Romana Gold Band 64

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  • Erscheinungstag 13.08.2021
  • Bandnummer 64
  • ISBN / Artikelnummer 9783751503303
  • Seitenanzahl 444
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Lucy Gordon, Kay Thorpe, Anne Mather

ROMANA GOLD BAND 64

1. KAPITEL

Einer der schönsten Männer, die von der Natur jemals erschaffen wurden, dachte Laura anerkennend. Und sie meinte nicht einfach nur gut aussehend. Wirklich schön!

Jeder hätte den Mann beachtet, der zurückgelehnt auf der Parkbank saß. Sein dunkles Haar lockte sich ein bisschen. Er hatte markante Gesichtszüge und einen sinnlichen Mund, und an seinem großen Körper mit den langen Beinen war kein Gramm zu viel. Die alte Jacke, abgetragene Jeans und ein Eintagebart erweckten den Eindruck, dass er ein Landstreicher war, aber einer mit Stil.

Wahrscheinlich hatte der Typ nichts zwischen den Ohren, allerdings war das mit so einem Aussehen auch nicht nötig. Im nächsten Moment überdachte Laura ihr Urteil. Die dunklen Schatten unter den geschlossenen Augen und der angespannte Zug um den Mund legten nahe, dass der Mann nervlich am Ende war und seit Monaten nicht richtig geschlafen hatte.

„Mom.“

Laura blickte ihre achtjährige Tochter an, die neben ihr stand und mit einem Fußball unter dem Arm ungeduldig darauf wartete, dass der Spaß losging. „Entschuldige, Schatz“, sagte sie und wandte sich von dem Mann auf der Bank ab.

Am ersten echten Frühlingstag hatte Debbie unbedingt in den Park gewollt. Zuerst hatte Laura protestiert.

„Es ist noch nicht wirklich warm genug.“

„Doch!“, hatte Debbie behauptet.

Und sie hatte recht. Das Wetter war herrlich. Laura hatte einen anderen Grund, warum sie der Welt nur ungern gegenübertrat, einen, den sie nicht aussprechen mochte, obwohl das kleine Mädchen auch ohne Worte verstand.

Bevor sie aus dem Haus gegangen waren, hatte Laura noch schnell ihr blondes Haar durchgekämmt, das immer unordentlich aussah, ganz gleich, wie sie versuchte, die üppigen Locken zu bändigen. Ihr Äußeres erzählte zwei verschiedene Geschichten. Das Haar schien zu einem fröhlichen, unbekümmerten Teenager zu gehören, und mit ihren zweiunddreißig Jahren hatte sie noch immer die schlanke Figur einer Jugendlichen. Ihr Gesicht war jedoch von Traurigkeit und Erschöpfung gezeichnet. Für Falten war es noch zu früh, aber ihre blauen Augen waren glanzlos geworden.

Ihre Tochter bekam allmählich den gleichen resignierten Blick. Mit acht Jahren verlor Debbie schon ihre kindliche Unbeschwertheit. Und ihre verzweifelte Mutter konnte nichts dagegen tun.

Der Park füllte sich bereits. Kinder spielten Ball, Erwachsene saßen auf den Bänken und genossen die Sonne.

Laura erkannte einige andere Mütter und winkte ihnen zu. Sie winkten ebenfalls, sahen dann aber schnell weg. Wie könnt ihr es wagen, meine Tochter abzulehnen?, wollte Laura in solchen Momenten schreien. Ihr Gesicht ist ein bisschen anders. Na und? Welchen Schaden fügt euch das zu? Sie blickte schnell Debbie an. Hatte sie es bemerkt? Anscheinend nicht. Sie lief los und dribbelte geschickt.

Der schöne Mann saß noch immer regungslos auf der Bank. Nicht, dass Laura großen Wert auf gutes Aussehen legte. Jack war auch attraktiv gewesen mit seinem breiten, gutmütigen Lächeln und dem liebenswürdigen Benehmen – bis zu dem Tag, an dem er seine Frau und seine Tochter ohne einen Blick zurück verlassen hatte.

Debbie ließ den Kinderfußball aufprallen und sah sich hoffnungsvoll um.

„Ich entdecke niemand, den wir kennen“, sagte Laura. „Spielen wir beide doch einfach zusammen.“

„Du meinst, die anderen Kinder wollen nicht mit mir spielen?“

Lauras Herz setzte einen Schlag aus, und es gelang ihr nicht, ihre Gefühle zu verbergen.

„Ist schon in Ordnung, Mom.“ Debbie rieb sich das Gesicht. „Die Leute verstehen das nicht.“

„Nein, sie verstehen es nicht.“

„Wolltest du deshalb nicht, dass wir hierher kommen?“

Du lieber Himmel, sie ist erst acht Jahre alt!, dachte Laura. Ihre Tochter wusste viel zu viel. „Ja. Wegen der Leute, die es nicht verstehen und unfreundlich zu dir sind.“

„Sie sind nicht direkt unfreundlich. Es ist nur so, dass sie mich nicht gern ansehen. Kümmere dich nicht darum.“ Debbie rannte ein Stück und begann zu dribbeln.

Laura stand einen Moment lang da und unterdrückte den Wunsch, einen Mord zu begehen. Aber wen umbringen? Das bösartige Schicksal, das dafür gesorgt hatte, dass ihr Kind anders war? Die ganze grausame, ignorante Welt, die für Debbie alles noch schlimmer machte? All die gedankenlosen Dummköpfe, die nur ihr Gesicht sehen konnten und nicht ihr reizendes, liebenswertes Wesen?

„Los, Mom!“, rief Debbie.

Sie spielten eine Weile, bis Debbie einen so kräftigen Schuss abgab, dass der Ball hoch in die Luft segelte und direkt auf dem Bauch des schlafenden Mannes landete. Er wachte mit einem Schrei auf und packte reflexartig den Ball.

Debbie lief zur Bank.

„Ist das deiner?“ Der Mann sprach mit fremdem Akzent.

„Ja. Tut mir leid.“ Debbie ging näher heran und stellte sich direkt vor ihn hin. Sie beobachtete ihn und wartete auf den Moment, in dem er den Blick abwenden würde.

Woher nimmt sie den Mut, das zu tun?, fragte sich Laura.

„Ich hoffe, es tut dir wirklich leid“, sagte er. „Ich habe gerade etwas Schönes geträumt und peng!“

Er hatte nicht auf ihr Gesicht reagiert. Debbie rückte weiter vor und riskierte grimmig, dass ihr Glück nicht anhielt. „Ich wollte das nicht.“

„Natürlich nicht.“

Laura kam zu ihnen. „Ich bitte um Entschuldigung. Hoffentlich sind Sie nicht verletzt.“

Er schenkte ihnen beiden ein strahlendes Lächeln, das die ganze Welt zu erhellen schien. Es machte das Leben schöner. „Ich denke, ich werde es überleben.“

„Der Ball hat einen Schmutzfleck auf Ihrem Hemd hinterlassen.“

Er blickte auf sein schon sehr mitgenommenes Hemd. „Wie können Sie das erkennen?“, fragte er traurig.

Debbie kicherte, und er lächelte sie an.

Passierte das wirklich? Laura beobachtete ihn eingehend. Andere Leute schreckten bei Debbies Anblick zurück oder wurden übertrieben freundlich, was fast noch schlimmer war. Dieser Mann schien nicht bemerkt zu haben, dass sie anders war. „Ich bin Laura Gray“, stellte sie sich vor. „Und das ist meine Tochter Debbie.“

„Gino Farnese.“ Er schüttelte Laura die Hand.

Seine Hand war groß und kräftig und ließ auf schwere körperliche Arbeit schließen. Trotz des behutsamen Drucks konnte Laura die Stärke spüren.

Er nahm Debbies Hand. „Buon giorno, signorina. Sono Gino.“

„Was heißt das?“, fragte das Kind.

„Guten Tag, junge Frau. Ich bin Gino.“

Sie runzelte die Stirn. „Du bist Ausländer. Du sprichst so komisch.“

„Debbie!“, rief Laura. „Wo sind deine Manieren?“

„Es stimmt wirklich. Ich bin Italiener.“ Anscheinend war er nicht beleidigt.

„Kannst du gut Fußball spielen?“

„Debbie!“

„Ich glaube, ich bin ziemlich brauchbar“, erwiderte Gino. „Vorausgesetzt, dass mein Gegner nicht allzu grob wird.“

Debbie hüpfte davon. „Los!“

„Ich bitte um Entschuldigung“, sagte Laura hilflos.

Er zeigte wieder sein strahlendes Lächeln. „Keine Sorge. Jetzt bin ich ja auf der Hut vor Ihrer wilden Tochter.“

„Das habe ich nicht …“

Er war schon weg und tänzelte um den Ball. Laura beobachtete, wie er ihn geschickt hierhin und dorthin trat, nicht zu hart und gerade so weit, dass Debbie dafür arbeiten musste. Und es wirkte völlig natürlich. Laura stolperte fast über einen Koffer, als sie sich auf die Bank setzte. Er hatte in einer Ecke ein Loch und sah genauso schäbig aus wie Gino selbst, der mehrere Nächte lang in seinen Sachen geschlafen zu haben schien.

Schließlich brachte er es fertig, den Ball so klug an Debbie zu verlieren, dass sie glauben konnte, ihn erobert zu haben. Sofort schoss sie ihn auf Gino ab. Er warf sich wie ein Torhüter zur Seite und verfehlte den Ball knapp.

Auf dem Boden sitzend, schrie Gino so laut „Tor!“, dass ihn mehrere Leute anstarrten und schnell weitergingen. „Das passiert immer“, erklärte er. „Die Leute laufen vor mir weg, weil sie mich für verrückt halten.“

„Bist du verrückt?“, wollte Debbie wissen.

„Ich glaube, ja. Also kann man es ihnen nicht verübeln.“

„Ich laufe nicht weg.“

„Danke.“ Gino stand auf und holte den Ball.

Debbie rannte zu ihrer Mutter. „Er hat es nicht gesehen, Mom. Er hat es nicht gesehen!“, flüsterte sie schnell.

„Liebling …“

„Alle anderen können es sehen, aber er nicht. Meinst du, ich bin verzaubert?“

Laura sehnte sich von ganzem Herzen danach, Ja zu sagen. Ihr wurde eine Antwort erspart, da Gino mit dem Ball zurückkehrte. „Es wird Zeit, dass wir nach Hause gehen und Tee trinken. Ich hoffe, Sie kommen mit. Nachdem meine Tochter Sie in Trab gehalten hat, ist eine Tasse Tee das Mindeste, was ich Ihnen anbieten kann.“

„Das ist sehr nett …“

„Schön, dann kommen Sie mit.“ Laura wollte Gino Farnese nicht entwischen lassen. „Das Haus ist gleich dort drüben. Außerdem ist Debbie wahrscheinlich nicht bereit, sich schon von Ihnen zu verabschieden.“

Das kleine Mädchen hüpfte aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. Laura konnte erkennen, dass ihre Tochter eine dieser spontanen, unerklärlichen Freundschaften geschlossen hatte, die manchmal bei Kindern vorkamen.

War sie unerklärlich? Gino Farnese hatte Debbie wie ein ganz normales Kind behandelt, und nur das wollte sie. Nein, es war keineswegs unerklärlich.

Sie hopste den ganzen Weg plappernd neben ihm her und kicherte über seinen Akzent. Sofort übertrieb er ihn und brachte sie dazu, noch mehr zu kichern. Laura gab ihm die höchste Punktzahl für Gutherzigkeit.

Das große, dreistöckige viktorianische Haus machte einen heruntergekommenen Eindruck, war drinnen jedoch sauber und gemütlich. „Leben Sie hier allein mit Ihrer Tochter?“, fragte Gino.

„Nein, ich vermiete Zimmer.“

„Ah! Sind sie teuer?“

„Nicht besonders, nein. Tatsächlich ist mein einziges noch freies Zimmer kleiner als die anderen und deshalb spottbillig.“ Laura hoffte, dass sie nicht zu eifrig klang, aber sie wollte, dass Gino Farnese bei ihr einzog und ihre Tochter zum Lächeln brachte.

Die Haustür führte in eine breite Diele. Rechts war die Treppe, links lag das Wohnzimmer. „Hier steht übrigens der einzige Fernsehapparat für alle Bewohner“, erklärte Laura. „Leider ist diese Pension so einfach. Und an der Rückseite des Hauses befindet sich die Küche.“

Sie war altmodisch und behaglich und hatte einen großen Tisch in der Mitte. Von den sechs Stühlen passten nur drei zusammen. Während Laura den Kessel auf den Herd stellte, sagte Gino: „Sie sollten vielleicht etwas über mich wissen, bevor Sie mich bei sich aufnehmen.“

Debbie legte gerade den Ball in den Dielenschrank, und Laura nutzte die Gelegenheit. „Ich weiß, dass Sie meine Tochter aufheitern können“, erwiderte sie leise. „Das ist wichtig.“

Gino dämpfte auch die Stimme. „Ja, ein kleines Mädchen zum Lächeln zu bringen ist wichtig. Aber Sie kennen mich nicht. Vielleicht habe ich sechs Frauen geheiratet und alle im Stich gelassen.“

„Sie sind zu jung, um schon sechsmal geheiratet zu haben. Viel älter als fünfundzwanzig können Sie nicht sein.“

„Neunundzwanzig“, berichtigte er sie gekränkt.

„Entschuldigung. Haben Sie sechs Ehefrauen verlassen?“

„Nur vier … nein, fünf. Das ist nicht so schlimm, oder?“

Ein Kichern von der Tür her verriet Laura und Gino, dass Debbie gelauscht hatte.

„Fünf sind in Ordnung, stimmt’s, Mom?“

Laura lachte. „Darüber können wir wohl hinwegsehen.“

„Das habe ich allerdings nicht gemeint, als ich gesagt habe, Sie sollten etwas über mich wissen. Ich habe im Moment kaum Geld, weil ich …“ Gino suchte nach den englischen Wörtern. „Come si dice? Ich bin überfallen und ausgeraubt worden.“

„Du meine Güte, wann?“

„In London. Ich mag die Stadt nicht. Sie ist zu groß und laut. Drei Kerle sind über mich hergefallen, haben sich meine Reisetaschen geschnappt und sind davongerannt. Zum Glück hatte ich meinen Pass und ein bisschen Geld in der Hosentasche, aber meine Kreditkarten und alle meine Sachen sind weg.“

„Sind Sie zur Polizei gegangen?“

„Klar. Die können nichts tun. Ich habe die Täter nicht einmal beschreiben können. Meine Kreditkarten habe ich sperren lassen, doch jetzt muss ich mir mehr Geld besorgen. Ich habe mir in einem Wohlfahrtsladen einige Sachen und den alten Koffer gekauft. Jetzt trage ich das schäbige Zeug, damit mein guter Anzug im Koffer bleibt. Ich hatte dann gerade noch genug Geld, um aus London herauszukommen. In einer hübsch aussehenden Kleinstadt bin ich einfach aus dem Zug gestiegen. Wo ich bin, weiß ich nicht. Auf dem Bahnhofsschild stand Elverham, aber wo ist Elverham? Was ist Elverham? Ist es real, oder habe ich es mir nur eingebildet?“ Gino bemerkte, wie Laura ihn anblickte, und wurde vernünftig. „Tut mir leid. Ich habe Sie gewarnt, dass ich ein bisschen verrückt bin.“

„Darauf haben Sie wohl ein Recht. Elverham liegt ungefähr sechzig Meilen nördlich von London und ist ein Marktflecken in einer ländlichen Gegend. Hier passiert niemals irgendetwas Aufregendes. Und was haben Sie gemacht, nachdem Sie aus dem Zug gestiegen waren?“

„Ich bin ziellos herumgewandert und schließlich im Park gelandet. Dort habe ich unter einem Busch übernachtet. Deshalb sehe ich ein bisschen aus wie … na ja …“ Gino wies mit einer Handbewegung auf seine ungepflegte Erscheinung.

Debbie strahlte. Sie hatte ihn gern, auch wenn er wie ein Landstreicher aussah.

„Morgen versuche ich, ein Bankkonto zu eröffnen und Geld aus Italien zu bekommen. Erst einmal habe ich fast nichts, und ich kann Ihnen heute keine Anzahlung für das Zimmer geben.“

„Es eilt nicht. Zuerst sollten Sie das Zimmer testen. Vielleicht gefällt es Ihnen nicht.“

„Nach dem, wie ich in der vergangenen Nacht geschlafen habe, wird es mir gefallen“, versicherte er Laura, und sie lachten alle.

„Wir haben Italien in Erdkunde durchgenommen“, sagte Debbie stolz. „Es sieht aus wie ein Stiefel. Aus welchem Teil bist du?“

Laura glaubte, dass Gino einen Moment lang zögerte, bevor er antwortete.

„Aus der Toskana.“

Debbie runzelte die Stirn. „Wo ist das?“

„Auf der linken Seite, ziemlich weit oben.“

„Und da ist dein Zuhause?“

Die Frage schien Gino zu beunruhigen. „Mein Zuhause“, murmelte er kaum hörbar.

„Ja, du weißt schon, wo man dich hereinlassen muss, auch wenn man dich nicht mag.“

„Debbie!“, stöhnte Laura.

„Das ist gar keine schlechte Beschreibung“, erwiderte Gino lächelnd. „Ja, in der Toskana ist der Ort, wo man mich hereinlassen müsste.“

„So einer wie dieser?“, fragte Debbie.

Gino lachte. „Nein, es ist ein Bauernhof.“

„Ist er groß?“

„Zu groß. Zu viel Arbeit. Ich bin einfach davongelaufen. Irgendetwas riecht hier gut.“

„Es ist nur der Tee. Ich schenke Ihnen eine Tasse ein.“ Laura musste anerkennen, wie geschickt Gino vom Thema abgelenkt hatte. Offensichtlich wollte er nicht über sein Zuhause sprechen. Sie hätte gern gewusst, wovor er davonlief. Nicht vor harter Arbeit, wie er angedeutet hatte. Aber er war vor irgendetwas auf der Flucht. Sein seltsamer Gesichtsausdruck hatte verraten, dass er sich in einer schwierigen Situation befand. Laura war nicht sicher, wie viel sie von der Geschichte mit dem Raubüberfall glauben sollte. Vielleicht wollte Gino ihr damit nur zu verstehen geben, dass er nicht wirklich ein Landstreicher war, ganz gleich, wie er aussah. Er ist ein Clown, für den Herumalbern eine Möglichkeit ist, sich zu verstecken, dachte sie.

Im Grunde genommen stimmte es, dass sie nichts über ihn wusste. Gino Farnese konnte irgendein irrer Typ sein.

Aber dann blickte sie ihn an und vergaß diesen Gedanken. Ihr Gefühl sagte ihr, dass er ein anständiger Mann war.

„Ich mache jetzt Ihr Zimmer fertig“, erklärte sie.

Er folgte ihr in den ersten Stock, in dem drei der vermieteten Zimmer lagen, die anderen waren eine Etage höher. Laura führte ihn zu einem Raum am Ende des Flurs, Debbie bildete die Nachhut. Das Zimmer war wirklich klein. Es hatte einen Kleiderschrank, eine Kommode, einen Sessel und ein Waschbecken. Das Bett war schmal und gerade lang genug für ihn. Gino war trotzdem zufrieden. Für seine wenigen Habseligkeiten reichte der Platz.

Laura holte Laken und Decken und machte mit Debbies Hilfe das Bett.

„Kann ich mich nicht nützlich machen?“, fragte Gino.

„Du kannst das Kopfkissen beziehen“, antwortete Debbie.

„Danke, Madam.“

„Ich habe noch fünf andere Dauergäste“, erklärte Laura. „Sadie und Claudia sind Schwestern. Sie sind beide in einer hiesigen Computerfabrik angestellt. Bert ist Nachtwächter. Fred ist Rausschmeißer in einem Nachtclub. Und Mrs. Baxter ist Witwe und pensionierte Lehrerin. Sie passt auf Debbie auf, wenn ich abends arbeiten muss.“

„Sie führen diese Pension und arbeiten zusätzlich noch woanders?“, fragte Gino überrascht.

„Einige Stunden in der Woche als Bardame, ja. Der Pub ist nicht weit entfernt.“

Als sie fertig waren, traten sie zurück und betrachteten das Ergebnis.

„Ich fürchte, das Zimmer ist ein bisschen kahl“, stellte Laura fest.

„Ich weiß, was wir tun können.“ Debbie lief hinaus und kehrte kurz darauf mit einem Stoffhund zurück, den sie triumphierend auf die kleine Kommode neben dem Bett legte. „Er heißt Simon. Und er wird dir Gesellschaft leisten.“

Gino setzte sich aufs Bett, sodass seine Augen auf gleicher Höhe mit der des Kindes waren. „Danke. Das ist sehr nett von dir. Jetzt habe ich einen Freund.“

„Drei Freunde. Weil du uns auch hast.“

Gino blickte fragend Laura an.

Sie nickte. „Du hast jetzt drei Freunde. Ich muss mit dem Abendessen anfangen. Komm mit, Debbie. Da er im Park übernachtet hat, sehnt sich Gino wahrscheinlich danach, ein bisschen zu schlafen.“

Er lächelte und bestritt es nicht.

Als Laura und Debbie weg waren, legte er sich aufs Bett, sah an die Decke und wartete darauf, dass er einschlief. Nach der ungemütlichen Nacht, die er hinter sich hatte, musste das eigentlich schnell passieren. Wie er befürchtet hatte, hielt ihn seine innere Unruhe wach. Inzwischen war er daran gewöhnt. Früher hatte er immer gut geschlafen, aber das hatte sich in den sechs Monaten geändert, seit er Italien verlassen hatte. Anscheinend konnte er nur noch jede zweite Nacht richtig schlafen. In den anderen jagte er Träumen und Wunschbildern nach und kämpfte mit seiner Trauer.

Das Kind hatte ihn überrumpelt, als es „Zuhause“ erwähnt hatte. Wo man dich hereinlassen muss, auch wenn man dich nicht mag. Sein Zuhause war „Belluna“, das große Gut in der Toskana. Wenn er an die Tür klopfen würde, dann würden ihn sein Bruder und Alex, die Frau seines Bruders, denn so musste Gino sie jetzt nennen, hereinlassen. Sie müssten es tun, weil ihm die Hälfte des Besitzes gehörte. Zweifellos würden sie lächeln und sagen, wie schön es sei, ihn zu sehen, wie besorgt sie während seiner Abwesenheit gewesen seien und dass sie jeden Tag an ihn gedacht hätten.

Und alles wäre wahr. Aber eine andere Wahrheit würde niemand aussprechen. Rinaldo und Alex würden Angst haben, dass er, Gino, mit seiner Verbitterung, mit seiner qualvollen unerwiderten Liebe, ihre glückliche Ehe gefährden würde. Hinter seinem Rücken würden sie sich ansehen und beide wissen, dass ein Fremder zwischen sie getreten war. Und insgeheim würden sie sich danach sehnen, dass er abreiste.

„Ich kann dich niemals lieben“, hatte Alex gesagt. „Nicht so jedenfalls, wie du es möchtest.“

Selbst sie hatte nicht verstanden, wie sehr er sie liebte. Vorher hatte er sich schwindelerregend schnell von einer flüchtigen Vernarrtheit in die nächste gestürzt. Dann lernte er Alex kennen und lebte plötzlich in einer neuen Welt, einer, in der SIE existierte. Die eine, einzige Frau für ihn, denn wie viele junge Männer, die leichtfertig und sorglos liebten, hatte auch ihn die wahre Liebe wie ein Blitzschlag getroffen. Danach war keine Sorglosigkeit mehr möglich.

„Nicht so, wie du es möchtest“, hatte Alex gesagt.

Gino hatte alles von ihr gewollt, Liebe, Zärtlichkeit, Leidenschaft und ein Versprechen fürs ganze Leben.

Und er hatte geglaubt, alles zu bekommen. Bis zu der Nacht, in der er nach Hause zurückgekehrt war und Alex im Bett seines Bruders gefunden hatte.

2. KAPITEL

Manchmal waren die Träume schlimmer als die Erinnerungen. Wenn man wach war, konnte man beschließen, nicht weiter daran zu denken. Träume dagegen waren unbarmherzig.

In seinen Träumen musste Gino noch einmal durchleben, wie er Alex auf der Erntedankparty vor allen Nachbarn eine Liebeserklärung gemacht hatte. Was er getan und gesagt hatte, ließ ihn sogar jetzt noch vor Scham schaudern.

Er hatte ihr den mit Diamanten und Saphiren besetzten antiken Ring gezeigt. „Du hast immer gewusst, was ich für dich empfinde. Selbst als ich den Narren gespielt habe, hat mein Herz dir gehört.“

Dann kniete er vor ihr nieder und bat sie, seine Frau zu werden. Ihr Schweigen und ihren bestürzten Blick verstand er nicht. Er glaubte, es sei ihr peinlich, vor all den Leuten einen Heiratsantrag zu bekommen, und er war sicher, dass alles gut werden würde, als sie kurz darauf allein waren. Getrieben von seinen überwältigenden Gefühlen, sagte er ihr, dass sie die Einzige sei, „anders als die Frauen, mit denen ich gespielt und die ich für fünf Minuten geliebt habe. Diesmal ist es für mein ganzes Leben und darüber hinaus.“

„Nein!“, rief Alex. „Sag das nicht. Es darf nicht wahr sein.“

„Warum darf es nicht wahr sein?“, fragte er verwirrt.

„Weil ich dich nicht liebe.“

Er konnte, wollte es nicht glauben, weil es zu entsetzlich war. Also ging er und nahm sich vor, später zurückzukehren und es ihr verständlich zu machen.

Gino schreckte aus dem Schlaf auf, am ganzen Körper zitternd.

Es war dunkel. Von unten hörte er Gemurmel. Er stand auf und ging zum Fenster. Da sein Zimmer an der Hausecke lag, konnte er das erleuchtete Küchenfenster und hinter dem Vorhang sich bewegende Schatten sehen. Die anderen mussten zurückgekommen sein, aber jetzt mit ihnen zusammenzutreffen war unmöglich. Gino wusste aus Erfahrung, dass sich nicht anhalten ließ, was in seinem Kopf passierte. Nicht, wenn er diesen bitteren Weg im Traum betreten hatte. Dann musste er ihn zu Ende gehen, obwohl er dem nächsten Abschnitt gern auswich.

Kurz vor dem Ende der Party war er weggefahren und erst in den frühen Morgenstunden zurückgekehrt. Er hatte beschlossen, mit Rinaldo zu sprechen, dem älteren Bruder, der ihm wie ein zweiter Vater gewesen war und dem er mehr als jedem anderen Menschen vertraute. Rinaldo würde ihm einige gute Ratschläge geben.

Er ging in das Zimmer seines Bruders, ohne anzuklopfen. Was er sah, traf ihn wie ein Schlag. Im Bett lag Alex. Rinaldo schlief in ihren Armen, sein Kopf ruhte auf ihrer Brust. Das Laken war zurückgeworfen und zeigte, dass beide nackt waren.

Gino hatte davon geträumt, Alex’ nackten Körper zu sehen, aber nicht so.

Sie wachte zuerst auf und war bei seinem Anblick einen Moment lang wie gelähmt vor Entsetzen. Dann streckte sie die Hand nach ihm aus, aber er wich zurück, als würde ihn ihre Berührung umbringen. Während der nachfolgenden Auseinandersetzung machte er die grausame Entdeckung, dass Rinaldo und Alex in eine andere Welt entflohen waren, aus der er, Gino, ausgeschlossen war.

„Ich habe sie dir nicht weggenommen“, sagte Rinaldo traurig, aber bestimmt. „Sie hatte die Wahl.“

Erst einige Zeit später sah er ein, dass es stimmte. Alex hatte ihn nicht getäuscht. Er hatte sich selbst getäuscht. Er konnte ihr sowieso nicht die Schuld geben, weil er sie auf ihrem Podest lassen musste. Das tat weniger weh, als sie für seinen Kummer verantwortlich zu machen. Für ihn war eine Welt zerbrochen, doch er wusste, dass Rinaldo und Alex es nicht verstanden. Weil er sich durchs Leben gelacht hatte, glaubten die beiden, er würde auch dies lachend abtun: Der jungenhafte, unzuverlässige Gino hatte schon so viele Frauen gehabt, wenn er eine verlor, spielte das keine Rolle.

Nur er wusste, dass Alex „die eine“ gewesen war und es bleiben würde, solange er lebte. Dass seine Liebe nicht erwidert wurde, war eine Katastrophe, die ihn bis ins Innerste erschütterte und veranlasste fortzugehen, damit er seinen Bruder und Alex nicht zusammen sehen musste.

Und so hatte Gino nicht nur Alex, sondern auch sein Zuhause verloren. Sechs Monate lang war er gereist. Wohin, war ihm gleich gewesen, Hauptsache, er war weit weg von Belluna. Als Mitbesitzer hatte er das Recht, ein Einkommen aus dem Gut zu beziehen, aber er nahm so wenig wie möglich, weil er nicht dort war und bei der Arbeit half.

Er hatte jeden Job gemacht, den er hatte bekommen können, am liebsten war ihm schwere körperliche Arbeit gewesen, damit er am Ende des Tages zum Grübeln zu erschöpft war. Schließlich war er nach England gekommen, Alex’ Heimatland, und wahrscheinlich hatte er zwangsläufig hier landen müssen.

Jetzt schien er einen Ort ohne besondere Merkmale erreicht zu haben. Trotz Lauras Erklärung konnte sich Gino nicht richtig vorstellen, wo in England die Stadt lag. Und irgendwie gefiel ihm das. Er war nirgendwo und hatte nichts. Wenn er in der Bank gewesen war, würde er ein bisschen Geld besitzen, doch im Grunde würde er weiterhin nichts haben. Er war abgeschnitten von seiner Familie und allem, was er kannte, und er konnte nicht heimkehren, weil er kein Zuhause mehr hatte.

Gino öffnete die Augen und sah auf seine Armbanduhr. Es war fast Mitternacht. Er musste doch wieder eingeschlafen sein. Obwohl er von Alex geträumt hatte, fühlte er sich seltsamerweise gut ausgeruht. Er stand auf und blickte in den Flur. Im Haus war es dunkel und still. Die anderen Gäste mussten zu Abend gegessen haben und in ihre Zimmer gegangen sein. Er konnte in der Dunkelheit einige Türen ausmachen. Sie sahen alle gleich aus. Hinter welcher war das Bad? Wie fand ein Fremder das heraus? Jede ausprobieren? Verdammt!

Zu seiner Erleichterung hörte Gino die Haustür aufgehen. Er blickte über das Treppengeländer. Laura kam gerade herein. „Aiuto!“, sagte er eindringlich.

„Wie bitte?“

„Hilfe! T’imploro!

„Was ist denn los?“

„Ich brauche …“ In seiner Panik fielen ihm die englische Vokabeln nicht ein. Un gabinetto. Ti prego, un gabinetto.“

Laura konnte kein Italienisch, aber sein verzweifelter Ton verriet ihr, was Gino wollte. „Hier.“ Sie öffnete eine Tür unter der Treppe.

„Grazie, grazie!“ Er nahm drei Stufen auf einmal und verschwand in dem kleinen Badezimmer.

Laura ging lächelnd in die Küche und setzte Wasser auf. Kurz darauf tauchte Gino auf, der jetzt viel glücklicher aussah.

„Danke. Tut mir leid, dass ich dich auf Italienisch angeschrien habe. Gabinetto heißt …“

„Inzwischen kann ich mir denken, was es heißt“, sagte Laura, und sie lachten beide. Als das Wasser kochte und sie zum Herd gehen wollte, hinderte Gino sie daran.

„Setz du dich hin. Ich mache den Tee. Du musst müde sein.“

„Danke.“ Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken. „Weißt du denn, wie man englischen Tee zubereitet?“

„Ich habe dir heute Nachmittag zugesehen. Hier bitte. Ist er richtig so?“

Der Tee war köstlich.

„Wie viele Abende in der Woche arbeitest du im Pub?“

„Drei, normalerweise.“

„Und du führst diese Pension, und wann lebst du?“

„Debbie ist mein Leben. Nichts sonst ist von Bedeutung.“

„Und du bist allein?“, fragte Gino vorsichtig.

„Du meinst, ob ich einen Ehemann habe? Ich hatte einen. Wir waren sehr glücklich, bis Debbie vier Jahre alt war. Sie hat Jack abgöttisch geliebt. Und er schien sie abgöttisch zu lieben. Jeder hätte ihn als perfekten Vater bezeichnet. Dann begann ihr Gesicht zu wachsen, zu schnell und unregelmäßig. Du siehst ja, dass ihre Stirn zu groß ist. Und Jack ist einfach gegangen.“

„Un criminale!“, rief Gino leise. „Und die piccina? Wie viel weiß sie?“

„Sie weiß, dass ihr Vater sie abgelehnt hat. Mir zuliebe tut sie so, als wüsste sie es nicht.“

„Ist keine Heilung möglich?“

„Irgendwann kann man es vielleicht operativ in Ordnung bringen, aber nicht jetzt, solange sie noch wächst. Also heißt es für sie warten und leiden. Menschen können so grausam sein. Sie meinen, weil sie anders aussieht, muss sie dumm sein.“

„Nein, nein. Sie ist ein sehr intelligentes kleines Mädchen.“

„Ja. Aber die Leute verbieten ihren Kindern, mit Debbie zu spielen. Manchmal bemühen sie sich, ‚nett‘ zu sein, nur hat das dann etwas Absichtliches, als würden sie sich dazu gratulieren, wie nett sie sind.“

„Wie kommt sie in der Schule zurecht?“

„Sie hat einige gute Freundinnen, und die meisten Lehrer sind anständig. Manche der anderen Kinder schikanieren und hänseln sie, und eine Lehrerin hat mich doch tatsächlich aufgefordert, Debbie von der Schule zu nehmen, weil sie sich ‚nicht einfügen könne‘. Sie hat gesagt, Debbie benötige eine Schule für Kinder mit ‚besonderen Bedürfnissen‘. Ich habe erwidert, sie habe lediglich das Bedürfnis, verständnisvoll behandelt zu werden. Dann habe ich mich bei der Rektorin beschwert, die zum Glück eine von den Guten ist. Mit dieser Lehrerin hatte ich keine Probleme mehr, aber es gibt noch viele andere, die so denken. Mit Glück wird Debbie eines Tages in Ordnung kommen, bis es so weit ist, wird sie jedoch all die schlechten Erfahrungen gemacht haben.“

Gino nickte. „Und was ihr jetzt geschieht, wird sie fürs ganze Leben zeichnen.“

„Du hast sie heute im Park so glücklich gemacht, weil du sie direkt angeblickt und keine Reaktion gezeigt hast – keinen Schock, nicht einmal Überraschung, nichts. Es war … oh, ich kann dir gar nicht sagen, wie wundervoll es war und wie viel es Debbie bedeutet hat.“

Gino konzentrierte sich auf seinen Tee und hoffte, dass ihm sein Unbehagen nicht anzumerken war. Er hatte Lauras Lob nicht verdient. Tatsache war, dass er so mit seinen eigenen Problemen beschäftigt gewesen war, dass er nichts anderes wahrgenommen hatte.

Laura redete noch immer.

„Sie meint, dass sie verzaubert ist und du deshalb ihr Gesicht nicht richtig gesehen hast.“

„Irgendwie hat sie recht. Aber der Zauber war meine Ichbezogenheit. Ich war so damit beschäftigt, mich selbst zu bedauern, dass ich sie zuerst wirklich nicht gesehen habe, obwohl ich sie angeblickt habe. Also verdiene ich deine Freundlichkeit nicht.“

„Das spielt keine Rolle. Du hast Debbie glücklich gemacht, ohne es auch nur zu wissen. Vielleicht war es Zauberkraft.“

Gino nickte. „Wen interessiert das Wie und Warum, wenn es ihr gegeben hat, was sie braucht? Ihr Gesicht ist nicht wichtig. Sie ist ein reizendes kleines Mädchen.“

„Ja“, sagte Laura eifrig. „Debbie versteht jedoch nur das, was sie anderen Menschen von den Augen abliest.“

„Ich verspreche dir, dass sie niemals unter dem leiden wird, was sie mir von den Augen abliest.“

„Danke. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viel es bedeutet.“

Am nächsten Morgen beim Frühstück lernte Gino einige der anderen Pensionsgäste kennen. Sadie und Claudia waren mittleren Alters, ruhig und sehr schlank. Ihr Leben drehte sich um Computer, und beim geringsten Anlass stürzten sich die Schwestern in eine Diskussion über die neueste Technologie. Sie arbeiteten bei „Compulor“, einer Computerfabrik in der Nähe, wo sie beide verantwortungsvolle Positionen innehatten.

Mrs. Baxter war Mitte sechzig, eine hellwache, kleine Frau, die Gino von oben bis unten musterte und ein Schnaufen von sich gab, das anscheinend Einverständnis mit dem Neuen bedeutete.

Sadie und Claudia waren auch freundlich.

„Wir sind schon mal in Italien gewesen“, sagte Sadie.

„Auf einer sehr interessanten Computermesse in Mailand“, fügte Claudia hinzu. „Kennen Sie Mailand, Signor Farnese?“

„Gino, bitte. Nein, ich bin noch nie dort gewesen. Meine Gegend ist die Toskana.“ Sofort stellten sie ihm viele Fragen über die Region, die er höflich, aber widerstrebend beantwortete. Er wollte nicht näher auf seine Heimat eingehen.

„Normalerweise sehen wir Bert und Fred um diese Zeit nicht“, erklärte Laura. „Fred kommt nach Hause, wenn der Nachtclub in den frühen Morgenstunden schließt, und Bert ist vor fünf Minuten gekommen und sofort ins Bett gegangen.“

Debbie machte sich auf den Weg zur Schule, begleitet von Mrs. Baxter, die, obwohl pensioniert, gelegentlich noch halbtags unterrichtete. Bevor sie loszog, sagte Debbie wie eine perfekte Gastgeberin zu Gino: „Ich muss jetzt leider gehen, aber ich bin am Nachmittag wieder zu Hause.“

„Ich freue mich darauf“, erwiderte er ernst.

Er half Laura beim Geschirrspülen und überraschte sie mit seiner Tüchtigkeit.

„Ich dachte, italienische Männer seien altmodische Machos. In der Küche arbeiten ist etwas für Frauen und so weiter.“

„Du tust uns unrecht, wir sind sehr häuslich. Als ich ein kleiner Junge war, hat meine Mutter mir diese Dinge beigebracht, ‚nur für den Fall, dass du es jemals tun musst‘, wie sie es ausgedrückt hat. Sie hat mir gezeigt, wie man eine Tasse spült. Sobald ich damit fertig war, hat sie gesagt: ‚In Ordnung, jetzt kannst du es, geh spielen.‘“

„Und das war’s?“

„Das war meine häusliche Erziehung. Trotzdem, ich spüle ungemein gut.“

Sie lachten beide und räumten das saubere Geschirr zusammen weg.

Laura fuhr Gino mit ihrem Kleinwagen in die Stadt und begleitete ihn zur Bank. Schon nach kurzem Warten konnten sie dort mit dem Filialleiter sprechen.

„Es wird einige Tage dauern, bis das Geld von Ihrem italienischen Konto auf Ihrem neuen bei uns eingeht“, erklärte der Mann. „Wenn Sie bis dahin ein bisschen überziehen, ist das kein Problem.“

Als Erstes bezahlte Gino die Zimmermiete. „Für diese Woche und die nächste.“

„Aber diese Woche ist fast vorbei“, protestierte Laura.

„Geschäft ist Geschäft. Eine halbe zählt als ganze.“

„Ich bin die Vermieterin. Sollte ich nicht diejenige sein, die das sagt?“

„Solltest du. Allerdings bist du keine gute Geschäftsfrau, deshalb nehme ich dir das ab.“ Gino sah sie freundlich an. „Jemand muss auf dich aufpassen.“

Auf sie hatte schon so lange niemand mehr aufgepasst, dass die Worte Laura zuerst fast erschreckten. „Trotzdem habe ich ein schlechtes Gewissen dabei.“

„Keine Sorge, du verdienst dir das Geld noch. Ich werde der lästigste Bewohner sein, den du jemals hattest.“

Um zu beweisen, wie lästig er sein konnte, kam er mit, als Laura einkaufen ging. Er trug Sachen, machte sich ganz allgemein nützlich und erklärte, dabei könne er sein Englisch verbessern. Manchmal spielte er den Clown und behauptete, Wörter nicht zu kennen, die er ganz sicher wusste. Dann tat er völlig hilflos und brachte sie mit seiner Mitleid erregenden Miene zum Lachen. Allmählich nahm Laura die Botschaft in sich auf, die er aussandte. Sie konnte sich entspannen. Er war harmlos und verlangte nur, in Frieden gelassen zu werden.

Laura gewährte ihm gern den Freiraum, den er brauchte, aber sie war neugierig. Gino redete zwar viel, verriet jedoch so gut wie nichts über sich selbst. Sie dagegen offenbarte mehr, als sie es jemals getan hatte.

„Ich bin hier geboren“, erzählte sie ihm, während sie eine Pause machten und bei Tee und Toast saßen. „Und ich habe es für den langweiligsten Ort auf Erden gehalten. Ich wollte London und den Glanz der Großstadt.“

„Hast du es geschafft?“

„Ja. Ich habe mich an einer Londoner Tanzakademie eingeschrieben. Danach war ich in der Tanzgruppe einiger Shows, und sechs von uns haben schließlich eine eigene Truppe gegründet. Jack war unser Agent.“

„Das klingt nach einer im Himmel geschlossenen Ehe. Hat er versucht, einen Star aus dir zu machen?“

Laura lachte trübselig. „Nein. Eine Zeit lang habe ich es gehofft, aber sobald wir verheiratet waren, wollte er, dass ich alles aufgebe und nur Hausfrau war. Wir haben uns deswegen gestritten, bis ich schwanger geworden bin. Als Debbie da war, wollte ich einfach bei ihr sein. Außerdem hatte ich zugenommen, und die Pfunde bin ich seitdem nicht mehr losgeworden.“

„Ich kann sie nicht sehen.“ Gino musterte Laura kritisch.

„Jedenfalls wiege ich zu viel, um als Tänzerin zu arbeiten. Außerdem bin ich jetzt sowieso zu alt.“

„Achtzig? Neunzig?“

„Zweiunddreißig.“

„Du machst Witze. Du siehst keinen Tag älter als fünfzig aus.“

Laura lachte, aber es klang nicht fröhlich.

Sofort war Gino zerknirscht. „Entschuldige. Das war wohl nicht lustig.“

„Ach, ich bin nur überempfindlich. Über die Vergangenheit zu reden war ein Fehler. Es hat mich daran erinnert, dass ich mir versprochen hatte, mit dreißig berühmt zu sein.“

„Redest du sonst nicht über die Vergangenheit?“

„Mit wem denn? Nicht mit Debbie, das wäre zu schmerzlich für sie. Und warum sollte es die Pensionsgäste interessieren? Sie kommen und gehen.“

Gino konnte sich plötzlich sehr gut ihre Isolation vorstellen, die Last, die sie ganz allein trug. „Bist du nach der Trennung von deinem Mann wieder hierhergezogen?“

„Ja. In London zu leben wäre zu teuer gewesen, und er hat mich bestochen, damit ich aus der Stadt verschwinde. Er wurde damals gerade im Showbusiness bekannt, und die Schickimickis sollten nicht erfahren, dass er eine Tochter hatte, die nicht perfekt war. Er hat gesagt, es würde ihm beruflich schaden. Deshalb hat er mir eine höhere Abfindung angeboten, und ich habe sie angenommen, weil es für Debbie ohnehin das Beste war. Ich bin hierher zurückgekehrt und habe mit dem Geld das Haus gekauft. Davon kann ich leben.“

„Nicht besonders gut, wenn du zusätzlich abends arbeiten gehen musst. Wann schläfst du eigentlich?“

„Betrachte es von der positiven Seite. Ich brauche niemals einen Babysitter zu bezahlen. Irgendjemand ist immer zu Hause und passt auf Debbie auf, und sie hat sie alle gern.“

„Keiner von ihnen hat verletzend auf ihr Gesicht reagiert?“

„Nein. Ich habe jedoch alle gewarnt, bevor sie Debbie zum ersten Mal gesehen haben. Wenn möglich, überlasse ich es nicht dem Zufall, und natürlich vermutet sie das. Es sind Leute wie du, die sie schätzt, Leute, die keine Vorwarnung hatten.“

„Ich hoffe nur, ich enttäusche sie nicht“, sagte Gino.

Laura runzelte die Stirn. „Das ist unwahrscheinlich. Du bist auch verzaubert, verstehst du? Was auch immer du tust, Debbie wird es im Licht des Zaubers sehen und gut finden.“

„Du redest, als würdest du an Zauberkraft glauben.“

„Für so etwas Ähnliches halte ich es, wenn jemand fest entschlossen ist, nur das Beste von einem zu denken, ganz gleich, was man tut.“

Gino war seltsam berührt von diesen Worten, als hätte Laura ihm in die Seele geblickt. Gerade in der vergangenen Nacht war er sich bewusst gewesen, dass er das Beste von Alex denken musste, ganz gleich, wie unglücklich sie ihn gemacht hatte. „Ja, das ist es wohl auch“, erwiderte er bedrückt.

Sie fuhren zurück zur Pension, wo Gino die beiden übrigen Gäste kennenlernte, die in der Küche herumlungerten. Rausschmeißer Fred war ein Berg von einem Mann mit einem schläfrigen, zufriedenen Auftreten. Der freundliche, kleine Bert erinnerte Gino an ein Frettchen. Er hatte sofort ein gutes Verhältnis zu den beiden, hauptsächlich, weil er alles über englischen Sport wissen wollte. Die drei Männer waren schon bald Freunde fürs Leben.

Mrs. Baxter kam mit Debbie aus der Schule. Debbie begrüßte flüchtig ihre Mutter und forderte dann Ginos ganze Aufmerksamkeit.

„Lass den armen Mann eine Tasse Tee trinken, bevor du über ihn herfällst“, bat Laura.

„Aber Mom, ich habe in der Schule ein Bild gemalt, und Gino will es sehen. Oder nicht?“

„Doch, unbedingt“, erklärte er sofort. Eine halbe Stunde lang hörte er interessiert zu, während Debbie ihm das Bild zeigte und erklärte, worum es sich handelte. Erst als Laura den Tisch decken wollte, sahen die beiden auf.

Sadie und Claudia kamen aus der Fabrik, und Gino fragte, ob irgendwelche Stellen frei seien.

„Nur im Lager. Schwere Kisten heben“, erwiderte Sadie. „Ich vermute, Sie möchten einen spannenderen Job.“

„Ich nehme, was ich bekommen kann.“

„Dann melden Sie sich gleich morgen früh beim Chefpacker.“

Gino tat es und ergatterte einen Job, der ihm genug einbrachte, um die Zimmermiete zu zahlen und noch ein bisschen übrig zu haben. Er versuchte, wieder so zu leben wie in den vergangenen Monaten, immer nur von einem Moment zum anderen, stellte jedoch fest, dass ihm diese Zuflucht jetzt versperrt war. Dafür sorgte Debbie. Sie liebte nichts mehr, als sich mit ihm zu unterhalten, und überschüttete ihn mit Fragen.

Dass er Ausländer war, faszinierte sie, und sie war hingerissen von seinen italienischen Wörtern und Ausdrücken. An dem Tag, als sie „assolutamente niente“, hörte, war sie im siebten Himmel.

„Es bedeutet ‚durchaus nicht‘“, erklärte sie ihrer Mutter zum zehnten Mal.

„Ja, Liebling, ich weiß.“

„Klingt es nicht toll? Assolutamente niente. Assolutamente niente.

„Wenn ich den Ausdruck noch ein einziges Mal höre, begehe ich einen Mord“, sagte Laura zu Gino.

Er lachte. „Arme Debbie.“

„Nicht sie bringe ich um. Dich! Das ist alles deine Schuld.“

In der Schule gab Debbie so eindrucksvoll mit ihrem italienischen Freund an, dass die Erdkundelehrerin über Mrs. Baxter nachfragen ließ, ob Gino bereit sei, an einem Nachmittag einen Vortrag für alle Klassen zu halten.

„Ich als Lehrer?“, rief er ausgelassen.

„Du brauchst nicht zu unterrichten“, versicherte ihm Debbie schnell. „Sprich einfach über Italien. Wie alles voller Musik und Farben ist und dass es dort viele Banditen gibt.“

„Banditen?“

„Gibt es dort etwa keine?“, fragte sie geknickt.

„Assolutamente niente!“, erwiderte er energisch, und sie kicherte.

„Nicht einen einzigen kleinen Banditen? Ach, bitte!“

Es endete so, wie es enden musste. Gino zuckte gutmütig die Schultern und tat, was Debbie wollte. Er bekam in der Fabrik frei und erschien kurz nach dem Mittagessen in der Schule. Da hatte er noch immer keine Ahnung, worüber er sprechen sollte, außer dass er bei Banditen die Grenze zog.

Er hatte den rettenden Einfall, als er erfuhr, dass die Theatergruppe der Schule gerade Shakespeares „Romeo und Julia“ einstudierte. Gino erzählte von Verona und dem Haus, in dem angeblich die Familie Capulet gewohnt hatte.

Die Schüler waren beeindruckt, besonders die älteren Mädchen, die wegen seines guten Aussehens sehnsüchtig seufzten. Debbie, die ihn als echten Freund für sich beanspruchen konnte, war die Heldin des Tages. Sie war noch nie so stolz gewesen.

3. KAPITEL

Gino begann, Debbie „Geschichtsunterricht“ zu geben, konzentrierte sich aber fast völlig auf die blutrünstigsten Aspekte der Vergangenheit Italiens.

„Ist sie nicht noch ein bisschen zu jung, um alles über Lucrezia Borgia zu erfahren?“, fragte Laura.

„Warum? Lucrezia ist lustig.“

„Der Meinung sind ihre Opfer wohl nicht gewesen. Wie viele hat sie vergiftet?“

Gino lächelte. „Unter uns gesagt, sie hat wahrscheinlich niemals jemand vergiftet. Aber verrat das nicht Debbie. Sie wäre sehr enttäuscht.“

Jetzt, da er Geld verdiente, hatte Gino die Miete erhöht, die er Laura zahlte. Als sie protestierte, sagte er in einem für ihn untypischen gebieterischen Ton: „Silenzio!“, und weigerte sich, weiter darüber zu diskutieren.

Gino fügte sich mühelos in das Pensionsleben ein. Er war ein guter Zuhörer, und bald kannte er alle Einzelheiten der Fehde zwischen Claudia und Bert. Bestenfalls hielten sie einen Waffenstillstand aufrecht. Schlimmstenfalls sprachen sie wochenlang überhaupt nicht miteinander. Debbie, die sich mit beiden hervorragend verstand, richtete dann aus, was sie sich mitteilen wollten.

„Claudia, Bert fragt, ob du das letzte Törtchen gegessen hast?“

„Bert, Claudia sagt, sie hat dir einen Gefallen getan, weil du auf deine Linie achten musst.“

„Claudia, Bert meint …“

Und so weiter. Mit der Zeit beteiligte sich Gino daran, etwas auszurichten. Er behauptete, sich dadurch zur Familie gehörig zu fühlen. Außerdem fing er an, sich im Haus nützlich zu machen. Er reparierte, wechselte Sicherungen aus und kochte gelegentlich das Abendessen.

Die drei Abende, an denen Laura arbeiten ging, verbrachte Gino normalerweise damit, Möbel zusammenzubauen. Er hatte entdeckt, dass Laura zu sparen versuchte, indem sie Selbstbaumöbel kaufte. Der Plan funktionierte aber nicht, weil sie kein Talent dafür hatte, die Einzelteile zusammenzusetzen. Da Bert und Fred als Handwerker ebenso unbrauchbar waren, wimmelte es im Haus von unfertigen Gegenständen. Gino schaffte in kurzer Zeit drei kleine Kommoden, einen Kleiderschrank und zwei Bücherregale.

Die Bücherregale kamen ins Wohnzimmer, wo sich die „Familie“ zum Fernsehen versammelte. Debbie war gerade dabei, ein Fotoalbum anzusehen, aber sie blickte auf, um Ginos Arbeit zu bewundern.

„Bei dir haben die Bretter alle denselben Abstand“, stellte sie ehrfürchtig fest, als wäre das ein Zeichen von Genialität.

„So schwer ist es nicht.“

„Mom kann es nicht.“

Gino lächelte breit. „So viel habe ich mir zusammengereimt.“ Er stand auf und ging zu Debbie. „He, wer ist das?“, fragte er und zeigte auf das Foto eines jungen Mädchens in Jeans und Bluse, das mit wehendem Haar tanzte. Die Jugendliche wirkte ein bisschen wild, ein bisschen verrückt und sehr glücklich. „Ist das etwa …?“, begann er ungläubig.

„Das war Mom“, erklärte Debbie.

„Du meinst, das ist Mom.“

„Nein, so sieht sie nicht aus. Aber damals schon. Bevor ich sie kannte.“

Gino unterdrückte nun ein Lächeln. „Vor unserer Zeitrechnung.“ Er betrachtete wieder das Mädchen. Für jeden, der wusste, wie das Leben Laura später behandelt hatte, war sie auf dem Foto herzzerreißend jung. Vielleicht siebzehn, und noch fest davon überzeugt, dass ihr Leben genau so verlaufen würde, wie sie es wollte. In dem Alter glaubte man das immer.

Die nächsten Bilder zeigten ihren Werdegang als Tänzerin. Laura im Trikot beim Einüben von Schritten. Laura bei einem Auftritt in einem glitzernden Kostüm. Auf dem Foto war sie eine andere Person, eine bildhübsche, weltgewandte Frau, die sich im Rampenlicht zu Hause fühlte. Sie hatte fantastische Beine, wie Gino interessiert feststellte. Sie waren lang und schön. Ihre schmale Taille und die Hüften waren auch Klasse.

Dann kamen die Hochzeitsfotos. Eins zeigte Laura als glückliche Braut, die ihren Ehemann strahlend anblickte, während sie gemeinsam die Hochzeitstorte anschnitten. Er blickte Laura nicht an, sondern grinste in die Kamera, als würde er Zuschauer auffordern, sein zweifellos gutes Aussehen zu bewundern. Ganz von sich eingenommen, wie Gino fand. Ich war auch einmal so, dachte er. Sich das ehrlich einzugestehen veranlasste ihn jedoch nicht, freundlicher über den Mann zu urteilen. Die schöne, frische junge Frau hatte Besseres verdient.

Debbie blätterte zu den Fotos um, auf denen sie selbst war. Auf einem saß Laura im Bett und hielt das Baby, ihr Mann hatte den Arm um beide gelegt und lächelte stolz. Gino sah Debbie als Kleinkind mit ihrem Vater. Eine Aufnahme nach der anderen zeigte die beiden zusammen, und man erkannte, wie Debbie ihm immer ähnlicher wurde. Von ihm hatte sie das dunkle Haar geerbt, die braunen Augen und den breiten Mund. Ein Foto hatte die beiden eingefangen, während sie sich strahlend anlächelten. Danach folgte nur noch ein weiteres Bild von den beiden zusammen, und es sagte alles. Debbie war ungefähr vier Jahre alt, und jetzt war zum ersten Mal zu sehen, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Ihre Stirn war gewachsen. Nur ein bisschen, doch es war ein unheilvolles Vorzeichen dessen, was kommen würde.

Danach tauchte Debbies Vater auf keinem Foto mehr auf. Gino erinnerte sich an das, was Laura ihm erzählt hatte. Sie hat ihn abgöttisch geliebt. Und er ist einfach gegangen. Wie konnte ein Mann einfach die Liebe zu seiner kleinen Tochter ausschalten? Oder war diese Liebe nicht viel mehr als Eitelkeit gewesen?

Gino versuchte, sich in einen Mann hineinzuversetzen, der sein Kind gerade dann im Stich ließ, wenn es ihn am meisten brauchte. Aber Gino konnte es nicht. Er konnte nur seine hilflose Wut hinter einem Lächeln verbergen.

Debbie blätterte zurück zu dem letzten Foto, auf dem ihr Vater zu sehen war. „Das war Dad“, sagte sie leise.

„Ja.“ Gino suchte nach Worten. „Er sieht … er sieht … wirklich nett aus.“

„Er hat mir das Schwimmen beigebracht. Er wollte mir auch das Zeichnen beibringen. Aber er ist gestorben.“

„Gestorben?“, stieß Gino erstaunt hervor.

„Ja, er ist tot. Mein Dad ist tot.“

Gino atmete tief durch. Er spürte, dass er jetzt sehr vorsichtig sein musste. „Dein Vater wäre stolz auf die Zeichnung gewesen, die du mir gezeigt hast. Du bist sehr talentiert.“

Debbie strahlte. „Dad konnte gut zeichnen. Ich möchte so gut sein wie er.“

„Du wirst es bestimmt sein.“ Eine bessere Antwort fiel Gino nicht ein. Debbie schien zufrieden zu sein. Sie versetzte ihm jedoch noch einen Schock.

Als sie das Album zuklappte, flüsterte sie: „Verrat Mom nicht, worüber wir gesprochen haben. Sie weiß nicht, dass ich es weiß, und ich will sie nicht aufregen.“

Gino nickte nur. Er war entsetzt.

Sobald Debbie im Bett war, machte er einen Spaziergang durch die stillen Straßen. Das letzte Tageslicht verschwand, und auf dem Rückweg war es schon völlig dunkel. Gino kam an einem Pub mit dem Namen „The Running Sheep“ vorbei und ging hinein, weil er nach diesem Abend ein Bier nötig hatte. Es war ein kleines, hübsches Lokal mit einer freundlichen, altmodischen Atmosphäre. Der Barkeeper verkaufte ihm ein Bier, und Gino setzte sich damit an einen Tisch in der Ecke.

Er war erschöpft. Das Gespräch mit Debbie hatte ihn beunruhigt, und nach dem Spaziergang war ihm noch immer nicht klar, wie er das Problem behandeln sollte. Er schloss die Augen. Hier zu sitzen und an nichts zu denken war angenehm. Als er die Augen wieder öffnete, war der Barkeeper verschwunden. Hinter der Theke stand jetzt eine Frau mit lockigem blonden Haar und einem süßen Lächeln. Es dauerte einen Moment, bis Gino bewusst wurde, dass er Laura ansah. Er hatte sich so daran gewöhnt, sie als seine Zimmervermieterin und Debbies Mutter zu betrachten, dass er sie als Frau nicht wahrgenommen hatte.

Sie unterhielt sich mit einem Gast und schien mit ihm zu flirten. Zum ersten Mal wurde Gino bewusst, wie jung sie aussah und wie bezaubernd schön sie war, besonders wenn sie lächelte. Sie hatte noch viel gemeinsam mit der jungen Tänzerin auf den Fotos, außer dass ihr flammender Glaube an das Leben für immer verschwunden war. Diese Frau hier war vorsichtiger und verwundbarer, aber auch interessanter als früher.

Der Gast war schon älter und genoss es offensichtlich, dass sie ihm Beachtung schenkte. Er bezahlte seinen Drink und hätte sich noch länger bei Laura aufgehalten, wenn nicht der Barkeeper zurückgekehrt wäre.

„Die letzten Bestellungen, meine Damen und Herren“, verkündete er.

An diesem Abend waren nur wenige Gäste im Pub, und Laura war bald fertig. Gino winkte, um auf sich aufmerksam zu machen, und sie gingen zusammen nach draußen.

„Also hierher schleichst du dich abends“, sagte er breit lächelnd. „Kein Wunder, dass du nicht zu Hause bleiben willst, wenn du dich da drin von Freiern bewundern lassen kannst.“

„Oh, lass das. Sam ist ein lieber alter Knabe, mit dem seit Jahren keine Frau mehr geflirtet hat. Es gehört zum Job und ist meistens harmlos.“

„Meistens?“

„Nichts, womit ich nicht fertig werde. Ich habe einen gemeinen linken Haken. Soll ich es dir zeigen?“

„Ich glaube dir“, erwiderte Gino schnell. Es war nett, unter den funkelnden Sternen nach Hause zu laufen, und er verdarb ihnen nur ungern den Frieden, aber er hatte keine Wahl. „Debbie hat mir heute Abend erzählt, ihr Vater sei tot.“

Laura blieb stehen und sah Gino entsetzt an.

„Sie hat mir Familienfotos gezeigt, und als dein Exmann auf ihnen nicht mehr aufgetaucht ist, hat sie mir erklärt, er hätte ihr das Schwimmen beigebracht und wollte ihr auch das Zeichnen beibringen, aber er sei gestorben.“

„Oh nein!“, flüsterte Laura. „Er ist nicht tot. Er hat uns verlassen.“

„Hörst du jemals etwas von ihm?“

„Seit der Scheidung nicht mehr.“

„Weihnachten? Geburtstage?“

„Kein Anruf, keine Karte. Ich nehme an, für Debbie ist es einfacher, wenn sie sich vorstellt, dass er tot ist. Sonst müsste sie mit dem Gedanken leben, dass er sie vernachlässigt.“

„Besteht irgendeine Chance, dass sie es wirklich glaubt?“

„Nein. Wenn er gestorben wäre, hätte ich mit ihr darüber gesprochen. Das muss ihr klar sein.“

„Also ist es ihre Methode, sich zu trösten.“ Gino seufzte. „Ich hätte dir das eigentlich nicht erzählen dürfen. Sie hat gesagt, du wüsstest nicht, dass sie es weiß, und sie wolle dich nicht aufregen.“

„Sie ist so lieb und großherzig.“

„Ja, und ich habe ihr Vertrauen missbraucht. Aber ich musste es tun. Ich hätte so etwas nicht für mich behalten können.“

„Du hast das Richtige getan. Ich bin so dumm gewesen. Warum habe ich das nicht kommen sehen? Wie konnte ich sie dem nur aussetzen?“

„Das hat er getan. Gib nicht dir die Schuld.“

„Ich hätte an diese Möglichkeit denken sollen. Oh Himmel!“ Laura schlug die Hände vors Gesicht.

Gino legte die Arme um sie und hielt Laura fest, während sie weinte. „Ganz gleich, wie sehr du dich bemühst, du kannst nicht alles für sie in Ordnung bringen. Selbst wenn du Probleme kommen siehst, werden sie sich nicht vermeiden lassen.“

„Wenn ich sie kenne, bin ich aber in der Lage, meiner Tochter über sie hinwegzuhelfen. Ich muss schnell nach Hause und mit ihr reden.“

„Nein, nicht.“ Gino ließ Laura nicht los. „Denk erst einmal nach. Soll Debbie erfahren, dass ich ihr Vertrauen missbraucht habe?“

„Vertrauen? Sie ist acht Jahre alt …“

„Auch ein Kind möchte mit Respekt behandelt werden. Im Moment meint sie, mit mir reden zu können.“

„Warum nicht mit mir?“

„Weil du ihre Mutter bist. Ich bin nicht davon betroffen, deshalb ist es einfacher für Debbie, mit mir darüber zu sprechen. Vielleicht ist es für euch beide gut, wenn sie mir vertraut. Bitte, Laura, tu nichts, was sie dazu bringt, mir nicht mehr zu vertrauen.“

Laura seufzte. „Du hast recht. Ich hätte daran denken sollen.“

„Du musst aufhören, dir für alles die Schuld zu geben. Ständig sagst du, du hättest dies und das tun sollen. Niemand könnte schaffen, was du dir aufbürdest. Lass jemand anders die Last mit dir teilen.“

„Niemand wollte sie jemals mit mir tragen.“

„Jetzt hast du mich.“

Laura lachte zittrig. „Ja.“ Sie küsste Gino auf die Wange. „Wie bin ich überhaupt zurechtgekommen, bevor du aufgetaucht bist? Du bist der beste kleine Bruder, den ich niemals hatte.“

„Was meinst du mit ‚klein‘?“

„Ich bin drei Jahre älter als du. Das macht dich zu meinem kleinen Bruder. Und wie die meisten kleinen Brüder kannst du manchmal eine Nervensäge und gelegentlich ziemlich wundervoll sein.“

„Ja, ich habe die Regale fertig“, sagte Gino.

„Ich habe nicht gemeint … oh, du!“

„Los, gehen wir nach Hause. Dein kleiner Bruder ist am Verhungern.“

Er machte Spaghetti mit Tomatensoße, die sie zusammen am Küchentisch aßen. Laura holte das Album, und Gino sah es noch einmal durch.

„Du warst wirklich eine Schönheit“, stellte er fest.

„Ja, war ich – in grauer Vorzeit.“

„So habe ich das nicht …“

„Ach, halt den Mund!“ Sie puffte Gino freundlich in die Seite, und er schaffte es gerade noch, nicht Tomatensoße auf das Album zu kleckern.

„Man kann viel aus alten Fotos erkennen“, meinte er nachdenklich. „Wie Leute früher waren. Manchmal haben sogar sie selbst das vergessen, und plötzlich sind sie wieder da.“

„Was ist mit dir? Hast du Fotos, die zeigen, wie du früher warst?“, fragte Laura und sah, dass er erstarrte.

„Nicht hier.“

„Nicht eine einzige kleine Aufnahme des jüngeren Gino?“

„In Ordnung.“ Er stand, ging nach oben und kehrte mit einem Foto zurück, das er Laura in die Hand drückte.

Es zeigte ihn mit Blumen im Haar, ein bisschen beschwipst aussehend. Er umarmte eine bildschöne junge Frau. Sie war blond und elegant und strahlte eine Selbstsicherheit aus, die Laura neidisch machte. Im Hintergrund waren bunte Lichter und Trubel zu erkennen. War diese Frau der Grund dafür, dass sich Gino das Leben vom Leib hielt? Er war immer gefällig und freundlich, aber Laura wusste inzwischen, dass er Abstand zu den Leuten wahrte und sich niemals völlig auf etwas einließ.

Sie betrachtete das strahlende junge Gesicht. „So habe ich dich noch nie gesehen. Glücklich und wie jemand, der ohne Rücksicht auf die Folgen alles mitmacht. Seit damals hast du gelernt, vorsichtig zu sein.“

Gino nickte.

„Wann war das?“

„Im vergangenen Jahr. Vor tausend Jahren. In einem anderen Universum.“

Laura seufzte. „Ich verstehe, was du meinst. Man weiß nie, was gleich um die Ecke auf einen wartet, stimmt’s?“

„Ja.“

„Danke, dass du es mir gezeigt hast.“ Laura gab ihm das Foto zurück, und er nahm es wortlos an sich.

Sie unterhielten sich noch eine Weile über nichts Besonderes, bis es Zeit war, ins Bett zu gehen. Es war ein gemütlicher, ruhiger Abend gewesen, einer, den Gino früher furchtbar gefunden hätte. Aber er verlor immer mehr die Lust, irgendetwas Aufregendes zu tun. Er hätte nicht erklären können, warum.

Am nächsten Abend hatte Laura eine weitere Schicht im Running Sheep. In der ersten Stunde wurde sie in Trab gehalten, schließlich ließ der Andrang jedoch nach, und Laura konnte ihre Aufmerksamkeit dem Mann zuwenden, der geduldig am anderen Ende der Theke wartete. „Tut mir leid“, entschuldigte sie sich.

„Keine Sorge, ich sehe ja, wie es ist.“ Er lächelte sie freundlich an.

Er war ungefähr vierzig, machte einen beruhigend soliden Eindruck, sah aber gleichzeitig so gut aus wie ein Filmstar, mit dichtem blonden Haar, tiefblauen Augen und ebenmäßigen Gesichtszügen. Laura servierte ihm einen Whisky, und der Mann zeigte wieder sein charmantes Lächeln.

„Trinken Sie einen mit.“

„Danke, ich nehme einen Orangensaft.“ Danach kehrte sie in jedem freien Moment zu ihm zurück. Er hieß Steve Deyton und war häufig in der Stadt, weil er vorhatte, hier in der Gegend eine Schreibwarenfabrik zu errichten.

„Ich kenne in Elverham niemand“, sagte er, „und abends kann man sehr wenig unternehmen. Ich bin schon mehrmals in diesem Pub gewesen, immer in der Hoffnung, Sie würden mich bemerken.“

Laura lachte. Es war die übliche Anmache, für die sie ein Repertoire an Erwiderungen parat hatte. Tatsächlich hatte sie ihn bemerkt, aber noch war sie nicht bereit, das zuzugeben. Sie gab ihm eine fröhliche Standardantwort und ging einen anderen Gast bedienen.

Am Ende des Abends fragte Steve Deyton, ob er sie nach Hause fahren könne.

„Danke, das wäre …“ Laura sprach nicht weiter, weil ihr am Tisch in der Ecke jemand aufgefallen war. „Nein, ich glaube, nicht. Trotzdem danke.“

Er folgte ihrem Blick. „Ich verstehe. Ein Freund?“

Laura lachte. „Mein Bruder. Gute Nacht.“ Sie zog ihren Mantel an, ging zu Gino und rüttelte ihn an der Schulter. „He, wach auf.“

„Hm? Oh. Hallo.“

„Zeit zu gehen.“

Er sah das halb volle Glas Bier an. „Es ist schal geworden“, klagte er. „Wie lange habe ich geschlafen?“

„Keine Ahnung. Ich wusste nicht, dass du hier bist.“

„Dein Chef hat mich bedient. In Ordnung, ich komme.“ Gino stand auf und folgte ihr schläfrig nach draußen. Auf der Straße legte er Laura lässig die Hand auf die Schulter. „Vielleicht musst du mich auf dem Weg nach Hause stützen.“

„Wie viele Glas Bier hast du getrunken, bevor du eingenickt bist?“, fragte sie streng.

„Du hörst dich an wie eine Großmutter.“

„Ich fühle mich wie eine. Auf dich muss man aufpassen.“

„Sieh zu, dass du nichts mehr mit mir zu tun hast“, erwiderte er finster. „Ich bin ein hoffnungsloser Fall.“

Laura schwieg, bis sie in der Küche waren. „Hinsetzen!“ Sie zeigte auf einen Stuhl.

„Als wäre ich ein Hund“, protestierte Gino.

„Ja, genau. Jetzt sei ein braver Junge, und setz dich hin!“

Er tat es und wartete gehorsam, während sie den Kessel auf den Herd stellte und nach oben ging, um nach Debbie zu sehen. Als Laura zurückkam, kochte das Wasser. Sie goss einen Instantkaffee auf und hielt Gino die Tasse hin.

Plötzlich war er hellwach. „Englischer Kaffee? Instant? Willst du mich umbringen?“

„Nein, ich will dich nüchtern machen.“

Gino warf ihr einen Blick zu, stand auf und kochte richtigen Kaffee in der Maschine. Beides hatte er gekauft und der Hausgemeinschaft gestiftet.

Laura lächelte im Stillen.

Zumindest war Gino wieder in Schwung.

Der Kaffee, den er vor sie hinstellte, war perfekt: stark, aromatisch, italienisch. „Mm, gut“, lobte sie anerkennend.

„Du musst dir von mir zeigen lassen, wie man Kaffee kocht.“

„Das ist bei Engländern zwecklos.“

„Stimmt.“

Eine Zeit lang saßen sie in umgänglichem Schweigen da.

„Also? Wer ist sie?“, wagte Laura schließlich zu fragen.

„Wer?“

„Die Frau auf dem Foto. Darum geht es doch, oder?“

„Sie heißt Alex und ist im vergangenen Jahr in die Toskana gekommen. Sie hatte eine Hypothek auf unser Gut geerbt.“

„Unser?“

„Es gehört meinem Bruder Rinaldo und mir. Wir konnten es uns nicht leisten, Alex auszuzahlen, deshalb war klar, dass einer von uns sie heiraten musste. Wir haben eine Münze geworfen.“

„Ihr habt was?“

„Wir haben mit einer Münze um Alex gelost. Ja, ja, ich weiß …“ Gino hob abwehrend die Hand. „Schändlich, verabscheuungswürdig, chauvinistisch, wie immer du es nennen willst. Und ich verrate dir etwas, worüber du dich noch mehr ärgern wirst. Rinaldo hat gewonnen und sofort erklärt, er sei nicht interessiert, sie gehöre mir.“ Er lächelte spöttisch. „Wenn du jetzt dein Gesicht sehen könntest!“

„Ich hoffe, diese Alex hat euch beiden einen Denkzettel verpasst.“

Gino schwieg einen Moment lang. „Sagen wir einfach, sie hat ihre eigene Wahl getroffen.“

„Und du warst es nicht?“

Er zuckte die Schultern.

Lauras Empörung verschwand. Ganz gleich, was für dumme Jungenstreiche er am Anfang gespielt hatte, die Folgen hatten ihn am Boden zerstört. „Auf dem Foto siehst du aus, als hättest du Spaß.“

„Das war das Fest des St. Romuald, im vergangenen Jahr in Florenz. Wir drei sind zusammen hingefahren. Ich erinnere mich nicht einmal daran, wann das Foto gemacht worden ist, aber es war ein schöner Abend.“ Gino seufzte. „Lachen ist gefährlich.“

„Warum?“

„Die Leute denken, dass man nichts ernst nimmt. ‚Ach, es ist nur Gino. Er wird das lachend abtun. Für ihn ist das ganze Leben ein Scherz.‘ Nur ist es dann plötzlich kein Spaß mehr – und sie erkennen es nicht. Dann fängt man an, Menschen zu hassen.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass du jemanden hasst“, sagte Laura.

„Es ist erschreckend einfach. Man muss sich ständig daran erinnern, dass man gerade diese Menschen nicht hassen darf, weil sonst niemand übrig ist, den man liebt. Andererseits …“ Er verstummte.

Laura legte ihm die Hand auf den Arm. „Gino …“

Er schnaufte verärgert. „Ich werde rührselig.“

„Ich kann gut zuhören.“

„Darüber gibt es nichts zu reden. Liebe kommt und geht.“

„Nicht wahre Liebe. Sie verändert dein Leben. Sie verändert dich. Und ich glaube, bei dir ist es wahre Liebe. Gino, ich will mich nicht einmischen, doch du bist immer für mich da, wenn ich eine Schulter zum Ausweinen brauche. Darf ich nicht dasselbe für dich tun?“

Er lächelte. „Danke, aber siehst du mich weinen? Ich bin schon vor Monaten über Alex hinweggekommen.“

Wer das glaubt, würde alles glauben, dachte Laura. Ihr war jedoch klar, dass er ihr schon mehr anvertraut hatte, als er gewollt hatte. Jetzt zog er sich zurück, um sich zu schützen.

Er drückte flüchtig ihre Hand und ging nach oben ins Bett.

4. KAPITEL

Der Mann an der Theke war derselbe, der am vergangenen Abend Lauras Aufmerksamkeit gefordert hatte. Gino erinnerte sich, ihn gesehen zu haben, bevor er selbst eingenickt war. Der Typ schien Anfang vierzig zu sein. Er war groß, kräftig gebaut, teuer gekleidet und hatte schönes, dichtes Haar. Wenn er lachte, zeigte er ebenmäßige weiße Zähne. Viele Frauen würden ihn wohl als gut aussehend bezeichnen. Laura war zweifellos gern mit ihm zusammen. Ihr Lachen verriet keine Anspannung, sondern klang völlig natürlich.

Einen Moment lang war sie wieder die junge Frau auf den Fotos, die noch nicht von Kummer und Sorgen zermürbt worden war.

Der Mann küsste ihr die Hand. Laura protestierte nicht sehr heftig. Erst das Winken eines anderen Gastes erinnerte sie an ihre Pflichten. Ihre Wangen waren gerötet, und sie sah verlegen aus.

Gino verließ unauffällig den Pub. Zu Hause legte er sich vollständig angezogen aufs Bett und wartete. Als er Laura hereinkommen hörte, ging er nach unten. Sie war in der Küche und summte vor sich hin, während sie Tee kochte. „Du auch?“ Sie zeigte auf eine Tasse.

Er nickte. „Du scheinst glücklich zu sein.“

„Nein, nicht besonders“, erwiderte sie befangen. „Na ja, vielleicht ein bisschen.“

„Dann war es ein guter Abend im Pub?“

„Ja, reger Betrieb.“

„Ich nehme an, du lernst viele Kerle kennen, die meinen, eine Bardame sei Freiwild“, sagte Gino betont lässig.

„Das weißt du doch. Du hast die Männer gesehen.“

„Ich rede nicht von den alten Knaben. Die jüngeren Typen nerven wahrscheinlich mehr.“

„Mit denen werde ich fertig. Kein Mann spielt mit mir.“

„Keiner?“

„Nicht, wenn ich es nicht erlaube.“

„Oh“, murmelte Gino. „Oh.“

„Ist was?“

„Nichts“, versicherte er schnell.

„Du hast seltsam geklungen.“

„Ich bin nur müde. Ich trinke meinen Tee und gehe ins Bett.“ Gino war verärgert, weil Laura sich ihm nicht anvertraute. Angeblich waren sie doch Freunde. Aber es war ihre Sache, wenn sie nicht darüber reden wollte. Und damit musste er sich zufriedengeben.

In der Packerei stritten sich jeden Morgen mehrere attraktive junge Frauen darum, wer Gino den Tee bringen durfte.

„Die Mädels sind alle verrückt nach ihm“, sagte Claudia eines Abends in der Pension. „Seinetwegen kratzen sich Maisie und Jill fast die Augen aus.“

„Nicht Maisie und Jill. Das sind Lily und Rose“, zog er Claudia auf. „Oder meine ich Patsy und Cindy? Oder …“

„Schon gut, du eingebildeter Fatzke“, unterbrach ihn nun Claudia.

„Ich nehme an, dein Job macht dir viel Spaß“, neckte ihn Laura.

„Er hat seine guten Seiten“, gab Gino zu.

„Sind sie alle deine Freundinnen?“, fragte Debbie fasziniert.

„Alle“, bestätigte er ernst.

„Hast du massenhaft Freundinnen?“

„Unendlich viele.“

„Warum du und nicht die anderen?“

„Weil ich Italiener bin und Italien das Land Casanovas ist.“

„Wer ist Casanova?“

Gino wusste nicht, was er antworten sollte.

„Geschieht dir recht.“ Laura lachte. „Wann lernst du aufzupassen, was du zu Debbie sagst?“

„Warum muss er aufpassen, Mom?“

„Iss dein Gemüse auf.“

Glücklicherweise ließ Debbie das Thema fallen. Es kam erst wieder zur Sprache, nachdem sie ins Bett gegangen war.

„In der ganzen Fabrik werden Wetten abgeschlossen“, erzählte Sadie mit Wonne. „Die meisten setzen auf Tess.“

„Welche ist Tess?“, fragte Claudia.

„Die kleine rothaarige Sexbombe, die immer überall herumläuft und zur Schau stellt, was sie hat.“ Sadie malte eine übertriebene Sanduhrfigur in die Luft. „Sie soll eine richtig heiße Nummer sein. Stimmt das, Gino?“

Aber er war inzwischen auf der Hut. „Meine Lippen sind versiegelt“, erwiderte er und zwinkerte wissend. Die Schwestern wären erstaunt gewesen, wenn er ihnen die Wahrheit erzählt hätte. Tatsächlich hätten sie ihm nicht geglaubt. Tess hatte eine üppige Figur und große blaue Augen, war jedoch stahlhart und zielstrebig, wie er festgestellt hatte, als sie ihm erklärt hatte, was sie von ihm wollte.

„Ich mache diesen Mistkerl Perry fertig!“, hatte sie Gino eines Morgens zugeflüstert, während sie ihm einen Becher Tee gereicht hatte.

„Ich dachte, du bist verrückt nach ihm.“

„Bin ich, trotzdem mache ich ihn fertig. Dass er gern ein Auge riskiert, ist ja gut und schön, aber diesmal ist er zu weit gegangen. Schnell, er kommt. Lächle mich an.“

Gino war in die ihm zugeteilte Rolle geschlüpft und hatte Tess direkt vor Perrys Nase verliebt angelächelt. Seitdem spielten sie die Farce, wann immer nötig, und Perry war Tess bisher treu geblieben, nicht ganz, aber fast.

Wenn Gino und Tess nicht zusammen die Fabrik verließen, trafen sie sich später am Abend zu einem Drink. Der Pub in der Nähe von Compulor war allerdings eine hässliche, nach Bier riechende Bruchbude.

„Lass uns ins Running Sheep gehen“, schlug Gino vor. „Das wird Perry zeigen, dass du mehr wert bist als diese Kneipe.“

Die Blicke aller richteten sich auf sie, als sie das Lokal betraten. Tess’ Reize hinterließen einen starken Eindruck, und Gino fühlte sich wie in den alten Zeiten. Er war der Mann gewesen, der jede Frau haben konnte und nichts anbrennen ließ, als hätte das Leben nichts Besseres zu bieten.

Er besorgte Tess einen Platz und ging zu Laura an die Theke. „Eine Flasche Champagner, bitte.“

Laura musterte seine Begleiterin. „Ist es Maisie? Oder Jill? Oder Rose? Oder Lily? Oder …?“

„Lass den Quatsch“, erwiderte Gino und lächelte vielsagend. „Das ist Tess.“

„Die Sexbombe! Wow! Ja, ich kann sehen, dass du etwas zu feiern hast.“

„Würdest du mir bitte einfach Champagner geben?“

Autor

Lucy Gordon

Die populäre Schriftstellerin Lucy Gordon stammt aus Großbritannien, bekannt ist sie für ihre romantischen Liebesromane, von denen bisher über 75 veröffentlicht wurden. In den letzten Jahren gewann die Schriftstellerin zwei RITA Awards unter anderem für ihren Roman “Das Kind des Bruders”, der in Rom spielt.

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