Romana Traumziele der Liebe Band 14

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RÜCKKEHR NACH SYLT von WIEMERS, LILLI
Kaum legt die Fähre in List auf Sylt an, begegnet Dr. Jan Mertens einer Frau, die ihn maßlos provoziert. Und diese Wiebke Janssen wohnt auch noch im selben Dorf wie er. Gut, dass er nur einen Monat bleiben wird, um die Praxis seines Vaters aufzulösen. Dann kann er die Insel für immer verlassen! Aber woher kommt plötzlich der Wunsch, Wiebkes schönen, eigensinnigen Mund zu küssen?

EINE LIEBE, SO WEIT WIE DAS MEER von WIEMERS, LILLI
"Jan, hilf mir!" Der Inselarzt hört das Flehen in Thomas‘ Stimme, aber die Medizin stößt an ihre Grenzen: Sein Freund darf nicht an den Surfmeisterschaften von Sylt teilnehmen! Doch Thomas schlägt Jans Rat in den Wind. Für seine Zukunft und seine Liebe zu Bea geht er jedes Risiko ein. Er wird siegen - oder alles verlieren …

ENTSCHEIDUNG EINES SOMMERS von WIEMERS, LILLI
Wird die Nordseeluft ihrem asthmakranken Sohn helfen? Anne und Robert sind verzweifelt, auch wenn die Prognose von Dr. Mertens günstig ist. Dabei geht es für sie um mehr als um Max: Die Sorge hat ihre Liebe fast zerstört. Die Wochen auf Sylt werden für ihre Ehe zur Zerreißprobe …


  • Erscheinungstag 19.05.2017
  • Bandnummer 0014
  • ISBN / Artikelnummer 9783733744281
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Lilli Wiemers

ROMANA TRAUMZIELE DER LIEBE BAND 14

Drei neue Romane von LILLI WIEMERS

Rückkehr nach Sylt

Warum glaubt Dr. Jan Mertens nicht an Naturheilkunde? Er weigert sich beharrlich, Wiebke Patienten zu schicken. Aber je öfter sie dem jungen Arzt über den Weg läuft, desto stärker knistert es – trotz ihrer unterschiedlichen Einstellungen. Vielleicht gelingt es ihr ja mit den Waffen einer Frau, den Inselarzt zu überzeugen, mit ihr zusammenzuarbeiten und für immer zu bleiben?

Eine Liebe, so weit wie das Meer

Eine falsche Bewegung, dann ist alles vorbei: Das hat der Inselarzt gesagt, das spürt Thomas selbst – nur seine Trainerin Bea ahnt nichts von seinem kritischen Zustand! Ein letztes Mal will er gegen Wind und Wellen kämpfen, um die Surfmeisterschaft zu gewinnen. Doch er übersieht die Sorge in Beas schönen Augen, die tiefe Liebe, die sie für ihn empfindet … Ein fataler Fehler?

Entscheidung eines Sommers

Die Nordseeflut kommt, als Inselarzt Jan Mertens weit draußen auf einer Sandbank ein vermisstes Kind entdeckt. Mutig kämpft er sich durch das unaufhaltsam steigende Wasser und gerät in höchste Gefahr. Was, wenn sein dramatischer Rettungsversuch scheitert? Wenn sein Leben erlischt, ohne dass er seiner Freundin Wiebke seine Liebe gestanden hat?

1. KAPITEL

Der Himmel über der Nordsee war von einem so makellosen Blau, dass er schon fast unecht wirkte. Die Sonne strahlte, kaum ein Wölkchen war zu sehen, und die Möwen zogen schreiend ihre Kreise. Die meisten Touristen, die auf der Autofähre von Dänemark nach Sylt übersetzten, hatten ihre Wagen verlassen, standen an der Reling und unterhielten sich aufgeregt miteinander.

Jan konnte ihren Enthusiasmus nicht teilen. Er blieb in seinem alten Audi 75 sitzen, die Hände aufs Lenkrad gestützt, und atmete tief durch. Für ihn würde der Aufenthalt auf Sylt kein vergnüglicher sein. Wenn er die Möglichkeit gehabt hätte, sofort wieder nach München zurückzukehren, hätte er sie ergriffen. Aber so was von!

Seufzend fuhr er sich mit den Fingern durch das kurze sandfarbene Haar. Sein Blick streifte den Rückspiegel, aus dem ihm tiefblaue Augen entgegenstarrten. Keine Frage, er war ein Frauenschwarm – schon immer gewesen. Sein Vater hatte sich stets darüber aufgeregt, dass er sein gutes Aussehen zu seinem Vorteil nutzte. Nun, soweit es Jan betraf, wäre es dumm von ihm gewesen, es nicht zu nutzen.

Und die Erfahrungen, die er in den vergangenen Jahren in München gemacht hatte, gaben ihm recht.

Nicht, dass sein Sturkopf von Vater das jemals eingesehen hätte …

Ein Chor von Oh’s und Ah’s wurde laut, als die Insel langsam in Sicht kam. Zuerst nur ganz verschwommen, schälten sich die weißen Dünen aus dem morgendlichen Dunst.

Jan kannte das alles zur Genüge, auch wenn er zugeben musste, dass es ein hübscher Anblick war. Das graublaue Meer, die mit Reet gedeckten Häuser mit den weißen Sprossenfenstern … Kein Wunder, dass Jahr für Jahr Hunderttausende auf die kleine Nordseeinsel strömten, deren Einwohnerzahl bei lediglich knapp über zwanzigtausend Menschen lag.

Während der Saison konnte man hier praktisch alles machen, im Spätherbst und Winter verwandelte Sylt sich in ein Dorf. Und wenn Jan eines niemals gewollt hatte, dann war es ein kleinbürgerliches Spießerleben führen.

Ein Ruckeln ging durch die Fähre, als der Kapitän ein wenig Rückschub gab und das große Schiff dann routiniert an den Anleger steuerte. Jan hätte natürlich auch den Autozug nach Sylt nehmen können, aber den hatte er schon als Kind nicht gemocht. Der Hindenburgdamm war mitunter gerade so breit, dass Schienen darauf passten. Hoch oben auf dem Zug im Wagen zu sitzen, verlieh ihm einfach ein unangenehmes Gefühl von Machtlosigkeit.

Da zog er die Fähre dann doch vor.

Sofort setzte der Strom der Leute in Richtung ihrer Autos ein. Diejenigen, die sich ohne Fahrzeug auf der Fähre befanden, schauten sich den Landevorgang aus der Nähe an.

Jan war bereits so zeitig vor dem Ablegen der Fähre erschienen, dass er einen guten Platz in den vorderen Reihen hatte erhaschen können, die als erstes wieder von Bord fahren konnten. Und tatsächlich dauerte es auch nur knapp eine Viertelstunde, bis er mit seinem Audi von Bord rollte.

Die Aufschrift „Willkommen auf Sylt“, die auf dem großen tiefblauen Durchfahrtstor stand, entlockte ihm ein grimmiges Lächeln. Er war froh, dass sein Aufenthalt nur von begrenzter Dauer sein würde.

Sehr begrenzt, hoffentlich.

Es galt, einen Nachfolger für die Praxis seines Vaters zu finden. Allzu schwierig dürfte das zum Glück nicht werden. Als Vater mochte Martin Mertens nicht unbedingt besonders begabt gewesen sein, doch von seiner Arbeit hatte er wirklich etwas verstanden.

Noch immer ein wenig gedankenverloren, lenkte Jan den Wagen von der Fähre und trat hart in die Bremse, als plötzlich ein Fahrrad seine Fahrbahn kreuzte.

Er kam gerade noch rechtzeitig zum Stehen, ehe er mit der Stoßstange gegen den Rahmen des Drahtesels stoßen konnte. Mit einem wütenden Schnauben drückte er auf die Hupe und kurbelte mit der freien Hand das Fenster hinunter.

„Sind Sie lebensmüde?“

Die Frau stieg von ihrem Fahrrad, lehnte es an das Geländer neben der Fahrbahn und kam geradewegs auf ihn zugelaufen. Die Fäuste in die Seiten gestemmt und das Gesicht rot angelaufen, wirkte es ganz so, als würde sie jeden Augenblick platzen vor Empörung.

„Wie bitte?“ Wütend funkelte sie ihn an. „Haben Sie das gerade wirklich gesagt? Das ist ja wohl die größte Unverschämtheit, die ich je gehört habe! Sie sind doch von der Fähre gebrettert wie ein armer Irrer! Sie glauben wohl, bloß weil Sie einen schicken Wagen fahren, gehört Ihnen die Straße!“

Sie stand jetzt direkt neben seinem Fenster, stützte sich mit den Armen auf dem Rahmen ab und lehnte sich so weit vor, dass ihr Kopf sich halb im Wageninneren befand.

Automatisch wich Jan zurück. „Entschuldigung, aber könnten Sie wohl aufhören, mir auf die Pelle zu rücken?“

„Wenn schon, dann sind Sie ja wohl eher mir auf die Pelle gerückt – und zwar mit Ihrer dämlichen Angeberkarre!“

Jan starrte sie an. Zum Teil, weil es ihn tatsächlich schockierte, dass sie seinen Audi 75 – einen echten Oldtimer – gerade als Angeberkarre bezeichnet hatte. Vor allem aber, weil er gerade festgestellt hatte, dass die Radfahrerin verflixt anziehend war. Ihr kinnlanges blondes Haar war vom Wind zerzaust. Sie besaß große dunkle Augen, hatte eine niedliche Stubsnase und volle Lippen.

Ein echter Kussmund, schoss es ihm durch den Kopf, doch er verscheuchte den Gedanken gleich wieder. Hübsch mochte sie ja sein, aber ganz sicher auch wartungsintensiv. In dem Punkt waren Frauen wie Autos: Je besser sie aussahen, umso zickiger waren sie in der Regel auch.

Seine neue Bekannte bestätigte wieder einmal diese Regel.

Hinter ihm hupte jemand lautstark, und Jan zuckte zusammen.

„Würden Sie wohl freundlicherweise einen Schritt zurücktreten?“, stieß er hervor. „Sie halten mit Ihrem Gelaber den ganzen Verkehr auf.“

Wenn Blicke töten könnten – Jan würde wahrscheinlich genau jetzt die Englein singen hören. Doch schließlich tat die attraktive Unbekannte, was er gesagt hatte, und ging zur Seite.

Rasch drehte er den Zündschlüssel, und der Motor seines Wagens, der bei seinem abrupten Bremsmanöver abgesoffen war, erwachte mit einem lauten Grollen zum Leben.

Jan war sich beinahe sicher, dass ihre Lippen noch einmal stumm das Wort Angeberkarre formten, doch er hatte keine Chance darauf einzugehen, denn der Typ in dem Volvo Kombi hinter ihm startete jetzt ein regelrechtes Hupkonzert.

„Ja, ja, ich mach ja schon“, grummelte er und rollte an der streitsüchtigen Blondine und deren Fahrrad vorbei von der Rampe auf die zweispurige Straße, die vom Fährgelände herunterführte.

Die Strecke nach Siemersborn ging über eine Landstraße, die fast um die gesamte Insel herumreichte. Zu beiden Seiten der Fahrbahn türmten sich mit Silbergras und Strandroggen bewachsene Dünen auf, durch die rechts hin und wieder das tiefe Blau der Nordsee hindurchblitzte.

Jan durchquerte mehrere kleine Ortschaften. Auf den ersten Blick erkannte er, dass sich so gut wie nichts verändert hatte.

Aber war das wirklich verwunderlich? Dies war immerhin einer der Gründe gewesen, warum er Sylt nach dem Schulabschluss gar nicht schnell genug hatte verlassen können. Sehr zum Missfallen seines Vaters.

Er konnte sich noch genau an die Predigt erinnern, die sein alter Herr ihm gehalten hatte, als er verkündete, dass er in München an die Uni gehen wollte.

„Das ist doch albern, mein Junge. Warum kannst du nicht einfach hier in Schleswig Holstein studieren? Mir ist klar, dass es dich in die große weite Welt hinauszieht. Aber letzten Endes kommst du ja sowieso nach Sylt zurück, um meine Praxis zu übernehmen …“

Irgendwie war alles immer wieder auf dieselbe Diskussion hinausgelaufen – die Übernahme der Praxis. Sein Vater hatte nie begriffen, dass genau das nicht Teil seiner Lebensplanung war. Oder hatte es einfach nicht begreifen wollen, was sehr viel wahrscheinlicher war. Letztlich hatten die meisten ihrer Vater-Sohn-Gespräche im Streit geendet – vor allem, als Jan schließlich tatsächlich nach München ging …

Er erreichte die ersten Ausläufer von Siemersborn, dem kleinen Ort, in dem er aufgewachsen war. Viel zu sehen gab es hier eigentlich nicht, abgesehen von den hübschen, im typischen Sylter Stil gebauten Häusern, die die Hauptstraße säumten, der alten Kirche im Ortskern und dem Supermarkt, dessen Sortiment kaum an das der Tankstelle in der Nähe seiner Wohnung in München heranreichte.

Sein Elternhaus befand sich etwas außerhalb. Es war, wie die meisten anderen Gebäude auch, mit Reet gedeckt und besaß eine rotbraune Ziegelfassade. Davor befand sich ein Vorgarten, in dem prachtvolle, in allen Farben des Regenbogens blühende Blumen gediehen.

Das war das Werk von Aenne, der Wirtschafterin seines Vaters, die so etwas wie die gute Seele im Haushalt der Mertens gewesen war.

Und für mich fast so etwas wie eine Mutter …

Der Gedanke kam unvermittelt, aber es stimmte schon. Seine richtige Mutter war früh gestorben, und Aenne, die danach bei ihnen in die kleine Einliegerwohnung eingezogen war, hatte ihm immer nahegestanden – wenn er ehrlich war, sogar noch näher als sein eigener Vater. Was im Grunde aber kein Kunststück war.

Jan parkte den Wagen in der Einfahrt und hupte dreimal kurz. Das war für Aenne früher immer das Signal gewesen, dass er nach Hause gekommen war. Als Junge hatte er dreimal mit der Fahrradschelle geklingelt.

Unwillkürlich musste er wieder an die Frau mit dem Fahrrad denken. Verflixt, eigentlich war sie überhaupt nicht sein Typ! Er stand nicht auf diese arroganten Natürlichkeitsfanatiker, für die alles öko und biologisch abbaubar sein musste. Und genau wie so eine war sie ihm vorgekommen, auch wenn sie zugegebenermaßen nicht im Hippiefummel herumgelaufen war. Solche Frauen machten immer nur Stress, und davon konnte er in seinem Leben nun wirklich nicht noch zusätzlichen gebrauchen.

Er zog hübsche, aber intellektuell etwas einfacher gestrickte Damen vor, die nicht ans Heiraten und Kinderkriegen dachten. Darauf hatte er nämlich ebenso wenig Lust, wie in seinem Heimatort zu versauern.

Er stellte den Motor ab und stieg aus. Im selben Moment öffnete sich die Tür des alten Reetdachhauses, und Aenne trat nach draußen. Er hatte sie schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen, erkannte sie aber natürlich sofort, auch wenn sie inzwischen wie eine richtige Bilderbuch-Oma aussah: Ein rundes, freundliches Gesicht mit warmen graublauen Augen. Das weiße Haar hatte sie zu einem Knoten am Hinterkopf zusammengefasst.

Im Haus selbst befand sich auch die Praxis seines Vaters. Kurz dachte Jan darüber nach, wie viele Patienten wohl in all den Jahren dort ein- und ausgegangen sein mussten.

Er verwarf den Gedanken und trat auf die alte Dame zu. Fest schloss er sie in seine Arme. In ihren Augen schimmerten Tränen, als sie ihn von sich fortschob und genauestens musterte.

„Es wird Zeit, dass du kommst“, sagte sie zur Begrüßung. „Du hast die Beerdigung deines Vaters verpasst.“

Sie sagte es ohne jeden Vorwurf in der Stimme – dennoch senkte Jan den Blick. Es war nicht gerade etwas, auf das er stolz war. Martin Mertens und er mochten nicht immer gut miteinander ausgekommen sein, trotzdem hätte Jan ihm natürlich die letzte Ehre erweisen wollen. Doch bis Anfang der Woche hatte er ja noch nicht einmal vom Tod seines Vaters gewusst.

„Ich habe es dir ja schon am Telefon erklärt.“ Seufzend fuhr er sich durchs Haar. „Wenn ich nur nicht …“ Er winkte ab. „Ach, das bringt doch alles nichts. Was geschehen ist, ist geschehen.“

Aenne nickte. „Ja, du hast recht. Es macht keinen Sinn, sich den Kopf über Dinge zu zerbrechen, die du ohnehin nicht mehr ändern kannst.“ Sie trat einen Schritt zurück. „Und jetzt bist du ja da, mein Junge.“

„Ja“, erwiderte er seufzend. „Jetzt bin ich da …“

Wiebke Janssen stieg von ihrem Fahrrad und klappte den Ständer mit einem ärgerlichen Fußtritt aus. Dann schloss sie es an den weißen Palisadenzaun vor ihrer Praxis, die sich am westlichsten Zipfel von Siemersborn befand.

Das Gebäude erinnerte an ein Hexenhäuschen. Es war krumm und schief, und das Reetdach war so alt, dass es vermutlich bald erneuert werden musste. Sie hatte sich bereits einen Kostenvoranschlag eingeholt – und der war nicht von schlechten Eltern. Obwohl der junge Hinrichssen – er ging bereits auf die Sechzig zu, wurde aber immer noch so genannt – ihr ein wirklich gutes Angebot gemacht hatte, wusste sie noch nicht so recht, wie sie mal eben so viel Geld zusammenbekommen sollte. Doch gemacht werden musste es; bei starkem Regen tropfte es bereits durch die Decke in ihren Behandlungsraum hinein.

Dabei hatte es endlich angefangen, bergauf zu gehen …

Das Gartentor quietschte leise, als sie es aufstieß. Zum gefühlt hundertsten Mal nahm sie sich vor, das Scharnier endlich zu ölen, würde es aber, wie sie sich kannte, schon gleich wieder vergessen haben.

Sie hatte ohnehin andere Sorgen als ein verrostetes Drehgelenk.

Ihre Haustür war, ebenso wie die Rahmen des Gitterfensters, in einem freundlichen Himmelblau gestrichen, was einen hübschen Kontrast zur weißen Fassade des Hauses bildete. Es besaß nur ein Stockwerk und einen Dachboden, der vorrangig als Lagerfläche genutzt wurde – alle Gegenstände mit Folie abgedeckt, damit sie nicht feucht wurden. Unten befanden sich das Vorzimmer, ein Warteraum und zwei Behandlungszimmer, in dem sie ihre Patienten empfing. Das reichte für die Bedürfnisse ihrer eher kleinen homöopathischen Praxis vollkommen aus.

Als sie ins Vorzimmer trat, war der Schmutzfangteppich mal wieder an einer Seite aufgerollt, sodass sie stolperte und beinahe auf die Nase fiel. Mit einem Fluch trat sie an den Empfangstresen, hinter dem ihre Sprechstundenhilfe und beste Freundin Andrea saß.

Die seufzte, als sie den finsteren Gesichtsausdruck ihrer Chefin sah. „Mieser Tag?“

„Miese Woche“, gab Wiebke zurück und seufzte tief. „Ach, was rede ich – mieses Jahr!“

Andrea nickte mitfühlend. „Du bist immer noch ziemlich fertig wegen dem Tod vom Doktor, hm?“

„Das auch“, gestand sie und stützte sich mit den Ellbogen auf den Tresen. „Außerdem weiß ich nicht, wie es in Zukunft bezüglich der Zusammenarbeit mit Martins Praxis weitergeht. Ich war völlig umsonst in Havneby – die Sachen, die ich bestellt habe, sind noch nicht eingetroffen, und der Apotheker hat vergessen mir Bescheid zu sagen. Tja, und dann ist mir auf der Fähre auch noch so ein unmöglicher Kerl begegnet!“

Andrea strich sich eine Strähne ihres strohblonden Haars hinters Ohr und hob eine Braue. „Und? Sah dieser unmögliche Kerl eventuell auch verboten gut aus?“

Wiebke ärgerte sich darüber, dass sie das nicht abstreiten konnte. Er hatte tatsächlich gut ausgesehen, auf eine arrogante, selbstherrliche Art und Weise. Das dunkelblonde Haar, der Dreitagebart, der ihm etwas Verwegenes, Raubeiniges verlieh. Als sie merkte, wie ihre Gedanken abzuschweifen begannen, schüttelte sie energisch den Kopf. Sie konnte unfreundliche Typen, die nicht wussten, wie man mit einer Frau umging, einfach nicht ausstehen – und daran änderte auch ein noch so gutes Aussehen nichts.

„So genau habe ich ihn mir nicht angesehen“, behauptete sie.

Natürlich durchschaute ihre Freundin die kleine Schwindelei sofort. „Lügnerin.“

Wiebke winkte ab. Sie hatte nicht vor, das Thema weiter zu vertiefen. Andrea hatte die Neigung, ihr sämtliche Geheimnisse zu entlocken, egal wie sehr sie sich auch bemühte, sie für sich zu behalten.

Stattdessen beugte sie sich also über den Tresen, nahm das Terminbuch und drehte es zu sich um. Es war ganz genau ein einziger Termin darin eingetragen – und den hatte Andrea zwischenzeitlich durchgestrichen.

„Was ist denn mit Frau Feddersen?“

„Hat vorhin angerufen. Ihr ist etwas Wichtiges dazwischengekommen“, ahmte ihre Freundin die hohe Fistelstimme der älteren Dame nach. Dann verzog sie das Gesicht. „Als ob.“

Stöhnend presste Wiebke sich die Handballen gegen die Augen. Ganz wunderbar! Wieder ein Tag ohne Konsultation. Wenn es der erste in dieser Woche gewesen wäre, dann hätte sie ja gar nichts gesagt. Immerhin war ihre Praxis noch neu – zumindest wenn man die Maßstäbe der Sylter Urbevölkerung ansetzte – und vielen Leuten war der Begriff Homöopathie noch immer suspekt.

Aber so langsam schwammen Wiebke die Felle davon. Letztlich war sie Dienstleisterin – und wenn niemand ihre Dienstleistung in Anspruch nehmen wollte, dann musste sie ihre Praxis über kurz oder lang schließen.

Dabei war es in letzter Zeit eigentlich ganz gut gelaufen. Zumindest bevor Martin Mertens vollkommen überraschend an einem Herzinfarkt gestorben war. Der niedergelassene Arzt von Siemersborn war so etwas wie eine Vaterfigur für sie gewesen. Er hatte sie von Anfang an unter seine Fittiche genommen, ihr Ratschläge gegeben und sie mit den Marotten der Leute hier vertraut gemacht. Denn Wiebke war zwar eine gebürtige Ostfriesin, doch das machte sie nicht zu einer Sylterin. Und sie gehörte noch lange nicht dazu. Immerhin war sie nicht hier geboren und aufgewachsen, sondern erst später zugezogen. Aber als Kind war sie schon mit ihren Eltern in den Ferien hergekommen, und damals hatte sie sich immer gewünscht, eines Tages hier zu leben. Und dann hatte sie im Internet die Verkaufsanzeige für das Haus entdeckt, in dem sie jetzt ihre Praxis betrieb. Daraufhin hatte sie kurzerhand einen Kredit aufgenommen und das Objekt gekauft. Weil sie Sylt liebte, aber vor allem, weil ihre Heimatstadt für ihre Mutter und sie zusammen einfach zu klein geworden war.

Es war Martins Idee gewesen, eine Zusammenarbeit ins Leben zu rufen. Er übernahm natürlich alle schulmedizinischen Fälle, schickte aber die Patienten, die unter Geschichten wie Reizdarm, Allergien und chronischen Schmerzen litten, zu ihr. Es gab seit knapp einem Jahr sogar einen Vertrag, der genau regelte, wie diese Kooperation ablaufen sollte. Martin hatte darauf bestanden, ihn abzuschließen. Ob dieses Stück Papier ihr jetzt, nach seinem Tod, noch irgendetwas bringen würde, stand allerdings noch in den Sternen.

Der Vertretungsarzt, der im Augenblick in der Praxis vom verstorbenen Doktor tätig war, dachte gar nicht daran, jemanden an sie zu überweisen. Es war wirklich zum Verzweifeln! Aber im Moment blieb ihr nichts anderes übrig, als abzuwarten, bis Martins Erbe endlich auf der Bildfläche erschien.

Allein bei dem Gedanken an ihn kochte wieder Wut in Wiebke hoch. Sie kannte den Sohn ihres väterlichen Freundes zwar nicht, aber dass er sich nicht einmal zu Martins Beerdigung hatte blicken lassen, war schon ein starkes Stück. Von daher setzte sie keine sonderlich großen Hoffnungen in ihn, was eine weitere Zusammenarbeit anging.

Soweit sie wusste, war er zwar ebenfalls Arzt, aber das bedeutete ja nicht, dass er die Praxis seines Vaters übernehmen wollte. Bisher hatte er jedenfalls kein besonders großes Interesse daran gezeigt.

Sechs Jahre lebte Wiebke nun schon auf Sylt. Und in all den Jahren hatte sie Dr. Mertens Junior nicht ein einziges Mal zu sehen bekommen. Wenn Martin über ihn gesprochen hatte, dann stets mit einem wehmütigen Gesichtsausdruck. Es hatte sie traurig gemacht, und deshalb war sie immer bemüht gewesen, rasch das Thema zu wechseln.

Jetzt wünschte sie sich allerdings, ein bisschen mehr über Jan Mertens zu wissen. Zumindest mehr als nur seinen Vornamen und seinen Beruf.

Seufzend fuhr sie sich mit der Hand durchs Haar. „Weißt du was, Andrea? Lass uns für heute einfach den Laden dichtmachen. Es kommt ohnehin niemand mehr, und das bisschen Büroarbeit können wir auch morgen noch erledigen.“

Andrea lächelte. „Einverstanden, Chefin. Aber nur, wenn du mit mir noch einen Kaffee trinken gehst.“ Ihr Lächeln wurde breiter. „Und bei der Gelegenheit kannst du mir alles über diesen gutaussehenden Mann von der Fähre erzählen, der dich so beeindruckt hat.“

Mit einem Schnauben schüttelte Wiebke den Kopf. „Du spinnst ja …“

Doch wenn sie ehrlich sein wollte, lag ihre Freundin mit ihrer Vermutung gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt. Dieser arrogante Schnösel hatte Eindruck auf sie gemacht.

Ob ihr das nun gefiel oder nicht.

Das Haus von Notar Dreyer hatte Jan zum letzten Mal kurz nach dem Tod seiner Mutter betreten. Damals war er gerade neun Jahre alt gewesen, und er erinnerte sich noch lebhaft an die schmale Stiege, die hinauf in die Kanzlei führte. Die Stufen waren ihm damals schier endlos vorgekommen, und als sie endlich oben angelangt waren, hatten ihn die hohen Bücherregale und der wuchtige Schreibtisch eingeschüchtert, die den Raum dominierten.

Seltsam, wie solche Eindrücke sich doch änderten. Als er nun, am Tag seiner Ankunft in Siemersborn, die Kanzlei betrat, war er beinahe enttäuscht. Alles wirkte eingestaubt und trostlos, und der Mann, der hinter dem Schreibtisch saß, war auch alles andere als eindrucksvoll.

Er stand auf, um Jan zu begrüßen. „Mein Beileid“, sagte Lothar Dreyer und schüttelte ihm die Hand. „Ich habe Ihren Vater lange gekannt, und er war mir mehr als nur ein Klient. Ich bedaure sehr, dass wir uns unter diesen Umständen wiedersehen müssen.“

Jan nickte steif. Er wusste nicht recht, was er darauf erwidern sollte. So ziemlich jeder in Siemersborn wusste, dass sein Vater und er nicht im Guten auseinandergegangen waren.

Er setzte sich auf einen der Besucherstühle, den Dreyer ihm anbot.

Der alte Mann rückte seine Brille zurecht und räusperte sich. „Nun, was das Testament Ihres Vaters betrifft …“

„Ich denke, da gibt es nicht besonders viel zu besprechen. Da außer mir niemand als Erbe infrage kommt, würde ich die Formalitäten gern so schnell wie möglich hinter mich bringen, damit ich nach einem Käufer für die Praxis suchen kann. Ich möchte meinen Aufenthalt auf Sylt nicht unnötig in die Länge ziehen.“

„Nun, das kann ich natürlich verstehen. Allerdings …“

„Ja?“

„Nun, ich fürchte, das wird leider nicht so einfach sein.“

Jan runzelte die Stirn. Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Er hob eine Braue. „Gibt es denn noch einen anderen potenziellen Erben?“

Der Notar schüttelte den Kopf. „Nein, das ist es nicht. Zumindest nicht direkt.“

„Ich verstehe nicht.“

„Es ist so: Ihr Vater hat Sie als Alleinerben in seinem Testament bedacht. Allerdings ist das Erbe mit einer gewissen Bedingung verknüpft.“

„Einer Bedingung?“, wiederholte Jan ungläubig. Das war ja wieder einmal typisch! Selbst vom Grab aus versuchte sein alter Herr noch sein Leben zu kontrollieren. „Und was soll das bitte für eine Bedingung sein?“

„Zu allererst möchte ich Sie darauf hinweisen, dass Sie natürlich in jedem Fall mindestens Ihren Pflichtteil erhalten, also die Hälfte des Gesamtvermögens. Sollten Sie sich mit der Bedingung Ihres Vaters allerdings nicht einverstanden erklären, würde der Rest einer gemeinnützigen Stiftung zum Erhalt des Wattenmeers zu Gute kommen.“

Rasch überschlug Jan ein paar Zahlen und Fakten im Kopf und kam zu dem Schluss, dass ein halbes Erbe niemals reichen würde, um damit einen Anteil an der Gemeinschaftspraxis in München zu erwerben, in der er arbeitete. Sein Partner hatte ihm ein Vorkaufsrecht eingeräumt – doch wenn er nicht spätestens zum Ende des Quartals genug Geld zusammenhatte, würde er sich nach einem anderen Investor umsehen. Zuerst hatte Jan vorgehabt, bei seiner Hausbank um einen Kredit zu bitten, sich aber angesichts der monatlichen Belastungen, die auf ihn zukommen würden, dagegen entschieden. Der Verkauf des Hauses war die einzige Lösung.

„Na wunderbar.“ Er fuhr sich durchs Haar. „Was erwartet mein Vater also von mir?“

„Das ist schnell gesagt“, entgegnete Lothar Dreyer mit einem entschuldigenden Schulterzucken. „Es verhält sich nämlich so: Nach Ablauf einer Frist von einem Monat, gerechnet vom heutigen Tag, geht das Erbe in Ihren Besitz über und Sie können damit verfahren, wie immer es Ihnen beliebt. Bis dahin aber …“

Jetzt wurde es interessant. „Ja? Was genau ist denn bis dahin?“

„Bis dahin müssen Sie die Praxis im Namen und Sinne Ihres Vaters weiterführen.“

2. KAPITEL

Jan wusste nicht, auf wen er wütender war. Auf seinen Vater, weil er ihm selbst jetzt noch Steine in den Weg legte, oder auf sich selbst, weil er sich die ganze Sache viel zu leicht vorgestellt hatte. Seinen ursprünglichen Plan, die Praxis schnellstmöglich zu verkaufen und dann gleich nach München zurückzukehren, konnte er jetzt jedenfalls vergessen. Stattdessen musste er einen Monat lang hier in der Einöde ausharren und die Patienten seines Vaters betreuen.

Zumindest, wenn er nicht auf eine Hälfte seines Erbes verzichten wollte.

„Verdammt!“

Er hieb mit der flachen Hand auf das Lenkrad seines Audis. Tatsächlich hatte er vorhin in der Kanzlei vom alten Dreyer kurz mit dem Gedanken gespielt, alles hinzuschmeißen. Schon allein, weil er seinem Vater diesen posthumen Triumph nicht gönnen wollte. Doch schließlich hatte die Stimme seiner Vernunft sich gemeldet. Er wollte Anteilseigner in der Gemeinschaftspraxis in München werden? Dann durfte er jetzt nicht sofort aufgeben, bloß weil es nicht ganz nach seiner Nase lief.

Das bedeutete jedoch nicht, dass er sich auch darüber freuen musste …

Allein bei dem Gedanken, ganze vier Wochen hier auf Sylt festzuhängen, wurde ihm ganz anders. Hinzu kam, dass sein Partner in München alles andere als begeistert über seinen verlängerten Aufenthalt sein würde.

Frustriert steckte Jan den Schlüssel ins Zündschloss und ließ den Motor an. Als er an seinem Elternhaus ankam, war der Praxisbetrieb bereits im vollen Gange. Jans erster Impuls war es, die Treppe nach oben in die Privaträume zu nehmen. Doch dann überlegte er es sich doch anders. Er würde sich ohnehin nicht auf Dauer davor drücken können, den Betrieb in Augenschein zu nehmen. Da konnte er auch jetzt gleich ins kalte Wasser springen.

Er trat durch die weiße Tür mit der Aufschrift ‚Anmeldung‘ und blinzelte überrascht. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sich hier irgendetwas verändert hatte. Doch der alte Eichentresen war ebenso verschwunden wie die hässlichen Metallaktenschränke. Stattdessen bestand die Einrichtung aus hellen, zugleich praktischen und eleganten Möbeln, wie vermutlich auch er selbst sie ausgesucht hätte.

Was ihn jedoch noch mehr beeindruckte war der blonde Engel, der hinter dem neuen Tresen saß. Offensichtlich hatte sein Vater sich von mehr getrennt als nur seiner altmodischen Praxisausstattung. Die Sprechstundenhilfe, an die er sich erinnerte, hatte jedenfalls nicht so ausgesehen.

Moin moin und einen wunderschönen guten Tag“, sagte er und drehte seinen Ladykiller-Charme bis zum Anschlag auf. Dann stützte er sich mit den Ellbogen auf den Tresen und schenkte der Blondine ein strahlendes Lächeln. „Hätte ich gewusst, dass mich hier eine solche Schönheit erwartet, hätte ich meinen Vater sicher schon früher einmal besucht.“

So, das sollte reichen. Bei dieser Dosis lagen die Frauen ihm in der Regel bereits schmachtend zu Füßen. Und er zweifelte nicht daran, dass seine Charme-Offensive auch dieses Mal ihre Wirkung nicht verfehlen würde.

Nein, ganz bestimmt nicht.

Die junge Frau blinzelte und ließ dabei ihre langen Wimpern klappern. Sie besaß ein herzförmiges Gesicht, volle Lippen und ungewöhnlich hellblaue Augen. Ihre Figur war sehr weiblich, genau wie Jan es mochte.

„Ihr Vater …? Oh“, machte sie schließlich. „Dann müssen Sie Jan Mertens sein. Mein herzliches Beileid. Ihr Vater war ein feiner Mensch und …“

„Ich bin sicher, er hätte sich sehr über Ihre Rede zu seiner Nominierung zum Chef des Monats gefreut, aber mich interessiert viel mehr, wie Sie heißen, meine Schöne.“

Sie wirkte irritiert. Es wunderte Jan, dass sein Vater sie eingestellt hatte. Es war wie so oft: Hübsch aber leider ziemlich hohl. Doch das konnte ihm egal sein. Mit solchen Frauen ging er in der Regel einmal ins Bett, ehe sein Interesse an ihnen wieder erlosch.

„Ina“, erwiderte sie. „Ina Sievert. Aber …“ Sie runzelte die Stirn. „Sagen Sie mal, flirten Sie etwa mit mir?“

Er hob eine Braue. „Ich? Flirten? Aber nein, wie kommen Sie denn darauf?“, fragte er, doch das Lächeln, das er aufsetzte, strafte seine Worte Lügen. „Ich unterhalte mich lediglich nett mit Ihnen, das wird ja wohl nicht verboten sein, oder? Immerhin werden wir ja nun wohl gezwungenermaßen eine Weile lang zusammenarbeiten müssen.“

Ein Strahlen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Bedeutet das etwa …? Kleinen Moment, das muss meine Kollegin auch hören.“ Sie rollte mit dem Stuhl ein Stück zurück und rief in den angrenzenden Raum: „Merle, komm mal schnell rüber! Das wird dich sicher auch brennend interessieren!“

Ina entsprach absolut Jans Beuteschema, was man von der Frau, die im nächsten Moment aus dem Labor trat, nicht behaupten konnte. Nein, ganz und gar nicht! Er schätzte sie auf Mitte vierzig, sie war ziemlich stämmig und hatte glattes hellbraunes Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst trug. Ihr Lächeln aber war, wie er zugeben musste, durchaus einnehmend. Das verbesserte den Gesamteindruck allerdings trotzdem nur minimal.

„Ach, hallo“, begrüßte sie ihn und wandte sich dann fragend an Ina. „Was gibt es denn so Aufregendes?“

„Merle, das ist Jan Mertens, der Sohn vom Doktor. Und, stell dir vor, er will die Praxis übernehmen!“

„Aber das ist ja fantastisch!“, rief Merle und ergriff Jans Hand, ehe dieser protestieren konnte. „Sie werden Ihre Entscheidung nicht bereuen, da bin ich absolut sicher!“

In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Behandlungsraum, und ein älterer Mann im Arztkittel trat heraus. Er wirkte wenig amüsiert über den Tumult in seinem Vorzimmer.

„Was ist denn hier los? Wird hier heute nicht mehr gearbeitet?“

„Dr. Hinrichsen, darf ich vorstellen?“ Ina strahlte übers ganze Gesicht. „Das ist Dr. Jan Mertens, der Sohn vom alten Doktor. Er hat vor, die Praxis zu übernehmen.“

Der ältere Arzt hob eine Braue. „Stimmt das, Herr Kollege?“

„Ich … Nun …“ Jan war nun wirklich nicht oft um Worte verlegen, doch in dem Moment wusste er einfach nicht, was er sagen sollte. Die beiden Frauen wirkten so hoffnungsvoll, dass es ihm fast schon leidtat, sie enttäuschen zu müssen. Doch er wollte ihnen auch nichts vormachen, denn dass er dauerhaft auf Sylt blieb, war vollkommen ausgeschlossen. Eher versank die Insel im Meer! „Ehrlich gesagt, nicht so ganz“, entgegnete er daher. „Ich habe vor, für maximal einen Monat zu bleiben und die Praxis für die Zeit im Sinne meines Vaters weiterzuführen. Währenddessen möchte ich mich nach einem Käufer für die Praxis umsehen.“ Fragend schaute er Hinrichsen an. „Sie haben nicht zufällig Interesse?“

Der Mann winkte ab. „Ich? Auf keinen Fall. Ich werde demnächst in einer Klinik in Flensburg als Internist anfangen. Diesen Job hier habe ich nur übernommen, weil kurzfristig jemand einspringen musste und ich zur Verfügung stand. Aber wenn ich hier nicht mehr gebraucht werde …“

Jan hob die Hände. „Also, wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich Ihre Hilfe gern noch ein oder zwei Tage in Anspruch nehmen. Nur so lange, bis sich hier alles ein bisschen eingespielt hat.“

„Sicher, darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an.“ Er zuckte die Schultern. „Da fällt mir ein – eventuell wüsste ich jemanden, der als Käufer infrage käme.“

Sofort horchte Jan auf. „Ja, wirklich? Das wäre ja fantastisch, Herr Kollege!“

„Na, dann will ich mal für Sie nachhören, ob mein Bekannter tatsächlich interessiert ist. Wie sieht es aus? Wollen Sie gleich mit einspringen?“

Kurz dachte Jan darüber nach, dann nickte er. „Klar, warum eigentlich nicht – wenn es Ihnen nichts ausmacht.“

„Ganz und gar nicht“, entgegnete Hinrichsen. Er wandte sich den Sprechstundenhilfen zu. Die beiden wirkten angesichts der Nachricht, dass Jan nicht auf Dauer bleiben wollte, geknickt. „Haben die Damen vor, heute noch den nächsten Patienten hereinzubitten? Oder sind wir etwa schon durch für heute?“

Es war Ina, die sich zuerst wieder fing. „Nein“, sagte sie. „Nein, natürlich nicht. Ich schicke Ihnen gleich Frau Smid rein. Sie hat noch immer Probleme mit ihrem eingewachsenen Zehennagel.“

Jan unterdrückte ein Seufzen. An so etwas würde er sich jetzt wohl vorerst gewöhnen müssen. Eingewachsene Zehennägel, Hühneraugen und Hämorrhoiden würden in den kommenden vier Wochen zu seinem Arbeitsalltag gehören. Nicht, dass so etwas in seiner Gemeinschaftspraxis in München nicht vorkam. Natürlich tat es das. Doch die Klientel war insgesamt eine andere – und das spiegelte sich auch in den Wehwehchen wider, mit denen die Patienten sie aufsuchten.

Natürlich gab es auch auf Sylt genug Stars und Sternchen (und solche, die es gern werden wollten) – dafür war die Insel immerhin bekannt. Aber die hielten sich eben nicht unbedingt in Siemersborn auf. Der Ort war weder cool noch schick, sondern eher bodenständig. Die Siemersborner selbst waren stolz darauf, dass der Luxustourismus ihnen nichts hatte anhaben können. Jan fand das nicht unbedingt etwas, womit man sich brüsten konnte. Irgendwie hatte dieser Ort es geschafft, dass der Geruch von Kuhkaff an ihm haften blieb.

Ein Grund mehr für ihn, diesen Monat irgendwie hinter sich zu bringen und dann so schnell wie möglich nach München zurückzukehren.

Nervös rieb Wiebke ihre Hände aneinander. Obwohl es wirklich nicht kalt war, hatte sie ganz steife Finger. Vermutlich vor Aufregung. Immerhin hing viel von dem Treffen ab, das ihr nun bevorstand.

Als gestern Abend der Anruf von Merle Westphal kam, die als Sprechstundenhilfe in Martins Praxis arbeitete und mit der sie seit ihrem Umzug nach Sylt befreundet war, saß sie gerade vor dem Fernseher. Doch die Nachricht, dass Martins Sohn eingetroffen war und zumindest übergangsweise in der Praxis arbeiten würde, hatte sie den ohnehin ziemlich langweiligen TV-Krimi vergessen lassen, der über die Mattscheibe flimmerte.

„Und? Wie ist er so?“

In ihrer Vorstellung hatte sie ein ziemlich genaues Bild von Jan Mertens. Ein Mann, der sich jahrelang nicht bei seinem Vater blicken ließ und nicht einmal zu dessen Beerdigung anreiste, konnte kein sonderlich sympathischer Typ sein. Unglücklicherweise musste sie sich trotzdem mit ihm befassen, ob es ihr nun gefiel oder nicht. Denn er hatte nun mal die Praxis geerbt – und sie war, zumindest im Moment noch, auf eine Zusammenarbeit angewiesen.

Deshalb musste sie versuchen, ihren Widerwillen zu verbergen und gute Miene zum bösen Spiel machen.

Leicht fiel ihr das allerdings nicht. Ganz und gar nicht.

Sie gehörte zu den Menschen, die nicht einfach zusehen konnten, wie anderen ein Unrecht geschah – ganz besonders dann nicht, wenn es sich bei den Betroffenen um Freunde oder Familie handelte. Und obwohl sie Martin erst seit ein paar Jahren gekannt hatte, fühlte sie sich ihm verbunden wie einem Familienmitglied.

Oder besser, sie hatte so empfunden.

Gott, sie vermisste Martin. Er war so viel mehr als nur ein Kollege für sie gewesen. Eher so etwas wie ein väterlicher Freund. Und der Gedanke, nun mit seinem Sohn zusammenarbeiten zu müssen, gefiel ihr ganz und gar nicht. Dieser Mann hatte einen Vater wie Martin überhaupt nicht verdient! Doch sie wusste, dass Martin anders darüber gedacht hatte.

Seufzend warf sie noch einen letzten prüfenden Blick in den Rückspiegel, dann nickte sie sich aufmunternd zu und stieg aus dem Wagen. Als sie auf das Haus zuging, bemerkte sie den alten silbernen Audi, der ein Stück entfernt am Straßenrand abgestellt worden war. Sie runzelte die Stirn. Der unverschämte Kerl von der Fähre wohnte also irgendwo hier in der Nähe? Blieb nur zu hoffen, dass sie dem nicht auch noch über den Weg lief. Ein arroganter und rücksichtsloser Typ reichte ihr für einen Tag.

Mit großen Schritten ging sie den Gartenweg zum Haus hoch. Besser sie beeilte sich, solange sie noch fest entschlossen war. Wenn sie Jan Mertens gegenübertrat, wollte sie nicht wie eine verhuschte kleine Bittstellerin rüberkommen. Denn das war sie nicht. Nein, absolut nicht.

Im Grunde genommen konnte Martins Sohn ihr gar nichts. Sie hatte mit seinem Vater sogar einen Vertrag abgeschlossen, in dem die grundlegenden Details der Zusammenarbeit geregelt waren. Martin hatte darauf bestanden, um ihr damit ein Gefühl von Sicherheit zu verleihen.

Wofür sie ihm jetzt unglaublich dankbar war.

Es war schon merkwürdig. Irgendwie hatte Wiebke instinktiv damit gerechnet, dass sich etwas geändert haben musste. Doch als sie das Haus betrat und die Tür mit der Aufschrift ‚Praxis‘ öffnete, war alles beim Alten.

Merle saß hinter dem Tresen und telefonierte gerade mit einem Patienten, ihre Kollegin war nicht zu sehen; vermutlich hielt sie sich im Labor auf. Aus dem Wartezimmer hörte sie das Rascheln von Zeitschriften und ein gelegentliches Hüsteln. Fast erwartete sie, dass jeden Moment Martin aus dem Behandlungsraum treten würde, doch das passierte natürlich nicht.

Dafür tat jemand anderes genau das, und im ersten Moment war Wiebke verwirrt. Der Typ von der Fähre? Was hatte der denn hier zu suchen?

Doch dann bemerkte sie den Arztkittel und sah die Patientenakte in seiner Hand …

Oh, nein!

„Das ist jetzt hoffentlich nicht wahr!“, platzte es aus ihr heraus, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte.

Aber wie naiv war sie eigentlich? Sie hätte längst darauf kommen müssen, dass der Mann auf der Fähre und Jan Mertens ein und dieselbe Person waren. Der Wagen vor der Tür war ja immerhin schon ein recht guter Hinweis gewesen.

Doch sie hatte es wie der sprichwörtliche Blitz aus heiterem Himmel getroffen. Und sie war noch nie besonders gut darin gewesen, ihre wahren Gefühle zu verbergen. Es hatte sie schon oft in Schwierigkeiten gebracht, dass sie ungefiltert stets das aussprach, was ihr durch den Kopf ging.

Martins Sohn runzelte die Stirn. Erst schien er sie gar nicht zu erkennen. Dann erhellte sich sein Gesichtsausdruck, und er kniff die Augen zusammen. „Sie sind das …“

„Ich hätte mir eigentlich denken können, dass Sie Martins Sohn sind. Das Verhalten, das Sie mir gegenüber an den Tag gelegt haben, passt dazu, wie Sie Ihren Vater behandelt haben!“

Hatte er im ersten Moment nur verblüfft gewirkt, sie hier zu sehen, verfinsterte sich seine Miene nun deutlich. Zwischen seinen Brauen erschien eine steile v-förmige Falte, wie Wiebke sie von Martin kannte. In den seltenen Fällen, wenn ihr väterlicher Freund einmal wütend geworden war. Was sie so gut wie nie erlebt hatte. Martin Mertens war der freundlichste und geduldigste Mensch gewesen, der ihr je begegnet war. Eine wahre Seele von einem Mann.

Was man von seinem Sohn nicht behaupten konnte.

„Na, das ist ja eine Überraschung“, knurrte der nun. „Leider keine besonders angenehme. Darf ich fragen, was Sie hier zu suchen haben? Haben Sie sich etwa mit Ihrem rostigen Drahtesel auf die Nase gelegt?“

Ärgerlich funkelte Wiebke ihn an. „Nein, sehe ich so aus?“

Hör auf! versuchte sie sich selbst zur Ordnung zu rufen. Es war vermutlich keine besonders gute Idee, ihn auch noch zu provozieren. Vor allem, da sie ja etwas von ihm wollte.

Aber ihr Temperament zu bremsen gehörte auch nicht unbedingt zu ihren größten Stärken …

„Ich bin hier, um mit Dr. Jan Mertens zu sprechen – eigentlich.“ Sie hob eine Braue. „Inzwischen frage ich mich allerdings, ob das unter diesen Umständen überhaupt noch Sinn macht. Ich hatte gehofft, Sie seien ein bisschen mehr wie Ihr Vater. Aber offenbar habe ich da wohl zu viel erwartet.“

Er presste die Lippen zusammen. „Ich bitte um Verzeihung, dass ich nicht das Abziehbild meines Vaters bin“, entgegnete er. „Aber wenn Sie ihn so toll fanden, warum waren Sie dann nicht mit ihm zusammen? Oder waren Sie das am Ende vielleicht sogar? Ich meine, es soll ja häufiger vorkommen, dass junge Frauen sich zu älteren Männern …“

„Seien Sie still“, fauchte Wiebke.

Unterschwellig war sie sich der Tatsache bewusst, dass jeder in der Praxis sie beide anstarrte. Ihr Nachbar, Herr Riemers, der im Wartezimmer saß, ließ sich nicht einmal von seinem gebrochenen Knöchel davon abhalten, Zeuge dieser Szene zu werden. Und Wiebke konnte es ihm nicht einmal vorwerfen. Vermutlich lieferten Martins Sohn und sie eine ziemlich unterhaltsame Show ab.

Schade nur, dass sie das Ganze überhaupt nicht witzig finden konnte.

„Ihr Vater war ein ganz hervorragender Arzt und mir ein wunderbarer Freund und Kollege. Ich …“

„Kollege?“, fiel er ihr barsch ins Wort. „Sie sind Ärztin?“

Wiebke holte tief Luft. „Nun … ich … nicht direkt.“

„Was soll das denn heißen? Wie kann man nicht direkt Ärztin sein?“ Seine Oberlippe kräuselte sich abfällig. „Entweder Sie haben an einer Universität Medizin studiert – oder eben nicht. Da gibt es nicht besonders viel zu deuteln. Es sei denn … Großer Gott, gehören Sie etwa zu diesen Studienabbrechern, die sich selbst für ungemein kompetent halten, nur weil Sie zwei Semester lang ein paar Vorlesungen besucht haben?“

Empört schnappte Wiebke nach Luft. Dieser Kerl war ja so was von arrogant! Es wurde wirklich Zeit, dass ihn jemand von seinem hohen Ross herunterholte. Dumm nur, dass sie dieser Jemand wohl nicht sein würde.

Sehr zu ihrem Leidwesen hatte er nämlich mehr oder weniger den Nagel auf den Kopf getroffen. Wiebke hatte ihr Medizinstudium tatsächlich nach einer kurzen Weile abgebrochen – gegen den Willen ihrer Mutter, die selbst Medizinerin mit Leib und Seele gewesen war und dasselbe von ihrer Tochter erwartete. Nicht jedoch, weil sie sich für allwissend hielt, wie Jan Mertens angedeutet hatte, oder weil sie zu dumm dazu war, wie er vermutlich dachte. Nein, sie hatte einfach sehr schnell gewusst, dass das Ganze nichts für sie war. Sie wollte Menschen helfen, sicher. Aber ihrer Meinung nach gab es zur heutigen Schulmedizin zahlreiche Alternativen. Deshalb hatte sie sich am Ende für eine Ausbildung zur Heilpraktikerin entschieden. Und ihre Erfolge gaben ihr recht.

Doch die Vorurteile gegenüber homöopathischen Mitteln, traditioneller chinesischer Medizin und Aromatherapie waren noch immer sehr groß. Sie hatte großes Glück gehabt, auf jemanden wie Martin Mertens zu treffen, der auch die Möglichkeiten und Chancen erkannt hatte, die ihre Methoden mit sich brachten.

Martin ist tot, und du tätest gut daran, dir das endlich hinter die Ohren zu schreiben. Es ist sein Sohn, mit dem du dich jetzt – wenn auch hoffentlich nur vorübergehend – arrangieren musst. Du solltest also vermutlich langsam anfangen, ihm gegenüber etwas freundlicher zu sein.

Sie atmete tief durch, straffte die Schultern und sagte: „Ich bin Heilpraktikerin.“

Lange musste sie auf seine Reaktion nicht warten – und leider fiel sie genau so aus, wie sie befürchtet hatte.

„Heilpraktikerin, soso.“ Er lachte abfällig. „Na, das hätte ich mir gleich denken können.“

Sie zog die Brauen zusammen. „Wie bitte darf ich das verstehen?“

„Nun, es passt einfach zu Ihnen. Genauso sauertöpfisch stelle ich mir eine Heilpraktikerin vor.“

Sauertöpfisch?! Das war ja wohl …! Sie konnte sich gerade noch bremsen, sein „Kompliment“ mit einer ebenso freundlichen Beschreibung zu erwidern. Es war beinahe schade drum, fand sie, denn ihr fielen auf die Schnelle mindestens zehn Adjektive ein, die ihn ganz hervorragend charakterisierten. Doch angesichts der Sachlage war es wohl tatsächlich besser, sich ein wenig zurückzuhalten.

Sie holte noch einmal tief Luft und zwang ein Lächeln auf ihre Lippen. Gerade, als sie zum Sprechen ansetzte, meldete sich Merle zu Wort.

„Wiebke hat eng mit Ihrem Vater zusammengearbeitet“, sagte sie zu Jan Mertens. „Er war der Überzeugung, dass die Schulmedizin und traditionelle Heilverfahren Hand in Hand gehen sollten und …“

„Mein Vater mag dieser Ansicht gewesen sein“, unterbrach er sie. „Ich bin es nicht. Und solange ich hier das Sagen habe, wird es so etwas in dieser Praxis auch nicht geben. Haben wir uns verstanden?“

„So einfach ist das aber nicht“, entgegnete Wiebke und reckte das Kinn. „Ihr Vater und ich haben einen Vertrag und …“

„Mein Vater ist tot.“ Er bedachte sie mit einem Blick, der sie innerlich erstarren ließ. „Und was immer Sie auch mit ihm vereinbart haben mögen, ist mit ihm gestorben.“

Das war ja wohl die Höhe! Erbost funkelte Wiebke ihn an. Was bildete sich dieser Kerl eigentlich ein? War ihm das Andenken an seinen Vater denn gar nichts wert?

Gleichzeitig durchlief sie ein eisiges Schaudern. Ein Teil von ihr hoffte noch immer, dass der Vertrag irgendwie auch für Martins Erben bindend sein würde. Noch war zu diesem Thema also das letzte Wort nicht gesprochen – oder war hier nur der fromme Wunsch der Vater des Gedanken?

Der Vertrag lag augenblicklich jedenfalls zur Prüfung bei einem befreundeten Rechtsanwalt, den Merle ihr empfohlen hatte. Er verlangte für seine Dienste nur einen Bruchteil dessen, was er laut seines Stundensatzes nehmen durfte. Entsprechend musste sie sich aber auch in Geduld üben.

Geduld …

Und damit war sie leider nicht gesegnet. Sie wollte diese Sache geklärt wissen – hier und jetzt. Außerdem würde es alles nur noch weiter unnötig komplizieren, wenn Martins Sohn die Praxis verkaufte und sie sich dann mit einem Wildfremden auseinandersetzen musste.

Nicht, dass sie Jan Mertens kannte. Sie wusste über ihn nur das, was Martin ihr erzählt hatte. Dass er nach dem Abitur Knall auf Fall von zu Hause ausgezogen und zum Studieren nach München gegangen war. Es hatte wohl einen großen Streit gegeben, der die beiden entzweite. So etwas passierte, sicher. Aber sie verstand nicht, was so schlimm sein konnte, dass man selbst Jahre später noch nicht in der Lage war, zu verzeihen.

Martin war immerhin sein Vater gewesen. Wie konnte Jan Mertens sich da so verhalten? Nicht mal zur Beerdigung war er gekommen! Schon möglich, dass sie selbst auch nicht unbedingt besonders versöhnlich war, aber irgendwie konnte man das auch kaum miteinander vergleichen.

Es machte sie einfach wütend, denn Martin hatte eine solche Behandlung einfach nicht verdient.

„So leicht lasse ich mich von Ihnen nicht abspeisen“, entgegnete sie kühl. „Sie mögen sich ja für den Allergrößten halten, aber ich habe Neuigkeiten für Sie: Nicht jede Frau auf diesem schönen Planeten lässt sich von Ihrem guten Aussehen beeindrucken.“

Er lachte leise auf. „Worüber ich im Übrigen sehr froh bin – Frauen wie Sie fallen nämlich ganz und gar nicht in mein Beuteschema.“

„Es gefällt Ihnen wohl nicht, dass ich im Gegensatz zu Ihren üblichen Gespielinnen mehr als nur Stroh im Kopf habe?“

„Nein“, entgegnete er nüchtern. „Das ist es nicht.“

„Sondern?“

„Sie sind mir einfach zu anstrengend.“

Wiebke stand kurz davor, endgültig die Beherrschung zu verlieren, als plötzlich die Eingangstür zur Praxis aufflog und eine brünette Frau etwa Mitte vierzig ins Vorzimmer humpelte.

„Es ist mir egal, was Sie mit mir anstellen, Doktor, aber ich bin schon ganz rammdösig. Irgendetwas müssen Sie gegen diese Schmerzen tun! Ich halte es keine Sekunde mehr länger aus!“

3. KAPITEL

Tessa Friedrichsen – schon wieder. Jan hatte bereits gestern, an seinem ersten Tag in der Praxis, das Vergnügen gehabt, Bekanntschaft mit der Tankstellenbesitzerin zu machen. Und Vergnügen benutzte er in diesem Zusammenhang vollkommen ironisch.

Überhaupt war der gestrige Tag kein Zuckerschlecken gewesen. Verglichen mit der Gemeinschaftspraxis in München herrschte hier praktisch die ganze Zeit über Dauerbetrieb. Wie sein Vater es geschafft hatte, sich unter diesen Umständen noch Zeit für jeden einzelnen Patienten zu nehmen, würde ihm wohl ewig ein Rätsel bleiben.

Am Abend war er jedenfalls todmüde in sein altes Bett gefallen und hatte bis zum Morgen wie ein Stein durchgeschlafen. Entsprechend erfrischt und ausgeruht war er aufgewacht. Das bedeutete jedoch nicht, dass er besonders enthusiastisch gewesen wäre, angesichts der Tatsache, sich einen weiteren Tag in der Praxis um die Ohren schlagen zu müssen.

Aber es ließ sich nun einmal nicht vermeiden. Und wenigstens stand ihm im Augenblick noch Doktor Hinrichsen zur Seite.

„Ich habe Ihnen bereits erklärt, dass es im Moment nicht viel gibt, was wir noch tun können. Die Spritzen, die Doktor Hinrichsen Ihnen verordnet, sollen Ihre Rückenschmerzen lindern und gleichzeitig die Entzündung bekämpfen. Aber so etwas dauert eben seine Zeit. Eine deutliche Besserung tritt in einem solchen Fall nicht von heute auf morgen ein.“

„Aber ich brauche etwas, dass mir jetzt hilft!“, stöhnte die Patientin, und Jan musste zugeben, dass sie ihm irgendwie leidtat. Aber es brachte nun mal nichts, wenn man den Leuten falsche Hoffnungen machte.

Sie würde sich wohl noch eine Weile lang mit den Symptomen des eingeklemmten Ischiasnervs herumquälen müssen, das ließ sich nicht vermeiden. Wobei sie noch von Glück im Unglück reden konnte. Er hatte schon Fälle gesehen, wo die Patienten noch viel schlimmer dran gewesen waren und kaum noch gehen, liegen, stehen oder sitzen konnten. Er öffnete den Mund, um ihr genau das zu sagen, doch Wiebke … verflixt, er konnte sich nicht an ihren Nachnamen erinnern – hatte sie ihn überhaupt genannt? Jedenfalls kam sie ihm zuvor.

„Ich wüsste da schon etwas, das vielleicht helfen könnte“, meinte sie und legte Frau Friedrichsen mitfühlend eine Hand auf die Schulter. „Es ändert natürlich nichts an der Ursache für Ihre Beschwerden, aber es könnte Ihnen eventuell mit den Schmerzen helfen.“

Hoffnungsvoll schaute die ältere Frau zu Wiebke auf, und Jan spürte, wie erneut Ärger in ihm hochkochte. Es gab ein paar Dinge, die er einfach nicht tolerieren konnte. Dazu gehörten Inkompetenz und falsch verstandenes Mitgefühl.

Doch er hielt seine Gefühle im Zaum, verschränkte die Arme vor der Brust und hob eine Braue. „Was? Wollen Sie ihr einen Kräutertrank mixen?“ Er stieß ein abfälliges Schnauben aus. „Na ja, schaden kann es vermutlich nicht. An homöopathischen Wirkstoffen ist meines Wissens ja noch niemand gestorben – es sei denn, man rechnet die armen Seelen ein, die sich geweigert haben, eine schulmedizinische Behandlung zu akzeptieren.“ Er schaute Wiebke durchdringend an. „Weil sie lieber auf irgendwelche Naturheilmittel vertraut haben.“

Sie begegnete seinem Blick fest. Eines musste er ihr lassen: Sie hatte definitiv Nerven (und sah trotz der viel zu weit geschnittenen Jeans und der unförmigen Bluse zum Anbeißen aus, aber den Gedanken verdrängte er rasch wieder).

„Mir sind die Nutzen und Vorteile der modernen Medizin durchaus bewusst“, entgegnete sie scheinbar vollkommen gelassen.

So ruhig sogar, dass es Jan fast ein wenig ärgerte. Irgendwie reizte es ihn, sie aus der Reserve zu locken. Doch das schien nicht so leicht zu sein, wie er es sich vorgestellt hatte.

„Sie scheinen zu glauben, dass ich einem – wie sagten Sie so schön? – Kräutertrank eine allesheilende Wirkung zuschreibe“, sprach sie weiter. „Ich kann Ihnen allerdings versichern, dass dem nicht so ist. Die Naturheilkunde kann die Schulmedizin nur ergänzen, nicht ersetzen. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie keine Daseinsberechtigung besäße.“

Er wollte gerade etwas entgegnen, da meldete sich Frau Friedrichsen zu Wort. „Entschuldigen Sie bitte, ich will Ihr kleines professionelles Streitgespräch ja nicht unterbrechen, aber …“ Sie wandte sich an Wiebke. „Wenn Sie irgendetwas haben, mit dem sich diese Höllenschmerzen leichter ertragen lassen, würde ich es wirklich gern ausprobieren …“

„Das hier ist nicht meine Praxis …“ Fragend schaute sie Jan an.

Der zuckte mit den Achseln. „Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Meinen Segen haben Sie.“ Er hob eine Braue. „Behaupten Sie hinterher nur nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt, Frau Friedrichsen.“

Beruhigend legte Wiebke der Patientin eine Hand auf die Schulter. „Keine Sorge. Im schlechtesten Fall bemerken Sie keine Verbesserung. Eine Verschlimmerung kann durch meine Methode nicht eintreten.“ Sie schaute zu Jan auf. „Welchen Raum kann ich benutzen?“

„Das Labor“, erwiderte er sofort. Das wäre ja auch noch schöner, wenn sie mit ihrem Hokuspokus sein Behandlungszimmer blockierte. Wobei – neugierig war er ja schon. Was sie wohl vorhatte? Das würde er sich auf jeden Fall ansehen. Er wollte unbedingt Zeuge sein, wenn sie sich total zum Narren machte.

Denn genau das würde doch passieren – richtig?

Natürlich würde es das. Ganz sicher.

„Ich muss noch kurz zu meinem Wagen“, erklärte Wiebke. „Meine Nadeln holen.“

Frau Friedrichsen erbleichte. „Nadeln? Oh …“

„Keine Angst, es wird nicht wehtun. Und in ein paar Minuten ist dann auch schon alles vorbei.“ Ohne Jan auch nur noch eines weiteren Blickes zu würdigen, verließ sie die Praxis. Seine Sprechstundenhilfe führte währenddessen die Patientin ins Labor und half ihr dabei, sich auf der schmalen, mit Kunstleder bezogenen Liege auszustrecken.

„Warum sind Sie eigentlich so gegen Naturheilkunde eingestellt?“, meldete sich Merle nach einer Weile zu Wort.

Jan dachte einen Moment lang über die Frage nach. War er irgendwie voreingenommen? Nein, sicher nicht. Er hatte einfach schon zu oft erlebt, wie Menschen sich lieber von irgendwelchen Quacksalbern krankmachen ließen, als sich von einem richtigen Arzt helfen zu lassen. Nun, nicht in seiner Praxis in München natürlich. Dort gab es zwar auch Patienten, die sich mit den verschiedensten Cremes und Masken zu verjüngen suchten (in der Regel ohne großen Erfolg), doch seine schlechten Erfahrungen stammten noch aus den Praktika, die er während des Studiums in einem Krankenhaus gemacht hatte.

Was man dort alles erlebte …

Er schüttelte die schlechten Erinnerungen ab. Da kehrte Wiebke auch schon zurück. Bei sich trug sie ein kleines schwarzes Köfferchen. Zum Glück befanden sich wenigstens keine niedlichen roten Drachenmotive oder eine ähnlich kitschige Dekoration darauf. Er ließ ihr den Vortritt ins Labor und blieb selbst im Türrahmen stehen.

„Na dann, zeigen Sie uns mal, was Sie können“, forderte er sie auf – der Spott in seiner Stimme kaum verholen. „Ich bin schon hochgespannt.“

Zu seiner Enttäuschung ließ sie sich von ihm nicht verrückt machen. Ruhig und gelassen erklärte sie der Patientin ganz genau, was sie als Nächstes tun würde, während sie ihr Köfferchen öffnete und ihre sterilen Nadeln auspackte.

Alles ging, wie sie versprochen hatte, ganz schnell. Gegen seinen Willen fasziniert, blieb Jan die ganze Zeit über in der Tür stehen und schaute ihr dabei zu, wie sie ihrer Arbeit nachging. Sie schien zu wissen, was sie tat. Er hatte nicht unbedingt viel Ahnung von Akupunktur, wusste aber doch, dass es festgelegte Punkte gab, wo und wie die Nadeln zu setzen waren. Ihre sparsamen, effizienten Bewegungen, die Art und Weise, wie sie sich immer wieder mit einer Hand das Haar hinters Ohr zurückstrich – das alles wirkte ungemein anziehend auf ihn. Aber sie war genau die Sorte von Frau, von der er sich stets ferngehalten hatte – aus gutem Grund. Diese Frauen waren anstrengend, wussten alles besser, und man konnte sich mit ihnen nicht unterhalten, ohne dass es in einem Wortgefecht endete.

Normalerweise war es immer Letzteres gewesen, was ihn am meisten gestört hatte. Bei Wiebke fand er es erstaunlicherweise ebenso attraktiv wie nervtötend. Und er konnte beim besten Willen nicht sagen, welche dieser beiden Regungen nun schwerer wog.

Schließlich verkündete Wiebke, dass sie fertig war. „Tut es irgendwo weh?“, fragte sie Tessa Friedrichsen, und als die Frau den Kopf schüttelte, sprach sie weiter: „Die Nadeln bleiben jetzt etwa zwanzig Minuten so sitzen, danach entferne ich sie wieder, und wir sehen, ob Sie einen Unterschied merken.“

Die Patientin nickte. Jan gab es nur sehr ungern zu, aber die Patientin wirkte schon jetzt deutlich relaxter. Ihre Augen waren geschlossen, und sie atmete ruhig und gleichmäßig, fast als würde sie jeden Moment einschlafen. Und vermutlich war das sogar der Fall. Besonders ruhige Nächte dürfte sie in ihrem Zustand jedenfalls in der letzten Zeit nicht gehabt haben.

Auch Wiebke schien zu merken, wie entspannt Frau Friedrichsen war, denn sie nickte in Richtung Vorzimmer. Jan verstand und trat einen Schritt zurück, sodass sie und Merle hinaustreten konnten. Während seine Sprechstundenhilfe sich wieder an die Arbeit machte – dafür wurde sie schließlich bezahlt, nicht um einer Bekannten dabei zu helfen, ihm seine Patienten abspenstig zu machen …

Moment mal – seine Patienten?

Er war gerade einmal ein paar Tage auf Sylt, und fing schon an, sich gedanklich hier niederzulassen. So konnte das nicht weitergehen! Er musste sich zusammenreißen. Einen Monat lang musste er da jetzt durch, daran führte kein Weg vorbei. Diese Zeit würde er nutzen, um sich nach einem Käufer für die Praxis umzusehen, sodass er im besten Fall gleich nach Ablauf der vier Wochen wieder nach München zurückkehren konnte.

„Wie kommt es, dass Sie meinem Job so skeptisch gegenüberstehen, während Ihr Vater stets so aufgeschlossen war?“, fragte Wiebke ihn und riss ihn damit aus seinen Gedanken.

Er unterdrückte ein Seufzen. Es war mehr oder weniger dieselbe Frage, die ihm auch Merle gestellt hatte. Doch im Gegensatz zu seiner Sprechstundenhilfe musste Wiebke ja unbedingt seinen Vater erwähnen. Die Wirkung ähnelte der, wie wenn man einer Katze das Fell gegen den Strich bürstete.

„Mein Vater und ich sind … waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Und ich möchte Sie wirklich bitten, mich nicht ständig mit ihm zu vergleichen.“

„Weil Sie gegen ihn ohnehin nicht standhalten können?“

Er zog es vor, so zu tun, als hätte er das nicht gehört. „Ich werde mich lediglich für einen Monat hier aufhalten, dann brauchen Sie mich und meine Ignoranz nicht länger zu ertragen. Und was meine Gründe betrifft – die gehen Sie herzlich wenig an.“ Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Dürften die zwanzig Minuten nicht langsam rum sein?“

Wiebke nickte. „Ja … Ich denke, es ist Zeit, dass wir die Nadeln wieder rausnehmen.“

Als sie das Labor betraten, lag Tessa Friedrichsen da, wie sie sie zurückgelassen hatten, und schnarchte leise vor sich hin. Wiebke ließ sich davon nicht beirren und entfernte ihre Nadeln, die sie in einen Behälter mit der Aufschrift ‚medizinischer Abfall – nicht öffnen!‘ steckte. Als sie fertig war, legte sie der Patientin eine Hand auf die Schulter und schüttelte sie sanft. „Frau Friedrichsen?“

Die ältere Frau blinzelte und wirkte im ersten Moment ein wenig irritiert. Dann glitt ein Lächeln über ihre Lippen. „Du meine Güte, es ist wirklich besser geworden. Der Schmerz ist zwar nicht weg, aber er ist zumindest erträglicher. Ich habe nicht mehr das Gefühl, als würde mir jemand ein Messer von hinten in den Rücken rammen.“

Wiebke lächelte ebenfalls, und es war ein Anblick, als würde die Sonne aufgehen. Das zumindest war Jans erster Gedanke. Der zweite war, dass er ganz offensichtlich den Verstand verloren haben musste.

„Wie wunderbar“, sagte er. „Dann sind wir ja jetzt alle froh und können unser Tagwerk wieder aufnehmen. Sie kommen morgen bitte noch einmal wegen Ihrer zweitäglichen Spritze rein, Frau Friedrichsen. Wir wollen ja nicht vergessen, auch die Ursache der Schmerzen zu bekämpfen, nicht wahr?“

„Natürlich nicht, Herr Doktor“, erwiderte Tessa Friedrichsen mit einem Augenzwinkern. „Und ich kann Ihnen und jedem anderen Arzt, der hier anfängt, nur empfehlen, sich diese junge Dame warmzuhalten.“ Sie nickte in Wiebkes Richtung. „Sie scheint tatsächlich heilende Hände zu besitzen.“

Jan entging das dankbare Lächeln von Wiebke natürlich nicht. Ebenso wenig wie das Leuchten, das über ihr Gesicht ging. Verdammt, diese Frau war nichts für ihn! Er sollte sich von ihr fernhalten. Stattdessen verspürte er den immer unwiderstehlicheren Drang, sie in seine Arme zu ziehen und ihren frechen Mund mit seinen Lippen zu verschließen.

Was er natürlich nicht tun würde.

Niemals.

Nicht in einer Million Jahren!

Er wollte gerade etwas erwidern, da öffnete sich die Tür des Behandlungszimmers, und Dr. Hinrichsen trat hindurch. Als er Wiebke erblickte, verfinsterte sich seine Miene. „Was wollen Sie denn schon wieder hier? Hatte ich Ihnen nicht klipp und klar zu verstehen gegeben, dass Sie hier nicht erwünscht sind?“

Hilfesuchend wandte sie sich an Jan. Warum ausgerechnet an ihn? Hatte er irgendwie auch nur angedeutet, dass er auf ihrer Seite stand? Nein, ganz und gar nicht. Eher war das genaue Gegenteil der Fall.

Das schien auch ihr jetzt klar zu werden, denn sie seufzte und blickte den Vertretungsarzt an. „Ich bin praktisch schon wieder weg. Und eigentlich bin ich überhaupt nur hier, um mit Dr. Mertens über den Vertrag zu sprechen, den ich mit seinem Vater geschlossen habe.“

Hinrichsen lachte auf. „Den können Sie getrost vergessen, junge Dame. Schließlich weilt der Mann, mit dem sie diese Konditionen ausgehandelt haben, nicht mehr unter den Lebenden.“ Er wandte sich an Jan. „Ich entschuldige mich für meine Direktheit, aber diese Frau scheint es wirklich nicht anders zu verstehen. Ach, und übrigens – ich habe gerade mit meinem Bekannten telefoniert und ein bisschen von dieser Praxis hier geschwärmt. Er ist sehr daran interessiert, sich alles einmal persönlich anzusehen. Darf ich Ihre Kontaktdaten an ihn weitergeben?“

„Aber ja“, entgegnete Jan begeistert, und Wiebke war für den Augenblick vergessen. Er merkte nicht einmal, wie sie die Praxis verließ, und in dem Moment war ihm das auch egal. Die Neuigkeit, die sein Kollege ihm mitgeteilt hatte, war die erste gute Nachricht seit Tagen.

Wenigstens gab es jetzt einen Hoffnungsschimmer, dass er nach Ablauf des Monats, den sein Vater ihn testamentarisch zum Weiterführen der Praxis gezwungen hatte, schnell wieder nach München zurückkehren konnte.

Es wurde auch wirklich Zeit. Dass er bereits anfing, sich auf Sylt wieder heimisch zu fühlen, wurde ihm nämlich langsam unheimlich.

„… die andere Schulter, und da sagt er zu mir … Sagen Sie mal, Fräulein Janssen, hören Sie mir überhaupt zu?“

Wiebke blinzelte irritiert. Verflixt! Im Moment passierte es ihr häufiger, dass sie unkonzentriert war und mit ihren Gedanken abschweifte. Dass ihr das aber auch passierte, wenn sie ausnahmsweise einmal einen Patienten in ihrer Praxis hatte, war eigentlich unverzeihlich. Zum Glück war Herr Winterhuisen ein ziemlich entspannter Zeitgenosse, der einen solchen Fauxpas nicht übelnahm.

„Tut mir leid“, entschuldigte sie sich. „Ich war kurz nicht voll bei der Sache.“

Der noch recht rüstige Siebzigjährige lächelte. „Von kurz kann wohl kaum die Rede sein“, tadelte er milde. „Sie waren mindestens fünf Minuten lang geistig weggetreten. Na, was liegt Ihnen denn auf dem Herzen, min Diern? Eine Männergeschichte?“

Sie schnaubte. Stand ihr das etwa so deutlich auf die Stirn geschrieben?

Verflixt, sie hatte nun wirklich andere Dinge, über die sie sich den Kopf zerbrechen sollte! Und doch stahl sich immer wieder ausgerechnet Dr. Jan Mertens in ihre Gedanken.

Warum ausgerechnet er? Wieso konnte es nicht irgendein netter Mann aus dem Ort sein?

Ein paar hatten ihr hier auf Sylt durchaus schon Avancen gemacht. Sie war nicht hässlich, warum sollte sich also nicht der ein oder andere für sie interessieren? Aber von Männern wie Martins Sohn wollte sie sich nur noch fernhalten.

Natürlich kannte sie ihn erst seit Kurzem (wenn von Kennen überhaupt die Rede sein konnte) – aber er wirkte auf sie wie der Typ Mann, der Frauen in zwei Kategorien einteilte: einmal die, mit denen ‚Mann‘ in der Öffentlichkeit seinen Arm schmückte, und dann diejenigen, die zu Hause Familie und Haushalt managten.

Vermutlich jagten ihm Frauen, die mehr vom Leben erwarteten als einem Mann den Allerwertesten hinterherzutragen, Angst ein. Wundern würde es sie jedenfalls nicht. Solchen Exemplaren war sie nämlich viel zu oft begegnet.

Es hatte schon während ihres kurzen Studiums angefangen. Sie war damals mit einem Kommilitonen zusammengekommen. Alex. Er hatte gut ausgesehen, war verständnisvoll und zuvorkommend gewesen. Zumindest bis er kapierte, dass sie ihm, was die Lernerfolge anging, meilenweit voraus war. Danach … nun ja, man konnte wohl sagen, dass er sie nicht mehr ganz so in ihrem Vorhaben, Ärztin zu werden, unterstützen wollte.

Kurz darauf hatte sie sich dann statt des Studiums für die Ausbildung zur Heilpraktikerin entschieden. Zuvor hatte sie Alex allerdings noch den Laufpass gegeben. Sie brauchte keinen Mann in ihrem Leben, der es nicht ertragen konnte, wenn sie in irgendetwas besser war als er. Warum es für das angeblich so starke Geschlecht so schrecklich schwer war, mit Karrierefrauen umzugehen, würde ihr ewig ein Rätsel bleiben.

Ihr Problem mit Jan war jedoch ein anderes. Er nahm sie schlicht und ergreifend nicht ernst – und das war beinahe genauso schlimm. Möglicherweise sogar noch schlimmer.

Warum also konnte sie einfach nicht aufhören, an ihn zu denken?

„Nein“, sagte sie dennoch an ihren Patienten gerichtet. „Mit einem Mann hat das ausnahmsweise nichts zu tun. Aber Sie kennen nicht zufällig einen Reetdachdecker, der bereit wäre, mir einen Supersonderpreis zu machen? Also praktisch umsonst?“

„Oje“, entgegnete Heinrich Winterhuisen. „Tropft es durch?“

Wiebke nickte seufzend. „Schon seit einer ganzen Weile. Und ich habe im Moment einfach nicht die Mittel, um eine Kompletterneuerung zu bezahlen. Alles andere wäre aber vermutlich rausgeworfenes Geld. Spätestens in ein oder zwei Jahren würde ich wieder ganz an demselben Punkt stehen. Die Frage ist nur: Woher nehmen und nicht stehlen?“

Der ältere Mann lachte. „Ja, das frage ich mich auch des Öfteren. Und so gern ich Ihnen auch helfen würde, ich bin selbst nur ein armer Rentner …“

„So habe ich das auch nicht gemeint, Herr Winterhuisen“, entgegnete Wiebke gerührt und beschämt zugleich.

Ihr Patient hatte ihr einmal mehr vor Augen geführt, dass es Menschen gab, die sehr viel schwerwiegendere Probleme hatten als sie. Vielleicht war es an der Zeit, dass sie ihre eigenen Sorgen und Nöte reflektierte und sich selbst nicht so wichtig nahm. Dann gelang es ihr vielleicht auch, endlich wieder einen klaren Kopf zu bekommen.

„So“, sagte sie, als sie es eine Viertelstunde später tatsächlich geschafft hatte, die Therapiesitzung ihres Patienten zu einem etwas verspäteten, aber immerhin erfolgreichen Ende zu bringen. „Das wäre es für heute. Kommen Sie gut nach Hause – und danke, dass Sie mir zugehört haben.“

„Immer wieder gern, min Diern“, sagte er – trotz seines fortgeschrittenen Alters noch immer der perfekte Gentleman. „Und was Ihr Dach betrifft: Ich werde diesbezüglich mal mit meinem Schwiegersohn sprechen. Vielleicht kann er irgendetwas für Sie tun.“

Wiebke zwang sich zu einem Lächeln und nickte. Es war nett von dem älteren Herrn, dass er ihr helfen wollte – große Hoffnungen machte sie sich aber lieber nicht.

Der Patient war kaum zur Tür heraus, da kam Andrea schon ins Behandlungszimmer geplatzt.

„Schlechte Nachrichten“, verkündete sie. „Als ich vorhin draußen war, um die Geranien zu gießen, ist mir aufgefallen, dass wir jetzt wirklich ein gewaltiges Loch im Dach haben. Spätestens beim nächsten Regenguss heißt es wahrscheinlich: Land unter.“

„Na toll!“ Seufzend fuhr sie sich mit beiden Händen durch ihre kinnlanges Haar und verschränkte schließlich die Finger am Hinterkopf. „Und was machen wir jetzt?“

„Eimer aufstellen“, schlug Andrea vor, wie immer ganz pragmatisch. „Ich nehme mal nicht an, dass du durch irgendeinen wunderbaren Zufall an Geld gekommen bist, oder?“

Wiebke verdrehte die Augen. „Bedauerlicherweise nicht. Und die Idee mit den Eimern finde ich ehrlich gesagt nicht so genial. Was macht das den für einen Eindruck auf die Patienten?“

Autor

Lilli Wiemers
Früher zog es Lilli Wiemers stets in die weite Welt hinaus. Kein Reiseziel war zu weit, kein Flug zu anstrengend. Erst durch ihren Ehemann hat sie erkannt, wie viel Wahrheit in dem alten Sprichwort steckt: Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute so nah liegt? Heute erforscht sie gemeinsam...
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