Sie verstand die spezielle Sprache der Surfer, und sie kannte so viele der Sportler, dass der Job perfekt zu ihr passte.

Allerdings gab es auch Nachteile. Einer war zum Beispiel, dass einige Wettbewerbe der Surf-Weltmeisterschaft dieses Jahr in Australien stattfanden. Kelly fühlte sich nicht ganz wohl dabei, aber Australien war groß. Die anderen Eveldenes lebten in Sydney, während die Weltmeisterschaft an der Gold Coast von Queensland ausgetragen wurde. Die Gefahr, jemandem von der Familie über den Weg zu laufen, schien also minimal zu sein.

Mittlerweile hatte Kelly sich informiert. Henry Eveldene, ihr Exschwiegervater, war ein Großindustrieller und wahnsinnig reich. Eveldene war zwar ein recht ungewöhnlicher Name, aber dass es momentan zwei weitere Leute dieses Namens im Land gab, würde ihm sicher kaum auffallen.

Doch es gab noch ein zweites Problem. Jess nahm hier zum ersten Mal an der Weltmeisterschaft teil. Mit seinen siebzehn Jahren war er absolut surfverrückt und genauso begabt wie früher sein Vater. Kelly konnte ihn nicht von dem Wettkampf abhalten, und das wollte sie auch gar nicht. Ihr Sohn war ein hervorragender Surfer. Aber jetzt, auf diesem Level, bei diesen riesigen Wellen … Wenn Jess bis an seine Grenzen ging, überfielen sie Zweifel.

Wie bei jedem Wettbewerb saß sie mit im Zelt der Juroren am Strand. Nahe am Ufer hielten sich die Sanitäter auf ihren Jetskis bereit, falls einer der Surfer verunglückte.

Bei einem Unfall würde Kelly innerhalb von Sekunden unten am Wasser sein, um die Leitung zu übernehmen, sobald die Unfallopfer herangebracht wurden. Falls es nach einer Kopf- oder Wirbelsäulenverletzung aussah, fuhr sie mit den Sanitätern aufs Meer hinaus, beaufsichtigte den Transport und verband offene Wunden, damit sie nicht ins Wasser ausbluteten. Wenn nötig, gehörten auch Wiederbelebungsmaßnahmen zu ihren Aufgaben.

Durch ihre jahrelange Erfahrung beim Surfen konnte Kelly normalerweise schon vom Aufprall her erkennen, was sie erwartete.

Der Job hatte seine harten Seiten; bei diesem professionellen Level kam es allerdings selten zu dramatischen Vorfällen. Meistens beschränkte sich ihre Arbeit auf die medizinische Versorgung von Schnittwunden, Ausschlag und Sonnenbrand. Es war eine wunderbare Chance, die Medizin mit ihrem geliebten Surfen zu verbinden.

Doch jetzt war Jess dran, und ihr schlug das Herz bis zum Hals. Er hatte dreißig Minuten Zeit, um zu zeigen, was er konnte. Die erste Welle hatte vielversprechend ausgesehen, war dann jedoch in sich zusammengefallen, sodass er sein Talent nicht hatte beweisen können. Das bedeutete niedrige Wertungen, das wusste er. Jess kam ins Flachwasser, winkte einem der offiziellen Jetskifahrer und wurde gleich wieder hinter die Brandung hinausgezogen.

Danach folgten zehn endlose Minuten, in denen gar nichts passierte. Jess lag auf seinem Brett in der Sonne, während die Zeit verging. Dann, wie von Zauberhand, baute sich langsam eine lange Welle von Nordost her auf, und Kelly sah, wie sich ihr Sohn erwartungsvoll anspannte.

Bitte …

Eigentlich sollte sie unparteiisch sein, denn schließlich war sie eine der Offiziellen.

Doch sie war keine Wertungsrichterin. In diesem Moment war sie nicht einmal Dr. Eveldene, sondern nur Jess’ Mutter. Alles andere zählte nicht.

Er hatte den richtigen Zeitpunkt erwischt. Die Welle baute sich hinter ihm auf und stieg mit einer Kraft hoch, die einen langen Ritt auf dem Wellenkamm versprach. Die perfekte Welle? Jess fuhr bis zum Rand, ritt die Welle ab, drehte und ließ sich wieder hinauftragen.

Aber …

Da kam eine zweite Welle aus Südost, die sich brach. Bei den Surfern hieß eine solche Welle Rogue. Eine Gegenwelle, die die fantastische Welle kreuzte, die für den perfekten Ritt geeignet gewesen wäre.

Jess kann sie nicht sehen, dachte Kelly bestürzt. Doch vielleicht spielte das keine Rolle. Vielleicht würde seine eigene Welle brechen, bevor sie gestört wurde. Und selbst wenn die Wellen zusammenprallten, hatte er inzwischen genug gezeigt, um in die nächste Runde zu kommen.

Doch dann erschien plötzlich ein zweiter Surfer auf der kreuzenden Welle.

Eigentlich war der Strand wegen des Wettkampfs gesperrt. Niemand durfte die Welle eines Teilnehmers kreuzen. Nur die Teilnehmer selbst befanden sich in der Surfzone. Alle anderen waren ausgeschlossen. Doch eine Gruppe begeisterter Jugendlicher war südlich von dem gesperrten Bereich aufs Wasser gefahren. Sie lagen weit draußen, in der Hoffnung, so einen besseren Blick auf die Profis zu erhaschen.

Dies musste einer der Jungs sein. Er konnte wohl der Versuchung nicht widerstehen, die große Welle zu reiten, ohne sich darüber bewusst zu sein, dass sie ihn direkt in die Wettkampfzone tragen würde.

Oh nein!

Alle Wertungsrichter sprangen auf. „Abdrehen! Sofort!“, brüllte der Richter direkt neben Kelly. Seine Stimme wurde von den Lautsprechern aufs Wasser und an den Strand übertragen. Doch die Surfer waren zu weit draußen, viel zu fixiert auf ihre Wellen.

Jess befand sich im Green Room, dem perfekten türkisfarbenen Wassertunnel. Er würde geradezu fliegen. Kelly war beeindruckt, dass er eine so perfekte Welle erwischt hatte, bei der er sein ganzes Talent zeigen konnte. Er würde es überhaupt nicht merken, wenn direkt hinter ihm …

Nein, nicht hinter ihm. Die Wellen krachten mit heftig schäumender Gischt aufeinander. Das Brett des Nachwuchssurfers flog so hoch in die Luft, wie es die Beinschlaufe zuließ, und stürzte dann herab.

Wo war Jess? Kelly konnte ihn nicht sehen.

Dieser Aufprall bei einer solchen Geschwindigkeit …

„Kelly, los!“, schrie der Wettkampfrichter neben ihr.

Sie raste hinaus, noch schneller als sonst.

In diesem Augenblick war sie nicht bloß eine Ärztin, die hinausfuhr, um zu überprüfen, wie schwer sich die zwei Surfer verletzt hatten.

Sie war Jess’ Mutter, und sie hatte schreckliche Angst.

„Matt, du wirst in der Notaufnahme gebraucht. Sofort! Beinbruch mit eingeschränkter, teilweise unterbrochener Blutversorgung. Wenn wir das Bein retten wollen, müssen wir schnell sein.“

Es war später Dienstagnachmittag. Matt Eveldene, der Facharzt für orthopädische Chirurgie am Gold Coast Central Hospital, hatte einen ungewöhnlich ruhigen Tag gehabt. Das Wetter war traumhaft, das Meer glitzerte in der Sonne, und nur wenige Hundert Meter entfernt vom Krankenhaus boten die weltbesten Surfer atemberaubende Ritte nach allen Regeln der Kunst.

In der Mittagspause war Matt zur Strandpromenade gegangen und hatte eine Weile zugeschaut. Einerseits bewunderte er die großartigen Fähigkeiten der Sportler, andererseits fragte er sich jedoch, wie viele dieser jungen Leute ihre Zukunft aufs Spiel setzten, indem sie sich das Äußerste abverlangten. Außer ihm schien wohl niemand daran zu denken. Alle anderen waren total begeistert von den Surfern.

Sogar seine Patienten hatten ihre Leiden offenbar verschoben. Zwar hatte Matt den Vormittag im OP verbracht, aber die Hälfte der Patienten für seine Sprechstunde hatte abgesagt. Deshalb überlegte er, ob er heute mal früher nach Hause gehen sollte.

Doch jetzt nicht mehr. Beth, die Leiterin der Notaufnahme, rief ihn nur dann zu Hilfe, wenn es wirklich erforderlich war. Als der Lift sich öffnete, wartete sie bereits auf ihn.

„Zwei Jungs“, sagte Beth. Während sie Matt mit schnellen Schritten begleitete, erstattete sie ihm Bericht. „Surfer, die mitten in der Welle zusammengeprallt sind. Der Jüngere ist von hier. Vierzehn Jahre alt, Gehirnerschütterung und gebrochener Arm. Aber Sorgen mache ich mir um den anderen. Ein siebzehnjähriger Amerikaner, Wettkampfteilnehmer. Mehrfache Oberschenkelschaftfraktur und vermutlich unterbrochene Blutversorgung. Ich habe Caroline schon Bescheid gesagt. Sie ist unterwegs.“

Matt wusste jedoch, dass Caroline Isram, die Gefäßchirurgin des Krankenhauses, momentan noch operierte.

„Um das Bein zu retten, brauchen wir euch beide“, erklärte Beth. „Ach, und Matt?“

„Ja?“

„Zufall oder nicht? Der Junge heißt mit Nachnamen auch Eveldene“, meinte sie.

„Zufall“, erwiderte er. „Ich kenne keinen siebzehnjährigen Surfer.“

Kelly saß am Bett in Kabine fünf und hielt Jess’ Hand. Dass er dies überhaupt zuließ, zeigte, wie schwer verletzt er war.

Die Schmerzmittel, die er bekommen hatte, machten ihn schläfrig, doch er hatte trotzdem noch Schmerzen. Kelly hielt seine Hand fester und hoffte, dass er still liegen blieb. Sein Bein wurde zusehends weißer. Sie hatte alles getan, um es zu richten, doch die Blutzufuhr war stark gefährdet.

Hoffentlich gab es in diesem Krankenhaus gute Chirurgen. Bitte schnell, dachte sie verzweifelt.

„Sie haben gesagt, dass der Orthopäde gleich kommt“, flüsterte sie Jess zu. „Beth, die Notfallärztin, sagt, dass er der beste in ganz Australien ist. Er wird dein Bein operieren, und dann bist du wieder so gut wie neu.“

„Aber ich verpasse die Weltmeisterschaft“, klagte ihr Sohn.

Die Weltmeisterschaft ist jetzt unser kleinstes Problem, dachte Kelly düster. Es bestand das Risiko, dass Jess noch viel mehr verlor. Hoffentlich war der Operateur wirklich so gut.

Da öffnete sich der Vorhang, und dieser furchtbare Tag wurde noch viel schlimmer.

Als Matt seinen Bruder das letzte Mal lebend gesehen hatte, war Jessie in der Entzugsklinik gewesen. Er hatte mager, verängstigt und erschöpft gewirkt.

Der Junge, den er nun auf der Liege erblickte, als er den Vorhang zurückzog, war … Jessie.

Einen Moment lang blieb Matt wie betäubt stehen. Er starrte auf das Bett, und Jessies Augen schauten ihn an. Das Haar des Jungen, feucht, sonnengebleicht, blond und zerzaust, lag auf dem Kissen ausgebreitet. Seine grünen Augen waren vor Schmerz geweitet. Auf der Nase und den Lippen sah man noch Spuren von weißer Zinkcreme, die Surfer als Sonnenschutz benutzten, doch die Sommersprossen waren dieselben wie bei Jessie.

Nur mit Mühe hielt Matt sich aufrecht.

Geister gab es nicht.

Autor

Marion Lennox
Marion wuchs in einer ländlichen Gemeinde in einer Gegend Australiens auf, wo es das ganze Jahr über keine Dürre gibt. Da es auf der abgelegenen Farm kaum Abwechslung gab, war es kein Wunder, dass sie sich die Zeit mit lesen und schreiben vertrieb. Statt ihren Wunschberuf Liebesromanautorin zu ergreifen, entschied...
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