Lord Lancasters skandalöses Begehren

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Welch ungeahnter Liebreiz! Dass die Schwester seines verstorbenen Freundes derart betörend ist, hat Lord William Lancaster nicht erwartet. Als er die eigensinnige junge Anna auf einer gefährlichen Schiffsreise von Indien nach England begleiten muss, verführt er sie gegen jede Vernunft zu stürmischen Küssen – auch wenn er damit einen Skandal riskiert. Denn als künftiger Marquess ist er dazu bestimmt, schon bald eine standesgemäße Braut zu heiraten. Anna hingegen ist die Tochter einer Kurtisane und eigentlich absolut tabu für ihn! Trotzdem begehrt er sie mit jedem heimlichen Kuss nur noch mehr …


  • Erscheinungstag 29.04.2025
  • Bandnummer 426
  • ISBN / Artikelnummer 9783751531627
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

1810

Die Sonne stand hoch, und ein sanfter Wind schob die Wolken langsam über den Himmel, als William, Lord Lancaster und der zukünftige Marquess of Elvington, den Stadtrand von Bombay erreichte. Seine Reise aus Agra im Norden Indiens hatte viele Tage gedauert, und er hatte an bewährten Rastplätzen entlang der Strecke angehalten.

Er zügelte sein Pferd zu einem gemächlichen Schritt und erfreute sich an den Gerüchen und Geräuschen auf der belebten Straße. Eselskarren waren hoch bepackt mit Waren aller Art, Wagenräder und Hufe wirbelten Staubwolken hinter sich auf. In ganz Indien herrschte Trockenheit, und alle warteten auf den langersehnten Monsun.

Erstaunt und neugierig zügelte William sein Reittier, als ein Pferd und eine Reiterin seine Aufmerksamkeit erregten. Die Reiterin war eine junge Frau, und er hielt inne, um sie zu beobachten, als sie über das weite Land ritt, genauso erfrischend wie ein kühler Wind. Es war ihre pure Energie und Leuchtkraft, die ihn anzog. Sie saß rittlings auf einer munteren grauen Stute, die sie vorzüglich im Griff hatte. Er bemerkte, wie locker ihre Hände die Zügel hielten, zarte Hände, aber gleichwohl kräftig, und er zweifelte nicht daran, dass sie selbst das temperamentvollste Pferd zu bändigen wüsste.

Sie bot ein entzückendes Bild in ihrem blau geblümten Kleid, das über den Flanken ihres Reittiers lag und schlanke Beine unter dem Rock erahnen ließ. Ergänzt wurde die Perfektion durch ihre schmale Hüfte und zwei feste Brüste. Ein breitkrempiger Hut bedeckte ihren Kopf, und ein Umhang in der Farbe von reifem Mais fiel ihr über den Rücken. Mit einem sanften Stoß ihrer Hacken lenkte sie ihr Pferd gekonnt und anmutig, fiel in einen leichten Galopp und scheuchte damit ein paar Vögel und grasende Kühe auf. Sie ritt wie der Wind und setzte mühelos über ein paar niedrige Zäune. Pferd und Reiterin wirkten wie eine Einheit.

Es war höchst unüblich für eine junge europäische Dame, wie ein Mann zu reiten – normalerweise ritten sie im Damensattel, zumindest in der Öffentlichkeit, und mit mehr Anstand. Doch William vermutete, dass das hier keine gewöhnliche junge Dame war, sondern eine, die sich nur wenig um die Konventionen scherte. Offenkundig achtete sie auch nicht auf ihre Sicherheit. Warum hatte sie keinen Bediensteten dabei, der sie vor Gefahren beschützen könnte? Erst als sie aus seinem Blickfeld verschwunden war, setzte William seine Reise fort.

William Lancaster war ein vielschichtiger und vielseitiger Mann, der ausgesprochen unbarmherzig sein konnte, falls es nottat. Er legte eine hochmütige Reserviertheit an den Tag, die nicht besonders einladend war und ihn von den anderen Mitgliedern der feinen Gesellschaft abhob. Er war mehr als 1,90 Meter groß, sein Kinn hatte einen harten Zug, und sein breiter, wohlgeformter Mund bildete oft eine schmale Linie. Seine Gesichtszüge strahlten ein streitbares Selbstbewusstsein und eiserne Entschlusskraft aus. Sein hübsches Gesicht wirkte arrogant, und die dunklen Brauen beherrschten seine Stirn. Sein dichtes Haar war schwarz wie Ebenholz. Inmitten von so viel Dunklem wirkten seine strahlend blauen Augen noch markanter und stechender. Nur selten verrieten sie etwas von seinem tief verborgenen Zynismus, mit dem er alles spöttisch zu beobachten schien.

Schließlich erreichte er das Haus, nach dem er gesucht hatte. Britische Zivilisten hatten ein paar Meilen außerhalb des Stadtzentrums eine Siedlung errichtet. Sie bestand aus gepflegten Häusern im europäischen Stil, allerdings mit zusätzlichen Veranden, um die Räume vor der heißen Sonne zu schützen. William band sein Pferd an einen Torpfosten vor dem Haus und ging den kurzen Kiesweg hoch. Das einstöckige Gebäude war weiß und hatte blaue Fensterläden. Zwei ordentlich gemähte Rasenflächen wurden von Beeten mit Edelwicken und Rosen eingefasst, deren Duft sich mit dem Geruch der warmen Erde vermengte.

Die Tür wurde von einer Dame geöffnet, bei der es sich um Mrs. Andrews handeln musste. Ihr Gatte, ein Beamter der East India Company, war zurzeit in Lucknow stationiert. Sie erwartete William und wusste, dass er ihr Mündel nach England begleiten würde. Mrs. Andrews war Ende fünfzig, hatte hellbraunes Haar und sanfte graue Augen. Freundlich hieß sie William in ihrem Haus willkommen. Ein Diener brachte ihnen kühle Getränke. Eine Weile blieb ihre Unterhaltung recht förmlich, während sie ihn über seine Reise befragte. Sie selbst freue sich sehr darauf, ihren Gatten schon bald in Lucknow wiederzusehen.

„Freut sich Miss Harris darauf, nach England zurückzukehren?“, fragte William.

„Leider nicht. Sie war überaus bestürzt, als sie von dem Tod ihres Bruders erfuhr – und noch mehr, als sie hörte, dass Sie nach Bombay kommen würden, um sie nach England zurückzubringen. Sie weiß, dass nichts sie hier in Indien hält, aber sie hat sich in dieses lebhafte Land verliebt – wie die meisten Menschen, die hierherkommen und nicht ins graue London zurückkehren wollen. Sie müssen verstehen, wie sie empfindet und warum sie Indien nur ungern verlassen möchte.“

„Sie hatte einen ganzen Monat Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen.“ Er zuckte ungeduldig die Achseln. „Aber es ist nicht meine Absicht, das Mädchen zu verärgern.“

„Nein, natürlich nicht. Sie werden sie zu ihrem Onkel bringen, nehme ich an?“

„Das war Jonathans Wunsch. Als er wusste, dass er sterben würde, hat er einen Brief an seinen Onkel geschrieben, um ihm die Ankunft seiner Nichte anzukündigen.“

„Konnte man denn gar nichts tun, als er verwundet wurde?“

„Leider nicht. Nach dem Überfall lebte er gerade noch lange genug, um Vorkehrungen für seine Schwester zu treffen.“

„Wurde der Übeltäter gefasst?“

Er schüttelte den Kopf und wandte den Blick ab. Die Erinnerung an den grausamen Tod seines Freundes waren zu schmerzhaft, um auch nur daran zu denken. „Nein. In die Auseinandersetzung waren mehrere Männer verwickelt, es hätte jeder von ihnen gewesen sein können.“ William war sich sicher, dass er wusste, wer seinen guten Freund Jonathan Harris getötet hatte, aber das zu beweisen war etwas anderes. Jonathan hatte gewusst, dass William nach England zurückkehren würde, und hatte ihm die Aufgabe übertragen, seine Schwester mitzunehmen und zu seinem Onkel Robert in London zu bringen. William konnte dem Mann, der ihm zwei Mal das Leben gerettet hatte, diese Bitte nicht abschlagen. Zumal er das Leben dieses Mannes hätte retten können, wenn er vorausschauender gewesen wäre. Schuldgefühle hatten an William genagt, und er wollte dem Freund seine letzten Stunden erleichtern, also hatte er Jonathan sein Wort gegeben.

„Es ist wirklich eine Schande, dass ihre Mutter sich nicht um sie kümmern wird. Wie ich hörte, ist sie eine Frau, die nur an ihr eigenes Vergnügen denkt und ihre Tochter ganz sich selbst überlässt. Für einen erwachsenen Sohn mag das nicht weiter verwerflich sein, aber bei einem verletzlichen jungen Mädchen, das der Gnade der harten Welt ausgeliefert ist, ist das etwas ganz anderes. Ich hörte, dass Mrs. Harris in London lebt – mit ihrem neuesten Gentleman.“

„Ich weiß nur wenig über sie. Jonathan hat nur selten von seiner Mutter gesprochen. Wie ist Miss Harris?“

„Es war nicht immer einfach mit ihr in den drei Jahren, seit sie bei uns ist. Wenigstens hat sie eine gute Erziehung genossen. Bisweilen kann sie eigensinnig und stur sein, doch dieser Charakterzug wird durch eine unglaubliche Freundlichkeit und Leidenschaft ausgeglichen. Sie neigt dazu, sich von ihrem Herzen anstelle ihres Verstandes leiten zu lassen. Ich habe versucht, ihren Eigensinn zu zügeln …“ Seufzend schüttelte sie den Kopf. „Ich fürchte, die Schuld liegt größtenteils bei mir. Ich habe ihr viel zu viel Freiheit gelassen. Mein Gatte und ich haben sie sehr lieb gewonnen und werden sie schrecklich vermissen, wenn sie Indien verlässt.“

„Ich gehe davon aus, dass Sie Ihrer Aufgabe aufs Vortrefflichste nachgekommen sind, Mrs. Harris. Es muss schwierig sein, für das Kind eines anderen verantwortlich zu sein.“

„Sie ist kein Kind mehr, sondern eine erwachsene junge Dame. Ich kann nur hoffen, dass sie hier etwas gelernt hat, das ihr in ihrem neuen Leben von Nutzen sein wird.“

„Ich bin sicher, dass Sie alles Notwendige getan haben, um sie für die Reise vorzubereiten.“

Verärgert, weil sein Schützling nicht hier war, um ihn zu empfangen, stand William auf und trat hinaus auf die Veranda. Er war wenig angetan von der Aussicht, eine leicht zu beeindruckende Neunzehnjährige zu begleiten, auf einer Reise, die je nach Wind und Wetter fünf bis sechs Monate währen konnte. Er blickte mit einer gewissen Voreingenommenheit auf diese Reise.

William war von beeindruckender Gestalt. Mit neunundzwanzig Jahren war er der Erbe eines Marquess, er war auf dem prachtvollen Anwesen Cranford Park in Berkshire geboren und aufgewachsen. Als er vor fast zehn Jahren nach Indien gekommen war, hatte er zunächst für die East India Company gearbeitet, ehe er entschieden hatte, auf eigene Faust Geschäfte zu machen. Jetzt kehrte er nach England zurück, um ein paar dringende Familienangelegenheiten zu klären.

Als Miss Harris endlich eintraf, betrat sie nicht einfach das Haus, sondern zelebrierte einen regelrechten Auftritt. Sie blieb einen Moment an der Tür stehen, bevor sie in die Mitte des Raumes schritt und ihren Hut auf den nächsten Stuhl warf. William stand mit dem Rücken zu ihr. Noch ehe ein Wort gesprochen wurde, spürte er ihre Anwesenheit und empfand ein merkwürdiges Prickeln im Nacken. Das Gefühl war so stark, dass er sich langsam umdrehte und sie ansah.

Ihr Schweigen wirkte entschieden und kraftvoll, und zugleich hatte sie eine Lebendigkeit an sich, die ihn auf Anhieb fesselte. Ihre blasse Silhouette vor der Dunkelheit der offenen Tür hinter ihr gab ein perfektes Bild ab. Eigentümlicherweise schien das wirre Haar ihre unfassbare Anmut noch zu verstärken. Es hatte sich aus dem Zopf gelöst, fiel ihr in wunderbaren goldenen Locken über die Schultern und rahmte ihr makelloses und ätherisches Gesicht ein. Sie wirkte anmutig wie eine Gazelle. William starrte sie an und begriff, dass dies die junge Frau war, die er zuvor auf dem Rücken des Pferdes gesehen hatte. Schon vorhin hatte sie seine Aufmerksamkeit gefesselt, genauso, wie sie es jetzt tat. Er starrte sie an, und sie erwiderte seinen Blick trotzig. Bescheidenheit schien ihr fremd zu sein.

William trat vor, neigte den Kopf leicht und erwiderte ihren Blick kühl. Sie musterte ihn aufmerksam, doch ihre Miene verriet keinerlei Feindseligkeit. Ihre großen Augen waren von dichten dunklen Wimpern eingefasst und von einer ungewöhnlichen honiggoldenen Farbe – oder war es bernsteinfarben? Immer wieder blitzten darin goldenen Lichtflecken auf, die ihn an die Tiger Indiens erinnerten. Diese Augen verliehen ihrem Gesicht ein zauberhaftes Aussehen.

Ihre Haut war ebenfalls wunderbar honiggolden, was nahelegte, dass sie viel Zeit im Freien ohne einen schützenden Sonnenschirm verbrachte. Sie wirkte wie die Verkörperung weiblicher Perfektion, mit all jenen Eigenschaften, die er am meisten bewunderte. Schweigend und ohne zu blinzeln sah sie ihn an. Ihre Augen leuchteten mit einem inneren Licht und ließen die Frau erahnen, die sich hinter der sanften Unschuld ihres Gesichts verbarg.

William bezweifelte, dass sie eine gewöhnliche junge Frau war. Er spürte ihr abenteuerlustiges Temperament, das sich nicht um Sitte und Etikette scherte. Sie hatte nichts Zimperliches an sich, im Gegensatz zu den meisten jungen Damen der feinen Gesellschaft, die den Blick gesenkt hätten und die wussten, was sich schickte. Diese junge Dame zeigte nichts von der Zurückhaltung, die jungen Mädchen aus guten Familien eingetrichtert wurde.

„Das Schicksal hat also bestimmt, dass wir uns wiedersehen“, sagte er leise.

Seine Stimme war wohlmoduliert und tief. Die junge Frau starrte ihn weiterhin unverblümt an, was ihn einigermaßen erheiterte.

„Sie scheinen mehr zu wissen als ich, Sir. Ich glaube nicht, dass wir uns schon einmal begegnet sind.“

„Ich habe Sie auf meinem Weg hierher gesehen – Sie ritten auf einem recht schönen Pferd.“

„Wirklich? Ja, Bella ist ein wunderschönes Tier – aber ich glaube nicht an so etwas wie Schicksal.“

„Auch gut. Allerdings hat das Schicksal die Angewohnheit, einem merkwürdige Streiche zu spielen“, erwiderte William sanft. „Ist es Ihre Gewohnheit, allein auszureiten?“

Sie schob die Schultern nach hinten und hob den Kopf, was ihm verriet, dass sie sich nicht im Mindesten schämte. „Ja – immer. Ich habe nichts falsch gemacht“, sagte sie fest, als könnte ihre Beharrlichkeit ihn überzeugen.

„Miss Harris. Glauben Sie allen Ernstes, Ihr Bruder hätte es begrüßt, dass Sie ohne jeden Schutz ausreiten?“ Prompt erschrak er über seine eigenen Worte. Nichts lag ihm ferner, als sie für ihren Leichtsinn zu tadeln. Was zum Teufel war los mit ihm? Er klang kleinlich und unwirsch – das verriet ihm ihre Miene. Und überhaupt, was ging ihn das an?

„Wie bitte?“

„Ich weise nur darauf hin, dass es nicht ratsam für eine junge Dame ist, unbegleitet durchs Land zu reiten. Ihrem Bruder hätte das nicht gefallen.“

Miss Harris geriet ins Schwanken, und William sah, wie sich ihre Finger enger um die Reitgerte schlossen, die sie immer noch festhielt. „Mein Bruder Jonathan ist tot; was ihm gefällt oder nicht, ist also ohne Belang. Er kann keine Einwände mehr erheben.“ Herausfordernd sah sie ihn an. „Es ist sehr freundlich von Ihnen, sich um meine Sicherheit zu sorgen, doch ich versichere Ihnen, dass ich sehr gut in der Lage bin, selbst auf mich aufzupassen.“

Ihre Augen wurden dunkler, und William spürte, wie sein Blut heißer wurde und die Wärme bis in den Bauch wanderte. Sie reckte ihm ihr zartes Kinn entgegen, und ihre Augen blitzten auf, als sie seine Autorität so stolz herausforderte. Sie erinnerte ihn an ein Kätzchen, das einem ausgewachsenen Löwen seine Krallen zeigte. William verspürte einen Anflug von Neid gegenüber dem Mann, dessen Aufgabe es sein würde, sie zu zähmen.

Er durfte nicht vergessen, dass sie die Schwester seines besten Freundes war, eines feinen, hochgeachteten Mannes. Sie war keine Frau, mit der man sich vergnügte und sie anschließend wieder vergaß. Hätte er sie zu Gesicht bekommen, bevor er eingewilligt hatte, als ihr Vormund zu agieren, hätte er einfach davongehen können, und seine Gefühle wären vollkommen intakt geblieben.

Doch diese Möglichkeit gab es für ihn nicht mehr. Er war es Jonathan schuldig, dafür zu sorgen, dass sie sicher in London ankam. An diesem Morgen stellte Anna Harris eine größere Herausforderung für ihn dar als jede Schlägerei, in die er je geraten war. Er beobachtete sie, als sie sich abwandte und rasch zu Mrs. Andrews ging. Ihr wiegender Rock ließ ihre Bewegung noch respektloser erscheinen. Mit einem halben Lächeln auf den Lippen folgte er ihr.

„Wie spät ist es, Anna?“, sagte Mrs. Andrews tadelnd. „Du wusstest, dass Lord Lancasters Ankunft bevorstand, und was tust du? Verschwindest einfach.“

„Es tut mir leid, Mrs. Andrews. Ich wollte mich nur von Bella verabschieden. Ich werde sie schrecklich vermissen.“

„Natürlich wirst du das, Anna, aber in England wird es andere Pferde geben, die du reiten kannst. Jetzt begrüße Lord Lancaster anständig, sonst wird er noch denken, du hättest überhaupt keine Manieren.“

Pflichtschuldig sah Miss Harris William an und sagte mit gestelztem, wenig überzeugendem Tonfall: „Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Lord Lancaster. Wir sind uns nie begegnet, aber Jonathan hat Sie oft in seinen Briefen erwähnt.“

„Jonathan war mein bester Freund. Als Ihr Bruder fühlte er sich verpflichtet, für Ihr Wohlergehen und Ihre Zukunft zu sorgen. Ich muss aus persönlichen Gründen ebenfalls nach England zurückkehren. Jonathan hat mich zu Ihrem Vormund bestimmt, bis ich Sie bei Ihrem Onkel abgeliefert habe.“

„Bei Ihnen klingt das, als sei ich ein Paket, das Sie ausliefern müssen, Lord Lancaster.“

„Bitte verzeihen Sie. Wir haben eine Passage auf einem Schiff, das morgen in aller Frühe ablegt. Die Reise wird lang und mühsam sein – fünf oder sechs Monate mindestens. Ich habe einen Brief bei mir, der die Wünsche Ihres Bruders darlegt, falls Sie ihn zu sehen wünschen. Jonathan ist klar, dass Sie Ihren Onkel Robert lange nicht gesehen haben, aber er wollte sicherstellen, dass für Sie gesorgt ist. Außerdem hat er Ihnen eine Erbschaft vermacht, die von Ihrem Onkel verwalten wird. Ich weiß, dass Ihnen das für die Zukunft von großer Hilfe sein wird.“

„Ich verstehe. Und wenn ich mich weigere?“

„Sei nicht albern, Anna“, rügte Mrs. Andrews sie. „Du kannst dich nicht weigern. Du musst gehen.“

Miss Harris sah sie an, eine stumme Bitte im Blick. „Aber warum? Ich würde viel lieber bei Ihnen in Indien bleiben.“

„Du weißt genau, dass ich Bombay verlasse und zu meinem Gatten nach Lucknow gehe. Jonathan hat nur getan, was er für das Beste für dich hält. Es ist ganz richtig, dass du zu deiner Familie nach England gehst.“

„Aber ich will nicht“, erwiderte sie verdrießlich. „Ich will in Indien leben, nicht in England, und schon gar nicht bei Onkel Robert – oder Tante Constance. Sie ist ein alter Drachen.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass deine Tante irgendetwas getan hat, was dieses harsche Urteil über sie rechtfertigen würde“, mahnte Mrs. Andrews.

„Mrs. Andrews hat recht“, sagte William kurz angebunden. „Ich bin nicht hier, um über Ihre Gefühle Ihrer Tante gegenüber zu diskutieren. Ihr Onkel wird schon das Richtige für Sie tun.“

Miss Harris sah ihn scharf an, ihre Augen blitzten auf. „Und das wissen Sie ganz genau? Kennen Sie Onkel Robert?“

„Das nicht. Aber bis ich weiß, dass Sie sicher im Haushalt Ihres Onkels aufgenommen worden sind, stehen Sie unter meiner Obhut. Allerdings werden Sie an Bord eine Anstandsdame brauchen. Ich habe also dafür gesorgt, dass Sie in Gesellschaft einer gewissen Mrs. Preston und ihrer Zofe reisen. Sie ist Witwe und kehrt nach England zu ihrer Familie zurück. Halten Sie sich morgen früh bereit, um spätestens sechs Uhr das Haus zu verlassen.“

Miss Harris’ Augen blitzten auf. „Ich verstehe. Sie haben schon alles arrangiert.“

„Anna!“, rief Mrs. Andrews missbilligend. „Bitte achte auf deine Manieren. Lord Lancaster ist unser Gast und hat beträchtliche Mühen auf sich genommen, alles für dich vorzubereiten. Bitte entschuldigen Sie sie, Lord Lancaster, aber wie Sie sehen, lässt Annas Benehmen zu wünschen übrig.“

William musterte Miss Harris prüfend und neigte dazu, dieser Einschätzung zuzustimmen. Es war offensichtlich, dass sie viel zu lange ihren eigenen Weg hatte gehen können. Seiner Ansicht nach hätte es Anna nicht geschadet, in dem Pensionat zu bleiben, das sie besucht hatte, bevor Jonathan sie mit nach Indien genommen hatte.

Schweigend und mit gerunzelter Stirn funkelte sie ihn an. Ihr Mund war rebellisch geschürzt, das Kinn fest. „Ich hatte nicht oft die Gelegenheit, mein gutes Benehmen zu üben“, murmelte sie.

„Dann wird es Zeit, dass du damit anfängst“, sagte Mrs. Andrews ungewöhnlich scharf. „Und jetzt entschuldigst du dich bei Lord Lancaster.“

Anna warf einen raschen Blick auf Mrs. Andrews, die höflich und schweigend darauf wartete, dass sie sich bei Lord Lancaster entschuldigte. Sie seufzte hörbar und sah ihn an. „Bitte verzeihen Sie mir. Ich wollte nicht unhöflich sein.“

Er lächelte. „Ihnen ist vergeben. Aber was machen Sie den ganzen Tag hier?“

„Ich unternehme etwas mit meinen Freundinnen, aber am liebsten reite ich. Wenn eine der Damen aus der Siedlung als Anstandsdame mitkommt, gehen wir in die Stadt. Ich helfe auch Mrs. Andrews bei ihrer Wohltätigkeitsarbeit. Wir sind sehr beschäftigt, nicht wahr, Mrs. Andrews?“

„Ja, meine Liebe, und ich weiß nicht, was ich ohne dich machen soll.“

William nickte. Warum hatte er sich überhaupt die Mühe gemacht, dieser unschuldigen jungen Frau so eine banale Frage zu stellen? Wieso verwirrte ihn ihr wacher Geist, der immer hindurchschimmerte, und der tiefe, warme Glanz ihrer Augen so sehr? Er war hier, um sie für einige Monate zu begleiten, und sie war auf jeden Fall hübsch genug, um die Überfahrt angenehmer zu gestalten.

Dann riss er sich zusammen und tadelte sich im Stillen für seine herzlose Missachtung der Gefühle einer jungen Frau. Er war ein reifer Mann, kein unerfahrener Jüngling. Er war älter und deshalb reifer und erfahrener, und sie stand so lange unter seinem Schutz, bis er sie der Obhut ihres Onkels anvertrauen konnte.

„Ich habe nicht das Verlangen, nach England zu gehen und bei meinem Onkel Robert zu leben“, sagte Miss Harris, als würde die Wiederholung eine Art Wunder bewirken, damit sie doch noch in Indien bleiben konnte. „Ich habe bei ihm gewohnt, wenn ich nicht im Pensionat war. Wir sind nie miteinander ausgekommen, und ich glaube, das war der Grund, weshalb Jonathan mich nach Indien gebracht hat.“

Williams Stimme wurde sanfter, und die Stimmung im Raum entspannte sich. „Was immer seine Gründe waren, tun Sie es für Jonathan. Das hat er für Sie vorgesehen.“

Er ging zur Tür. „Ich muss gehen“, sagte er. Seine Stimme klang merkwürdig weich, während er Miss Harris in die Augen sah. „Ich habe noch viel zu tun, bevor wir aufbrechen. Ich werde Ihnen um Punkt sechs Uhr eine Kutsche schicken.“

Anna folgte ihm aus dem Zimmer. „Waren Sie bei Jonathan, als er starb?“, fragte sie leise.

Die Frage schien Lord Lancaster zu überraschen. Er schaute sie für einen Moment an, und etwas Düsteres schlich sich in seinen Blick, doch es war rasch wieder verschwunden. „Ja“, sagte er ebenso leise. „Ich war bis zum Ende bei ihm.“

„Hat er … gelitten? Wenn er im Kampf getötet wurde, muss er doch Schmerzen gehabt haben.“

„Ja, die hatte er, aber seien Sie versichert, dass er die beste Pflege bekommen hat, die zu dieser Zeit möglich war.“

„Armer Jonathan. Ich hasse den Gedanken, dass er leiden musste. Und der Übeltäter? Wurde er gefasst?“

„Nein, leider nicht.“

Anna verstummte und dachte an ihren Bruder. Eine große Traurigkeit überkam sie, weil sie ihn nie wiedersehen würde. Sie hatte das Gefühl, dass Lord Lancaster nicht darüber reden wollte – wahrscheinlich weil Jonathan und er sich so nahegestanden hatten und es ihn quälte, darüber zu reden. „Stimmt es, dass Jonathan seinen ganzen Besitz mir hinterlassen hat?“

Er nickte. „Das ist wahr. Sie sind jetzt eine sehr reiche junge Dame.“

„Ich bin traurig, dass ich es nur bin, weil Jonathan tot ist. Sind irgendwelche Bedingungen daran geknüpft?“

„Ein oder zwei. Ich werde alles mit Ihrem Onkel besprechen. Wie ich hörte, ist er Anwalt, er wird sich um alles kümmern. Jonathan hat nicht besonders viel von Ihrem Onkel gehalten, aber er zweifelte nicht daran, dass er ein ehrlicher Mann ist und tun wird, was das Beste für Sie ist.“

„Das wird Onkel Robert gewiss tun.“

„Da bin ich ganz sicher. Ich sehe Sie morgen früh, Miss Harris.“

Anna blieb auf der Veranda stehen, als Lord Lancaster aufsaß und davonritt. Nachdenklich schweigend blickte sie ihm nach, bis er am Ende der Straße verschwunden war. Sie hatte sich bereits ihre Meinung gebildet und hielt ihn für selbstherrlich, herrisch und überheblich. Aber selbst wenn es so war, warum fühlte sie sich dann zutiefst von ihm gekränkt? Warum hatte sie das Gefühl, ihm Widerworte geben zu müssen, wie es keine wohlerzogene junge Dame jemals tun würde?

Die heutige Begegnung mit ihm war nur kurz gewesen, doch sie hatte genügt, um einen gewissen Eindruck auf Anna zu machen. Sie war verwirrt, wie stark ihre Gefühle waren, auch wenn sie sich nicht sicher war, was sie überhaupt empfand. In dem Moment, als er sich verabschiedet, sie mit seinen klaren Augen angesehen und sich danach abgewandt hatte, hatte er gelangweilt und ungeduldig gewirkt. Als hätte er es eilig, endlich wegzukommen. Sie sind nicht mehr als eine alberne junge Frau, schien seine Haltung zu sagen, und prompt fiel ihr ganzes Selbstbewusstsein in sich zusammen.

Sein offenkundiges Desinteresse an ihr überraschte sie – war sie nicht Anna Harris, die begehrteste junge Frau unter den jungen Vertretern der East India Company, die ihre kleine Siedlung besuchten? Doch Lord Lancaster war nicht wie sie. Er war ein reifer, erfahrener Mann, ein Mann von Welt. Ihre Unwissenheit dagegen schwächte sie, und sie musste unbedingt mehr lernen. Während sie unter seiner Obhut stand, blieb ihr auch kaum anderes übrig. Sie stellte fest, dass sie sich nicht gegen seine merkwürdige Anziehungskraft wehren konnte, gegen seine männliche Vitalität. Seine Augen hatten die Farbe von Saphiren aus den Minen in Kaschmir – kalt und unnachgiebig.

Als sie das Haus betreten hatte, war ihr Blick sofort von dem gut aussehenden Gentleman angezogen worden. Im Gegensatz zur langweiligen Trägheit anderer Gentlemen, die sie seit ihrer Ankunft in Indien kennengelernt hatte, bewegte er sich mit einer mühelosen Anmut, die großen Selbstvertrauen verriet und zugleich seine stählerne Härte verbarg. Sein Gebaren war herrisch, und seine hochgewachsene Gestalt strahlte Kraft und jene Art Sinnlichkeit aus, von denen ihre romantisch veranlagten Freundinnen hier in Bombay ständig sprachen.

Sein Charme zeigte sich in seinem angedeuteten Lächeln. Ihn umgab eine Aura aus Gefahr und Aufregung, die ihr junges und leicht zu beeindruckendes Herz rührte. Was ihr indes nicht gefiel, war sein besitzergreifendes Verhalten ihr gegenüber. Dass sie mit ihm reisen musste, würde der größte Nachteil ihrer Reise sein. Die Überfahrt würde endlos dauern, wenn sie sich nicht von seiner verstörenden Gegenwart freimachen konnte. Sie konnte nur hoffen, dass es ihr in London gelingen würde, ihre Zukunft nach ihren Vorstellungen zu gestalten und Lord Lancaster in einem günstigeren Licht zu betrachten.

Der Tod ihres Bruders war in doppelter Hinsicht tragisch. Sie hatte nicht nur den einzigen Familienangehörigen verloren, dem sie etwas bedeutete; sein Tod bedeutete zudem, dass sie Indien verlassen musste. Sie würde wieder bei ihrem Onkel Robert und Tante Constance leben, nur geduldet unter ihrem Dach.

Aber nicht für lange, wie sie hoffte. Lord Lancaster hatte ihr gesagt, dass Jonathan ihr ein beträchtliches Erbe hinterlassen hatte. Das würde ihr die Möglichkeit geben, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Die Frauen in ihrer Bekanntschaft schienen an nichts anderes denken zu können als an Heirat und Ehe, aber das war nichts für sie – jedenfalls noch nicht. Sie wollte mehr vom Leben. Sie wollte Aufregung, und sie wollte anderen helfen, die weniger Glück hatten als sie. Vielleicht würde sie eines Tages nach Indien zurückkehren. Bei diesem Gedanken wurde ihr ganz leicht ums Herz. Plötzlich wirkte die Zukunft gar nicht mehr so düster.

Am nächsten Morgen traf die Kutsche wie versprochen um Punkt sechs Uhr ein. Kaum hatte sich Anna mit Tränen in den Augen von Mrs. Andrews verabschiedet, hatte sie bereits Heimweh.

Auf den Straßen, die zum Hafen führten, herrschte lebhaftes Treiben. Der Anblick und der Gesang der Vögel in den Käfigen über den Marktständen trübte wie immer Annas Herz. Sie hasste es, diese wunderschönen Vögel in Gefangenschaft zu sehen. Am liebsten würde sie sie alle in die Freiheit entlassen. Als die Kutsche den Anlegeplatz erreichte, brannte die Sonne bereits von einem strahlend blauen Himmel herab. Der riesige Ostindienfahrer Bengal, eine Mischung aus Handels- und Kriegsschiff, auf dem Anna reisen sollte, beherrschte die Szenerie. Wagen und Karren aller Größe wurden entladen und die Waren auf das Schiff gebracht.

Menschen aus unterschiedlichen Kulturen drängten sich zusammen – Hindus, fromme Moslems und die eher konservativen Europäer trugen alle zu der lebhaften Farbenpracht bei. Leise Unterhaltungen und laute Rufe hallten durch die warme Morgenluft. Die Ankunft und Abfahrt eines der riesigen Schiffe der East India Company zog stets ein breites Interesse auf sich, wenn Zivilisten und Soldaten in roten Uniformen auf dem Weg in die Heimat an Bord gingen.

Anna versuchte, nicht an die Geschichten über Schiffswracks, Piraten und Schleichhändler zu denken, die man sich am Indischen Ozean überall erzählte. Sie war froh, dass sie in einem Konvoi von fünf Schiffen reisen würden, was eine sichere Ankunft im Heimathafen versprach.

Lord Lancaster war bereits da, um sie zu begrüßen und dafür zu sorgen, dass ihr Gepäck an Bord gebracht wurde.

„Kommen Sie“, sagte er und schob eine Hand unter ihren Ellenbogen. „Ich bringe Sie an Bord. Wir werden bald ablegen.“

„Ich habe nur mitgenommen, was ich glaube, für die Reise zu brauchen.“

„Sehr vernünftig von Ihnen“, murmelte er. Widerstrebend bewunderte er sie, weil sie versuchte, sich damit zu arrangieren, Indien trotz ihres Kummers zu verlassen. Ihr Blick war traurig, ihr herzförmiges Gesicht verriet Anspannung. Ernst sagte er: „Ich weiß, wie Sie sich fühlen müssen.“

„Woher wollen Sie das wissen?“

„Ich verlasse Indien ebenfalls – wahrscheinlich für immer. Das macht mich traurig.“

„Das tut mir leid. Ich freue mich nicht auf die lange Reise, aber dagegen kann man nichts tun.“

„Sie sind sehr mutig“, sagte er freundlich. „Nicht viele Frauen würden so eine Reise allein unternehmen.“

Anna nickte, und ihr gelang ein kleines Lächeln. „Ich weiß, wie lästig es für Sie sein muss, mich zu begleiten. Aber da es unausweichlich ist, fürchte ich, dass Sie lernen müssen, mit mir zu leben.“

„Das dürfte interessant werden“, sagte er und beobachtete erheitert, wie ihre Wangen sich vor Verlegenheit röteten.

„Was ist daran so lustig?“, platzte sie heraus.

„Sehen Sie es nicht? Vielleicht mangelt es Ihnen an Humor.“ Als Anna den Mund öffnete, um den Vorwurf zu entkräften, warf er ihr einen amüsierten Blick zu. „Keine Sorge. Ich bin sicher, dass Sie sich rasch eingewöhnen, sobald wir unterwegs sind. Und was das Lernen angeht, mit Ihnen zu leben, Miss Harris – das gilt für uns beide.“

Augenblicklich vergaß Anna jeden Groll gegen ihn und schenkte ihm ihr erstes aufrichtiges Lächeln. „Ich stimme Ihnen zu, Lord Lancaster. Ich weiß, dass Sie glauben, Sie würden nur zu meinem Besten handeln. Bitte halten Sie mich nicht für undankbar, aber ich werde an Bord meine eigenen Freundschaften schließen und Sie nicht über Gebühr belästigen.“

Dieses Lächeln machte William sprachlos. Etwas Warmes, Kraftvolles breitete sich in ihm aus. Verwirrt starrte er sie an, bis er argwöhnte, das Lächeln sei nur geheuchelt, um ihn zu besänftigen. „Das begrüße ich – und mein Name ist William. Da wir zusammen sein werden, bis wir England erreichen, können wir, denke ich, auf Förmlichkeiten verzichten. Die Verwendung von Titeln ist mir viel zu umständlich. Am besten fangen wir so an, wie wir weitermachen wollen.“

„Jawohl, Sir“, sagte Anna mit einem breiten Lächeln.

„Jawohl“, wiederholte er. Dann nahm er ihren Arm und begleitete sie durch die Menschenmenge. „Kommen Sie. Ich bringe Sie zu Mrs. Preston. Die Unterkunft wird Ihnen nicht gefallen, aber der Platz an Bord ist begrenzt. Sind Sie eigentlich seefest? Oder werden Sie leicht seekrank?“

„Ich habe die Herreise geschafft, ohne dass mir unwohl geworden wäre, aber ich werde sehen, wie es mir dieses Mal ergeht.“

Als er Anna an Bord begleitete, schaute William an der Takelage des Schiffes empor. Sein Herz sank, als er das vertraute spöttische Gesicht von James Ryder erkannte, das auf ihn herunterstarrte. William hatte gewusst, dass der Mann nach London zurückkehren wollte, doch er hatte gehofft, dass er auf einem der anderen Schiffe des Konvois reisen würde. Während William überlegte, wie er am besten mit dieser neuen Wendung der Ereignisse umgehen sollte, erkannte er, dass Ryder Anna rasch gefährlich werden könnte.

Er verfluchte Ryder. Sein Hass auf diesen Mann reichte tief. Er verdächtigte diesen Mann, Jonathan getötet zu haben, und die Erinnerung daran war wie eine schwärende Wunde. Er musste diesen Mann um jeden Preis von Anna fernhalten, aber wie sollte er das anstellen, wenn sie monatelang zusammen auf einem Schiff festsaßen?

Unter den Reisenden, die bereits an Bord waren, herrschte große Aufregung, als das Schiff zum Ablegen vorbereitet wurde. Männer eilten zielstrebig über das blitzblank gescheuerte Deck und verstauten den Proviant. Anna sah sich um. Sie stand neben einem wirren Haufen aus Tauen, Seilen und Spieren, während hoch über ihrem Kopf, in einem Wald aus Masten und Segeltuch, Seeleute herumkletterten, die Leinen kontrollierten und die Segel überprüften. Der Großmast schwankte sanft im blauen Himmel hin und her, während das Schiff bei jeder Bewegung beunruhigend knarrte und ächzte. Anna musste sich zusammenreißen, um nicht kehrtzumachen und zurück an Land zu fliehen.

Mrs. Preston war eine heitere und gesprächige Dame. Sie liebte das Kartenspiel und verfügte über einen großen Vorrat an interessanten Geschichten aus den Jahren, die sie in Indien verbracht hatte. Ihr Gatte, ein Distriktbeamter der East India Company, war vor sechs Monaten verstorben. Mrs. Preston war noch keine fünfzig Jahre alt und hatte zwanzig Jahre lang im Osten gelebt. Jetzt fuhr sie nach Hause, um bei ihren Kindern zu sein, die in England zur Schule gingen.

„Mein liebes Kind“, sagte sie, nachdem Lord Lancaster gegangen war, um sein Quartier zu beziehen. Sie sah die Angst in Annas Augen. „Ich sehe, dass Sie sich wegen der Reise sorgen, aber das brauchen Sie nicht. Ich habe diese Reise bereits zweimal unternommen, und nie ist etwas passiert, bis auf einen Tropensturm. Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihre Kabine. Sie liegt gleich neben meiner, die ich mit Celia teile – sie kümmert sich um meine persönlichen Bedürfnisse. Ich bin sicher, wir werden gut miteinander auskommen und rasch Freundinnen werden.“

Der Platz war knapp, und die Kabinen waren notdürftig eingerichtet worden, um Frauen und Kinder zusammengepfercht unterzubringen. Annas Kabine war winzig, die Einrichtung spärlich. Ein Segeltuch trennte ihren Bereich von Mrs. Prestons Kabine ab und konnte im Notfall rasch entfernt werden.

Das Knirschen und Ächzen der Schiffsplanken um sie herum machte sie nervös, und sie musste raus aus dieser heißen, stickigen Kabine. Einer plötzlichen Regung folgend stieg Anna einen Niedergang empor und lief zur Reling. Sie schaute sich auf dem Deck um, auf dem immer noch regsame Betriebsamkeit herrschte, und entdeckte Lord Lancaster, der sich gerade mit einer Gruppe Passagiere unterhielt. Er schaute in ihre Richtung, machte aber keine Anstalten, zu ihr zu kommen. Anna wandte den Blick ab, doch der Gedanke an seine ungewöhnlichen Augen ließ sie nicht los. Sie schaute erneut zu ihm.

In diesem Moment drehte er sich um und verschwand aus ihrem Blickfeld. Unglaublich, wie sehr er ihre Vorstellungskraft anregte und ihren ruhelosen Geist befeuerte. Nie zuvor hatte ein Mann so anziehend und zugleich so distanziert gewirkt. Obwohl sie ihm in gesellschaftlicher Hinsicht in allen Punkten unterlegen war, hatte er etwas an sich, das unschickliche, aber aufregende Gefühle in ihr erweckte. Sein Betragen ihr gegenüber glich nicht dem eines ungeschickten, tollpatschigen Jünglings, sondern dem eines erfahrenen und verwegenen Mannes. 

Kurz, für sie war er auf jede erdenkliche Weise unpassend.

2. KAPITEL

Das Schiff nahm seinen Platz im Konvoi ein und glitt unter einem azurblauen Himmel über das offene Meer. Möwen schwebten kreischend über dem Kielwasser, die Segel blähten sich im Wind über dem Schiff, während am Bug ein feiner Gischtnebel aufstieg. Anna spürte die Hitze der sengenden Sonne über sich und beugte sich über die Reling, während das Schiff leicht schlingernd durch die weiß gekrönten Wellen glitt.

Sie empfand eine tiefe Traurigkeit, als sie vom Deck aus die vertraute Küste Indiens entschwinden sah, während der schwer bewaffnete Konvoi hinaus aufs Arabische Meer segelte, einer ungewissen Zukunft entgegen. Als sie nach Indien gekommen war, war sie entzückt gewesen über die Lebendigkeit des Landes. Sie hatte Bombay und das Leben in der britischen Siedlung geliebt. Wie oft hatte sie ganze Nächte durchgetanzt!

Der Wind trug die vermengten Gerüche aus der Stadt herbei – Staub und die würzigen Speisen auf den Basaren, den Gestank der verrottenden Vegetation und den süßen Duft des Tempelbaums und des Jasmins. Hier, weit draußen auf dem Meer, sog sie sie ein letztes Mal ein.

Tränen brannten in ihren Augen. Sie hatte schon jetzt Heimweh nach Indien.

Eine Hand legte sich leicht auf ihre Schulter, und sie wirbelte herum.

„Oh, Lord Lancaster. Sie haben mich erschreckt.“

„William. Ich sagte doch, Sie sollen mich William nennen.“

„Ich vergaß.“

„Werfen Sie einen letzten Blick zurück?“ Er schaute in ihr Gesicht. „Vermissen Sie Indien bereits?“, fragte er und erriet den Grund für ihre niedergeschlagene Stimmung und die hängenden Schultern.

„Es scheint schon so weit weg zu sein“, räumte sie ein. Sie war nicht sicher, ob sie sein Mitgefühl wollte, gleichwohl fühlte sie sich davon getröstet. Seine Hand ruhte immer noch auf ihrer Schulter, und sie rührte sich leicht, damit er sie fortnahm. Der warme Griff verunsicherte sie, denn so fiel es ihr schwer, in ihm ihren Vormund zu sehen. „Wie kann das Blut zu einem Land gehören, obwohl man sich in einem anderen zu Hause fühlt?“

Er lehnte sich neben sie an die Reling. „Ich weiß es nicht, aber ich kenne viele Menschen, die ebenso empfinden. Aber das hier ist besser als die schwüle Hitze Bombays“, sagte er. „Sie werden das Meer in all seiner Schönheit und Wildheit sehen, bevor wir England erreichen. Die Luft ist frisch, was mir sehr recht ist.“

„Ich liebe es“, sagte Anna. Sie wandte den Blick von ihm ab und schaute auf Bombay, das noch hinter einer Dunstwolke zu sehen war. Das Bild wirkte wahrhaft magisch mit den goldenen Kuppeln, in denen sich die Sonnenstrahlen spiegelten. „Das Meer ist so schön, wenn es so ruhig ist wie jetzt. Aber ich fürchte, wenn wir das Kap erreichen, wird sich das ändern.“

„Das kann sein, es kann ziemlich rau werden.“

„Glauben Sie, dass Sie jemals nach Indien zurückkehren werden?“

„Ich bezweifle es“, sagte William. „Zu Hause warten Verpflichtungen auf mich.“

Anna hätte gerne mehr über diese Verpflichtungen erfahren, aber sie war klug genug, nicht danach zu fragen. Es ging sie nichts an, und sie glaubte nicht, dass es ihm gefallen würde, wenn sie nachfragte.

„Sie werden bemerkt haben, dass wir einen Trupp Soldaten an Bord haben“, sagte er und schaute einen jungen Soldaten streng an, der einen bewundernden Blick auf Anna warf. Sie hatte bereits einige solcher Blicke von den Soldaten erhalten. „Es wird schwierig werden, da wir alle auf diesem Schiff zusammengepfercht sind, aber ich muss Sie bitten, keinerlei Allianz mit einem von ihnen einzugehen.“

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