Romana Extra Band 107

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EIN SINNLICHER VERDACHT von TILDA MARKS
Die Münzsammlung im historischen Kaiserpalast von Split aus nächster Nähe zu sehen, ist ein Traum! Dass Mia dabei den attraktiven Mäzen Leonardo Horvat an ihrer Seite hat, macht das Erlebnis umso prickelnder. Bis sie erfährt, dass Leonardo ihr eine Falle gestellt hat …

KOMM ZURÜCK, MEU AMOR von CHARLOTTE HAWKES
Der englische Chirurg Dr. Jacob Cooper berührt etwas in Flavia, das sie längst verloren geglaubt hat. Tagsüber zeigt die Naturforscherin ihm den Dschungel, in den schwülen Nächten geben sie sich einander hin. Flavia hofft auf mehr, da reist Jacob überstürzt aus Brasilien ab …

DIE SEHNSUCHT DES GRIECHISCHEN MILLIONÄRS von LUCY MONROE
Zwei Jahre hat er Chloe nicht geküsst – viel zu schmerzlich ist die Sehnsucht nach ihr! Ein Liebesdeal mit Chloe soll Ariston Spiridakou die heiße Lust zurückbringen. Aber etwas fehlt ihm zu seinem Glück …

DIE ERBIN UND DER REBELL von ANDREA BOLTER
Als sie Kento nach sieben Jahren zum ersten Mal wiedersieht, lodert das Feuer der Leidenschaft heiß in Erin. Doch in den Augen ihrer Eltern ist Kento trotz seiner Millionen immer noch nicht gut genug. Wird ihre Liebe die Zerreißprobe dieses Mal bestehen?


  • Erscheinungstag 11.05.2021
  • Bandnummer 107
  • ISBN / Artikelnummer 9783751500234
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Tilda Marks, Charlotte Hawkes, Lucy Monroe, Andrea Bolter

ROMANA EXTRA BAND 107

TILDA MARKS

Ein sinnlicher Verdacht

Kann die bezaubernde Mia wirklich die gerissene Kunstdiebin sein, nach der er schon so lange sucht? Leonardo hat Zweifel, doch die Beweise sprechen gegen Mia. Auch wenn sein Gefühl ihm etwas anderes sagt …

CHARLOTTE HAWKES

Komm zurück, meu amor

Ein Vorfall im Regenwald macht Jacob Cooper klar, dass er die Romanze mit der forschen Flavia nicht vertiefen darf. Eilig reist er nach England ab. Eines lässt er jedoch in Brasilien zurück – sein Herz.

LUCY MONROE

Die Sehnsucht des griechischen Millionärs

Chloe konnte nie verwinden, dass Ariston sie nur aus Geschäftsgründen geheiratet hat. Nun, lange nach ihrer Trennung, braucht sie seine Hilfe – und soll dafür seinen sehnlichsten Wunsch erfüllen …

ANDREA BOLTER

Die Erbin und der Rebell

In der Geschäftswelt ist er der Rebell – doch ein Blick in die Augen seiner großen Liebe, und Kento Yamamoto wird ganz zahm. Kann er Erin mit einem romantischen Wochenende endlich für sich gewinnen?

1. KAPITEL

Mia Thompson hatte es die Sprache verschlagen. Sie stand steif und angespannt vor dem Ehrfurcht gebietenden, mit kunstvollen Intarsien versehenen Schreibtisch ihres Chefs und starrte ihn über die ausladende Arbeitsfläche hinweg an.

„Noch Fragen?“ George Hastings hob die buschigen grau melierten Augenbrauen, was sein eulenhaftes Aussehen unterstrich.

Mia schüttelte den Kopf.

Der Hauch eines Lächelns blitzte zwischen Hastings’ dichten und krausen Barthaaren hervor. „Gut, dann wäre ja alles geklärt. Ich verlasse mich auf Sie.“

Mia nickte und verabschiedete sich. Während sie die holzgetäfelte Bürotür hinter sich schloss, warf sie durch den schmaler werdenden Spalt einen letzten ungläubigen Blick auf die kauzige Gestalt hinter dem antiken Schreibtisch. Doch George Hastings schenkte ihr keine Beachtung mehr. Für ihn war alles gesagt, und er vertiefte sich in den Ausstellungskatalog für das nächste Jahr.

Mia dagegen konnte noch immer nicht fassen, was gerade passiert war. Sie wandte sich um und holte tief Luft. Ihre Mundwinkel zuckten. Ihr ganzer Körper kribbelte vor Aufregung.

Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich.

Noch war nicht der richtige Zeitpunkt, um vor ihren Kolleginnen und Kollegen in Jubel auszubrechen. Die würden auch so schon bald genug von ihrem Sonderauftrag erfahren – und ganz bestimmt alles andere als begeistert sein.

Seit anderthalb Jahren absolvierte Mia ein Volontariat in der Abteilung Griechische und Römische Antike am Britischen Museum in London. Damit stand sie in der Rangordnung nur eine Stufe über den Praktikanten. Dass Hastings ausgerechnet sie ausgewählt hatte, würde unweigerlich bissige Kommentare und Sticheleien nach sich ziehen. Die Stimmung unter den Kollegen war ohnehin angespannt. Kunsthistoriker waren auf dem Arbeitsmarkt kaum gefragt, der Personaletat knapp. Aber gerade eben hatte Mia das große Los gezogen.

Nur mit Mühe verkniff sie sich ein triumphierendes Grinsen, während sie das Großraumbüro durchquerte und an ihren Arbeitsplatz zurückkehrte. Sah jemand von seinem Bildschirm auf, nickte sie höflich und ging weiter. Zum Glück schien sich niemand darüber zu wundern, dass Hastings sie hatte sprechen wollen, und so setzte sie sich wie gewohnt an ihren Schreibtisch und öffnete die Datenbank mit den Ausstellungsstücken.

Ihre Arbeitstage waren in einen festen Rhythmus unterteilt. Am Vormittag saß sie drei Stunden vor dem Computer, die Nachmittage verbrachte sie allein in den Kellerräumen des Museums, wo über zehntausend Exponate aus der Römischen Antike lagerten. Weniger als ein Prozent davon fand einen Platz in den Besucherhallen des Museums. Der Rest wartete darauf, von Mia entstaubt und in das digitale Archiv aufgenommen zu werden.

In den ersten Wochen hatte ihr der Job sogar richtig gut gefallen. All die antiken Münzen, Amphoren, Mosaiken und Tafelbilder, die sie während ihres Studiums nur in Büchern bestaunen konnte, durfte sie nun anfassen, persönlich begutachten und anschließend katalogisieren. Doch ihre anfängliche Begeisterung war nach und nach in sich zusammengesackt wie ein auskühlender Heißluftballon. Das lag gar nicht einmal daran, dass das Magazin des Britischen Museums weit weniger spektakulär war, als sie angenommen hatte, und hauptsächlich mit Gegenständen des alltäglichen Gebrauchs bestückt war. Im Gegenteil. Mia liebte es, die Vergangenheit in ihrer Fantasie zum Leben zu erwecken und sich den Alltag der Menschen vorzustellen, die diese Dinge tagtäglich benutzt hatten. Was sie dagegen beinahe um den Verstand brachte, war die Eintönigkeit ihrer Arbeit. Zurzeit erfasste sie eine Serie von Schöpflöffeln aus Bronze. Und es gab davon Hunderte. Mia musste jeden Einzelnen untersuchen, den Zustand mit handschriftlich verfassten, zum Teil noch aus dem achtzehnten Jahrhundert stammenden Erstbeschreibungen vergleichen, jegliche Abweichungen notieren und den Text zusammen mit einem Foto in der neuen Datenbank ablegen.

Vielleicht ist damit bald Schluss, dachte Mia und lächelte dabei still vor sich hin. Dann suchte sie in ihren Notizen die Stelle heraus, an der sie vorhin ihre Arbeit unterbrochen hatte. Aber sie war immer noch so aufgewühlt von dem Gespräch mit Hastings, dass sie sich ständig vertippte. Ihre Gedanken schweiften ab, und auch ihr Blick wanderte beinahe im Sekundentakt zum unteren Bildschirmrand, wo sich die Zeitanzeige befand.

Elf Uhr.

In einer Stunde würde sie ihre Freundin Emily zum Lunch treffen. Mia konnte es kaum erwarten, ihr von den Neuigkeiten zu berichten!

Noch fünf Schöpfkellen, ermahnte sie sich, dann kannst du gehen.

Nach der Vierten schnappte sich Mia ihren Regenmantel und machte sich auf den Weg. Der Bürotrakt ihrer Abteilung befand sich im zweiten Stock eines Seitenflügels des Museums, und normalerweise nahm sie den Nebenausgang an der Montague Street. Doch heute drehte sie vorher noch eine Runde durch die Ausstellungshallen und inspizierte den kleinen Bereich, der vielleicht schon bald ihrer Verantwortung unterliegen würde. In ihrem Kopf entstanden sofort ein paar Ideen, wie man den Raum thematisch ein wenig spannender gestalten konnte. Aber sie durfte sich nicht in Träumereien verlieren. Noch nicht.

Mia eilte durch den Besucherausgang nach draußen. Seit Tagen hingen dunkle Wolken über London und durchtränkten die Stadt mit ihrem nasskalten Dunst. Sie zog die Kapuze über und vergrub die Hände in den Taschen. Aber selbst das schlechte Wetter konnte ihre Stimmung nicht trüben. Und jetzt, da sie nicht mehr den Blicken ihrer Kollegen ausgesetzt war, musste sie auch ihre Gefühle nicht mehr in Zaum halten. Bis über beide Ohren grinsend rannte sie fröhlich durch den sanften Sprühregen und erregte damit unweigerlich das Aufsehen der anderen Passanten, die verdrossen ihrer Wege gingen. Sogar die mürrische Betreiberin des Souvenirladens an der Ecke zur Bloomsbury Street sah ihr verwundert hinterher.

Einen Häuserblock weiter erreichte sie das „Teas & Tattle“, eine kleine Teestube mit bunten Holzstühlen und runden, wackligen Tischchen. Emily wartete bereits an ihrem Stammplatz. Mia winkte ihr durch die Fensterfront überschwänglich zu, und als sich ihre Blicke kreuzten, wurde ihr klar, dass sie mit dieser Geste einen Teil der Überraschung bereits verraten hatte. Zumindest schien ihre Freundin zu ahnen, dass etwas Außergewöhnliches passiert war.

„Du hast doch nicht etwa im Lotto gewonnen?“, rief Emily ihr zu, als sie das Lokal betrat.

Mia lachte. „Besser. Viel besser.“ Sie legte ihren Mantel ab und setzte sich.

„Ein schwerreicher Lord hat sich in dich verliebt und jetzt ziehst du zu ihm auf sein Schloss, wo ihr glücklich bis ans Ende eurer Tage lebt?“

„Nah dran“, sagte Mia und strich sich schmunzelnd eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Nur, dass das Schloss ein Palast ist, und der Lord ein römischer Kaiser.“

Emily runzelte die Stirn. „Stehst du jetzt auf Rollenspiele? Wo hast du die Idee nun wieder her?“

„Du hast mich doch immer ermuntert, mal was Neues auszuprobieren, aus mir rauszugehen“, sagte Mia und lockte ihre Freundin damit weiter auf eine falsche Fährte.

Emily schien den Köder zu schlucken. „Lass dich ja nicht mit irgendeinem Spinner aus dem Internet ein, der sich für Cäsar hält oder so was“, warnte sie und schüttelte dann verzweifelt den Kopf. „Du verbringst zu viel Zeit in diesem gruseligen Keller. Immer allein mit dem Hausrat von Leuten, die vor zweitausend Jahren gestorben sind, das kann auf Dauer nicht gesund sein.“

„Keine Angst“, sagte Mia und grinste breit. „Damit ist vielleicht bald Schluss.“

Emilys Augen blitzten neugierig auf. „Der Kaiser ist also echt?“

„Oh ja. Genau wie sein Palast.“

Die Bedienung kam an den Tisch und Emily gab ihre Bestellung auf: ein klassisches Teegedeck für zwei. Schwarzer Tee mit einer Auswahl an Sandwiches, Scones und kleinen Kuchenstückchen.

„Heißt das etwa, du wirst befördert?“, fragte Emily. „Das ist ja unglaublich!“

Mia strahlte. „Ich wäre fast aus allen Wolken gefallen, als der alte Hastings mir das Angebot gemacht hat. Aber es gibt einen Haken.“

„Erzähl.“

„Ich fliege übermorgen nach Split. Dort wird eine Ausstellung mit antiken Münzen eröffnet. Meine Aufgabe ist es, den Veranstalter davon zu überzeugen, dass er seine Sammlung als Leihgabe an das Britische Museum übergibt. Wenn ich das schaffe, werden all meine Träume wahr und bei meiner Rückkehr wartet eine feste Stelle mitsamt einem eigenen Forschungsgebiet auf mich.“

„Split?“, fragte Emily. „Das liegt doch in Kroatien.“

„Ja, aber Diokletian, ein römischer Kaiser aus dem dritten Jahrhundert nach Christus, hat sich dort einen Palast als Alterswohnsitz bauen lassen.“

„Wie bescheiden.“

„Er hat eben das Meer und die Sonne geliebt.“ Mia zwinkerte ihrer Freundin zu. „Genau wie ich.“

Emily warf wehmütig einen Blick auf das nasskalte Wetter draußen. „Am liebsten würde ich mitkommen.“

„Hey, das wird kein Urlaub“, sagte Mia. „Es geht immerhin um meine Zukunft!“

„Was sind das für Münzen, die du für Hastings unbedingt nach London holen sollst?“

„So genau weiß ich das noch nicht. Das Archäologenteam einer privaten Stiftung hat sie erst kürzlich bei einer Grabungsstätte in Split gefunden. Angeblich eine bisher unbekannte Sonderprägung zu Ehren von Diokletian. Der Fund gilt unter Fachleuten als Sensation. Am Donnerstag werden sie im Museumspalast das erste Mal der Öffentlichkeit präsentiert.“

Emily grinste. „Und du bist mit dabei.“

„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie aufgeregt ich bin!“ Mias Augen leuchteten begeistert. „Kunsthistoriker und Archäologen aus der ganzen Welt reisen an.“

„Das bedeutet aber auch jede Menge Konkurrenz“, gab Emily zu bedenken. „Du wirst bestimmt nicht die Einzige sein, die auf eine Leihgabe scharf ist.“

Darüber hatte sich Mia auch schon Gedanken gemacht. „Stimmt“, sagte sie. „Aber das Britische Museum genießt einen hervorragenden Ruf und zieht Besucher aus der ganzen Welt an. Das sollte mir einen Vorteil verschaffen.“

Die Bedienung brachte den Tee und stellte eine dreistöckige Etagere mit dem Gebäck auf den Tisch. Emily gab Zucker und Milch in ihren Schwarztee, rührte kurz um und lehnte sich dann zurück. „Also gibt es im Grunde gar keinen Haken. Du fliegst da hin, machst alles klar und deine Zeiten als Kellerassel sind ein für alle Mal vorbei.“ Sie prostete Mia mit der Teetasse zu. „Wir hätten Champagner bestellen sollen.“

„Damit warten wir lieber, bis ich zurück bin“, sagte Mia zögerlich und nahm sich eines der Gurkensandwiches. „Eine Sache gibt mir nämlich noch zu denken.“

„Und die wäre?“

„Der Diokletianpalast ist zwar eine öffentliche Einrichtung, mit der das Britische Museum schon öfter kooperiert hat. Aber die Münzen befinden sich offiziell im Besitz dieser privaten Stiftung.“

Emily schnitt ein Scone in zwei Hälften, bestrich beide Hälften mit Clotted Cream, einem dicken süßlichen Rahm, und gab anschließend einen Klecks Erdbeermarmelade darauf. „Ist das ein Problem?“

„Könnte sein“, sagte Mia. „Hastings hat gemeint, ich soll unbedingt nur mit dem Inhaber der Stiftung persönlich verhandeln. Und das ist eher ungewöhnlich.“

„Vielleicht kannst du das ja zu deinem Vorteil nutzen. Diese Sammlertypen sind doch in der Regel alt und eigenbrötlerisch. Du dagegen bist jung, intelligent und eine leidenschaftliche Kunsthistorikerin. Lass einfach deinen Charme spielen. Tausch die Hornbrille gegen Kontaktlinsen, klimpere zur rechten Zeit ein paarmal mit den Wimpern, und schon hast du den Kerl verzaubert.“

Mia seufzte verdrießlich. „Du weißt ganz genau, dass ich das bei meiner Vorgeschichte auf keinen Fall tun sollte.“

„Fängst du jetzt wieder mit diesem Fluch an?“ Emily verdrehte die Augen und schob sich den letzten Happen ihres Scones in den Mund.

„Vielleicht ist es auch genetisch bedingt. Meiner Mutter ist es genauso ergangen. Wann immer sie sich mit einem Mann eingelassen hat, hat sie den Kürzeren gezogen. Und über meinen Vater verliert sie kein einziges Wort. Ich weiß bis heute nicht, wer er ist.“

Emily wischte sich die Finger mit der Serviette ab und griff nach Mias Hand. „Du hattest einfach nur Pech. Glaub mir, du findest schon noch den Richtigen.“

Mia seufzte. Warum drehte sich bei Emily eigentlich immer alles um Männer, Sex oder Liebe? Das musste so ein Karma-Ding sein. Als Ausgleich dafür, dass sie selbst um diese Themen einen weiten Bogen machte – und zwar aus gutem Grund.

„Das habe ich nach Jake und Finley auch gedacht“, sagte Mia bitter. „Und dann kam Colin.“

Doch Emily musste in allem das Positive sehen. „Ohne Colin wärst du jetzt nicht hier in London und wir hätten uns nie kennengelernt.“

„Das stimmt. Aber ohne Colin wäre ich auch nicht um ein Haar von der Uni geflogen und könnte jetzt in Oxford meinen Doktor machen.“ Mia trank einen Schluck Tee und stellte ihre Tasse klirrend zurück auf den Unterteller. „Das ist mehr als Pech. Das ist Schicksal.“

Ihre Worte klangen so scharf, dass Emily leicht zusammenzuckte und sich entschuldigte. „Tut mir leid“, sagte sie. „Ich hätte nicht damit anfangen sollen.“

„Schon gut“, sagte Mia. „Ich weiß ja, dass du es nur gut meinst. Aber ich will das einfach nicht vermasseln, verstehst du? Das ist eine einmalige Chance.“

Emily nickte verständnisvoll. „Wem gehört diese Stiftung denn?“

Mia war erleichtert, dass ihre Freundin das Gespräch zurück auf ihren Auftrag in Split lenkte. Sie wollte nicht ständig daran erinnert werden, dass ihr Leben jedes Mal um eine negative Erfahrung reicher geworden war, wenn sie sich in jemanden verliebt hatte. Man konnte es einen Fluch, Pech oder Schicksal nennen, egal, aber wann immer die Schmetterlinge in ihrem Bauch zu flattern begannen, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis ihr Flügelschlag einen Wirbelsturm auslöste, der Mia ins Unglück stürzte. Und zwar immer tiefer, von Mal zu Mal.

Mia verscheuchte die trübsinnigen Gedanken mit dem Stück Kirschkuchen, das ganz oben auf der Etagere lag. „Einem Unternehmer“, sagte sie und biss in die herrlich süße und fruchtige Schnitte. „Er heißt Leonardo Horvat.“

„Von Horvat Enterprises?“ Emily riss die Augen auf.

„Ja, ich glaube schon. Hastings hat die Firma auch erwähnt. Warum?“

„Du verbringst wirklich zu viel Zeit mit deinen alten Römern.“ Emily schüttelte den Kopf. „Jeder kennt Horvat Enterprises. Das ist eines der größten Handelsunternehmen in Europa mit einem Umsatz in Milliardenhöhe und …“ Sie brach den Satz abrupt ab.

„Was ist?“, fragte Mia.

„Hast du ihn schon im Internet gesucht?“

„Wen?“

„Leonardo Horvat.“

„Nein, natürlich nicht“, sagte Mia und nahm einen weiteren Bissen. „Ich wollte mich zuerst mit dem kunstgeschichtlichen Hintergrund auseinandersetzen.“

Emily holte ihr Smartphone aus der Tasche, tippte darauf herum und reichte es dann über den Tisch.

Mia rückte ihre Brille zurecht, warf einen Blick auf das Display und hätte sich beinahe verschluckt. „Das ist Leonardo Horvat?“

Emily nickte. „Ein Boulevardblatt hat ihn kürzlich zum Sexiest CEO Alive gekürt.“

Mia atmete beinahe erleichtert auf. „Dann hat jemand wie ich wohl kaum eine Chance, ihn zu verzaubern, egal wie heftig ich mit den Wimpern klimpere.“

„Wer weiß“, sagte Emily nur nachdenklich.

Die nächsten achtundvierzig Stunden zogen an Mia vorüber wie im Schnelldurchlauf. Tagsüber arbeitete sie im Museum, abends frischte sie ihr Wissen über die Kaiserzeit des Diokletian auf. Sie las alles, was sie über ihn und seinen Palast an der adriatischen Küste in der kurzen Zeit in Erfahrung bringen konnte, und legte eine Liste mit Argumenten an, warum das Britische Museum der ideale Ort war, um die neu entdeckte Münzsammlung einem breiten Publikum zugänglich zu machen.

Erst als sie am Donnerstag um zehn vor elf in das Flugzeug stieg, fiel die Anspannung von ihr ab. Als hätte jemand auf Pause gedrückt. Auf einmal hatte sie nichts mehr zu tun oder zu lesen. Sie saß einfach nur da und wartete auf den Abflug. Man hatte ihr einen Fensterplatz zugewiesen, und Mia blickte verträumt auf das Rollfeld. Am Himmel hingen graue Wolken, und sie freute sich auf die warme Sonne und das Meer.

Wenige Minuten später rollte die Maschine auf die Startbahn. Die Schubkraft der Turbinen drückte Mia in den Sitz, und als der Flieger die Nase hob und in die Wolken aufstieg, kitzelte es in ihrem Bauch wie bei einer Achterbahnfahrt. Erst als sie die Reiseflughöhe erreichten, glitten sie sanft durch die Luft, und das sonore Brummen der Triebwerke machte Mia schläfrig. Aber das mulmige Gefühl in ihrer Magengegend blieb. Beinahe wie ein schlechtes Gewissen, so wie früher in der Schule, wenn sie sich mal nicht für den Unterricht vorbereitet hatte. Und Mia spürte intuitiv, dass dieser Vergleich mehr als treffend war. Denn bei der Recherche für ihren Auftrag hatte sie eine Sache außer Acht gelassen. Seit ihrem Treffen mit Emily hatte sie es strikt vermieden, sich näher über Leonardo Horvat und seine Stiftung zu informieren.

Hoffentlich war das kein Fehler, dachte sie und schloss die Augen, wie um den Gedanken auszublenden.

Nach etwa zwei Stunden ging die Maschine in den Sinkflug, und der Pilot kündigte die Landung an. Die Umrisse von Dutzenden kleinen und größeren Inseln zeichneten sich immer deutlicher im kristallblauen Meer ab. Einige sahen karg und steinig aus, wie die Oberfläche des Mondes. Andere schienen dicht bewaldet, mit schroff gezackten, felsigen Küstenlinien, die sich wie eine weiße Kontur um die schwimmenden Landmassen legten.

Mia hatte in einem Reiseführer über die vielen Inseln in Kroatien gelesen und wünschte sich für einen winzigen Moment, sie würde einfach nur Urlaub machen. Aber als sie nach der Gepäckausgabe die Ankunftshalle verließ, ahnte sie, dass sie gerade der größten Herausforderung ihres Lebens entgegensteuerte.

Mia hatte nicht damit gerechnet, dass jemand sie abholen kam. Sie folgte den anderen Passagieren Richtung Ausgang und entdeckte plötzlich in der Menge ein Schild mit ihrem Namen darauf. Verwundert hob sie den Blick und blieb dann abrupt stehen.

Das kann nicht sein, dachte sie und starrte den Mann mit dem Begrüßungsschild an.

Aber es gab keinen Zweifel. Vor ihr stand Leonardo Horvat persönlich. Und er sah im echten Leben sogar noch besser aus als auf dem Foto, das Emily ihr gezeigt hatte. Groß und schlank, mit breiten Schultern, die fast ein wenig zu muskulös waren für den eng geschnittenen Leinenanzug, den er trug. Sein dichtes schwarzes Haar war leicht gelockt, sein Teint makellos und von der Mittelmeersonne sanft gebräunt. Seine ozeanblauen Augen schlugen sie sofort in ihren Bann.

„Miss Thompson?“, fragte er und schritt lächelnd auf Mia zu.

Er musste ihren verdutzten Blick richtig gedeutet haben. Mia wollte sich gar nicht vorstellen, was für ein Gesicht sie gerade machte. Sie nickte ihm wortlos zu. Ihre Wangen wurden dabei ganz heiß.

„Willkommen in Split“, sagte Leonardo Horvat und streckte ihr die Hand entgegen.

Seine Stimme klang tief und fest, ohne aufdringlich zu wirken. Mia hörte kaum einen Akzent heraus. Aber vielleicht hatte sie einfach nur nicht richtig aufgepasst. Denn als sich seine Finger mit einem sanften, aber entschlossenen Druck um ihren Handrücken legten und sie dieses ganz spezielle Kribbeln im Bauch spürte, beschleunigte sich ihr Puls, und die warnenden Worte ihrer Mutter schossen ihr plötzlich durch den Kopf.

„Wenn sie reich, sexy und smart sind“, hatte sie immer zu ihr gesagt, „dann halt dich fern von ihnen. Solche Männer bringen Frauen wie uns nur Unglück.“

Doch dazu war es jetzt zu spät. Sie würde auf keinen Fall wieder in den Flieger steigen und zurück nach London fliegen. Das Schicksal forderte Mia heraus. Und sie würde sich der Herausforderung stellen.

2. KAPITEL

Leonardo nahm Mia das Gepäck ab und führte sie zum Wagen. Sein Fahrer Josip, ein drahtiger Kroate in den Sechzigern mit rundem Gesicht und grauem Bürstenschnitt, parkte direkt vor dem Terminal. Als er sie kommen sah, schnippte er augenblicklich die Zigarette weg, eilte ihnen entgegen und verstaute Mias Trolley im Kofferraum der Limousine. Doch so diensteifrig sich Josip auch gab, Leonardo hatte sehr wohl den kurzen Moment des Zögerns bemerkt. Wahrscheinlich konnte er einfach nicht glauben, was sich da vor seinen Augen abspielte. Für den Angestellten der alten Schule schien es ein Ding der Unmöglichkeit zu sein, dass sein Chef sich höchstpersönlich dazu herabließ, eine bloße Volontärin am Flughafen abzuholen. Bestimmt würde er heute Abend kopfschüttelnd seiner Frau davon erzählen und über den Verfall der guten Sitten klagen.

Doch Leonardo scherte sich nicht um Konventionen. Kein erfolgreicher Geschäftsmann tat das. Wer innovativ sein wollte, durfte nicht in althergebrachten Mustern denken. Man musste seinen Geist von jeglichen Fesseln befreien und wissen, welche Regel es wann zu brechen galt, und vor allem zu welchem Preis. Falls seine Informationen über die junge Kunsthistorikerin aus London richtig waren, konnte der Preis gar nicht hoch genug sein, um einen unverstellten ersten Eindruck von Mia Thompson zu gewinnen.

Leonardo öffnete die Tür für sie und verstieß damit mit Sicherheit ein weiteres Mal gegen die strenge Etikette seines Fahrers.

„Bitte, nehmen Sie den Platz auf der rechten Seite“, bot er zuvorkommend an. Der Fond der Limousine war mit einem Executive Lounge Paket ausgestattet. Der Sitz hinter dem Beifahrer hatte einen erweiterten Fußraum, eine Massagefunktion und eine ausklappbare Tischkonsole mit integrierten Anschlüssen für seinen Laptop. „Von hier aus haben Sie während der Fahrt einen wunderbaren Blick auf die Stadt und das Meer.“

Mia lächelte. „Vielen Dank. Das ist sehr nett von Ihnen.“

Nein, dachte Leonardo und lächelte ihr dabei charmant zu. Das ist Taktik.

Er war schon immer ein leidenschaftlicher Stratege gewesen. Wie beim Schach plante er alles ein paar Züge im Voraus. Brachte die Figuren in Stellung, auch die gegnerischen. Dass er ihr seinen Platz überließ, erfüllte einen ganz bestimmten Zweck. Denn während Mia Thompson die Aussicht genoss, konnte er sich in aller Ruhe ein Bild von ihr machen und ihre Körpersprache deuten. Nur deshalb hatte er sie ja auch persönlich am Flughafen abgeholt.

Leonardo stieg auf der anderen Seite ein und wies Josip an, loszufahren. Auf der Küstenstraße ließ Mia wie erwartet den Blick über die Bucht schweifen. Die einfallende Nachmittagssonne kitzelte dabei den zarten Rotschimmer ihres karamellblonden Haars heraus. Leonardo gefielen die sanften Locken, die in dichten Wellen locker über ihre Schultern fielen. Die Frisur setzte dem ansonsten eher zurückhaltenden Auftreten der jungen Frau einen sinnlich verwegenen Akzent entgegen. Unter der anthrazitfarbenen Stoffhose, der weißen Bluse und dem schlichten Blazer musste sich ein leidenschaftlicher Charakter verbergen. Und das passte so gar nicht zu der Person, mit der er gerechnet hatte. Wenn seine Erkundigungen über Mia Thompson wirklich zutrafen, dann hatte sie ihm das Wichtigste in seinem Leben genommen. Aber jetzt, wo er neben ihr saß, war er sich nicht mehr sicher, ob er der richtigen Spur folgte.

„Ein schöner Ausblick, nicht wahr?“, sagte Leonardo nach ein paar Minuten des Schweigens und musste unweigerlich schmunzeln, als er den doppelten Sinn seiner Worte erkannte. Denn sosehr er sich auch dagegen wehrte, er fand diese Frau äußerst attraktiv. Auch wenn ihre Brille für seinen Geschmack ein wenig überdimensioniert war.

Mia nickte. „Es ist herrlich! Besonders die Farben. So hell und freundlich. Das Meer glitzert türkis wie in der Karibik. Ganz anders als der schwarzblaue Atlantik bei uns zu Hause.“

„Ja, in England scheint alles ein paar Nuancen dunkler zu sein. Selbst der Humor.“

„Das stimmt.“ Mia lachte. Dann strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht und wandte sich ihm zu. „Sie scheinen das Land ja gut zu kennen. Sind Sie oft in England unterwegs?“

„Geschäftlich, ja. Privat leider nur noch selten“, sagte Leonardo, und sein Blick folgte unbewusst der Bewegung ihrer Hand. Vorhin hatte sie einen festen Händedruck gehabt, und er konnte noch immer die Wärme ihrer Berührung spüren. „Aber ich erinnere mich gern zurück an meine Studienjahre an der London School of Economics. Es war eine gute Zeit. Trotz des miserablen Wetters.“

„Man gewöhnt sich daran“, sagte Mia und ihr Blick wanderte wieder nach draußen. „Aber wenn ich die Wahl hätte, würde ich gerne mit dem Klima hier tauschen. Allein schon wegen des Lichts.“

„Sind Sie zum ersten Mal in Kroatien?“, fragte Leonardo und achtete dabei genau auf Mias Reaktion. Lügen war eine Kunst, die nur wenige Menschen bis zur Vollkommenheit beherrschten. Ein kurzer Blick nach oben, eine scheinbar beiläufige Bewegung mit der Hand, ein unsicheres Lächeln – es gab so viele unbewusste Gesten, mit denen man sich verraten konnte. Und Leonardo war für gewöhnlich sehr geschickt darin, diese Zeichen zu entschlüsseln.

„Ja.“ Mias Antwort kam ohne Zögern. Sie schaute ihn an. Ein leichter Glanz schimmerte in ihren grünen Augen. „Und ich freue mich schon darauf, die Stadt und das Land ein wenig zu erkunden. Zum Glück liegt ja zwischen der Vernissage heute Abend und der Fachtagung am Montag ein ganzes Wochenende.“

Leonardo lächelte. Als Kurator der Ausstellung hatte er den Zeitplan nicht zufällig festgelegt, sondern damit natürlich eigene Ziele verfolgt. Aber dass Mia so offen und aufrichtig reagiert hatte, schürte weitere Zweifel. Denn die Lösung des Rätsels, der er so nah zu sein glaubte, rückte damit wieder ein Stück von ihm weg. Trotzdem blieb ihm nichts anderes übrig, als an seinem Plan festzuhalten und den nächsten Zug zu machen.

„In Split gibt es viel zu entdecken. Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen morgen die Stadt“, schlug Leonardo vor. Ihm entging nicht, dass dabei ein Schatten über Mias Gesicht huschte.

„Sie haben doch bestimmt Wichtigeres zu tun. Immerhin steht die Ausstellungseröffnung kurz bevor“, sagte sie und wich seinem Blick aus. „Ich will Ihnen keine Umstände machen.“

Seltsam, dachte Leonardo. Er hatte etwas mehr Begeisterung erwartet. Stattdessen schien die junge Kunsthistorikerin auf Distanz zu gehen. Aber als Geschäftsführer eines Handelsimperiums war Leonardo daran gewöhnt, Gespräche wie ein Dirigent zu orchestrieren, und wenn es nötig war, das Spiel auch auf Umwegen in die gewünschte Richtung zu lenken.

„Wissen Sie, was ich mich während meiner Studienzeit in London immer wieder gefragt habe?“, sagte er und schlug einen leicht ironischen Tonfall an.

Mia stutzte. Aber sie wandte sich ihm erwartungsgemäß zu und sah ihn neugierig an.

Leonardo lächelte. „Warum Engländer nie einfach nur mit Ja oder Nein antworten können“, fuhr er scherzhaft fort. Er wollte ja auf keinen Fall vorwurfsvoll klingen, sondern eher amüsiert, um die Stimmung ein wenig aufzulockern.

„Aus Höflichkeit“, sagte Mia und lachte. „Aber ich muss zugeben, die feine englische Art kann manchmal ganz schön anstrengend sein. Bei all den Zwischentönen entsteht definitiv zu viel Raum für Missverständnisse.“

„Und die wiederum bilden den Nährboden für den speziellen britischen Humor.“

„Wie es scheint, haben Sie uns durchschaut.“

„Nicht ganz“, sagte er und senkte dabei die Stimme. „Oder war das vorhin ein Ja?“

Mia zog die Augenbrauen hoch.

Leonardo sah sie eindringlich an. „Die Stadtführung?“

Eine Sekunde lang zögerte sie. „Wenn es Ihnen wirklich nichts ausmacht, sehr gern.“

„Ein einfaches Ja hätte mir genügt“, sagte Leonardo schmunzelnd und registrierte mit Genugtuung das amüsierte Funkeln in Mias Augen.

Mittlerweile hatten sie das Zentrum von Split erreicht, und Josip hielt vor einem modernen Bürogebäude zwischen Altstadt und Hafen.

„Hier befinden sich mein Handelsbüro und die Stiftung“, sagte Leonardo. „Ich muss für heute Abend noch ein paar Vorbereitungen treffen. Mein Fahrer Josip bringt Sie ins Hotel. Ruhen Sie sich ein wenig aus. Wir sehen uns dann im Palast. Die Vernissage beginnt um sieben – seien Sie pünktlich.“

Er stieg aus dem Wagen, ohne sich zu verabschieden. Auf dem Weg zum Eingang widerstand er dem Impuls, sich noch einmal umzudrehen, und begab sich stattdessen zügig in sein Büro in der obersten Etage. Für einen Moment war er versucht, sich einen Travarica einzuschenken. Aber er brauchte einen klaren Kopf, und der kroatische Kräuterbranntwein vernebelte zu schnell die Sinne.

Um sich zu sammeln, ließ Leonardo den Blick aus dem Fenster über die Altstadt schweifen. Zur Linken befanden sich der Hafen und das Meer. Daran angrenzend lag die breite Uferpromenade, wo Touristen und Einheimische entlangschlenderten oder in einem der zahlreichen Cafés ein kühles Bier oder ein Glas Weißwein genossen. Und wenn er von seinem Schreibtisch aufsah, blickte er genau auf die monumentale Wehrmauer des Palasts und die Porta Meridionalis, das im Vergleich zur restlichen Anlage eher unscheinbare Bronzene Tor.

Doch was zu Diokletians Zeiten als Notausgang zum Meer gedacht war, diente heute aufgrund der Nähe zur Promenade als Haupteingang und Treffpunkt für Stadtführungen. Die Palastanlage selbst war von hier aus kaum einsehbar. Nur der Glockenturm der Kathedrale Sveti Duje sowie ein Teil der dazugehörigen Domkuppel, die man im Mittelalter auf dem Mausoleum des römischen Kaisers errichtet hatte, ragten deutlich über den Schutzwall heraus.

Die Aussicht hatte für gewöhnlich eine beruhigende Wirkung auf Leonardo. Er stellte sich dabei gerne Szenen aus Diokletians Leben vor und schöpfte daraus Kraft und Inspiration. Wie Leonardo war der römische Kaiser ein gebürtiger Kroate. Ein Emporkömmling, der es mit Disziplin und Verstand an die Spitze eines Imperiums geschafft hatte.

Auch Leonardo war aus seiner Heimat fortgezogen und hatte von Rom und England aus die Handelswelt erobert. Doch niemand würde es wagen, ihn als Emporkömmling zu bezeichnen. Heute verwendete man dafür ohnehin eher den Begriff Self-Made-Millionär. Aber Leonardo bildete sich darauf nicht viel ein. Er war Realist. Deshalb betrachtete er den Kaiserpalast immer auch als ein Mahnmal für die Vergänglichkeit. Jedes Weltreich war früher oder später dem Untergang geweiht. So war nun mal der Lauf der Geschichte.

Das Schicksal nahm keine Rücksicht auf den Einzelnen. Diese Lektion hatte Leonardo früh lernen müssen. Genauso wie er gelernt hatte, nach den traumatischen Erlebnissen in seiner Jugend mit der Vergangenheit abzuschließen und sein Herz vor den Erschütterungen, die das Leben bereithielt, ein für alle Mal zu verschließen.

Daran würde auch Mia Thompson nichts ändern. Leonardo schloss das Aktenfach in seinem Schreibtisch auf, holte das Dossier über die junge Kunsthistorikerin heraus und blätterte unschlüssig darin herum. Entweder ist diese Frau eine Meisterin der Täuschung oder das alles war ein großer Irrtum, dachte er. Schließlich rief er seine Assistentin Ivanka Tetzlaff zu sich.

„Ist das neue Alarmsystem einsatzbereit?“, fragte er ohne Umschweife.

Ivanka nickte. „Ja. Gerade eben kam der Anruf. Die Sicherheitsfirma hat alle Infrarotsensoren und Lichtschranken in den Ausstellungsräumen auf Ihren Wunsch ein weiteres Mal getestet. Die Anlage ist absolut einbruchssicher.“

Das bezweifelte Leonardo. „Jedes System hat einen Schwachpunkt.“

Seine Assistentin deutete auf die Akte vor ihm. „Sie wird ihn nicht finden.“

Leonardo sah auf die Akte. Die aufgeschlagene Seite zeigte ein Foto von Mia. Ivanka schien sich ihrer Sache sicher. Sie arbeitete jetzt seit zwei Jahren für ihn und führte in seiner Abwesenheit alle Geschäfte der Stiftung für antike Kunst und Kultur in Split. Bisher hatte sie ihn kein einziges Mal enttäuscht. Doch diesmal teilte er ihre Einschätzung nicht.

„Ich weiß, dass ich mich auf Sie verlassen kann“, sagte Leonardo und tippte mit dem rechten Zeigefinger auf die Unterlagen vor ihm, „aber gilt das auch für Ihre Quellen?“

Ivanka hatte ihm das Dossier über Mia Thompson vor zwei Tagen überreicht, und Leonardo zweifelte keine Sekunde daran, dass sie es mit größter Sorgfalt zusammengestellt hatte. Aber seine anfängliche Begeisterung über die neuen Erkenntnisse war schon bald erloschen. Und jetzt, da er die junge Kunsthistorikerin persönlich kennengelernt hatte, waren seine Bedenken noch stärker geworden. Andererseits war diese Mia vielleicht einfach nur sehr geschickt darin, ihn zu täuschen. Schließlich war er noch nie zuvor einer Meisterdiebin begegnet.

„Die Indizienlage spricht für sich“, sagte Ivanka und klang nach wie vor überzeugt von der Einschätzung ihrer Informanten. „Aber stichfeste Beweise gibt es natürlich nicht. Sonst hätte Scotland Yard sie längst verhaftet.“

„Sie wirkt so unverstellt.“

„Sie ist eine Blenderin. Selbst die Professoren in Oxford haben sich von ihr täuschen lassen.“

Leonardo suchte die entsprechende Stelle in den Unterlagen. „Oder ihr Ex-Freund, dieser Colin, hat sie reingelegt.“

Ivanka ließ sich nicht beirren. „Colin sitzt in Oxford und schreibt an seiner Doktorarbeit. Mia Thompson dagegen ist hier in Split, um einen Blick auf Ihre Münzen zu werfen.“

„Wie alle anderen Gäste auch.“

„Sie kennen die Liste. Alles renommierte Forscher oder Sammler. Ich habe jeden doppelt und dreifach überprüft. Keiner davon kommt ernsthaft in Betracht.“

Im Grunde stimmte er seiner Assistentin zu. Trotzdem blieb Leonardo weiterhin skeptisch.

„Miss Thompson behauptet, sie sei zum ersten Mal in Kroatien.“

„Das hätte ich an ihrer Stelle auch gesagt.“ Ivanka lächelte vielsagend. „Ich bin sicher, es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir einen Beweis finden.“

„Also gut. Bleiben Sie an der Sache dran. Bis dahin machen wir weiter wie geplant. Der Sicherheitsdienst kann die Münzen jetzt in den Palast bringen.“

Ivanka nickte und ging zurück an die Arbeit. Leonardo warf einen Blick auf die Uhr. Noch zwei Stunden bis zur Eröffnung.

Mit einem Schalter an seinem Schreibtisch verriegelte er die Tür zu seinem Büro. In der Regalwand hinter ihm befand sich ein versteckter Durchgang, der zu seinen Privaträumen führte. Er bewohnte zwar dauerhaft eine Suite in demselben Hotel, in dem er Mia untergebracht hatte, aber er schätzte den Luxus, sich auch tagsüber spontan zurückziehen zu können, eine Partie Schach gegen den Computer zu spielen oder sich vor einem Geschäftsessen in aller Ruhe frisch zu machen. Deshalb hatte er die oberste Etage mit einem Fitnessraum, einem Studierzimmer, einem begehbaren Kleiderschrank und einem Bad ausstatten lassen. Sein Büro war im Grunde eine Penthouse-Wohnung.

Leonardo wollte heute Abend in Topform sein. Auch körperlich. Auf dem Laufband mit Blick aufs Meer stürzte er sich in ein High-Intensity-Intervalltraining. Er liebte diese kurzen Einheiten, in denen er seinen Körper an die Grenze brachte und dabei seine ganze Kraft spürte. Und seine sportliche Figur wussten die meisten Frauen ebenfalls zu schätzen. Zwar bezweifelte er, dass ein flacher Bauch ausreichte, um Mia zu beeindrucken, aber schließlich hatte er ja noch mehr zu bieten. Sein eigenes Herz mochte kalt sein wie Stahl. Doch er wusste, wie er das einer Frau zum Schmelzen brachte. Und im Moment schien das die beste Option, um das Geheimnis um Mia Thompson zu entschlüsseln.

3. KAPITEL

Mia drehte sich vor dem Spiegel in ihrem Hotelzimmer um die eigene Achse und zupfte dann ein paar Fussel von ihrem schwarzen Abendkleid. Sie hatte es vor zwei Jahren in einem Secondhandladen gekauft und bisher nur ein einziges Mal getragen: bei ihrer Abschlussfeier am College. Aber es saß immer noch perfekt und stand ihr ausgezeichnet. Ihr gefiel die schlichte Eleganz. Hochgeschlossen, halblange Ärmel, der Saum bis über die Knie.

Trotzdem linste sie beinahe wehmütig hinüber zu ihrem Hosenanzug. Damit würde sie verschlossen und unscheinbar wirken. Man konnte sich darin verstecken wie eine Schnecke in ihrem Haus. In dem Kleid dagegen fühlte sie sich, als wäre stets ein Scheinwerfer auf sie gerichtet. Eigentlich hatte sie es gar nicht mitnehmen wollen. Aber Emily, die am Abend zuvor unangemeldet bei ihr aufgetaucht war, um ihr eine gute Reise zu wünschen, hatte nach einer kurzen Inspektion ihres Koffers darauf bestanden.

„Eine Vernissage ist kein Business-Meeting“, hatte sie gesagt. „Wenn du einen auf bieder machst, wird niemand ungezwungen mit dir plaudern. Willst du mit den Leuten ins Gespräch kommen, dann zieh das Kleid an.“

Damit hatte ihre Freundin einen wunden Punkt getroffen. Nichts war für Mia schrecklicher als die Vorstellung, den ganzen Abend allein herumzustehen und sich an ein Glas Sekt zu klammern. Es fiel ihr ohnehin schwer, bei solchen Veranstaltungen aus sich herauszugehen. Also hatte sie das Kleid eingepackt und auf Emilys Drängen hin noch eine Packung Einwegkontaktlinsen besorgt.

Mia warf einen letzten prüfenden Blick auf ihr Outfit. Sie kam sich vor wie nach einer Verwandlung. Als würde sie ein Kostüm tragen. Aber vielleicht war das ja genau das, was sie brauchte? Vielleicht würde es ihr so leichter fallen, in ihre neue Rolle zu finden. In den kommenden Tagen war sie nicht mehr die Volontärin, die ihre Tage mit dröger Archivarbeit verbrachte, sondern eine offizielle Repräsentantin des Britischen Museums. Und sie hatte einen Auftrag zu erfüllen. Warum also nicht das passende Outfit tragen?

Als sie wenige Minuten später das Hotel verließ, schlug ihr die milde mediterrane Luft entgegen. Selbst in den schmalen, schattigen Gassen der Altstadt war es angenehm warm, und Mia wollte den kurzen Spaziergang nutzen, um ihre Gedanken zu sammeln. Denn die kreisten seit ihrer Ankunft in Split viel zu häufig um Leonardo Horvat. Warum hatte er sie persönlich vom Flughafen abgeholt? Woher wusste er überhaupt, dass sie genau diese Maschine genommen hatte? Und wieso schien er sich für sie zu interessieren und wollte ihr unbedingt die Stadt zeigen?

All diese Fragen wühlten sie dermaßen auf, dass sie einen kleinen Umweg einschlug, um noch eine Weile ihren Gedanken nachzuhängen. Wäre da nicht ihre Vorgeschichte, hätte sich Mia über diese Fügung des Schicksals sicherlich gefreut. Schließlich hing der weitere Verlauf ihrer Karriere von Leonardos Bereitschaft ab, seine Münzsammlung an das Britische Museum zu entleihen. Es konnte also kaum schaden, einen guten Draht zu ihm zu haben. Nur leider war sie bisher von jedem Mann, der Interesse an ihr gezeigt hatte, schamlos ausgenutzt worden. Vielleicht war es an der Zeit, den Spieß umzudrehen. Doch Mia ahnte, dass ihr das alles andere als leichtfallen würde. Sie war nicht der Typ, der mit anderen Menschen spielte. Dazu war sie viel zu ehrlich. Aber sie musste ja nicht gleich die Femme fatale geben!

Wenn sie darüber nachdachte, hatte sie früher einfach nur den Fehler begangen, sich zu verlieben. Liebe machte ja bekanntlich blind, und das Sprichwort schien auf niemanden besser zuzutreffen als auf sie. Sie hatte immer nur das Gute gesehen und alle warnenden Anzeichen ignoriert. Bezogen auf die jetzige Situation hieß das für Mia, dass sie sich ausschließlich von ihrem Verstand leiten lassen musste. Auf keinen Fall durfte sie eine emotionale Bindung zu Leonardo Horvat aufbauen. Wenn sie sich streng an diesen Vorsatz hielt, konnte eigentlich nichts schiefgehen.

Zu dieser Erkenntnis gelangte Mia genau im richtigen Moment. Der Palast lag nun direkt vor ihr. Der Gebäudekomplex fügte sich so harmonisch in die Altstadt ein, dass sie vor lauter Grübeln erst gar nicht bemerkt hatte, dass sie sich längst mitten darin befand. Doch jetzt stand sie plötzlich auf dem Peristyl, dem zentralen Platz der Anlage. Ihr bot sich eine grandiose Kulisse mit von hohen Säulen getragenen Arkaden zu beiden Seiten. In den Cafés unter den Arkaden pulsierte das Leben. Doch Mia achtete nur auf die Plakate, auf denen die heutige Veranstaltung angekündigt wurde. Sie hingen zwischen den vier Säulen am südlichen Ende des Platzes. Mia wusste aus dem Reiseführer, dass sich darüber einst die Wohnräume des Kaisers befunden hatten. Aber von dort führte auch eine Treppe in die Kellergewölbe hinab, wo die Vernissage stattfand.

Mia folgte der Beschilderung. Ihr Herz klopfte schneller.

Ich schaffe das, dachte sie. Der Gedanke äußerte sich weniger direkt in Worten. Es war eher wie eine Art Hintergrundrauschen, das ihren Körper plötzlich zu erfüllen schien. Sie fühlte sich, als würde sich eine sanfte Wärme in ihr ausbreiten, die ihr Selbstbewusstsein verlieh. Und so betrat sie beschwingt die Ausstellungsräume. Als Erstes fiel ihr Blick auf Leonardo Horvat. Er stand inmitten einer Gruppe älterer Herren und ragte wie eine Lichtgestalt zwischen ihnen heraus. In Mias Bauch breitete sich jetzt ein ganz anderes Kribbeln aus.

„Sie sind ein Glückspilz“, sagte Professor Don Roberts. „Die meisten von uns haben jede freie Minute mit Ausgrabungen verbracht, aber nie etwas von Bedeutung ans Licht gebracht. Außer vielleicht der Erkenntnis, dass man sich als Archäologe die Knie kaputt macht.“

Die Runde lachte auf. Nur Leonardo setzte eine Millisekunde zu spät ein. Aus dem Augenwinkel hatte er Mia Thompson erspäht – und sie beinahe nicht wiedererkannt. Sie sah hinreißend aus. Ihr Kleid zeigte zwar nicht viel Haut, aber er mochte es, wenn Frauen ihren Körper nicht allzu freizügig zur Schau stellten, sondern der Fantasie genügend Raum ließen. Am meisten faszinierte ihn jedoch Mias Gesicht, vor allem ihre Augen. Ohne Brille wirkte ihr Blick offener und sinnlicher. Trotzdem hatte ihr Auftreten immer noch etwas Unschuldiges, fast schon Unbeholfenes. Nur ihr karamellblondes Haar hatte nichts von ihrer Wildheit verloren.

„Gentlemen, bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick“, sagte Leonardo.

In etwa fünf Minuten würde er die Eröffnungsrede halten und danach für die nächsten beiden Stunden im Mittelpunkt stehen. Wenn er also noch kurz ein paar Worte mit Mia wechseln wollte, dann musste er es jetzt tun. Er winkte einer Kellnerin, schnappte sich zwei Gläser Champagner vom Tablett und begrüßte die junge Kunsthistorikerin aus England.

„Beeindruckend, nicht wahr?“, sagte er und deutete auf das Gewölbe.

Mia nickte. „Kaum zu glauben, dass diese Räume früher nur der Keller waren.“

„Nicht mal das. Lediglich ein kleiner Teil davon wurde als Lager genutzt. Der Rest stand leer und war bloß als Unterkonstruktion für die kaiserliche Wohnung gedacht. Diokletian wollte von seinen Gemächern aus das Meer sehen, deswegen die enorme Höhe des Gewölbes.“

„Und jetzt ist daraus das Highlight für die Besucher des Palastes geworden.“

„Das ist der Lauf der Geschichte.“ Leonardo fixierte seine Gesprächspartnerin. „Es kommt immer anders als erwartet.“

„So wie im Leben.“

Einen Moment lang blickten sie einander schweigend an. Dann nippte Mia an ihrem Glas Champagner. Leonardo hatte den Eindruck, dass sie damit seinem Blick ausweichen wollte.

„Stimmt“, sagte er dann und trank ebenfalls einen Schluck.

Mia schaute sich verlegen um. „Es soll auf der ganzen Welt nichts Vergleichbares geben“, sagte sie schließlich. „Zumindest nicht in einem so gut erhaltenen Zustand.“

„Ja“, bestätigte Leonardo, „dieser Kellerkomplex ist einzigartig.“

„Genau wie Ihre Entdeckung.“ Mia sah zum ihm auf. Ihre Augen leuchteten. „Ich kann es kaum erwarten, einen Blick auf die Münzen zu werfen.“

Leonardo überraschte diese plötzliche Unverblümtheit. War das etwa ein Hinweis auf ihre wahren Motive? Aber vielleicht las er auch zu viel aus ihren Worten, weil er sich nichts mehr wünschte, als Mia endlich zu durchschauen. Denn im Grunde wartete jeder hier im Saal mit Spannung darauf, dass er seinen Fund enthüllte und der Weltöffentlichkeit präsentierte. Der Bürgermeister genauso wie die Wissenschaftler und Journalisten, die extra aus New York, Paris und Rom angereist waren.

Er wollte gerade etwas erwidern, als das Licht im Saal gedimmt wurde und das Spotlight über dem Podium anging. Ivanka betrat die Bühne. Sie sprach ein paar einleitende Worte zu den Gästen und richtete dann den Blick auf ihn.

„Bitte begrüßen Sie jetzt herzlich den Mann, dem die Welt diese Entdeckung zu verdanken hat.“ Seine Assistentin deutete auf ihn. „Leonardo Horvat.“

Der Saal applaudierte.

Verdammt, schimpfte Mia mit sich selbst. Warum stellst du dich nur so blöd an?

Ein bisschen Small Talk konnte doch nicht so schwer sein! Aber nein, sie hatte sich von Leonardos strahlend blauen Augen total aus dem Konzept bringen lassen und anstatt mit intelligenten Bemerkungen über kunstgeschichtliche Details zu glänzen das Gespräch nur stockend vorangetrieben. Wenn überhaupt.

Und dann hatte sie ihren peinlichen Auftritt auch noch mit einem Kardinalfehler gekrönt: Sprich niemals über das Offensichtliche. Wäre Leonardo nicht auf die Bühne gerufen worden, hätte sie womöglich gleich noch angefangen, über die Leihgabe seiner Münzen zu verhandeln.

Absolut unprofessionell!

Sie hatte die Fundstücke ja noch nicht einmal gesehen. Keiner der geladenen Gäste hatte das, denn die rechteckige Vitrine in der Mitte des Saals war mit einem edlen Vlies aus Brokat verhüllt. Den Grund dafür konnte sich Mia leicht ausmalen: Leonardo wollte sichergehen, dass seine Zuhörer seiner Ansprache aufmerksam folgten.

Aber Mia bezweifelte, dass diese Vorkehrung überhaupt nötig sein würde. Leonardo Horvat besaß ein Charisma, das fast schon körperlich spürbar war und sich vom Podium aus wie ein Lauffeuer im Saal ausbreitete. Die Gäste rückten näher an die Bühne. Alle Augen richteten sich wie von selbst auf den Unternehmer, und jeder lauschte gebannt seinen Worten.

Nur eine ältere Dame schien von der Atmosphäre unberührt. Sie hielt sich wie Mia im Hintergrund und gesellte sich nun zu ihr.

„Sie sind Engländerin, nicht wahr?“, flüsterte ihr die Frau mit einem starken Akzent zu und blickte sie dabei neugierig von der Seite an.

Mia wandte sich ihr kurz zu, nickte freundlich und richtete den Blick dann wieder nach vorne. Sie wollte sie auf keinen Fall zu einem Gespräch ermuntern. Doch dem Mitteilungsbedürfnis der alten Dame tat das keinen Abbruch.

„Seine Ausstrahlung ist einfach magisch. Er steht auf der Bühne wie ein Zauberer“, fuhr sie fort und rückte dabei sogar noch ein Stück näher. „Aber manchmal frage ich mich, wem er versucht, etwas vorzumachen. Uns oder sich selbst?“

Mia fiel auf, wie die Frau die letzte Silbe bei nahezu jedem Wort stark betonte. Sie musste wohl Italienerin sein. Aber angesichts ihrer ungewöhnlichen Aussagen, die zwischen Bewunderung und Kritik schwankten, war ihre Herkunft für Mia uninteressant. „Warum denken Sie das?“, fragte sie verwundert.

Aber die alte Dame ignorierte den Einwand. „Wussten Sie, dass Leonardo in England den Grundstein für sein Imperium gelegt hat? Während andere Studenten in Bars jobbten, hat er Olivenöl und Trüffel aus Istrien importiert. Die Feinkostläden in London waren ganz verrückt danach. Wenn es ums Geschäft geht, besitzt er einen sechsten Sinn. Dafür ist er in vielen anderen Dingen blind.“

In Mia regte sich Widerstand. Auch wenn sie Leonardo kaum kannte, hatte sie das Gefühl, ihn verteidigen zu müssen. „Von antiker Kunst scheint er ebenfalls viel zu verstehen. Aber ich glaube kaum, dass er sich nur des Geldes wegen dafür engagiert.“

Die Frau lächelte traurig. „Nein. Das ist etwas Persönliches. Auch wenn er das nicht wahrhaben will.“

„Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?“

„Was, glauben Sie, findet ein Mann wie er an Diokletian und ein paar verstaubten Münzen so faszinierend?“

Mia zuckte mit den Schultern. Diese Frage hatte sie sich noch nicht gestellt. „Ich weiß nicht. Aber wenn die eigene Heimatstadt geradezu durchtränkt ist von römischer Geschichte, liegt das doch nahe.“

„Leonardo stammt nicht aus Split. Er ist in einem kleinen Künstlerdorf in Istrien aufgewachsen, musste aber als Jugendlicher Kroatien verlassen und ist nach Rom gezogen. Es gab damals eine schlimme Tragödie in seiner Familie.“

„Das wusste ich nicht.“

„Kein Wunder. Er spricht mit niemandem darüber.“

„Woher wissen Sie dann davon? Und warum erzählen Sie mir das alles?“

Die alte Dame sah sie eindringlich an. Mia kam es vor, als könnte Sie geradewegs in ihr Innerstes blicken.

„Sein Blick verrät es mir“, sagte sie dann. Offenbar hatte Mia den Test bestanden. „Ich hätte nicht gedacht, dass sich darin jemals wieder ein Funken Leidenschaft entzünden würde. Aber vielleicht besteht ja doch noch Hoffnung.“

Die Leute vor ihnen begannen zu klatschen. Mia wurde plötzlich ganz flau im Magen. Jetzt hatte sie auch noch Leonardos Ansprache verpasst! Und die Worte der alten Dame verwirrten sie zusätzlich.

„Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht folgen“, sagte Mia unsicher.

„Fragen Sie ihn nach der Münze.“

„Welcher Münze?“

„Seiner Münze“, sagte die Frau und wies mit dem Kinn zur Bühne.

Mia folgte ihrem Blick. Leonardo stieg gerade vom Podium herab und bahnte sich einen Weg durch die Menge. Mit einer schwungvollen Bewegung zog er die Stoffbahn von der Vitrine. Ausrufe des Erstaunens wurden laut. Angelockt von den Ahs und Ohs drängten sich die Gäste immer dichter um die Ausstellungsstücke.

Nur Mia stand wie versteinert da und beobachtete das Geschehen. Leonardo drückte seiner Assistentin das Tuch in die Hand und sah sich dann im Saal um. Ihre Blicke trafen sich. Selbst über die Entfernung hinweg bemerkte sie, wie seine Augen kurz aufblitzten und ein Lächeln über sein Gesicht huschte.

Er kam auf sie zu. Mia rührte sich noch immer nicht von der Stelle. Sie war wie elektrisiert von dem Anblick dieses Mannes.

„Sie sehen ein wenig blass aus“, sagte Leonardo. „Kommen Sie, wir gehen nach draußen. Die frische Luft wird Ihnen guttun.“

Er nahm ihren Arm. Seine Berührung wirkte wie ein befreiender Impuls, und Mia erwachte aus ihrer Erstarrung. Doch nach dem ersten Schritt drehte sie ihren Kopf noch mal zurück und hielt nach der alten Damen Ausschau. Sie war spurlos verschwunden.

Leonardo bemerkte den kurzen Moment des Zögerns. „Keine Angst. Die Münzen laufen Ihnen nicht weg. Und stehlen wird sie in den nächsten paar Minuten wohl auch niemand.“

Ivanka stand auf der Bühne und ließ den Blick durch den Saal wandern. Manchmal fragte sie sich, ob sie diese Menschen bemitleiden oder verachten sollte. Sie trugen teure Kleider und maßgeschneiderte Anzüge, hatten eine vorzügliche Bildung genossen und bekleideten hohe Ämter in der Politik oder der Wissenschaft. Trotzdem begafften sie das bisschen Gold in der Vitrine wie ein Götzenbild. Nur dass sie nicht schreiend darum herumtanzten. Dafür waren sie viel zu kultiviert. Stattdessen buhlten sie auf andere Weise um Aufmerksamkeit. Sie überboten sich gegenseitig in ihrer gekünstelten Ausdrucksweise und kamen sich dabei nicht mal albern vor. Ivanka hatte schon immer fasziniert, mit welcher Ernsthaftigkeit sich diese Leute wichtigmachten.

Leonardo war da ganz anders. Es ging ihm nicht um Prestige und Ansehen. Er spielte in seiner eigenen Liga. Doch warum er sich so für Diokletian interessierte, war Ivanka ein Rätsel.

Im Grunde konnte ihr das aber egal sein. Bald würde sie weiterziehen. Endlich. Sie hielt es nie lange an einem Ort aus. Dass sie die letzten beiden Jahre fast ausschließlich hier in Split verbracht hatte, kam einem persönlichen Rekord gleich. Doch aus finanzieller Sicht hatte es sich gelohnt. Jetzt musste nur noch alles nach Plan laufen, dann stand ihr die ganze Welt offen.

Ivanka riss sich aus ihren Träumen und versuchte, Leonardo unter den Gästen auszumachen. Das war in der Regel immer sehr einfach. Normalerweise scharte sich eine große Gruppe Frauen um ihn.

Doch diesmal hätte sie ihn beinahe übersehen. Er verließ gerade den Saal durch einen Nebenausgang – und zwar in Begleitung.

Ivanka lächelte. Dann nahm sie ihr Smartphone zur Hand und schrieb eine Nachricht an ihren Partner in London:

Er hat angebissen ;)

4. KAPITEL

Mia folgte Leonardo durch einen Nebenausgang im hinteren Bereich des Saals. Offenbar war das ein Weg für Mitarbeiter des Palastmuseums. Die Tür ließ sich nur mit einem vierstelligen Zugangscode entriegeln. Der spärlich beleuchtete Gang verband die Ausstellungsräume mit den öffentlich zugänglichen Teilen der Anlage, und als Leonardo die Tür am anderen Ende öffnete, fand sich Mia plötzlich am Rande eines Touristenstroms wieder.

Das musste die Verbindungsachse zwischen dem Seetor und dem Zentralplatz des Palastes sein. Sie hatte viel über diese Attraktion gelesen, und das Bild, das sich ihr darbot, hätte gut in einen Reiseführer gepasst. Souvenirläden flankierten den Weg durch den Gewölbegang. In den Auslagen reihten sich geschnitzte weißblaue Schiffchen dicht aneinander und gedrechselte Schalen aus Olivenholz stapelten sich zu hohen Türmen. Einige Buden boten auch regionale Produkte wie getrocknete Feigen, Schnäpse, Honig und Öl feil. Und die Menschen drängten sich so eng aneinander, dass einem allein schon vom Anblick die Luft wegzubleiben drohte.

„Es werden von Jahr zu Jahr mehr Leute“, sagte Leonardo und nahm dann unvermittelt ihre Hand. „Bleiben Sie dicht hinter mir.“

Von seiner Berührung war Mia wie elektrisiert. Ohne darüber nachzudenken verschränkte sie ihre Finger mit seinen und rückte dichter zu ihm. Während sie die Menschenmenge durchquerten, spürte sie die Wärme seines Körpers, fühlte die straffen Muskeln unter dem Stoff seines Anzugs.

Auf der anderen Seite der Straße befand sich wieder eine mit einem Zahlencode gesicherte Tür. Diesmal führte sie der Gang zu einem Schacht mit einer schwindelerregenden Wendeltreppe aus Stahl. Die Wände schimmerten feucht. Sie stiegen hinauf und traten ins Freie auf eine kleine Plattform.

Hier mussten sich einst die kaiserlichen Wohnräume befunden haben, doch das Obergeschoss in diesem Bereich des Palastes war komplett verfallen. Vor ihnen ragten lediglich die Überreste der einstigen Wehrmauer auf, drei aus großen Steinquadern gebaute Bögen. Dann brach der Wall ab und endete in einer bröckligen Ruine. Aber die Aussicht war gigantisch!

Am Horizont spiegelte sich die untergehende Sonne im Meer. Unter ihnen flanierten Touristen die Promenade entlang. Doch hier oben waren sie ganz für sich allein. Eine Oase der Ruhe inmitten dieser quirligen Stadt.

Mia lehnte sich gegen den meterdicken Sims aus grob behauenem Stein. Ein leichter Wind kühlte ihre Haut und spielte mit ihren Haaren. In den salzigen Geruch des Mittelmeers mischte sich ein Hauch von Salbei und Rosmarin. Tief atmete sie diesen herrlichen Duft ein.

„Geht es Ihnen wieder besser?“, fragte Leonardo und stützte sich ebenfalls an der Mauer ab. Seine Hand lag nur einen Fingerbreit neben ihrer, und Mia fragte sich, warum ihre das überhaupt auffiel.

„Danke, ja. Die frische Luft tut gut“, sagte sie und blickte zum Horizont.

„Bei größeren Veranstaltungen wird es leicht stickig in dem Gewölbe. Manche Menschen fühlen sich in alten Gemäuern schnell unwohl.“

„Das macht mir normalerweise nichts aus. Ich arbeite schon seit anderthalb Jahren den halben Tag lang in einem zweihundert Jahre alten Keller. Der ist allerdings klimatisiert.“

Leonardo zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Gehört das auch zu Ihren Aufgaben am Britischen Museum?“

Mia hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Sie war schon wieder in ein Fettnäpfchen getreten. Jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als sich als unerfahrener Neuling zu outen. Zumindest im Hinblick auf die repräsentativen Aspekte ihres Berufs.

„Als Volontärin bin ich für die Digitalisierung des Archivs zuständig“, gab Mia ein wenig zerknirscht zu. Und falls ich mich weiter so blöd anstelle, wird sich daran wohl auch nichts ändern, fügte sie in Gedanken hinzu.

Doch Leonardo schien sich glücklicherweise nicht daran zu stören. „Das heißt, Sie sind bis ins letzte Detail mit der materiellen Kultur der Römischen Antike vertraut.“

So hatte Mia das noch gar nicht gesehen. Durch die Archivarbeit war sie tatsächlich eine Expertin auf diesem Gebiet.

„Ja“, sagte sie und spürte, wie ihr Selbstbewusstsein zurückkehrte. „Wenn man tagtäglich von Dingen aus einer anderen Zeit umgeben ist, kann man sich gut vorstellen, wie die Menschen früher gelebt haben und was ihnen wichtig war. Und darum geht es ja auch in einem Museum: die Vergangenheit zum Leben zu erwecken.“

„Was fasziniert Sie daran?“, fragte Leonardo.

„Der Perspektivenwechsel. Was vor Jahrhunderten ganz selbstverständlich zum Alltag gehörte, betrachten wir heute als Kunst. Amphoren waren damals einfache Behälter für Wein, heute sind es wertvolle Sammlerstücke. Dasselbe gilt für viele andere Dinge auch.“

„Wie zum Beispiel meine Münzen?“

„Ja“, sagte Mia. „Im Grunde sind es nur ein paar Metallstücke, die mit einem simplen Hammerschlag geprägt wurden. Früher eine gängige Währung. Man hat damit bezahlt – mehr nicht.“

„Und jetzt übersteigen sie ihren materiellen Wert um ein Vielfaches. Es gibt sogar Menschen, die eine Straftat begehen würden, um in ihren Besitz zu gelangen“, ergänzte Leonardo.

Mia wunderte sich über seinen spitzfindigen Tonfall. Aber sie wollte sich nicht schon wieder aus dem Konzept bringen lassen und kam auf den eigentlichen Punkt ihrer Erklärung zu sprechen. „Können Sie sich vorstellen, dass in zweitausend Jahren hier an diesem Ort Experten aus der ganzen Welt zusammenkommen, nur um den Fund von ein paar Geldscheinen zu feiern?“

Leonardo stutzte. Mia versuchte, seinen Blick zu deuten. Hielt er ihren Vergleich vielleicht für abwegig? Doch dann holte er seine Geldbörse aus der Tasche und zog eine Banknote heraus. „So einen wie den hier?“, fragte er amüsiert.

Mia nickte. Sie nahm ihm den Schein aus der Hand, hielt ihn gegen das Licht und betrachtete ihn von beiden Seiten. „Fünfzig Kuna“, stellte sie fest. „Was ist das wert?“

„Sechs Pfund“, antwortete Leonardo sofort.

Mia schmunzelte. Kopfrechnen war noch nie ihre Stärke gewesen. Aber ein international tätiger Unternehmer wie Leonardo musste nicht mal eine Millisekunde überlegen.

„Alles, was uns an diesem verknitterten Stück Papier interessiert, ist die Kaufkraft.“ Mia gab ihm den Schein zurück. „Ich wette, die meisten Menschen wissen nicht mal, welche Personen auf den gängigsten Geldscheinen abgebildet sind. Und kaum jemandem ist bewusst, dass neben der künstlerischen Gestaltung das eigentliche Wunder in der Drucktechnik liegt. Oder können Sie mir erklären, wie diese Wasserzeichen zustande kommen?“

Leonardo schüttelte den Kopf.

Mia lächelte. „Ich auch nicht. Niemand macht sich darüber Gedanken. Wir nehmen es einfach als selbstverständlich hin, wie so vieles andere auch. Aber wenn wir die Perspektive wechseln und nur für einen kurzen Augenblick versuchen, die Dinge um uns herum mit der gleichen Neugier zu betrachten wie die Ausstellungsstücke in einem Museum, dann stellen wir fest, dass die Welt viel schöner und faszinierender ist, als wir für gewöhnlich denken. Das ist es, was ich an meiner Arbeit liebe. Der Blick auf die Vergangenheit öffnet einem auch die Augen für die Wunder der Gegenwart.“

„Sie haben recht.“ Leonardo wandte sich von ihr ab und sah aufs Meer hinaus. „Wir schenken unserem unmittelbaren Umfeld zu wenig Aufmerksamkeit. Erst wenn etwas unwiderruflich verloren ist, wissen wir es zu schätzen. Aber dann ist es zu spät.“

Für einen kurzen Moment konnte Mia den Schmerz spüren, den Leonardo in sich trug und den er bisher geschickt hinter seiner makellosen Fassade zu verbergen gewusst hatte. Welches Schicksal auch immer diesem Mann widerfahren war, es musste ihn fürs Leben geprägt haben. Mia erinnerte sich an die rätselhafte alte Dame von vorhin. Sie schien darüber Bescheid zu wissen.

Fragen Sie ihn nach der Münze. Seiner Münze.

Die Worte hallten in Mias Kopf nach. Doch dann war der winzige Augenblick, in dem sich seine Verletzlichkeit gezeigt hatte, vorbei. Als hätte sich eine Tür geschlossen.

„Wir sollten wieder nach drinnen gehen. Meine Gäste erwarten mich.“

Mia fröstelte. Leonardo verströmte plötzlich eine Kälte wie ein Eisblock. Am liebsten hätte sie jetzt sein Gesicht in die Hände genommen. Ihn mit ihrer Wärme umfangen und den Schmerz in seinem Herzen zum Schmelzen gebracht. Aber stattdessen nickte sie nur und folgte ihm schweigend zurück in den Ausstellungsraum.

Leonardo blickte sich zufrieden um. Die Vernissage war ein voller Erfolg. Etwas anderes hatte er auch nicht erwartet. Ivanka war eine fabelhafte Eventmanagerin und darüber hinaus noch eine ausgezeichnete Gastgeberin. Egal, ob sie sich mit Politikern, Wissenschaftlern oder Journalisten unterhielt – sie traf immer den richtigen Ton. Gerade verabschiedete sie eine Delegation des Metropolitan Museum of Art in New York. Leonardo zweifelte keine Sekunde daran, dass Ivanka die geladenen Gäste bis zur Fachtagung am Montag auch ohne seine Anwesenheit bei Laune halten würde. Wahrscheinlich würde man ihn nicht einmal vermissen. Und das verschaffte ihm die nötige Zeit, sich übers Wochenende um seine persönlichen Angelegenheiten zu kümmern. Dafür war er seiner Assistentin zutiefst dankbar.

Wenn er erst seine Münze wiederhatte, dann würde er ihr die alleinige Verantwortung für die Stiftung in Split übertragen.

Doch zuerst musste er diesen verdammten Dieb schnappen. Oder die Diebin. Man hatte Leonardo einen Teil seiner Vergangenheit gestohlen, und er würde erst wieder ruhen, wenn er sich zurückgeholt hatte, was ihm gehörte!

Bei dem Gedanken hielt er augenblicklich nach Mia Ausschau. Sie stand nur ein paar Meter von der Vitrine mit der Münzsammlung entfernt. Ihr karamellblondes Haar schimmerte sanft im warmen Licht. Sie unterhielt sich mit zwei älteren Männern. Einer der beiden schien gerade etwas Witziges gesagt zu haben, denn sie neigte den Oberkörper leicht nach hinten, schloss die Augen und ließ ihr natürliches, unverstelltes Lachen hören.

Diese Unbekümmertheit versetzte Leonardo einen Stich. War diese wunderschöne und so unschuldig wirkende Frau wirklich eine versierte Kunstdiebin? Und wenn ja, wie konnte es sein, dass sein untrüglicher Instinkt nicht Alarm schlug?

Seit sie in den Saal zurückgekehrt waren, hatte er sie beobachtet, sich in ihrer Nähe aufgehalten und wann immer möglich ihre Unterhaltungen belauscht. Doch alles, was er dabei in Erfahrung gebracht hatte, half ihm kein bisschen weiter. Im Gegenteil. Sie gab sich erfrischend herzlich, und von dem blasierten Humor der Engländer fehlte jede Spur. Leonardo war sich sicher, dass keiner ihrer Gesprächspartner auch nur im Entferntesten auf die Idee gekommen wäre, dass Mia etwas anderes sein könnte als eine junge und überaus begeisterte Kunsthistorikerin.

War das alles nur Show? Ließ er sich genau wie alle anderen von ihr hinters Licht führen?

Leonardo wusste darauf keine Antwort. Er wurde aus dieser Frau einfach nicht schlau! Dafür schien er umso mehr auf einer anderen Ebene auf sie zu reagieren – und das gefiel ihm ganz und gar nicht. Er hasste es, wenn sich seine Gefühle verselbstständigten und dabei seinem Verstand in die Quere kamen.

„Sie zweifeln immer noch?“

Irritiert blickte Leonardo zur Seite. Er war so sehr in Gedanken versunken gewesen, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie Ivanka an ihn herangetreten war.

„Was macht Sie eigentlich so sicher, dass Mia Thompson hinter dem Diebstahl steckt?“, fragte er mit gesenkter Stimme.

Seine Assistentin lächelte. Sie war eine attraktive Frau, schlank und hochgewachsen, mit glatten schwarzen Haaren und hellen blauen Augen. Aber trotz der gegenseitigen Sympathie hatte zwischen ihnen von Anfang an eine professionelle Distanz geherrscht.

„Erinnern Sie sich noch an unsere erste Begegnung?“, fragte sie.

„Natürlich“, sagte er. „Das war genau hier. Vor exakt zwei Jahren.“

Wie könnte er das vergessen? An jenem Tag hatte er seine Münze, ein wertvolles Familienerbstück, zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert. Es handelte sich um eine echte Rarität: eine Goldprägung mit Diokletians Antlitz. Mit der Ausstellung hatte er den Beginn eines neuen Lebensabschnitts einläuten wollen.

„Und darüber bin ich sehr froh. Ohne Sie würde meine Stiftung noch immer in den Kinderschuhen stecken“, sagte er und lächelte Ivanka dankbar an. Ihre Hilfe hatte wesentlich dazu beigetragen, dass er so schnell zum wichtigsten Kunstmäzen von Split geworden war.

„Erinnern Sie sich noch an die Worte, mit denen Sie mich damals überzeugt haben, zu bleiben?“

Leonardo überlegte einen kurzen Augenblick, dann nickte er seiner Assistentin zu. „Ich habe gefragt, ob Sie sich eine bessere Alternative vorstellen können.“

Ivanka schmunzelte. „Und insgeheim haben Sie die Antwort bereits gekannt.“

„Es war nicht schwer zu erraten, dass mein Angebot die beste Option war, die Sie hatten.“

„Sehen Sie“, sagte Ivanka. „So ist es jetzt auch wieder. Es gibt keine Alternative. Sie ist die Einzige, die infrage kommt.“

Beide schauten sie wieder zu Mia, die sich gerade von ihren Gesprächspartnern verabschiedete und dann allein Richtung Ausgang schritt. Die Augen seiner Assistentin verengten sich dabei wie die eines Tigers, der seine Beute ins Visier nahm.

„Ich gehe ihr nach“, sagte Leonardo. „Sobald ich etwas herausgefunden habe, melde ich mich.“

Ivanka nickte. „Ich kümmere mich in der Zwischenzeit um alles.“

Leonardo folgte Mia nach draußen. Aus dem Augenwinkel bemerkte er noch, wie Ivanka ihm zufrieden nachschaute. Ihr Gesichtsausdruck nahm dabei wieder diesen raubtierhaften Zug an. Plötzlich überkam ihn das seltsame Gefühl, dass dieser Blick ihm galt und nicht Mia. Doch er schob den Gedanken schnell wieder beiseite. Von jetzt an war er der Jäger.

5. KAPITEL

Mia verließ die Ausstellungsräume gegen dreiundzwanzig Uhr. Sobald sie den Saal hinter sich gelassen hatte, fiel die Anspannung der letzten Stunden von ihr ab. Es war ein langer und aufregender Tag gewesen, und sie fühlte sich müde und ausgelaugt. Trotzdem – nach allem, was sie heute erlebt hatte, war an Schlaf nicht zu denken! Dafür war sie viel zu aufgekratzt.

Vor drei Tagen war sie noch eine unbedeutende Volontärin gewesen. Ein Niemand. Und jetzt hatte sie an einem einzigen Abend führende Kunsthistoriker und Museumskuratoren aus der ganzen Welt kennengelernt. Während Mia die Stufen zum Ausgang hochstieg, schwirrte ihr immer noch der Kopf von den vielen anregenden Gesprächen.

Ein kleiner Spaziergang zur Entspannung wird mir guttun, dachte sie.

Anstatt über den Hauptplatz der Palastanlage auf dem schnellsten Weg zurück ins Hotel zu gehen, schlug Mia die entgegengesetzte Richtung ein und schlenderte gemächlich durch die Gewölbegänge zum Seetor. Sie wollte noch mal das Meer sehen, die salzige Luft atmen und sich von dem sanften Rauschen der Wellen beruhigen lassen.

Mia war froh, dass um diese Zeit kaum noch Touristen unterwegs waren. Auch viele der Souvenirstände hatten bereits geschlossen oder verriegelten gerade die Läden. Die Ruhe und das warme Zwielicht der Straßenlaternen schärften den Blick für die außergewöhnliche Architektur der Gewölbegänge. Nach ein paar Metern erkannte sie die Stelle wieder, an der sie sich vorhin eng an Leonardo geschmiegt durch den Strom der Touristen geschlängelt hatte.

Die Erinnerung löste einen wohligen Schauer aus. In jenem Moment hatte sie Leonardos Kraft und Entschlossenheit gespürt und sich an seiner Seite so sicher und so geborgen gefühlt wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Das war dummerweise die denkbar schlechteste Voraussetzung, um emotional auf Distanz zu bleiben!

Mia schob diesen Gedanken schnell wieder beiseite. Sie wollte jetzt weder über Leonardo noch über ihre Gefühle nachdenken. Sie wollte über gar nichts nachdenken und sich einfach nur ein wenig treiben lassen. Zum Glück erreichte sie schon bald das Seetor. Das schmale Portal war verglichen mit der restlichen Palastanlage ein eher unspektakuläres architektonisches Detail. Doch sobald sie hindurchschritt, schien sie eine andere Welt zu betreten. Das war genau die Art von Ablenkung, nach der sie sich gesehnt hatte.

Vor ihr erstrahlte die Adria im silbernen Mondlicht. Eine frische Meeresbrise kühlte ihr die Wangen. Aus den Bars und Cafés drang fröhliches Geplapper. Mia machte mindestens drei verschiedene Sprachen aus. Sie verstand zwar kein einziges Wort, aber der Klang der Stimmen reichte aus, um sich von der allgemeinen Heiterkeit anstecken zu lassen, und für einen Moment fühlte sie sich wie im Urlaub.

Zwischen der Promenade und dem Meer lag eine von hohen stämmigen Palmen flankierte Parkanlage. Mia ging hinter einem Pärchen, das die parallel zum Wasser angelegten Wege entlangflanierte. Die hellen Steinplatten, glatt und abgetreten von den Schritten zigtausender Besucher, schimmerten im trüben Licht der Laternen wie Milchglas. Alle paar Meter luden weiß gestrichene Parkbänke zum Verweilen ein. Auf einer davon saßen drei ältere Männer mit einem Glas Rotwein in den Händen und nickten Mia freundlich zu.

Das Pärchen vor ihr hielt jetzt direkt auf das Wasser zu und gesellte sich zu einer Gruppe junger Leute, die auf der dreißig Zentimeter hohen und etwa ebenso breiten Kaimauer aus hellem Sandstein hockte. Mia ging an ihnen vorbei, setzte sich im Abstand von zwei gusseisernen Pollern ebenfalls auf die kleine Mauer und streifte die Schuhe ab. Ihre Füße baumelten einen halben Meter über der Wasseroberfläche. Während die Wellen glucksend gegen den Kai schwappten, sog Mia die kühle Meeresluft ein und ließ ihren Gedanken freien Lauf.

Früher hatte Mia oft davon geträumt, England zu verlassen. Sie hatte sich vorgestellt, wie es wäre, in einem berühmten Museum in Rom, Barcelona oder New York zu arbeiten. Aber jedes Mal, wenn sie im Rahmen ihres Studiums bei einer Exkursion einen dieser Orte besucht hatte, war sie ernüchtert und enttäuscht heimgekehrt. Sie hatte sich dort zumeist schon vom ersten Moment an fremd und verloren gefühlt. Hier in Split war dieses Gefühl bislang ausgeblieben. Vielleicht, weil sie noch gar keine Zeit gehabt hatte, darüber nachzudenken. Aber jetzt, wo sie es tat, stellte Mia fest, dass es ihr hier gefiel. Die Gerüche, die Architektur, das Meer – alles hatte ihre Erwartungen übertroffen, und sie freute sich darauf, die Stadt und das Land zu erkunden.

Sie atmete tief durch und genoss die Aussicht. Über ihr leuchtete der Nachthimmel. Am Horizont legte sich das elektrische Licht von den vorgelagerten Inseln vor der Küste glitzernd über das Meer.

Plötzlich unterbrach eine bekannte Stimme die Stille.

„Die Sterne stehen hoch, aber ihr Licht fällt tief und findet immer einen Weg in unsere Seelen.“

Mia lächelte. Sie hatte zwar nicht damit gerechnet, Leonardo heute Nacht noch mal zu begegnen, aber wirklich überrascht war sie nicht.

„Ein schönes Sprichwort“, sagte sie und neigte ihren Kopf zurück, sodass sie unter dem Sternenhimmel Leonardos Gesicht betrachten konnte.

„Es stammt aus meiner Heimat in Istrien.“

Er setzte sich neben sie auf die Kaimauer. Sein exklusives Aftershave mischte sich dezent unter die Seeluft. Beides schien sich perfekt zu ergänzen.

„Eine alte Frau hat uns das immer als Ermahnung aus dem Fenster ihrer Wohnung zugerufen, wenn wir Kinder noch spät abends in den schmalen Gassen von Grožnjan herumgetollt sind“, erklärte er dann. „Aber wir haben darüber nur gelacht. Damals hatte ich keine Ahnung, was sie uns damit sagen wollte.“

Mia sah ihn neugierig an. „Und heute?“, fragte sie schmunzelnd.

Leonardo schien ernsthaft über ihre Frage nachzudenken. Sein Blick blieb dabei auf einen Punkt weit draußen am Meer fixiert. Mia betrachtete unterdessen sein Profil. Im Mondlicht traten die Konturen seiner Gesichtszüge scharf hervor. Die gerade Stirn, die hohen Wangenknochen und das markante Kinn wirkten wie in Stein gemeißelt. Sie verspürte den seltsamen Drang, die Hand auszustrecken und ihn zu berühren, als müsste sie sich vergewissern, dass seine Haut warm und nicht kalt wie Marmor war.

Als Leonardo endlich zu einer Antwort ansetzte, hätte Mia nicht sagen können, ob gerade zehn Sekunden oder zehn Minuten verstrichen waren. Aber die Art, wie er sie in diesem Moment anlächelte, würde für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt sein.

„Heute“, sagte er betont gelassen, „bin ich erwachsen.“

Je länger sie seinen Blick festhielt, desto heftiger wurde das Kribbeln in ihrem Bauch. Doch Mia ließ sich davon nicht beirren.

„Es gibt auch Erwachsene, die glauben, dass sie vor sich selbst oder ihrem Schicksal davonlaufen können“, sagte sie und brachte damit die Bedeutung des Sprichworts auf den Punkt. Zu spät bemerkte sie, dass das genauso gut eine Ermahnung an sie selbst sein konnte.

Leonardo schien ihre Gedanken zu erraten.

„Ach ja?“, fragte er und sah sie eindringlich an. „Und wovor laufen Sie davon?“

Die Antwort lag ihr augenblicklich auf der Zunge. Vor der Liebe. Aber sie schluckte die Worte hinunter.

„Man sollte Sprichwörtern nicht zu viel Bedeutung beimessen.“ Mia zwang sich, wegzuschauen von seinen Augen, die sie geradezu magnetisch anzogen. „Ganz besonders, wenn sie aus einem Land kommen, mit dem man nicht besonders vertraut ist“, fügte sie hinzu und betrachtete den Nachthimmel.

Mia spürte, wie Leonardos Blick weiter auf ihr ruhte. Er schien sie nachdenklich zu mustern. Dann stand er abrupt auf.

Ihr Magen zog sich zusammen. Sie hatte ihn durch ihre zurückweisende Art nicht vergraulen wollen. Mit einem fast schon schlechten Gewissen wandte sie sich ihm zu, um ihm eine gute Nacht zu wünschen. Aber sie hatte ihn offensichtlich falsch eingeschätzt.

„Bis zur Fachtagung am Montag bleiben uns drei Tage, um das zu ändern.“ Leonardo streckte ihr charmant lächelnd die Hand entgegen. „Wir sollten also keine Zeit verschwenden.“

Mia ahnte, dass sie sich auf dünnes Eis begab. Wenn sie auf sein Angebot einging, würden sie sich unweigerlich näher kommen, und zwar nicht nur auf beruflicher Ebene. Aber diesem Lächeln konnte sie unmöglich widerstehen! Und sie bereute es nicht eine Sekunde.

Mit Leonardo durch die Altstadt zu schlendern glich einer Reise durch die Kunstgeschichte von Split. Er war ein geschickter Tourguide. Sie bewegten sich wie auf einem Zeitstrahl durch die mitternächtlichen Straßen und Gassen. Zu so später Stunde waren kaum noch Menschen unterwegs. Die Stadt gehörte ihnen. Nur der Mond schimmerte silbern am Himmel und folgte ihnen wie ein stummer Begleiter durch die Nacht.

„Alles begann mit Diokletian“, erklärte Leonardo. „Sein Palast war wie ein Keim, der Split über die Jahrhunderte zum Aufblühen brachte. Mit dem Niedergang des Römischen Reichs wurde die Stadt zwar zum Spielball im Kampf um die Vorherrschaft über die Adria, doch mit jedem Machtwechsel wuchs Split zu neuer Größe heran. Fürsten, Könige und Päpste haben ihre Spuren hinterlassen, genauso wie die Byzantiner und die Osmanen. Sehen Sie das Ornament hier?“, sagte er und deutete auf eine Zierleiste aus Marmor über einem Hauseingang.

Mia nickte. „Eine Arabeske im Biedermeierstil.“

„Aus der österreichischen Kaiserzeit“, bestätigte Leonardo. „Damals gehörte Kroatien zum Reich der Habsburger. Aber betrachten Sie doch mal den Schwung der Linien an dieser Kante hier.“

Mia beugte sich ein wenig zur Seite. Ihre Schulter berührte dabei leicht seinen Arm. „Sieht orientalisch aus“, stellte sie verwundert fest.

Er lächelte. „Sie haben ein gutes Auge. Das Gebäude wurde ursprünglich von einem türkischen Händler erbaut. Im neunzehnten Jahrhundert hat es dann ein Wiener Kaufmann erworben und umgestalten lassen. Die Verzierungen wurden einfach übermalt. Aber an manchen Stellen hat der Maler das Motiv aufgegriffen und in sein eigenes Werk integriert.“

„Ein nobler Zug. Anstatt die Arbeit seines Vorgängers zu zerstören, hat er sie zu etwas Neuem verwandelt.“

„Zu seiner Zeit war er ein bedeutender Künstler. Er wusste, dass wir alle nur auf den Schultern von Riesen stehen.“

Sie gingen weiter, aber in Gedanken hing Mia weiterhin Leonardos letzten Worten nach. Sie kannte den Spruch, erinnerte sich jedoch nicht mehr an den Urheber. Ein Dichter oder Philosoph aus dem Mittelalter, das wusste sie noch.

„Heute wäre das wohl anders“, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Leonardo. „Demut und Bescheidenheit stehen in der Kunstszene nicht gerade hoch im Kurs.“

„Das mag für London, New York und andere mondäne Großstädte gelten. Aber nicht für Kroatien.“

Mia hatte tatsächlich den Eindruck, dass sich die Menschen hier weniger überheblich gaben als zu Hause in England oder in anderen Ländern, die sie besucht hatte. Vielleicht fühlte sie sich deshalb hier auf Anhieb so wohl. Doch ein Blick auf Leonardo genügte, und sie ahnte, dass das nicht der einzige Grund war.

„Ich wusste gar nicht, dass Sie sich neben Ihrer Leidenschaft für die Antike auch für zeitgenössische Kunst interessieren.“

„Tue ich auch nicht“, sagte Leonardo.

„Wie kommt es dann, dass Sie über all diese Dinge so gut Bescheid wissen?“

„Meine Mutter war Künstlerin. Ich bin in der Szene groß geworden.“

Mia stutzte. Leonardos Tonfall bekam wieder diese eisige Note wie zu Beginn der Vernissage, als sie zusammen auf der kleinen Aussichtsplattform gestanden hatten. Außerdem fiel ihr auf, dass er in der Vergangenheit gesprochen hatte. Seltsam. Als Künstler ging man für gewöhnlich nicht in Rente, man blieb es für den Rest seines Lebens. War Leonardos Mutter also gestorben? Und wenn ja, hatte ihr Tod vielleicht mit dieser Münze zu tun, von der die mysteriöse alte Frau gesprochen hatte?

Ihre Intuition sagte ihr, dass beides zusammenhing, und Mia hätte gerne mehr über Leonardos Vergangenheit erfahren. Aber wie sollte sie das anstellen, ohne ihm dabei zu nahe zu treten? Noch während sie nach den passenden Worten suchte, blieb Leonardo unvermittelt stehen.

„Wir sollten für heute Schluss machen“, sagte er und deutete auf das Gebäude zu ihrer Linken.

Mia war so vertieft in ihre Gedanken gewesen, dass sie die letzten Meter gar nicht mehr auf den Weg geachtet hatte, und jetzt standen sie direkt vor ihrem Hotel. Leonardo legte ihr die Hand auf den Rücken, führte sie zum Eingang und begleitete sie von dort zum Aufzug. Der Nachtportier, der angestrengt auf sein Smartphone gestarrt hatte, hob müde den Blick. Als er Leonardo erkannte, richtete er sich ruckartig auf und grüßte ihn förmlich.

Der Lift öffnete sich. Mia trat hinein, drehte sich um und wollte gerade den Knopf für die dritte Etage drücken, als Leonardo sie wieder mit seinem magischen Blick in den Bann zog.

Er lächelte. „Jetzt wo Sie die Stadt kennen, sollten wir die Inseln besuchen. Packen Sie Ihre Sachen. Wir machen einen Wochenendtrip mit meiner Jacht. Ich sage dem Concierge Bescheid. Er wird Sie morgen nach dem Frühstück zum Hafen bringen.“

Noch bevor sie etwas erwidern konnten, schlossen sich die Türen des Aufzugs. Durch den enger werdenden Spalt sah Mia, dass Leonardo ihre Antwort auch gar nicht mehr abwartete. Er nickte ihr zu und wandte sich dann ab.

Mia drückte den Knopf für die dritte Etage, und der Fahrstuhl setzte sich surrend in Bewegung. Doch das einzige Geräusch, das sie wahrnahm, war das aufgeregte Klopfen ihres Herzens.

Leonardo stand in der Lobby und warf einen Blick auf seine Rolex. Zwei Uhr nachts. Um diese Zeit hatte die Bar bereits geschlossen, aber das brauchte ihn nicht zu kümmern. Schließlich gehörte das Hotel ihm. Mit seinem Generalschlüssel öffnete er die Tür und trat hinter die Theke. Leonardo wusste, wonach er suchte. Der siebzehn Jahre alte Bowmore stand nicht bei den anderen Whiskys. Der Barkeeper bewahrte die Flasche extra für ihn im Kühlregal für ausgesuchte Rotweine auf. Bei sechzehn Grad harmonierte die malzige Süße perfekt mit der rauchigen Note. Er schenkte sich zwei Fingerbreit von der honiggelben Flüssigkeit ein, schwenkte das Glas und sog den Duft von Vanille, Karamell und Torf ein. Noch im Stehen nahm er einen winzigen Schluck. Sofort breitete sich der intensive Geschmack in seinem Mund aus. Cremig und süß wie ein Toffee, umhüllt von einer zarten Schicht rauchiger Malztöne. Ein zufriedenes Lächeln umspielte seine Lippen.

Leonardo hatte sechs Jahre in England verbracht. Die kulinarischen Vorlieben des Landes waren ihm immer fremd geblieben, doch der Whisky sprach seine Sinne an, und er hielt an dieser Leidenschaft bis heute fest.

Seufzend ließ sich Leonardo in einen der Clubsessel sinken. Die Dinge hatten sich nicht so entwickelt, wie er sich das vorgestellt hatte. Es gab vieles, worüber er nachdenken musste. Doch die Ruhe, die er dazu benötigt hätte, schien ihm nicht vergönnt. Jemand öffnete die Tür.

Leonardo hob verwundert den Blick. Das Personal wusste, dass er bei seinen nächtlichen Besuchen in der Bar nicht gestört werden wollte. Aber für die Frau, die gerade den Raum betrat, würde er jederzeit eine Ausnahme machen.

„Du bist noch wach?“ Leonardo stand auf und küsste seine Großmutter Mariella zur Begrüßung auf beide Wangen.

„In meinem Alter braucht man nicht mehr viel Schlaf.“

„Setz dich zu mir.“ Leonardo rückte einen der Clubsessel dicht neben seinen. „Möchtest du etwas trinken?“

„Einen Sherry, bitte.“

Leonardo schenkte ein, reichte Mariella das Glas und nahm wieder Platz. Sie lächelte. In ihrem Blick lagen die Güte und Zuneigung einer bedingungslosen Liebe, wie sie einzig und allein Enkelkindern vorbehalten blieb. Aber da war noch mehr. Ein hauchdünner Schleier trübte den Glanz ihrer Augen. Sie machte sich Sorgen, und Leonardo ahnte, dass sie sich schon lange auf einen Moment wie diesen vorbereitet hatte.

„Du arbeitest viel“, sagte sie und nippte dann an ihrem Sherry.

Ihr Tonfall ließ Leonardo aufhorchen. Er konnte weder einen Vorwurf noch ein Lob darin erkennen, und diese Neutralität machte ihn stutzig.

„Vor dem Erfolg kommt der Fleiß.“ Er hatte die Worte ohne Bedacht ausgesprochen. Doch als er das gezwungene Lächeln seiner Großmutter sah, erkannte er seinen Fehler.

„Das hat deine Mutter auch immer gesagt.“ Mariella nahm noch einen Schluck Sherry und stellte dann das Glas weg. „Bereits als Fünfzehnjährige hat sie die Nächte in Großvaters Werkstatt verbracht und wie besessen an ihren Skulpturen gearbeitet. Den Schlaf hat sie dann in der Schule nachgeholt. Ein Wunder, dass sie ihren Abschluss geschafft hat.“

„Sie hatte einen guten Grund. Sie wollte Bildhauerin werden und hat alles dafür gegeben, diesen Traum zu verwirklichen.“

„Und welchen Grund hast du?“ Mariella sah ihn scharf an. „Was hält dich nachts wach?“

Leonardo kniff die Lippen zusammen. „Das weißt du doch. Ich will zurückhaben, was mir gehört.“

„Das macht sie auch nicht mehr lebendig.“

„Ich weiß.“ Er klang, als müsste er sich entschuldigen. „Aber es ist das Einzige, was mir geblieben ist.“

Seine Großmutter seufzte. „Wenn du das wirklich glaubst, tust du mir leid.“

Es fiel Leonardo schwer, ihrem Blick standzuhalten. Über die kastanienbraunen Augen seiner Nonna legte sich ein feuchter Glanz. Aber noch mehr erschütterte ihn die Traurigkeit in ihrer Stimme.

Er schluckte hart. „Das Feuer hat alles vernichtet.“

„Und was ist mit deinen Erinnerungen?“

„Die sind ebenfalls verbrannt“, erwiderte Leonardo kalt.

Natürlich wusste er, dass das nicht stimmte. Aber ihm kam es trotzdem so vor. Denn wann immer Bilder aus seiner Kindheit in ihm aufgetaucht waren, hatte er sich gefühlt, als würde ein glühend heißer Lavastrom durch ihn hindurchfließen und seine Eingeweide zerreißen. Um den Schmerzen zu entfliehen, hatte er sich vor langer Zeit dazu entschieden, lieber gar nichts zu fühlen. Leonardo bekämpfte das Feuer mit Eis. Bis jetzt war er damit gut gefahren.

„Was ist mit deiner Fähigkeit zu träumen und zu lieben?“, fragte seine Großmutter. „Ist die auch in Flammen aufgegangen?“

„Das Leben, das ich führe, ist für viele Menschen ein Traum. Das muss genügen.“

„Und trotzdem jagst du einem Phantom hinterher.“

„Wer auch immer meine Münze gestohlen hat, ist sehr real.“

„Mag sein. Aber der Wert, den du ihr zuschreibst, ist es nicht. Das Einzige, was zählt, sind Erinnerungen. Deine Mutter glühte vor Liebe und Leidenschaft. Wenn du wie sie ein glückliches und erfülltes Leben führen willst, musst du dich der Vergangenheit stellen.“

„Das tue ich. Aber auf meine Art.“

„Gefühle verschwinden nicht, nur weil man sie unterdrückt oder auf ein Objekt fixiert. Diese Münze ist für dich wie ein Fetisch. Du glaubst, ohne sie entgleitet dir die Kontrolle. Dabei ist es der Fetisch, der dich kontrolliert!“

„Ich will nur wiederhaben, was mir gehört.“

„Überlass das der Polizei und konzentrier dich auf die wichtigen Dinge. Lebe und liebe.“

Langsam wurde das Gespräch für Leonardo unangenehm. Er liebte seine Großmutter, aber auf esoterische Weisheiten reagierte er allergisch. „Im Moment habe ich dafür keine Zeit. Ich führe ein internationales Unternehmen und leite zusätzlich noch eine Stiftung für Kunst und Kultur. Menschen verlassen sich auf mich. Ich schaffe Arbeitsplätze und leiste einen nicht unerheblichen Beitrag für die Gesellschaft.“

„Die Liebe nimmt auf sowas herzlich wenig Rücksicht. Wenn sie in dein Leben platzt, solltest du sie dankbar annehmen.“ Seine Großmutter erhob sich und ging Richtung Lobby. An der Tür blieb sie stehen und drehte sich noch mal zu ihm um. „Wer war eigentlich diese hübsche junge Engländerin in dem schwarzen Kleid?“

„Du meinst Mia Thompson?“ Dass Mia die Aufmerksamkeit seiner Großmutter erregt hatte, verblüffte ihn. „Eine Kunsthistorikerin aus London. Sie arbeitet für das Britische Museum. Warum fragst du?“

„Ich habe mich kurz mit ihr unterhalten. Sie scheint dich und deine Arbeit von Herzen zu bewundern. Ganz anders als diese Ivanka.“

6. KAPITEL

Mia streifte die Schuhe ab und ließ sich seufzend auf das Hotelbett fallen. Sie war erschöpft, und ihre Füße schmerzten. Am liebsten hätte sie sich auf der Stelle eingerollt und wäre in den Schlaf gesunken. Ein paar Atemzüge lang starrte sie an die Decke. Dann raffte sie sich noch mal auf und schleppte sich ins Bad. Sie schminkte sich ab, schlüpfte in ihr Nachthemd und putzte sich die Zähne, bevor sie sich wieder ins Bett kuschelte und die Augen schloss.

Im Zimmer war es dunkel und still. Trotzdem fand Mia nicht die nötige Ruhe, um unbeschwert einzuschlafen. In ihrem Körper schien etwas nachzuklingen wie nach dem Besuch einer Disco mit zu lauten Bässen. Das Blut in ihren Adern pulsierte. Ihre Gedanken kreisten in Dauerschleife um Leonardo. Warum suchte er ihre Nähe? Wieso ließ selbst eine beiläufige Berührung ihr Herz vor Aufregung schneller schlagen?

Und dann hatte er sie auch noch mit einer Einladung zu einem Wochenendausflug überrumpelt! Konnte sie es sich überhaupt erlauben, Leonardo eine Absage zu erteilen? Oder war ihr Auftrag damit zum Scheitern verurteilt?

Mia steckte in einer Zwickmühle. Sie wälzte sich von einer Seite auf die andere, ohne einen Ausweg zu finden. Irgendwann verloren dabei sogar die Fragen, die ihr durch den Kopf schwirrten, die Orientierung, und Mia fiel in einen von wirren Träumen geplagten Schlaf.

Am nächsten Morgen erwachte sie mit steifen Gliedern. Sie streckte sich und dachte bereits im selben Augenblick wieder an Leonardo. Doch diesmal erfasste sie ihre Situation mit einer neuen Klarheit. Ihr Unterbewusstsein hatte die Lösung gefunden.

Ein Lächeln stahl sich auf Mias Lippen. Von wegen Zwickmühle! Der Jachtausflug war eine einmalige Gelegenheit, um ihrem Ziel näher zu kommen. Sie würde das Wochenende mit einem gebildeten und weltgewandten Mann verbringen und ganz nebenbei noch ihre Karriere in Schwung bringen. Warum die Zeit also nicht genießen? Sie durfte nur nicht den Fehler begehen, sich von ihren Gefühlen zu einer Dummheit verleiten zu lassen. Aber schließlich war sie eine erwachsene Frau. Wie schwer konnte es schon sein, sich der rein körperlichen Anziehungskraft dieses Mannes zu entziehen?

Auf einmal fühlte sie sich leicht und beschwingt. Mia schwang sich aus dem Bett und tänzelte ins Bad. Unter der Dusche summte sie vor sich hin und machte sich dann zügig für die Abreise fertig. Jetzt konnte sie es gar nicht mehr erwarten, auf das Schiff zu kommen. Gerade als sie den Reißverschluss ihres Trolleys zuzog, klingelte das Telefon. Der Concierge teilte ihr mit, dass man sie um zehn zum Hafen bringen würde. Mia legte den Hörer auf, blickte auf die Uhr und seufzte. Noch eine ganze Stunde.

Sie setzte sich aufs Bett und spürte ihr Herz wild klopfen. Erst jetzt wurde Mia klar, dass sie total aufgedreht war, wie ein Teenager vor dem ersten Date. Es ist nur ein Business-Trip und kein romantischer Kurzurlaub, sagte sie sich. Aber sie ahnte, dass diese Trennlinie nur mit Disziplin und Besonnenheit aufrechtzuerhalten war. Und angesichts ihrer euphorischen Stimmung kam sie sich alles andere als besonnen vor.

Was ich jetzt brauche, ist eine Tasse Tee, dachte Mia, und nahm den Aufzug hinunter in die Lobby.

Der Eingang zum Frühstücksraum lag links vom Empfang. Mia setzte sich an einen kleinen Tisch am Fenster und bestellte Schwarztee. Während sie auf ihr Getränk wartete, ließ sie den Blick durch den Raum schweifen. An der Stirnseite des Saals befand sich das Büfett. Ein Kellner brachte gerade ein Tablett mit aufgeschnittener Wassermelone und grünen Feigen herein. Mias Blick folgte ihm, bis die Seniorin am Nebentisch sie bemerkte.

„Sie sollten zugreifen. Die Früchte werden jeden Morgen frisch geerntet.“

Mia stutzte. Ohne den prägnanten Akzent hätte sie die ältere Dame vielleicht gar nicht wiedererkannt. Genau wie gestern war sie modisch gekleidet, hatte aber das schicke Kostüm und den eleganten Hut gegen eine gestreifte Bluse und eine marineblaue Hose getauscht. Das schulterlange silbergraue Haar fiel locker herab und umrahmte ihr charismatisches Gesicht mit den intelligenten Augen.

„Danke für den Tipp.“ Mia versuchte ihre Überraschung durch ein erzwungenes Lächeln zu überspielen.

Die Frau schwieg einen Moment. „Es tut mir leid, wenn ich gestern etwas direkt war“, sagte sie dann ruhig, aber bestimmt.

Mia schüttelte den Kopf. „Sie müssen sich nicht entschuldigen. Ich hätte das Gespräch gerne weitergeführt und habe nach Ihnen Ausschau gehalten. Aber leider habe ich Sie nicht mehr gefunden.“

„Ein kurzer Blick auf die Münzen hat mir genügt. Ich habe mich schon immer mehr für Menschen als für Dinge interessiert.“

Der Kellner brachte Mias Tee. Sie gab einen Schuss Milch hinein und rührte nachdenklich um. „Manchmal lässt sich beides nur schwer trennen.“

„Ich weiß.“

Mia erwiderte nichts.

Autor

Lucy Monroe
<p>Die preisgekrönte Bestsellerautorin Lucy Monroe lebt mit unzähligen Haustieren und Kindern (ihren eigenen, denen der Nachbarn und denen ihrer Schwester) an der wundervollen Pazifikküste Nordamerikas. Inspiration für ihre Geschichten bekommt sie von überall, da sie gerne Menschen beobachtet. Das führte sogar so weit, dass sie ihren späteren Ehemann bei ihrem...
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