Scheinverlobt mit dem berüchtigten Viscount?

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Junge, heiratswütige Damen meidet Freddy wie die Pest! Ihm gefällt sein Leben so, wie es ist - als umschwärmter adliger Gentleman, aber ohne Ring am Finger. Lediglich die schöne Damaris Chance, die ihn manchmal so nachdenklich betrachtet, weckt in seinem leichtlebigen Herzen eine gefährliche Sehnsucht. Als er und Damaris in einer kompromittierenden Situation erwischt werden, schnappt für Freddy die Ehefalle zu. Seltsam: Der Gedanke, mit Damaris das Bett zu teilen, ist plötzlich ausgesprochen verlockend. Aber gerade dazu scheint seine geheimnisvolle Gattin überhaupt nicht bereit - und weckt Freddys Eroberungswillen!


  • Erscheinungstag 24.03.2020
  • Bandnummer 351
  • ISBN / Artikelnummer 9783733749187
  • Seitenanzahl 264
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Die Welt besteht im Großen und Ganzen aus seelisch Schwachen und seelisch Starken, aus denen, die handlungsfähig sind und aus denen, die handlungsunfähig sind, und es ist die heilige Pflicht der Fähigen, keine Gelegenheit zu versäumen, sich nützlich zu machen.“

Jane Austen, „Sanditon“

Devon, England, 1816

Ich möchte, dass du dich um Tante Bea und die Mädchen kümmerst, solange Abby und ich in den Flitterwochen sind“, informierte Max Lord Davenham, seinen Freund, den Ehrenwerten Frederick Monkton-Coombes.

Freddy verschluckte sich prompt an seinem Wein. „Ich?“, krächzte er, nachdem der Hustenanfall bewältigt war. „Warum ich?“

„Du bist mein ältester Freund.“

Diesem Argument kann man sich nur schwer entziehen, dachte Freddy. Aber, verdammt noch mal, es war schon allerhand, einen Kumpel damit ausgerechnet am Vorabend einer Hochzeit zu überfallen. Als ob es nicht schon anstrengend genug wäre, den Trauzeugen zu geben. Er stand auf und stocherte so angelegentlich mit dem Feuerhaken im Kamin herum, dass glühende Funken in den Kamin stoben. Die beiden Männer hatten sich in einen gemütlichen privaten Salon des örtlichen Gasthauses zurückgezogen, rund zwei Meilen von Davenham Hall in Devon entfernt.

Max hatte sich in den Kopf gesetzt, die Nacht vor der Trauung edelmütig unter einem anderen Dach zu verbringen als seine künftige Frau. Schließlich brachte es Pech, die Braut zu sehen, bevor sie vor den Altar trat. Und natürlich war es Freddys Pflicht als Trauzeuge gewesen, ihn zu begleiten. Was den nicht im Geringsten störte, im Gegenteil.

Je weniger er mit den Schwestern der Braut zu tun hatte, desto besser, fand er. Wenn es um weibliche Wesen ging, dann waren hübsche, unverheiratete, respektable Mädchen nicht unbedingt Freddys erste Wahl. Gute Mädchen? Nein danke. Er bevorzugte entschieden die Gesellschaft von bösen Mädchen – je böser, desto besser. Gute Mädchen, vor allem gute hübsche Mädchen, waren … gefährlich. Das galt im Besonderen für eine der Chance-Schwestern, die nach Freddys Ansicht gefährlicher als die meisten anderen guten Mädchen war. Sie … verstörte ihn. Auf eine Weise, die er lieber nicht allzu genau unter die Lupe nehmen wollte.

Und nun kam Max mit dieser Bitte auf ihn zu. Und zog dazu auch noch die „Ältester Freund“-Karte, verflucht.

„Du meinst um alle? Um alle Mädchen?“

„Ja, natürlich um alle“, erwiderte Max ungeduldig. „Es sind nur drei. Da kann man nicht direkt von Horde sprechen.“

Das war Ansichtssache. „Und was genau umfasst dieses Sich- Kümmern?“, erkundigte Freddy sich vorsichtig.

Max zuckte mit den Schultern. „Nichts richtig Mühevolles, nur die Art Dinge, die ich erledigen würde, wenn ich hier wäre. Meine Tante ist inzwischen wieder bei recht guter Gesundheit, aber doch noch etwas eingeschränkt nach ihrer Krankheit und würde es zu schätzen wissen, einen Mann um sich zu haben, auf den sie sich bei Bedarf verlassen kann.“

Sie würde es wohl eher zu schätzen wissen, einen Mann um sich zu haben, den sie herumkommandieren kann, dachte Freddy.

„Und Abby ist ein wenig beunruhigt, weil sie ihre Schwestern allein lässt“, fuhr Max fort. „Was nach allem, was sie in letzter Zeit durchgemacht haben, nur verständlich ist. Da kann ihr die Gewissheit, dass du in der Nähe bist, um sie im Notfall zu beschützen, nur guttun.“

„Gibt es denn sonst niemanden, den du darum bitten könntest?“, fragte Freddy verzweifelt. „Ich meine, du kennst doch mein Problem mit unverheirateten Frauen.“

„Du hast ein Problem mit der Art unverheirateter Frauen, die du als Tranfunzeln oder, noch schlimmer, ‚Muffins‘ bezeichnest. Und du hast mir selbst gesagt, dass Abby und ihre Schwestern eindeutig nicht in diese Kategorie fallen.“

„Das stimmt, aber …“

„Dann gibt es also auch kein Problem.“

Die Schlinge zog sich zu. Freddy strich mit einem Finger über seinen plötzlich sehr engen Kragen. „Bin ich denn wirklich die Sorte Mann, die du dir als Umgang für Abbys Schwestern wünschst? Du weißt doch, ich genieße nicht den besten Ruf, wenn es um Frauen geht“, bemerkte er hoffnungsvoll.

„Ich habe vollstes Vertrauen zu dir.“

Verdammt. „Was ist denn mit Flynn? Du sagtest doch, dass er jetzt jeden Tag eintreffen kann?“ Flynn war der führende Kopf der Handelsgesellschaft, in der Freddy und Max Hauptpartner waren. „Kannst du den nicht fragen?“

Max runzelte die Stirn. „Ja, eigentlich müsste er mittlerweile angekommen sein, zumindest hatte ich damit gerechnet. Schade, dass er die Hochzeit verpasst.“

„Befürchtest du etwa, dass ihm etwas passiert ist?“

Max grinste. „Seereisen sind zwar selbst unter besten Bedingungen unsicher, aber Flynn hat das Talent, Katastrophen in Erfolge zu verwandeln, daher mache ich mir noch keine Sorgen. Sobald er eintrifft, könnt ihr beide euch die Verantwortung ja teilen, wenn du dich dabei besser fühlst. Aber Flynn kennt Tante Bea und die Mädchen nicht, du schon. Und er hat absolut keine Ahnung vom ton. Tatsächlich hege ich die Hoffnung, dass du ihn mit allem vertraut machst.“

„Oh“, erwiderte Freddy. Noch mehr Verpflichtungen. Großartig.

Max’ Grinsen wurde breiter. „Er wird auch deinen Rat in Kleiderfragen benötigen. Flynn hat nämlich vor, mächtig Eindruck bei der feinen Gesellschaft zu schinden, und momentan ist sein Erscheinungsbild ein wenig … unkonventionell.“

„Oh. Welche Freude.“ Genau das, was ihm im Leben vorschwebte: den Wachhund für respektable Damen spielen und einem kantigen irischen Rohdiamanten gesellschaftlichen und modischen Schliff verleihen.

Max lachte. „Jetzt guck nicht so trübselig. Flynn ist ein guter Kerl. Du wirst ihn mögen. Aber um ihn brauchst du dir keine Gedanken zu machen – er kann auf sich selbst aufpassen. Ich sorge mich vor allem um meine Tante und die Mädchen.“

Freddy nippte nachdenklich an seinem Bordeaux, während er versuchte, einen Weg zu finden, sich dieser auf den ersten Blick recht vernünftigen Bitte zu entziehen.

Max, der sein Schweigen missdeutete, fügte hinzu: „Es ist wirklich keine mühselige Aufgabe. Schau einfach alle paar Tage am Berkeley Square vorbei, vergewissere dich, ob alles in Ordnung ist, und falls es ein Problem gibt, dann kümmere dich drum. Beschütze die Mädchen vor ungewollten Aufmerksamkeiten, kutschiere sie gelegentlich durch den Park, besuche ihren literarischen Salon …“

„Nicht den literarischen Salon. Diese Horrorgeschichten, die die Mädchen vorlesen, lassen einem die Haare zu Berge stehen.“

„Horrorgeschichten?“ Max runzelte die Stirn. „Sie lesen keine Horrorgeschichten, nur diese Art unterhaltsame Erzählungen, die den Damen zu gefallen scheinen, über Mädchen und Klatsch und Familien …“

„Horrorgeschichten, jede einzelne davon“, beharrte Freddy im Brustton der Überzeugung. „Du hast mich vorigen Monat gebeten, an einem dieser Salons teilzunehmen, während du selbst dich nach Manchester abgesetzt hast, weißt du noch? Und die Geschichte, die sie da vorgelesen haben …“ Er schüttelte sich theatralisch. „Horror von der allerersten Zeile an: Es gilt als weltweit akzeptierte Wahrheit, dass ein vermögender Junggeselle dringend einer Ehefrau bedarf … Ha! Und was ist mit den Wünschen des armen Kerls? Spielen die etwa keine Rolle? Nein, das tun sie nicht. Jedes Frauenzimmer in der verfluchten Geschichte war damit beschäftigt, Ränke zu schmieden, um irgendeinen Mann für sich selbst, für ihre Tochter oder ihre Nichte an Land zu ziehen. Wenn das kein Horror ist, dann weiß ich auch nicht.“

Max lachte leise in sich hinein.

„Du hast gut lachen, schließlich steckst du morgen früh freiwillig den Hals in die Schlinge des Pfaffen“, fuhr Freddy erbittert fort. „Aber jeder einzelne Mann in dieser Geschichte war am Ende verheiratet! Jeder einzelne.“ Er zählte die bemitleidenswerten Opfer an den Fingern ab. „Die männliche Hauptfigur, sein bester Freund, der Pfarrer. Sogar der Soldat blieb schließlich bei der albernen, leichtfertigen Schwester hängen – nicht ein einziger Mann kommt am Ende unverheiratet davon.“ Wieder erschauderte er. „Ich hatte Albträume deswegen. Also, ich setze keinen Fuß mehr in den literarischen Salon, vielen Dank auch.“

„Ich brauche dich dort“, entgegnete Max schlicht.

„Warum? Deine Tante hält ihren literarischen Salon in ihrem eigenen Haus ab – sicherer geht’s doch gar nicht.“

„Ich mache mir weniger um ihre Sicherheit Sorgen“, bekannte Max etwas verlegen. „Es geht eher um meine Tante.“

„Was soll denn mit ihr sein? Sie ist dort völlig in ihrem Element, umringt von all ihren Kumpaninnen, dutzendweise vornehme Damen. Und sogar eine Handvoll Männer.“

„Exakt. Und genau das ist das Problem.“

Freddy schüttelte ratlos den Kopf. „Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst.“

„Ich traue ihr nicht.“

„Du traust deiner eigenen Tante nicht? Deiner einzigen Verwandten?“

Max seufzte. „Du weißt doch, dass sie während meiner Abwesenheit beinahe gestorben wäre.“

Freddy nickte.

„Die Mädchen haben sie gesund gepflegt, und das hat ihr noch mal ganz neuen Schwung gegeben. Worüber ich mich natürlich sehr freue, versteh mich nicht falsch. Die Krux dabei ist nur, dass sie sich nun für unbesiegbar hält.“

„Sie ist unbesiegbar“, murmelte Freddy. „Das war sie schon immer. Ich kann mich noch aus unseren Schulzeiten an sie erinnern. Eine Naturgewalt, sogar damals.“

Max nickte. „Mein Onkel hat sie mehr oder weniger im Zaum gehalten. Aber jetzt steht sie über allen Gesetzen. Sie ist das Gesetz.“

Freddy furchte verwirrt die Stirn. „Sie hat keine Gesetze gebrochen, die mir bekannt sind.“

„Ich meine auch keine echten Gesetze“, räumte Max ein. „Aber denk doch mal drüber nach: Sie hat bereits dem halben ton weisgemacht, dass die Mädchen Töchter ihrer vollkommen imaginären Halbschwester Griselda sind. Griselda, ich bitte dich! Und dass ihr Vater ein italienischer Marchese namens Chancealotto war.“

„Ich habe gehört, dass er Venezianer war.“

Max hob resigniert die Hände. „Siehst du? Venezianer. Der komplette ton weiß es.“

Freddy zuckte mit den Schultern. „Die Leute lieben nichts mehr als einen vertuschten Skandal.“

„Aber es gibt keinen vertuschten Skandal“, rief Max verärgert. „Es gibt überhaupt keinen wie auch immer gearteten Skandal! Ihre Mutter ist weder mit einem österreichischen Adligen durchgebrannt, noch hat sie jemals eine zweite Tochter in die Welt gesetzt, die später einen verflixten venezianischen Marchese ehelichte. Sie ist gestorben! Das Ganze ist einfach nur eine lächerliche Geschichte, die meine Tante frei erfunden hat.“

Auf diese Worte folgte ein längeres Schweigen. Freddy nippte an seinem Wein. Max starrte düster in die Flammen und grübelte zweifellos über seinen Schwiegervater nach, den verstorbenen und imaginären Marchese di Chancealotto. Es musste einen ehrenhaften Kerl wie Max wirklich hart ankommen, imaginäre Schwiegereltern anzuerkennen, zumindest in der Öffentlichkeit. Und morgen früh würde er heiraten. Das war zweifellos ein weit schlimmeres Schicksal als sich ein paar Horrorgeschichten anhören zu müssen.

„Na schön, ich nehme am literarischen Salon teil“, sagte Freddy begütigend. „Aber sei gewarnt: Ich werde keins dieser verdammten Bücher lesen.“

„Das geht schon in Ordnung. Es ist nicht die Art literarischer Salon, bei dem die Leute selbst lesen. Sie lassen sich die Romane vorlesen. Ich bin schon dankbar, wenn du Tante Bea im Auge behältst.“ Er sah Freddy eindringlich an. „Und ihr Einhalt gebietest, sobald sie damit anfängt, weitere haarsträubende Geschichten zu verbreiten.“

Erneut verschluckte sich Freddy an seinem Wein. „Ich?“, stieß er gepresst hervor. „Du glaubst, ich könnte sie daran hindern, haarsträubende Geschichten zu verbreiten? Das ist nicht mal dir gelungen, wie kommst du da auf den Gedanken, ich hätte mehr Erfolg? Sie behandelt mich noch immer wie einen Schuljungen!“

„Ich weiß, aber ich hätte ein besseres Gefühl, wenn du zumindest dabei wärst. Und du könntest immerhin versuchen, sie daran zu hindern.“

Schon klar, und genauso gut könnte er versuchen zu fliegen. Aber das sagte Freddy nicht. Max war sein ältester und bester Freund. Max war außerdem der Grund dafür, dass Freddy heutzutage reich und unabhängig war. Ohne Max und seine Handelsgesellschaft hätte er sich noch immer mit der Erbschaft durchschlagen müssen, die eine Tante ihm hinterlassen hatte. Oder – noch schlimmer – von seinem Vater abhängig zu sein; ein wahrhaft unerträglicher Gedanke.

Und Max hatte ihn bislang noch nie wirklich um etwas gebeten.

Freddy leerte sein Glas, das sechste des Abends, und verkündete in einem Moment des Überschwangs: „Also gut, ich werde es versuchen. Und ich gehe auch zu diesem verflixten literarischen Salon, und ich passe für dich und Abby auf die Mädchen auf, und ich kümmere mich um Flynn, falls der jemals eintreffen sollte.“ Flynn war der zweite Grund dafür, dass Freddy nun ein reicher Mann war. Daher schuldete er dem Mann vermutlich ebenfalls den ein oder anderen Gefallen.

„Guter Junge“, sagte Max. „Wahrscheinlich machte ich mir ja umsonst Sorgen. Ich bin sicher, dass du eine großartige Zeit mit Tante Bea und den Mädchen verbringen wirst. Es gibt niemanden, dem ich sie lieber anvertraue.“

„Du bist der einzige Mensch auf der Welt, der mir eine Schar unverheirateter Mädchen anvertrauen würde.“

„Ich kenne dich eben besser, als die meisten anderen Leute dich kennen. Und jetzt guck nicht so verdrießlich. Abby und ich sind schließlich nur einen Monat oder so unterwegs. Es wird hier keine Probleme geben, da bin ich ganz sicher.“

China, acht Monate früher

Sie bewältigte den steilen Hügel und blieb dann stehen, um wieder zu Atem zu kommen und auf den leuchtend blauen Streifen zu starren, der am Horizont schimmerte. Das Meer. Wieder holte sie tief Luft, atmete den sauberen, frischen, salzigen Duft ein, das Aroma der Freiheit …

Ihr Herz begann zu hämmern, als sie durch eine Senkung zwischen zwei Hügeln hindurch drei schlanke, senkrechte Silhouetten sah, die sich dunkel vor dem Blau abhoben. Hohe Masten. Das bedeutete, dass es sich um ein europäisches Schiff handelte.

Hoffentlich ein britisches. Eigentlich hätte es ihr egal sein sollen, solange sie nur von diesem Ort wegkam, an dem sie stets fremd und unwillkommen sein würde, obwohl sie ihr ganzes Leben hier verbracht hatte und nichts anderes kannte. Aber sie war Engländerin, und ein englischer Kapitän würde das verstehen, und ein englisches Schiff würde sie, so Gott wollte, nach Hause bringen. Sie hatte zwar keine Ahnung, was sie dort erwartete – soweit sie wusste, hatte sie keine lebenden Verwandten –, aber eins nach dem anderen.

Sie fing an zu rennen, blieb dann aber stolpernd stehen. Ihr war heiß; sie war nach dem endlosen Fußweg schmutzig, staubig und verschwitzt. Sie hatte den Überblick darüber verloren, wie viele Tage sie schon unterwegs war, wie lange sie sich vor anderen Menschen versteckt hielt, wie lange sie unter irgendwelchen Büschen geschlafen und von dem gelebt hatte, was sich an essbaren Dingen am Wegesrand auftreiben ließ. Sie konnte nicht auf den Kapitän eines europäischen Schiffes zugehen, solange sie aussah wie eine schmutzige Bettlerin.

Prüfend musterte sie ihre Umgebung, bis sie eine unregelmäßige grüne Linie erspähte, die sich durch die staubbraune Landschaft schlängelte. Ein Fluss. Genau das, was sie brauchte.

Sie wusch sich von Kopf bis Fuß, stieg erst voll bekleidet ins Wasser und zog dann so viel aus, wie der Anstand erlaubte; es wäre fatal gewesen, komplett nackt in der Öffentlichkeit ertappt zu werden. Sie reinigte sich so gut es ohne Seife eben ging, schrubbte sich die Haut mit Sand ab und schlug ihre nasse Kleidung gegen die Felsen am Ufer, so wie die Frauen daheim es machten.

Nein, nicht daheim. Die Mission würde nie wieder ihr Zuhause sein. Ihre Heimat war England, auch wenn sie sich nicht daran erinnern konnte. Dort war sie geboren worden.

Sie spülte, schruppte, spülte wieder, bis ihr Haut und Kopfhaut prickelten und sie sich wieder sauber fühlte. Sie kämmte ihr Haar durch und nahm die Finger zu Hilfe, um diverse Knoten in den langen Strähnen zu lösen. Dann flocht sie ihre feuchte Mähne zum ordentlichen Zopf, den sie um ihren Hinterkopf wand und mit den letzten beiden verbliebenen Haarnadeln feststeckte. In der heiß brennenden Sonne trockneten ihre Sachen schnell. Sie waren jetzt zwar zerknittert, sahen aber zumindest wieder einigermaßen präsentabel aus.

Sie wünschte, sie hätte ein richtiges englisches Gewand, doch als sie zum Markt aufgebrochen war, hatte sie einen schlichten schwarzen chinesischen Bauernkittel samt Hose getragen, um nicht als Ausländerin aufzufallen, und alles andere war den Flammen zum Opfer gefallen, als die Mission niederbrannte. Sie hatte keine anderen Kleidungsstücke, besaß auch sonst nichts mehr, abgesehen von dem Medaillon ihrer Mutter an der dünnen Goldkette. Sie legte es niemals ab.

Als sie sicher war, dass sie so adrett aussah, wie die Umstände es erlaubten, setzte sie ihren Hut auf und ging auf die drei schwarzen Masten zu, die sich vor dem schimmernden Blau des Meeres abhoben.

Hoffentlich ist es ein englisches Schiff.

Der Hafen war klein, nur von ein paar verstreuten Gebäuden umgeben. In ihrem ausgebleichten schwarzen Kittel, den Hosen und mit dem kegelförmigen Strohhut weckte sie keinerlei Aufmerksamkeit bei den Kulis, die emsig Bündel, Kisten und Stoffballen in kleinere Boote luden und zu dem großen Schiff transportierten, das ein paar Hundert Meter vor der Küste ankerte und gemächlich auf den Wellen schaukelte.

Sie kniff die Lider zusammen, um im grellen Gegenlicht den Namen zu entziffern. Liverpool Lass. Englisch. Gott sei Dank. Tränen der Erleichterung stiegen ihr in die Augen. Sie blinzelte sie weg.

Auf der Suche nach einem englischen Gesicht ließ sie den Blick über die geschäftigen Kulis schweifen und entdeckte schließlich einen hochgewachsenen jungen Matrosen mit rotem Haar, der die Beladung der Boote kontrollierte, Dinge auf einer Liste abhakte und in einem Mix aus Pidgin-Englisch und schlechtem Chinesisch Befehle erteilte.

Leise näherte sie sich ihm, und als er kurz innehielt, sprach sie ihn auf Englisch an. „Entschuldigen Sie bitte, Sir, wäre es wohl möglich, mit dem Kapitän zu reden?“

„Der ist beschäfti…“ Der junge Matrose brach ab und schaute auf. „Was hast du gesagt?“

Sie wiederholte ihre Bitte.

Die Kinnlade klappte ihm runter, und er starrte sie einen Moment lang fassungslos an, ihre verwaschene Kuli-Kleidung, ihren Hut. „Du kannst nicht englisch sein!“ Er zog ihr den Strohhut vom Kopf. „Und was zum Teufel … du bist ein Mädchen?“

Sie konnte sich nicht bewegen. Das Gewicht presste sie nach unten, drückte ihr die Luft ab. Die Hitze, der Schweiß, der Gestank bereiteten ihr Übelkeit. Sie versuchte, sich zu wehren, versuchte, die Worte auszublenden, die ihr heimtückisch durch den Kopf hallten …

Damaris schoss hoch, nach Luft schnappend und verzweifelt um ihre Freiheit kämpfend … und fand nichts vor, außer kalter Luft und verknäuelten Bettlaken. Sie schloss kurz die Augen und bemühte sich, wieder zu Atem zu kommen – sie keuchte, als ob sie gerade eine Meile gerannt wäre – und wartete darauf, dass ihr rasender Herzschlag sich beruhigte. Ihr ganzer Körper war schweißgebadet, und langsam fing sie an zu frösteln. Es war noch kühl um diese frühe Stunde vor der Morgendämmerung.

Schon wieder dieser Traum. Zum dritten Mal in drei Tagen. Und es wurde schlimmer.

Sie zog die Knie an und umschlang sie mit den Armen, beugte sich vor und schaukelte langsam hin und her. Das Gewicht des Traums hing über ihr. Das Gewicht ihrer Erinnerungen.

Du bist nicht dieses Mädchen, sagte sie sich. Nicht mehr. Sie hatte Damaris Tait hinter sich gelassen; sie war jetzt Damaris Chance.

Es solle eine echte Chance sein, hatte Abby gesagt; die Chance auf ein neues Leben für jede von ihnen. Und das stimmte auch. Größtenteils.

Aber die Träume, die Erinnerungen ließen sich nicht abschütteln, sie kehrten nachts zu ihr zurück, lebhaft, intensiv und grauenhaft realistisch. Selbst in diesem Augenblick verätzte ihr die scharfe Galle der Angst – und Scham – die Kehle.

Sie trank einen Schluck Wasser aus dem Glas neben ihrem Bett. Nichts konnte diese Erinnerungen wegspülen; die Träume würden sie frisch halten.

Sie schaukelte still in der grauen, kühlen Morgendämmerung und dachte über ihre Möglichkeiten nach. Es gab nicht viele. Sie wusste, was der Auslöser ihrer Träume war.

So konnte sie nicht weitermachen. Sie musste einen Schlussstrich ziehen, bevor die Sache noch weiter gediehen war. Je eher, desto besser.

Sie informierte Jane nach dem Mittagessen, während sie sich für eine Spazierfahrt im Park fertig machten.

„Du willst nicht in die Gesellschaft eingeführt werden?“ Jane ließ den pelzverbrämten Umhang fallen, den sie gerade überziehen wollte, und starrte ihre Freundin entsetzt an. „Aber warum? Davon haben wir doch die ganze Zeit geträumt.“

„Du hast davon geträumt, Jane, ich nicht.“ Damaris hob den Umhang auf und reichte ihn Jane. „Jetzt zieh dich an, Mr. Monkton-Coombes wird jeden Moment eintreffen.“

Jane rührte sich nicht vom Fleck. „Aber warum solltest du dich nicht in die Gesellschaft einführen lassen, Damaris? Es wird so ein Spaß! Neue Kleider und Tanzveranstaltungen und Bälle und Spiele und …“

Damaris schüttelte den Kopf. „Ich kann das nicht, Jane. Ich kann es einfach nicht.“

„Was kannst du nicht?“, fragte Daisy, die in diesem Moment das Schlafzimmer betrat, eine halb fertiggestellte Pelisse überm Arm. „Probier das doch bitte rasch an, bevor du aufbrichst, Damaris. Ich möchte sichergehen, dass die Ärmel die richtige Länge haben, bevor ich weitermache.“

Damaris zog ihren warmen Wintermantel aus und schlüpfte in das nahezu vollendete Kleidungsstück. Der weit schwingende Überzieher war aus dem für Daisys Entwürfe typischen Mix aus neuen und gebrauchten Stoffen gefertigt und so leicht, dass er sich perfekt für den Frühling oder Sommer eignete.

„Oh, der ist wunderschön, Daisy!“, rief sie. Vorsichtig berührte sie den Kragen und die in Brokat abgesetzten Manschetten, die bislang nur mit Nadeln festgesteckt waren. „Die sind aus einer von Lady Beatrices alten Roben geschneidert, stimmt’s? Ich kann mich an die aufgestickten Vögel erinnern, so hübsch und immer noch frisch wie am ersten Tag. Die Farben sind so klar und leuchtend. Und dieser Kontrast aus verschiedenen Stoffarten! Ich wäre niemals darauf gekommen, sie miteinander zu kombinieren, aber die Wirkung ist perfekt. Du hast so ein unglaubliches Auge für Details.“ Sie stand vor dem Spiegel und bewunderte den eleganten Faltenwurf der Pelisse, während Daisy, die Brauen konzentriert zusammengezogen, eine der Manschetten löste und neu feststeckte.

„Das ist wirklich hübsch“, warf Jane ein. „Und du bist unfassbar geschickt, Daisy, aber all die Mühe ist an Damaris total verschwendet.“

„Hmmm?“ Daisy blickte stirnrunzelnd auf, den Mund voller Nadeln.

„Sie sagt, dass sie nicht in die Gesellschaft eingeführt werden will.“

„Hmmmhmmm-hm?“ Daisy nahm die Nadeln nicht aus dem Mund, ließ aber beredt die Brauen in die Höhe schnellen, um ihrer Verblüffung Ausdruck zu verleihen.

„Tut mir leid“, sagte Damaris. „Ich kann den Gedanken daran einfach nicht ertragen.“

„Den Gedanken an was?“, hakte Jane nach. „Ein gesellschaftliches Debüt ist eine vergnügliche Angelegenheit.“

Daisy musterte Damaris nachdenklich, zuckte dann mit den Schultern und widmete sich wieder ihrer Nadelarbeit.

„Tut mir leid, dass ich euch das antue.“ Damaris hasste es, jemanden zu enttäuschen. Es war nur … sie konnte es einfach nicht über sich bringen. Die Angst war von Tag zu Tag größer geworden, und nachdem sie heute Morgen erneut mit dem vertrauten Gefühl bedrückender Vorahnung aufgewacht war, wusste sie, dass sie etwas sagen musste. Es war besser, dass alle rechtzeitig Bescheid wussten, mehrere Monate vor Beginn der Saison. Ganz bestimmt.

„Aber warum? Ich begreife es noch immer nicht“, beharrte Jane. „Ist es wegen des Bordells? Du warst doch nur ein paar Tage länger dort als ich, nicht mal eine Woche, und …“

„Es ist nicht das Bordell.“ Damaris hatte niemandem erzählt, was vor dem Bordell passiert war, nicht mal ihren Schwestern. Und sie würde es auch niemals jemandem erzählen.

„Das will ich wohl meinen“, erwiderte Jane. „Es war nicht unsere Schuld, und ich weigere mich, mir mein Leben durch das verderben zu lassen, was dieser grässliche Mann uns antun wollte. Und du solltest es genauso halten.“

„Es ist nicht wegen des Bordells.“ Damaris legte vorsichtig die nun fertig gesteckte Pelisse ab und reichte sie Daisy. Dann zog sie wieder ihren Wintermantel an.

„Geht es um den falschen Namen?“, fragte Jane weiter. „Ich weiß, dass deine Eltern Missionare waren …“

„Mein Vater war Missionar. Und nein, es ist nicht der falsche Name, auch wenn nur der Himmel weiß, wie Lady Beatrice das erklären will …“

„Wie ich was erklären will?“ Die alte Dame stand plötzlich in der geöffneten Tür. „Seid ihr Mädels fertig? Featherby ließ mich wissen, dass Freddy Monkton-Coombes unten auf das Vergnügen unserer Gesellschaft wartet, und während ich durchaus dafür bin, einen Gentleman warten zu lassen, bin ich doch nicht sicher, was das Wetter demnächst so vorhat. Also, kommt jetzt.“ Sie wedelte auffordernd mit einem Paar lilafarbener Glacéhandschuhe. „Ihr könnt es mir unterwegs erläutern. Daisy, meine Liebe, bist du so lieb, mir den Arm zu reichen? Diese verflixten Stufen.“

Daisy beeilte sich, den linken Arm der alten Dame zu ergreifen. Lady Beatrice war nach Monaten, wenn nicht Jahren, der Vernachlässigung, Krankheit und Bettlägerigkeit noch immer ein wenig geschwächt und etwas unsicher auf den Füßen. Seit Abby sie gefunden hatte und die vier Mädchen bei ihr eingezogen waren, um zu Lady Beatrices „Nichten“ zu avancieren, hatte diese sich zwar beeindruckend schnell erholt, doch Treppen waren ihr noch immer ein Ärgernis. Sie konnte sie, mit Unterstützung, hinabgehen, aber für den Aufstieg benötigte sie weiterhin die starken Arme ihres Dieners William.

„So, worüber habt ihr Mädels euch unterhalten?“

„Es geht um Damaris“, erwiderte Jane. „Sie sagt, dass sie nicht in die Gesellschaft eingeführt werden will.“

„Wie bitte? Sie will keine Saison absolvieren?“ Sie wirbelte auf den Stufen herum und warf Damaris einen prüfenden Blick zu. „Stimmt das?“

„Ja, Lady Beatrice, und es tut mir leid, aber ich werde meine Meinung nicht än…“

„Es ist bestimmt wegen des Bordells“, fiel Jane ihr ins Wort. „Dabei ist das …“

„Es ist nicht wegen des Bordells“, flüsterte Damaris scharf und spähte die Treppe hinunter. „Und sprich bitte leiser. Ich will nicht, dass … irgendwer etwas davon mitbekommt.“ Unter ihnen in der Eingangshalle lief der Ehrenwerte Frederick Monkton-Coombes unruhig auf und ab, mit langen, geschmeidigen Schritten in schimmernden hohen Stiefeln. In seinem mit zahlreichen Pelerinen bestückten Mantel aus feinster Merinowolle und einem modischen Kastorhut mit geschweifter Krempe zwischen seinen langen Fingern war er der Inbegriff männlicher Eleganz.

Er schaute auf und begegnete Damaris’ Blick. Sie zwang sich dazu wegzuschauen.

„Aber warum dann …“

„Still, Jane! Damaris hat recht – das ist kein Thema, das auf der Treppe diskutiert werden sollte“, sagte Lady Beatrice. „Freddy, mein lieber Junge, Sie sind ja ausnehmend pünktlich.“

„Ausnehmend pünktlich?“ Er sah zur Standuhr. „Aber es ist schon …“

„Wir sind gleich bei Ihnen. Aber die Mädchen und ich benötigen noch einen privaten Moment für uns.“ Sie bedachte ihn mit einem mysteriösen Blick. „Eine Frauenangelegenheit, Sie verstehen schon. Featherby, bringen Sie eine Kanne Kaffee und ein paar Muffins für Mr. Monkton-Coombes.“

„Nein, das ist wirklich nicht …“

„Unsinn. Ich weiß doch, wie sehr sie dafür schwärmen, und die Köchin hat eigens eine frische Ladung gebacken. Wir brauchen nicht lange“, verkündete Lady Beatrice und scheuchte die Mädchen in einen kleinen Salon am anderen Ende der Eingangshalle. Sobald die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, sagte sie: „Der liebe Junge kümmert sich wirklich rührend um uns, während Max und Abby in den Flitterwochen sind, nicht wahr? Normalerweise meidet er respektable Mädels wie die Pest.“

Daisy schnaubte belustigt. Jane kicherte, und einen Moment später stimmte Damaris ein.

„Was ist daran denn so lustig?“, erkundigte sich Lady Beatrice.

„Respektable Mädchen?“, platzte Jane heraus. „Zwei Flüchtlinge aus einem Bordell – drei, wenn man Daisy mitzählt …“

„Natürlich muss man mich mitzählen. Ich bin schließlich in einem aufgewachsen, oder?“

„Und wir alle leben unter einem falschen Namen und geben vor, Ihre Nichten zu sein“, fügte Damaris hinzu.

„Hört auf mit diesem Blödsinn, und zwar sofort!“, blaffte die alte Dame. „Ich will nichts mehr über dieses verflixte Bordell hören! Ihr seid respektable Mädels, egal, was in der Vergangenheit geschehen ist. Ihr seid meine Nichten, und wenn ich sage, dass ihr respektabel seid, dann seid ihr es!“

„Und wenn Sie sagen, dass wir Ihre Nichten sind, dann sind wir es“, ergänzte Jane vergnügt.

„Ganz genau.“ Lady Beatrice hielt nichts von Ironie. „Und indem eure Schwester meinen Neffen geheiratet hat, wurde das alles legalisiert, und damit hat es sich.“

Es war alles andere als legal, schließlich waren weder Damaris noch Daisy wirklich mit Abby und Jane verwandt, aber keine von ihnen wollte mit Lady Bea streiten.

Die alte Dame hob ihre Lorgnette und fixierte damit Damaris. „So, mein Mädel, und jetzt erzähl mal, was das heißen soll, dass du im Frühling nicht mit Jane zusammen debütieren willst?“

Damaris biss sich auf die Unterlippe. „Es stimmt. Ich … ich will es nicht.“

„Aber Daisy hat bereits eine komplette Ausstattung für unser Debüt entworfen …“, sagte Jane.

„Lass mich da raus“, verlangte Daisy unverblümt. „Ich werd Damaris nich’ zu nichts zwingen, was sie nich’ machen will.“

„… zu irgendwas zwingen“, korrigierten Lady Beatrice, Jane und Damaris automatisch.

Damaris lächelte Daisy dankbar zu.

„Aber wir planen das Ganze doch schon seit Ewigkeiten“, murmelte Jane bedrückt.

„Erst seit knapp zwei Monaten“, gab Damaris zurück. „Davor hatten wir niemals eine echte Chance auf ein gesellschaftliches Debüt. Das ehrgeizigste Ziel für dich und Abby war damals, einen öffentlichen Ball in Bath zu besuchen.“ Da Jane immer noch unglücklich aussah, sagte sie rasch: „Und die Saison beginnt erst in ein paar Monaten, da bleibt reichlich Zeit, unsere Pläne zu modifizieren.“

Eine kurze Stille entstand, während der Damaris sich unbehaglich unter dem scharfsinnigen Blick der alten Dame wand. „Denken Sie daran, wie viel Geld Sie sparen, wenn nur eine von uns debütiert.“ Ihr war bekannt, dass eine Saison in London erschreckend teuer war.

Lady Beatrice schnaubte geringschätzig. „Es ist mein Geld, und ich gebe es so aus, wie es mir gefällt.“ Streng genommen, war es das Geld ihres Neffen, aber sie wussten alle, dass Max, Lord Davenham, seiner Tante keinen Wunsch abschlagen konnte.

„Es wird nicht halb so viel Spaß machen, wenn wir nicht zusammen debütieren“, sagte Jane betrübt. „Ich werde keinen Menschen kennen.“

„Aber natürlich“, widersprach Damaris in ermutigendem Ton. „Was ist denn mit all den Leuten, die zum literarischen Salon kommen?“

„Ach, die sind doch alle alt.“

Lady Beatrice räusperte sich und richtete ihre Lorgnette auf Jane, die errötete und hastig hinzufügte: „Ich meine, natürlich sind sie alle charmant und ganz entzückend, aber es ist nicht dasselbe wie seine Schwester dabeizuhaben, oder?“

Damaris machte sich nicht die Mühe, darauf hinzuweisen, dass Jane ja Abby dabeihaben würde, und Abby war eine echte Schwester, keine vorgetäuschte. Zwar war Abby frisch vermählt und weilte derzeit in den Flitterwochen, aber sie wurde rechtzeitig zum Beginn der Saison zurückerwartet. Dennoch hatte Jane nicht ganz unrecht; eine verheiratete Schwester zur Seite zu haben war nicht dasselbe wie zwei ledige Mädchen, die sich gemeinsam auf den Heiratsmarkt stürzten.

„Ich könnte ja als deine Begleitperson mitkommen“, schlug sie vor.

„Als Begleitperson?“ Lady Beatrice richtete ihre Lorgnette wieder auf Damaris. „Als Begleitperson?“ Sie verzog angeekelt den Mund. Offensichtlich war das keine Option.

„Aber wenn du als Begleitung ohnehin an gesellschaftlichen Veranstaltungen teilnehmen würdest, wo ist dann der Unterschied zu einem eigenen Debüt?“, fragte Jane.

„Niemand würde einer Begleitperson die Ehe antragen.“

Jane runzelte die Stirn. „Das verstehe ich nicht.“

„Ich möchte nicht heiraten. Ich habe …“ Damaris schluckte. „Ich hege tiefen Abscheu vor der Ehe.“

Entsetztes Schweigen legte sich über den Raum.

Ihr war sehr wohl bewusst, dass ihre Aussage für die meisten Menschen grotesk, geradezu aberwitzig klingen musste. Keine Ehe? Wie sonst gedachte ein Mädchen ohne Besitz oder eigene Mittel sich durchzuschlagen?

Nun, sie würde arbeiten. Sie fürchtete sich nicht vor schwerer Arbeit; sie hatte ihr ganzes Leben lang gearbeitet.

Von einer reichen Gönnerin in die Gesellschaft eingeführt zu werden, die Chance zu erhalten, einen vermögenden, hochgestellten Mann zu heiraten, das wäre für die meisten Mädchen der Traum ihres Lebens. Vor einem Jahr wäre es vielleicht auch Damaris’ Lebenstraum gewesen. Aber jetzt nicht mehr.

Nach einer Weile ergriff Lady Beatrice das Wort. „Und was bitte hat eine Ehe mit deinem gesellschaftlichen Debüt zu tun?“

Alle drei Mädchen starrten sie überrascht an. „Aber ist das nicht der ausschließliche Zweck eines Debüts?“, fragte Jane. „Einen Ehemann zu finden? Deshalb wird die Saison doch auch Heiratsmarkt genannt.“

„Für manche Leute ist es der ausschließliche Zweck“, räumte Lady Beatrice großmütig ein. „Vielleicht sogar für die meisten Leute. Aber wir sind nicht die meisten Leute.“

Jane wirkte besorgt. „Ich will aber einen Ehemann finden.“

„Ich weiß, Jane, meine Liebe, und ich freue mich schon auf all die jungen Burschen, die sich deinetwegen zum Narren machen werden. Keine Angst, du wirst reichlich Auswahl haben und kannst dir den besten aussuchen.“ Die alte Dame wandte sich Damaris zu. „Was dich betrifft, mein Mädel, kein Mensch sagt, dass du einen Ehemann finden musst.“

„Aber ich dachte …“

„Oh, die jungen Männer werden sich auch deinetwegen zum Narren machen, da bin ich ganz sicher, und auch etliche der älteren, wie wir bei meinem literarischen Salon feststellen konnten. Du wirst reichlich ehrenhafte Angebote bekommen, das kannst du mir glauben, und auch ein paar unehrenhafte. Aber es besteht keinerlei Notwendigkeit, irgendeinen dieser Anträge anzunehmen.“

„Aber …“ Damaris furchte die Stirn. „Ist es nicht eine schreckliche Geldverschwendung, wenn ich keinen Mann finde?“

Lady Beatrice hob ihre elegant gezupften und gefärbten Brauen. „Geldverschwendung? Papperlapapp, was ist das denn für ein Unsinn? Es gibt nur einen Grund für dich zu debütieren, Damaris – nämlich Spaß zu haben.“

„Spaß?“, wiederholte Damaris verwirrt. Man wollte ein Vermögen für sie verschleudern, damit sie Spaß haben konnte?

„Du hattest bislang noch nicht viel Spaß im Leben, nicht wahr, meine Liebe?“

Damaris schluckte. „Woher wissen Sie das?“

Die alte Dame schnaubte. „Die Tochter eines Missionars? In der fremden Wildnis aufgewachsen? Da mutmaße ich einfach mal ins Blaue hinein.“ Als sie Damaris’ Miene sah, musste sie unwillkürlich kichern. „Kopf hoch, meine Liebe, niemand wird dich zur Ehe zwingen. Es würde mir aber eine große Freude bereiten, wenn du zusammen mit Jane debütierst, Bälle und Partys besuchst, bis in die Morgenstunden tanzt, Daisys wundervolle Kleider trägst – und sie zur begehrtesten Schneiderin der Saison machst …“

„Ihr Wort in Gottes Ohr“, warf Daisy inbrünstig ein.

„… und Herden von jungen Männern dazu bringst, sich förmlich zu überschlagen, um dich zu beeindrucken, dir Champagner und Ratafia und köstliche Kleinigkeiten vom Büffet zu bringen und am nächsten Morgen Blumensträuße zu schicken und Gedichte über deine Augen zu schreiben, all dieser entzückende Blödsinn.“ Sie seufzte erinnerungsselig, beugte sich vor und tätschelte Damaris die Hand. „Du brauchst nichts davon ernst zu nehmen, und niemand wird dich dazu zwingen, etwas zu tun, das du nicht tun willst. Überlass die Männerjagd der jungen Jane hier. Du und ich, meine Liebe, wir werden uns einfach köstlich amüsieren.“

In den klugen alten Augen lagen so viel Freundlichkeit und Verständnis, dass Damaris spürte, wie sich in ihrer Kehle ein Kloß bildete. Sie schluckte. Lady Beatrice hatte sie nicht mal gefragt, warum sie die Ehe derart verabscheute. „Es macht Ihnen nichts aus, dass ich nicht … dass ich …“

Lady Beatrice drückte ihr die Hand. „Mein liebes Mädchen“, sagte sie leise, „du hast mir bei unserer ersten Begegnung erklärt, dass du niemals heiraten möchtest. Glaubst du, ich hätte das vergessen?“

Damals war sie krank und bettlägerig gewesen. Warum sollte sie sich daran erinnern, was ein fremdes Mädchen zu ihr gesagt hatte. Warum sollte es sie kümmern?

„Warum sind Sie so gut zu mir?“

Die alte Dame lächelte. „Ihr Mädels habt mir so viel Glück gebracht, zu einer Zeit in meinem Leben, als ich dachte, alles sei vorbei. Es wäre mir wirklich eine unendliche Freude, dir eine Saison voll sorglosen, unkomplizierten Vergnügens zu bescheren, ohne Verpflichtung irgendwem gegenüber.“ Wieder drückte sie Damaris die Hand. „Also, wirst du das für mich tun, Damaris? Einmal richtig auf den Putz hauen, nur für eine Saison, und ein frivoles, allein dem Vergnügen gewidmetes Dasein führen? Nicht für dich selbst, sondern um einer alten Dame Freude zu bereiten?“ Sie bemühte sich um eine gespielt mitleidheischende Miene, die so wenig überzeugend war, dass Damaris ein zittriges Lachen ausstieß und sie umarmte.

„Wenn Sie es so darstellen, liebe Lady Beatrice, bleibt mir ja wohl kaum etwas anderes übrig. Aber es ist sehr großzügig von Ihnen.“ Zu großzügig.

Die alte Dame wedelte geringschätzig mit der Hand. „Papperlapapp, was für ein Unsinn! So, Mädels, Aufbruch. Mr. Monkton-Coombes wird seine Muffins inzwischen aufgegessen haben, und auch wenn man Männer grundsätzlich ein bisschen warten lassen sollte – ich finde, das hält sie hübsch auf Trab –, bringt es nichts, sie zu lange hängen zu lassen. Und wenn man sich endlich zu ihnen bemüht, sollte man ihnen das Gefühl geben, dass die Warterei sich gelohnt hat. Also, macht euch hübsch, Mädchen, und wenn ihr Mr. Monkton-Coombes seht, dann lächelt.“

Freddy starrte düster auf den Teller vor sich. Lady Bea war überzeugt, dass Muffins das Lieblingsessen der Monkton-Coombes waren. Das war Max’ Schuld, verdammt sollte er sein. Er hatte seiner Tante erzählt, dass Freddy geradezu von Muffins besessen sei, und natürlich glaubte das alte Mädchen, dass sich diese angebliche Vorliebe auf die verflixten Teigdinger bezog. Dabei war es doch nur sein, zugegeben etwas despektierlicher, Ausdruck für hübsche, fade Mädchen, die darauf versessen waren, einen Ehemann an Land zu ziehen. Aber da Lady Bea das nicht wissen konnte, ließ sie ihm bei jedem seiner Besuche diese grässlichen Dinger servieren. Und erwartete, dass er sie aß. Mit Begeisterung.

Er griff sich eins und beäugte abwägend das Feuer. Es war eine gute Flamme, kräftig genug, einen Muffin binnen kürzester Zeit in Asche zu verwandeln.

Aber würde dabei womöglich ein verdächtiger Geruch entstehen?

Er hob den Teigfladen hoch, zielte und war drauf und dran, das leidige Gebäck ins Feuer zu werfen, als er hörte, wie sich weibliche Schritte näherten. Er ließ den Muffin fallen, drehte sich zu der geöffneten Tür um und sah vier adrett gekleidete Frauen auf sich zukommen. Lächelnd.

Ihm stellten sich die Nackenhaare auf. Warum zum Teufel grinsten sie ihn derartig an? Was wussten sie? Was wollten sie?

Er verspürte einen machtvollen Drang, die Flucht zu ergreifen. Doch er hatte Max nun mal dieses Versprechen gegeben. Also erhob er sich und wischte sich die Krümel von den Fingern. „Meine Damen“, sagte er vorsichtig.

„Freddy, mein lieber Junge, es tut mir leid, dass Sie so lange warten mussten.“ Lady Beatrice musterte ihn wohlwollend. „Elegant wie immer.“ Sie warf einen Blick auf den Teller mit den Muffins und runzelte die Stirn. „Waren die Muffins nicht zufriedenstellend? Featherby, Sie müssen ein Wörtchen mit der Köchin …“

„Nein, sie waren köstlich, wie auch der Kaffee“, versicherte Freddy ihr. „Aber ich war nicht hungrig. Spätes Frühstück, wissen Sie – opulentes Frühstück. Geradezu gigantisch“, fügte er hinzu, da sie Einwände zu haben schien.

Sie schniefte. „Sie sollten besser gefüttert werden. Nun gut, kommen Sie. Das Wetter hält sich wohl?“

„Ja, in der Tat, ein schöner Tag. Der Wind ist etwas kalt, aber recht erfrischend.“ Er eskortierte die Damen zur Haustür. Der Landauer samt Kutscher erwartete sie auf der Straße.

2. KAPITEL

„Sie haben wirklich Glück, dass sie die hohe Kunst beherrschen, Schmeicheleien geschmackvoll und dezent zu formulieren. Darf ich fragen, ob diese erfreulichen kleinen Komplimente einer spontanen Eingebung entspringen oder das Ergebnis eingehender vorheriger Überlegungen sind?“

Jane Austen „Stolz und Vorurteil“

Der Landauer bot nur vier Personen bequem Platz. Freddy erbot sich, neben der Kutsche herzureiten, damit im Inneren nicht so beengte Verhältnisse herrschten, doch die alte Dame wollte nichts davon wissen. „Ich ziehe es vor, Sie in meiner Nähe zu haben, lieber Junge.“ Zunächst dachte er, dass sie sich durch besagte Nähe einfach besser beschützt fühlte oder so etwas Ähnliches, aber dann zwinkerte sie ihm zu und ergänzte: „Sie sind so ein ansehnlicher, hübscher Kerl geworden, dass ich unbedingt mit Ihnen angeben möchte.“

Das alte Mädchen versuchte ständig, ihm die Röte ins Gesicht zu treiben. Freddy unterdrückt ein Grinsen.

Mit Unterstützung eines muskulösen Dieners half er Lady Beatrice in den Landauer. Sie war gebrechlich, aber unbeugsam. Anschließend wandte er sich den jungen Damen zu, um ihnen beim Einsteigen behilflich zu sein; erst Miss Jane, die leichtfüßig die Stufen hochsprang, dann Miss Daisy, dann streckte er den Arm nach Miss Damaris aus.

Die zog ihre Hand zurück, bevor er sie auch nur berührt hatte. „Tut mir leid, ich habe es mir anders überlegt.“

„Damaris?“, fragte Lady Beatrice scharf.

„Es ist nichts, ich habe nur leichte Kopfschmerzen. Wenn ich mich eine Weile hinlege, werden sie bestimmt verschwinden.“

Davon war Freddy überzeugt; tatsächlich war er sogar ziemlich sicher, dass die Kopfschmerzen gar nicht existierten. Sie sah nicht im Geringsten mitgenommen oder blass aus, sondern so wie immer, also wie das blühende Leben, wenn nicht sogar noch ein bisschen rosiger. Doch nach den Blicken und verstohlenen Rippenstößen zu urteilen, die die anderen austauschten, lagen unterschwellige weibliche Befindlichkeiten in der Luft, und es gehörte zu Freddys grundlegenden Strategien, in dieser Hinsicht Ahnungslosigkeit vorzutäuschen. Das war auf alle Fälle sicherer.

„Unsinn. Frische Luft und Sonnenschein sind die beste Kur für dein Leiden“, befand Lady Beatrice. „Komm jetzt, meine Liebe. Diese Kopfschmerzen werden sich sofort legen.“

Damaris widersetzte sich nicht; sie stieg gehorsam ein. Freddy folgte ihr, gab dem Kutscher ein Zeichen, und sie fuhren los. Wie erwartet, war es ein wenig eng. Freddys Oberschenkel drückte gegen den von Damaris.

Das hätte eigentlich keine Rolle spielen sollen. Wenn er neben Jane oder Daisy gesessen hätte, hätte er keinen Gedanken daran verschwendet, aber da es sich um Damaris handelte, ging es ihm aus irgendeinem Grund nicht aus dem Sinn.

Sie rutschte etwas dichter an Daisy heran. Freddy versuchte, ebenfalls auf Abstand zu gehen; er drückte sich gegen die Wand der Kutsche, um Damaris mehr Raum zu geben, doch bei drei Leuten auf der Bank war schlicht und ergreifend nicht genug Platz. Er spürte ihre Körperwärme an seinem Bein, und sie spürte zweifellos seine. Nicht, dass sie in irgendeiner Form darauf reagiert hätte.

Sie schaute gleichmütig nach draußen und wirkte dabei ungefähr so lebendig wie eine in Glas gegossene Jungfrau.

So war sie immer, eigenartig distanziert, unberührbar. Es verstörte ihn auf eine Weise, über die er lieber nicht nachdenken wollte. Als hübsche, wohlerzogene und vollkommen liebenswürdige junge Dame unterschied Damaris sich im Grunde nicht von den zahllosen anderen Mädchen, die heutzutage den Heiratsmarkt bevölkerten, zumindest sollte sie sich nicht von ihnen unterscheiden. Und doch …

Er fand sie beunruhigend. Ihre großen braunen Augen schienen … zu viel zu sehen. Er hatte schon immer eine Schwäche für braune Augen gehabt, aber wann immer er versuchte, mit ihr zu flirten – ein harmloser Spaß, sonst nichts –, wies sie ihn eisig in seine Schranken. Autsch!

Und doch ging er wieder und wieder auf sie zu, um sich eine weitere Klatsche abzuholen.

„Kopfschmerzen sind wirklich lästig“, bemerkte er und wand sich innerlich ob dieser dümmlichen Feststellung. In gewissen Kreisen galt er als geistreicher und witziger Gesprächspartner. Aber jedes Mal, wenn er sich um eine angenehme, nichtssagende Plauderei mit Miss Damaris Chance bemühte, fielen ihm nur unbeholfene Gemeinplätze ein.

Sie nickte, lächelte verhalten, erwiderte aber nichts. Die Kopfschmerzen, schon klar.

Wenn hier irgendwer Kopfschmerzen hat, sinnierte Freddy, während die Kutsche den Gosvenor Square hinter sich ließ, dann sollte das ja wohl ich sein. Als er letzte Nacht endlich ins Bett – sein eigenes Bett – fallen konnte, graute bereits der Morgen. Seine aktuelle Geliebte wollte wieder heiraten, einen viel älteren reichen Mann, daher näherte sich ihre Affäre dem Ende. Oder vielmehr: dem Höhepunkt. Sie war wild entschlossen, die Sache mit einem fulminanten Ende zu beschließen. Und das gleich drei Mal. Freddy war erschöpft.

Er hatte einen eigenen Ehrenkodex, was Frauen betraf. Damit würde er zwar keinen Preis für moralisches Verhalten gewinnen, aber immerhin – es war ein Ehrenkodex: Er tändelte niemals mit Unschuldigen, egal, von welchem gesellschaftlichen Rang; er mied „Muffins“, also Mädchen im heiratsfähigen Alter, die unbedingt einen Ehemann finden wollten, wie die Pest; und er stellte niemals verheirateten Frauen nach. Wenn verheiratete Frauen ihm nachstellten, wenn sie von ihren Ehemännern vernachlässigt wurden und unglücklich waren, dann war das etwas anderes. Aber selbst in solchen Fällen ging er nur auf die Avancen ein, wenn die betreffende Dame ihren Gatten bereits mit mindestens einem Erben versorgt hatte. Er wollte niemandem einen Kuckuck ins Nest setzen – er hatte keine Lust auf die Komplikationen, die so etwas oft nach sich zog.

Am liebsten waren ihm Witwen. Mit gerade mal sechzehn hatte er seine Unschuld an die dralle Witwe eines Bauern verloren. Sie war zehn Jahre älter als er gewesen und hatte einem eifrigen, unbeholfenen Jungen beigebracht, wie man einer Frau – und sich selbst – Vergnügen bereitet, indem sie ihm die Vorzüge von Selbstbeherrschung und Geduld demonstrierte. Eine wertvolle Lektion, die er seither beherzigte und gewissenhaft umsetzte.

Schon erstaunlich, wie viele Männer – nach Auskunft der Frauen, mit denen Freddy geschlafen hatte – sich nicht die Mühe machten. Was für Narren. Er gähnte.

Lady Beatrice stieß ihn mit ihrem eleganten Ebenholzstock an. „Haben Sie sich wieder rumgetrieben, junger Draufgänger?“

Freddy antwortete nur mit einem kühlen, würdevollen Blick.

Lady Beatrice grinste. „Dachte ich mir. Sie haben dieses Aussehen.“

„Aussehen?“, wiederholte er und verfluchte sich sofort, weil er ihren Köder geschluckt hatte. „Oh, sehen Sie mal“, rief er dann, in deutlich anderem Tonfall, und deutete auf einen Drehorgelspieler. „Ein Affe in rotem Gehrock. Drolliger kleiner Kerl.“ Ein exzellentes Ablenkungsmanöver. Er wusste, dass Miss Jane Tiere liebte.

Lady Beatrice lachte leise in sich hinein. „Niemand gibt sich in Gesellschaft prüder als ein Wüstling. Aber ja, schauen wir uns gern den Affen an.“ Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück, den Blick weiter unverwandt auf Freddy gerichtet.

Er musste unwillkürlich lachen.

Der Gedanke, den Ersatz-Max zu spielen, während sein Freund auf Reisen war, hatte ihm anfänglich nicht behagt, aber nun fand er es gar nicht mehr so schlimm. Das Schwierigste daran war, vor dem Mittag aufzustehen. Sein üblicher Tagesrhythmus überschnitt sich nicht unbedingt mit dem von respektablen Damen gepflegten Zeitplan. Aber Max sollte ja in ein paar Wochen wieder hier sein. Bis dahin würde Freddy den erzwungenen Schlafentzug wohl überleben. Zumindest hoffte er das.

Sie erreichten den Hyde Park, und Lady Beatrice erspähte sofort zwei lustwandelnde Freundinnen und befahl dem Kutscher anzuhalten. Freddy und die Mädchen stiegen aus, und Freddy half den beiden alten Damen in den Landauer.

Während Lady Beatrice und ihre Kumpaninnen eine Runde um den Park drehten, würden die anderen einen Spaziergang machen. Ein in Freddys Augen reichlich biederes Vergnügen, doch die jungen Frauen schienen es zu genießen.

Er genoss es übrigens auch. Es war ein angenehmes Gefühl, mit drei hübschen Mädchen durch die Gegend zu flanieren, von denen keines irgendwelche ernsten Absichten bezüglich seiner Person hegte. Die Symptome akuten Ehe-Ehrgeizes waren ihm nur allzu vertraut, und die Chance-Schwestern zeigten keine davon. Jane verhielt sich ihm gegenüber nicht anders als ihrem Schwager gegenüber; sie betrachtete ihn als Quelle von Leckereien, guten Umgangsformen und Klatsch und als brauchbare Begleitperson. Daisy hatte absolut kein Interesse am Heiraten; im Park schien sie über nichts anderes zu reden als über die Kleidungsstücke der vornehmen Damen – und was man daran verbessern könnte.

Und was Damaris betraf, nun, ehrlich gesagt, hatte Freddy keine Ahnung, was sie über irgendwas dachte. Was sie sagte, war stets höflich und liebenswürdig, aber was in ihren Kopf vorging? Konnte man nicht mal vermuten.

Unglücklicherweise hatten das milde Wetter und die schwache Wintersonne mehr Leute als sonst an die frische Luft getrieben. Eine Tatsache, die Freddy schmerzlich bewusst wurde, als er eine hochgewachsene dunkelhaarige junge Frau in strengem Reitkostüm und eine kleinere, die in einem Meer aus rosafarbenen und weißen Rüschen ertrank, auf sich zueilen sah.

Fluffy und die Peitsche. Verdammt! Er hatte die beiden sicher in Durham geglaubt. Freddy blieb wie angewurzelt stehen, woraufhin Jane und Damaris ihn überrascht anschauten.

„Was ist los?“, fragte Jane.

„Die Armthwaite-Muff… äh, Schwestern. Schnell, da lang.“ Er versuchte eine sofortige Kehrtwendung, was sich jedoch mit einer jungen Dame an jedem Arm schwieriger als gedacht gestaltete. Die Neugier der Mädchen auf das sich nähernde Schwestern-Gespann hemmte seinen Rückzug, und er war gefangen.

Almeria, die größere der beiden, erreichte ihn als Erste; Almeria trippelte niemals, wenn sie auch ausschreiten konnte. „Mr. Monkton-Coombes, hier sind Sie also“, bemerkte sie in jenem vorwurfsvollen Tonfall, der ihn stets verlässlich an seine Nanny McBride erinnerte, wenn die schlecht aufgelegt gewesen war. „Ich dachte, Sie flanieren niemals im Park.“ Sie beäugte seine Begleiterinnen kritisch und wippte ungeduldig mit dem Fuß, darauf wartend, dass sie ihr vorgestellt wurden.

Ihre Schwester trippelte anmutig – und atemlos – in ihrem Windschatten. „Mufft du fo schnell laufen, Almeria?“, tadelte sie mit einem Schmollen, das sie mit Sicherheit stundenlang daheim vor dem Spiegel geübt hatte.

Sie lächelte Freddy gewinnend an, offensichtlich außerstande, seine Begleiterinnen auch nur wahrzunehmen. „Mifter Monkton-Coombef, wie entzückend, Fie hier an diefem schönen fonnigen Tag zu treffen.“ Das Lispeln hatte sie sich erst kürzlich angeeignet, zweifellos in der Annahme, dass es den Eindruck spatzenhirniger Weiblichkeit noch verstärkte. Eine Strategie, die, wie Freddy vermutete, die Tatsache verschleiern sollte, dass sie über einen ebenso eisernen Willen verfügte wie ihre herrische Schwester.

„Miss Almeria Armthwaite, Miss Annabelle Armthwaite“, sagte er schroff, „darf ich Ihnen die Misses Chance vorstellen? Miss Damaris Chance, Miss Jane Chance und Miss Daisy Chance.“

Während die Armthwaites die Chance-Schwestern über ihre familiären Verbindungen und, kaum subtiler, ihre Absichten hinsichtlich seiner Person ausfragten, suchte Freddy verzweifelt nach einem Vorwand, sich zu verabschieden.

Als alleiniger Erbe des väterlichen Titels und Besitzes, ganz zu schweigen von seinem eigenen beträchtlichen Privatvermögen, war er seit seinem ersten Auftreten in der Gesellschaft ein begehrtes Ziel für heiratswütige Mamas und Töchter. Von Anfang an machte er keinen Hehl daraus, dass er nicht an einer Ehe interessiert war, und nachdem er einmal begriffen hatte, dass respektable Mamas und Töchter Lebemänner mieden wie die Pest, gab er sich große Mühe, an seinem Ruf als Frauenheld zu arbeiten.

Doch irgendwann im Laufe des vergangenen Jahres musste seine Mutter die Mamas, Tanten und Großmütter eines jeden heiratsfähigen weiblichen Wesens im Königreich darüber informiert haben, dass er inzwischen doch daran dachte, sich zu verheiraten. Genauso gut hätte sie eine Anzeige in die Gazette setzen können, verflucht noch mal! Jedenfalls kamen seither die Muffins in Scharen aus dem Unterholz, wo auch immer er hinging.

Verdammt, er dachte nicht daran, sich zu verheiraten – oder höchstens mit Schrecken.

Lady Beatrices Kutsche schaukelte in schicklicher Geschwindigkeit auf sie zu. Das war die Rettung! Er hob eine Hand, um die alte Dame zum Anhalten zu bewegen, doch sie winkte nur fröhlich zurück und fuhr an ihnen vorbei. Mist! Jetzt musste er eine weitere Runde abwarten, bevor er flüchten konnte.

„Mr. Monkton-Coombes, oh, Mr. Monkton-Coooooombes“, trällerte eine neue Stimme hinter ihm. Verdammt! Noch so ein verfluchter Muffin.

„Miss Blee.“ Er begrüßte sie mit einer knappen Verbeugung. Nie wieder würde er in diesen Park gehen!

„Ich freue mich schon sooooo auf die Landparty!“, rief sie und lächelte ihn augenzwinkernd an.

„Wirklich?“, erwiderte er gelangweilt. „Um welche Landparty geht es denn?“ Welche auch immer es war, er hatte nicht vor, daran teilzunehmen.

„Als ob Sie das nicht wüssten.“ Sie schlug ihm kokett auf den Arm, mit dieser Art schalkhafter, gezierter Brutalität, die manche Damen für verführerisch hielten. Fälschlicherweise.

Er zwang sich ein Mindestmaß an höflichem Desinteresse ab. „Ich erhalte viele Einladungen.“

„Aber sicher haben … oh, aber Sie wollen mich necken, Sie böser, böser Mann. Natürlich wissen Sie, von welcher Party ich rede. Sie sind schließlich der Ehrengast.“

Freddy runzelte die Stirn. „Wann ist denn diese …?“

„Wir gehen auch hin“, fiel ihm die ältere Miss Armthwaite ins Wort. „Ich hoffe, wir beide kommen ein bisschen zum Jagen, Freddy.“ Almeria hatte einen Ruf als schneidige Jagdreiterin. Und sie hatte Freddy gegenüber mehr als einmal angedeutet, dass sie ihn gerne ebenso schneidig reiten würde.

Wann immer diese Landparty des Grauens stattfinden sollte, plante Freddy sich hundert Meilen in die entgegengesetzte Richtung abzusetzen.

„Oh nein, der arme kleine Fuchs“, jammerte die jüngere Miss Armthwaite anmutig. „Foo füüüß.“

„Das sind Schädlinge“, blaffte ihre Schwester. „Außerdem, was glaubst du denn, woher dein Fuchspelz-Muff kommt, du Zimperliese?“

„Gefällt Ihnen mein Muff, Mr. Monkton-Coombef?“ Annabelle warf ihm über ihren Fuchspelz-Muff hinweg einen liebreizenden Blick zu und strich langsam mit der Hand über besagtes Kleidungsstück.

Freddy knirschte mit den Zähnen. Tausend Meilen in die entgegengesetzte Richtung.

Miss Blee wandte sich an die Chance-Mädchen. „Nehmen Sie an der Landparty teil?“

„Ich glaube nicht“, erwiderte Jane. „Lady Beatrice hat nichts davon erwähnt.“

„Das überrascht mich nicht“, säuselte Miss Blee. Sie sah Freddy an und klimperte mit den Wimpern. „Soweit ich weiß, ist es eine sehr exklusive Gästeliste.“

Er musste dringend die Flucht ergreifen und schaute sich hektisch um. „Lady Beatrice gibt uns ein Zeichen, meine Damen“, unterbrach er das weibliche Turniergehabe. „Ich fürchte, wir müssen uns verabschieden. Sie erholt sich von einer längeren Krankheit, müssen Sie wissen, und ist noch recht anfällig. Auf Wiedersehen.“ Er hakte Damaris und Daisy unter und zog sie, Jane vor sich herscheuchend, zur Fahrbahn. Diesmal sollte die alte Dame besser anhalten lassen. Notfalls würde er sich vor die Kutsche werfen.

„Sind diese Damen gute Freundinnen von Ihnen?“, erkundigte Jane sich neugierig.

„Nein!“, rief Freddy abwehrend. „Aber meine Mutter hetzt ständig Frauen dieser Sorte auf mich, daher glauben sie, Anspruch auf mich zu haben.“ Er war sich Damaris’ Blick bewusst, der auf ihm ruhte, ruhig und undurchschaubar.

Dankenswerter Weise blieb der Landauer stehen, ohne dass Freddy seine körperliche Unversehrtheit opfern musste, und er beeilte sich, Lady Beatrices Freundinnen beim Aussteigen behilflich zu sein. Je schneller sie die Kutsche räumten, desto eher konnte er aufbrechen.

Sobald die Mädchen sicher saßen, signalisierte Freddy dem Kutscher, er möge weiterfahren. Nie wieder würde er durch den Park flanieren. Oder jemals Füchse jagen; er wusste, wie die armen Biester sich fühlten.

Er schaute die alte Dame an. Sie erwiderte seinen Blick; ihre Augen funkelten … mutwillig? Freddy verspürte einen Anflug von Unsicherheit. Max’ Warnung fiel ihm wieder ein. Er runzelte die Stirn.

Lady Beatrice zuckte lässig mit den Schultern und zog dann eine winzige Flasche mit Riechsalz hervor. Sie wedelte damit ungefähr fünfzehn Zentimeter vor ihrer Nase herum und sagte mit schwacher Stimme: „Ich bin erschöpft. All diese frische Luft und Bewegung, so ermüdend.“ Sie ließ sich in die gut gepolsterte Rücklehne sinken und schloss die Augen, unschuldig wie ein Lamm.

Man kann ihnen nicht über den Weg trauen, diesen Lämmern, dachte Freddy.

Am nächsten Morgen saßen Daisy und Damaris im oberen Salon und nähten. Sie verbrachten viel Zeit dort. Der Raum war hell, mit großen Fenstern, die reichlich Tageslicht einließen; perfekt zum Nähen. Im Kamin brannte ein behagliches Feuer.

Jane war mit Lady Beatrice unterwegs, um der alten Dame zu helfen, ein Paar Abendhandschuhe auszusuchen. Daisy nahm die halbfertige Pelisse auf den Schoß und begann, die Manschetten anzunähen. Damaris war dabei, ein Unterhemd zu säumen.

Eine Weile arbeiteten sie schweigend; nur das leise Rascheln von Stoff und das Knistern von brennender Kohle waren zu hören.

Daisy vollendete eine Manschette und biss den Faden ab. „Ich weiß, du hast gesagt, es liegt nicht am Bordell, dass du nicht heiraten willst, aber wenn es das doch ist …“

„Ist es nicht. Es ist … kompliziert.“ Sie hatte nie jemandem erzählt, wie und warum sie an das Bordell verkauft worden war und nicht vor, jetzt damit anzufangen. Jede Ehe, die sie eingehen würde, wäre zum Unglück verdammt. Ihrem Unglück. Wie bei Mama.

Daisy schniefte und knotete einen neuen Faden. „Aber wenn du dir keinen Kerl krallst, wovon willst du leben? Es is’ nich’ leicht allein, musst du wissen.“

„Das weiß ich.“ In den Wochen, bevor sie Lady Beatrice kennenlernten, hatten die vier Mädchen versucht, sich allein in London durchzuschlagen und waren fast verhungert, weil es so schrecklich schwer war, Arbeit zu finden. Damaris hatte noch am meisten Glück gehabt, sie hatte den Auftrag ergattert, in einer Töpferei Geschirr zu bemalen.

„Wenn dein Leben damit anfängt, dass du in der Gosse landest, weil keiner dich haben will, lernst du schnell, für dich selbst zu sorgen“, fuhr Daisy fort. Sie schaute zu Damaris hoch. „Solange du den Leuten nützlich bist, behalten sie dich bei sich. Aber in der Sekunde, in der sie dich nich’ mehr brauchen können oder jemand anders ihnen besser in den Kram passt oder sie einfach ihre Meinung ändern – oder sterben –, bist du wieder auf dich allein gestellt. Also musst du dich schon selbst retten, Damaris, denn kein verdammter Märchenprinz macht sich die Mühe, nach Mädchen wie uns zu suchen.“

Damaris lachte. „Ich weiß. Und ich erwarte von niemandem, dass er mich rettet. Ich bin aus diesem Bordell noch mal glücklich davongekommen. Wenn du und Jane mich damals nicht mitgenommen hättet …“ Allein die Vorstellung war ihr unerträglich.

„Nun tu mal nich’ so miesepetrig, Damaris, das is’ alles längst Schnee von gestern. Aber, ja, du und ich, wir passen hier nich’ auf dieselbe Art hin wie Abby und Jane. Du immerhin noch besser wie ich – wenigstens bist du ’ne Dame, mit den ganzen hübschen Manieren, die dir so selbstverständlich von der Hand gehen, egal, ob du bei den Heiden aufgewachsen bist oder nich’. Aber die beiden sind nun mal echte Schwestern, und Blut is’ dicker als Versprechungen, das weiß ich ganz sicher.“

„Traust du ihnen denn nicht?“ Diese Möglichkeit beunruhigte Damaris. Die Tatsache, dass sie und die anderen drei geschworen hatten, einander Schwestern zu sein, war das eine kleine Stückchen Sicherheit in ihrer Welt.

„Versteh mich nich’ falsch, nich’, dass du das in den falschen Hals kriegst. Es is’ nich’ so, dass ich ihnen – oder dir – nicht traue. Sondern, dass ich tief in meinem Inneren keinem traue, jedenfalls nich’ richtig. Nur mir selbst.“

„Oh, Daisy.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Menschen ändern sich, Dinge ändern sich.“ Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: „Erinnerst du dich an Mrs. B., die das Bordell führte, bevor sie es an ihren missratenen Sohn weitergab?“

Damaris nickte. „An Mort, ja.“

„Mrs. B. hat mich gefunden, als ich gerade mal acht war. Ich war am Ende, mein Leben ein einziges Elend, und das hier war grad erst passiert.“ Sie deutete auf ihren verkrüppelten Fuß. „Sie holte mich da weg, wo ich war, brachte mich zu einem Doktor, bezahlte mit ihrem eigenen Geld für mich, ein wildfremdes Kind! Und dann nahm sie mich mit nach Hause und kümmerte sich um mich. So was hatte noch nie jemand für mich gemacht. Ich war so dankbar.“ Sie nähte einen Saum fertig und biss den Faden ab. „Sie hat mich nich’ ein einziges Mal gedrängt, für sie als eins ihrer Mädchen zu arbeiten.“

Damaris nickte. Daisy hatte in dem Bordell als Dienstmädchen und Näherin gearbeitet.

„Ich liebte Mrs. B.“, fuhr Daisy fort. „Sie war wie eine Mutter für mich. Na ja, wenn du’s ganz genau wissen willst, habe ich sogar so getan, als wäre sie meine Mum. Ich dachte, ich und sie würden für den Rest unserer Tage zusammenbleiben und dass ich mich, wenn sie alt wäre, um sie kümmern würd.“ Sie fädelte einen neuen Faden ein. „Und dann machte sie sich vom Hof und ließ mich mit diesem Mistkerl Mort zurück. Hat mich weggeworfen wie ein Paar alter Schuhe, als ob ich ihr nich’ das Geringste bedeutet hätt’.“

„Das muss dir schrecklich wehgetan haben“, sagte Damaris leise.

Wieder zuckte Daisy mit den Schultern. „Hab dadurch eine wichtige Lektion gelernt, nich’ wahr? Nämlich, dass sich keiner in diesem Leben um dich kümmert, außer dir selbst.“ Sie sah Damaris eindringlich an. „Und wenn du nich’ heiraten willst, dann solltest du dir besser irgendeine Möglichkeit einfallen lassen, wie du dich selbst ernähren kannst.“

„Ich weiß.“

Die Mädchen beugten sich wieder über ihre Handarbeiten, beide tief in Gedanken versunken.

Daisys Einstellung mochte ja ziemlich düster sein, aber sie galt im Grunde genauso für Damaris, die Abby und Jane und Daisy wie Schwestern liebte und Lady Beatrice mit einer Mischung aus dem Wunsch, sie zu beschützen und tiefer Sehnsucht nach ihrer eigenen Mutter.

Denn sie hatte keinesfalls vor, nur weil sie nicht heiraten wollte, von Lady Beatrices Großzügigkeit zu existieren wie eine Schmarotzerin oder Almosenempfängerin. Wenn sie irgendetwas in ihrem Leben gelernt hatte, dann, dass sie stark war und hart arbeiten konnte.

„Du könntest mit mir arbeiten, wenn du magst, als Schneiderin. Ich meine, nicht nur aushelfen, so wie jetzt, sondern …“

„Danke, das ist sehr großherzig von dir, Daisy, aber …“

„Ich glaub allerdings nich’, dass man damit in der ersten Zeit viel Geld verdient, selbst wenn wir erfolgreich sind. Jeder Gewinn muss gleich wieder ins Geschäft gesteckt werden. Und irgendwann muss ich einen geeigneten Laden finden und mieten.“

„Ich weiß. Und im Moment helfe ich dir gern, so viel ich kann, aber für die Zukunft habe ich … andere Pläne.“

Daisy sah sie prüfend an. „Du denkst immer noch an dieses kleine Landhaus?“

Damaris nickte. Es war ihr Traum, in einem Häuschen auf dem Land zu leben, mit Hühnern und einem Gemüsegarten, irgendwo, wo es ruhig und friedlich war. Und sicher. Vor allem sicher.

Daisy rümpfte die Nase. „Für mich klingt das grauenhaft. Ich hasse das Land, da ist alles so leer, abgesehen von Matsch und Kühen und Bäumen. Was würdest du denn den ganzen lieben langen Tag machen?“

Damaris lächelte. „Ich wäre schwer damit beschäftigt, Gemüse zu züchten und Hühner zu halten. Vielleicht sogar Bienen.“

„Nichts als Hühner und Bienen als Gesellschaft? Wärst du nicht einsam?“

„In dem Fall würde ich mir einen Hund anschaffen. Oder eine Katze. Oder beides.“ Sie war den größten Teil ihres Lebens einsam gewesen. Sie war daran gewöhnt. Und Tiere bewerteten einen nicht; ihre Liebe war bedingungslos. Es wäre schön, Daisy und die anderen in der Nähe zu haben, aber in der Stadt zu leben war viel teurer, und man konnte dort nicht mal seine eigenen Nahrungsmittel ernten.

„Willst du keine Kinder, Damaris?“

Damaris schluckte. Natürlich wollte sie Kinder. „Ich habe mich in China um ein paar kleine Mädchen gekümmert.“

„Findelkinder?“ Daisy war selbst ein Findelkind.

Damaris nickte. Die, die keiner wollte. „Ich war für die Babys und Kleinkinder zuständig. Sie waren so süß …“ Ihr brach die Stimme, als sie sich daran erinnerte, wie sie sie zuletzt gesehen hatte. Wieder schluckte sie und fuhr dann in, wie sie hoffte, beiläufigerem Ton fort: „Aber Kinder machen viel Arbeit.“ Und sie zu lieben machte einen so verwundbar. Sie hatte in ihrem Leben schon genug getrauert …

„Du wolltest sie nicht zurücklassen, stimmt’s?“

Damaris schüttelte den Kopf. „Nein“, bekannte sie leise. „Aber ich hatte keine … keine andere Wahl.“ Sie stand auf und schaute nach dem Feuer, legte Kohle nach und schürte die Glut. Sie wollte nicht der Vergangenheit nachhängen. Es war zu schmerzhaft. Sie musste an die Zukunft denken.

Wenn sie ihr Landhaus haben wollte, musste sie Geld verdienen, um die Miete bezahlen zu können. Und je eher sie damit anfing, desto besser. Sobald sie zu diesem Schluss gelangt war, verkündete sie unvermittelt: „Tut mir leid, Daisy, aber ich muss dich allein lassen. Ich habe etwas zu erledigen.“

Daisy musterte sie nachdenklich und nickte dann. „Ab mit dir.“

„Es macht dir nichts aus?“ Damaris deutete auf ihre unfertige Näharbeit.

Daisy grinste. „Nee, nee, sieh mal zu, dass du Land gewinnst, und tu, was du tun musst. Ich habe meine Pläne, du hast deine.“ Sie fragte nicht, was Damaris vorhatte oder wohin sie ging. Daisy hatte in jungen Jahren gelernt, sich nicht in fremde Angelegenheiten einzumischen. „Aber sei rechtzeitig zum literarischen Salon zurück. Lady Bea kriegt einen Anfall, wenn du nicht da bist, um vorzulesen.“

„Ich werde da sein.“

3. KAPITEL

„Also bitte! Würde ich vielleicht von einer Angelegenheit, die ich mir fest vorgenommen habe und die ich für richtig halte, nur deshalb Abstand nehmen, weil eine derartige Person sich einmischt? Oder überhaupt irgendeine Person?“

Jane Austen, „Überredung“

Ein neuer Morgen dämmerte. Nebel waberte in gespenstischen Schwaden um die Laternenpfähle und ließ die scharfen Konturen der kahlen Winterbäume im Park weicher erscheinen. Die Hufe des Kleppers, der die Droschke zog, hallten auf dem Kopfsteinpflaster wider. In der Droschke lungerte Freddy auf der schmuddeligen Sitzbank, erschöpft und leicht melancholisch. Gerade hatte er sich endgültig und ziemlich schwungvoll von seiner Geliebten verabschiedet, aber diese Tatsache hatte kaum Anteil an seiner gedämpften Stimmung. Offen gestanden, hatten sie bereits angefangen, sich miteinander zu langweilen, und ihre Entscheidung, erneut zu heiraten, lag zeitlich äußerst günstig.

Wenn er ganz ehrlich war, musste er zugeben, dass er dieser ganzen Lebensweise allmählich überdrüssig wurde: sich vor Morgengrauen aus einem warmen, gemütlichen Bett zu stehlen, diskret durch die Hintertür zu verschwinden und den kalten, noch nachtdunklen Straßen zu trotzen.

Er gähnte. Wie gern würde er ausnahmsweise einmal eine Frau in sein eigenes Bett einladen. Und dann so lange mit ihr dort verweilen, wie sie beide wollten. Womöglich war es ja an der Zeit, sich eine offizielle Mätresse zuzulegen und ihr ein eigenes Haus zur Verfügung zu stellen, sodass er sich nicht mehr vor Sonnenaufgang davonschleichen müsste. Der Gedanke, dafür zu bezahlen, hatte ihm zwar nie behagt, aber … diese ständigen Aufbrüche in die lichtlose Kälte brachten ihn um. Oder vielleicht wurde er ja einfach alt. Bald würde er dreißig sein.

Schläfrig schaute er aus dem Fenster der Kutsche. London erwachte langsam zum Leben; Männer und Frauen transportierten ihr Hab und Gut in Leiterwagen – alles von Kohlköpfen bis hin zu allerlei Haushaltskram –, Straßenfeger gingen geschäftig ihrer Arbeit nach, Dienstmädchen wuselten hektisch am Wegesrand; manche eilten mit Körben Richtung Markt, andere hatten Kannen dabei, um frische Milch von der Kuhherde zu beziehen, die im Green Park gehalten wurde.

Freddy zog zitternd seinen Mantel enger um sich. Er beneidete die Menschen da draußen nicht. Nur noch ein paar Augenblicke trennten ihn von seinem Zuhause und seinem warmen, bequemen Bett. Unter halb geschlossenen Lidern hervor beobachtete er eine Frau, die vor ihm mit raschen Schritten den Fußweg entlanghastete. Sie hatte irgendetwas an sich … die Art, wie sie ging … Sie war in einen schlichten grauen Mantel gehüllt, aber er vermutete, dass sie schlank war und vielleicht jung. Wahrscheinlich hübsch. Sie bewegte sich in die entgegengesetzte Richtung, weg von Mayfair und auf ein sehr viel weniger angenehmes Viertel zu.

Seine Droschke fuhr just in dem Moment an ihr vorbei, als sie unter einer Laterne hindurchlief, und getrieben von müßiger Neugier drehte sich Freddy zu ihr um; er wollte feststellen, ob sie wirklich hübsch war.

„Verflucht noch mal!“, rief er und klopfte an das Dach der Kutsche. „Anhalten!“

„Ich dachte, Sie wollten nach Mayfair, Sir“, grummelte der Fahrer.

„Ich habe mich anders entschieden.“ Freddy warf dem Mann eine Münze zu, sprang aus dem Wagen und rannte dem Mädchen nach, das um eine Ecke gebogen und in einer Seitenstraße verschwunden war.

Als er besagte Ecke erreichte, erspähte er sie; einen schlanken grauen Schatten, der schwerelos, aber schnell und zielbewusst durch den Nebel glitt. Sie schien ganz genau zu wissen, wohin sie wollte.

Sie bog um eine weitere Ecke, seinem Blickfeld erneut entschwindend. Er hastete hinterher und fand sich in einer schmalen Straße wieder. Die Gaslaternen reichten nicht bis hierher. Im schwachen Licht der ersten Morgendämmerung erkannte er ein paar baufällige Häuser mit zugenagelten Fenstern, zwei oder drei Warenlager, etliche schmale Höfe, die von hohen, mit Glasscherben gespickten Mauern umgeben waren und den ein oder anderen Fabrikschornstein. Was zum Teufel hatte sie in einem dermaßen heruntergekommenen Stadtteil verloren?

Von brennender Neugier getrieben, folgte er ihr zunächst unauffällig, aber als sie Anstalten machte, eine dunkle, enge Gasse zu betreten, konnte er sich nicht länger zurückhalten. Machte sie sich gar nicht klar, welche Gefahren einer unbegleiteten Frau in dieser Gegend drohen konnten?

Er holte sie ein, packte sie am Arm, wirbelte sie herum – und duckte sich hastig, als sie ausholte, mit einem … großer Gott! … mit einem Totschläger? Er fing ihren Unterarm mit einer Hand ab und drückte ihn nach unten. Der Totschläger, ein kleiner, mit Kieselsteinen oder Ähnlichem gefüllter Ledersack mit Halteschlaufe, hing schlaff an ihren Fingern.

„Wa… Mr. Monkton-Coombes?“ Damaris Chance starrte ihn mit verblüfft aufgerissenen Augen an, warf dann einen Blick hinter ihn, um zu sehen, ob er allein war, und schaute ihm dann wieder ins Gesicht.

Einen Moment lang standen sie einander stumm gegenüber und atmeten kleine weiße Wölkchen in die kalte, stille Luft. Ihre Haut war milchweiß und schimmerte feucht im Nebel, ihre Augen wirkten im Zwielicht riesig und dunkel. Beinahe schwarz; dabei wusste Freddy doch, dass sie von einem sanften Braun waren, samtig wie die Blütenblätter von Stiefmütterchen. Außer in der Sonne, dann funkelten sie wie zwei Topase.

Unter dem tristen grauen Mantel trug sie ein noch tristeres graues Kleid, wie eine schäbige, heruntergekommene Gouvernante. Was ihn aus irgendeinem merkwürdigen Grund ärgerte, ja geradezu beleidigte. Sie kleidete sich immer elegant und stilvoll. Wie es ihrer Schönheit geziemte.

Und sie hatte einen Totschläger dabei, die Waffe der Hafenspelunken und Ganovenschenken. Das machte ihn noch wütender.

Er schüttelte ihren Arm. „Was zum Teufel machen Sie um diese Zeit und ganz allein in dieser gottverlassenen Gegend?“

„Was machen Sie denn hier?“ Sie sprach kühl, leise und beherrscht, ihre Stimme wirkte wie rauchiger Honig in dieser eisigen, trostlosen Umgebung. Sie versuchte, ihm ihren Arm zu entziehen.

Freddy verstärkte seinen Griff. „Ich habe zuerst gefragt. Und warum zur Höl… um alles in der Welt schleppen sie einen Totschläger mit sich herum?“ Er war alles andere als beherrscht.

Das hier – genau das! – war der Grund, warum er Max’ Bitte hätte abschlagen sollen. Dieses Gefühl, das ihn erfasste, wann immer sie ihn auf diese Weise ansah, mit unergründlichen dunklen Augen, über denen sich seidig schwarze Brauen wölbten. Er hatte keinen blassen Schimmer, was sie verdammt noch mal dachte. Ein Mann konnte in diesem bodenlosen Blick ertrinken. Und die Art, wie sie diese vollen, wildrosigen Lippen schürzte … verwandelte sein Gehirn in Brei.

„Natürlich, um mich gegen unwillkommene Annäherungen zu verteidigen.“ Sie schaute vielsagend auf seine Hand, mit der er noch immer ihren Arm festhielt. „Lassen Sie mich bitte los.“

Er ignorierte ihre Aufforderung. „Wenn Sie dort wären, wo Sie hingehören, dann würde keinerlei Notwendigkeit bestehen, sich zu verteidigen. Was machen Sie hier draußen?“

„Spazierengehen.“

„Versuchen Sie nicht, mir irgendwelchen Unsinn unterzujubeln. Was machen Sie hier?“

Der Blick, den sie ihm zuwarf, hätte als Entschuldigung durchgehen können, wenn sie nicht kühl geantwortet hätte: „Das ist meine Angelegenheit.“

„Es ist auch meine Angelegenheit.“

Sie hob die Brauen auf eine Weise, die ihn zweifellos verunsichern sollte. Vermutlich bemühte sie sich, gouvernantenhaft zu wirken, in ihrer trostlosen grauen Kluft.

Freddy hatte, soweit er wusste, niemals eine Gouvernante gehabt, und er fühlte sich nicht im Geringsten verunsichert. Der Kontrast zwischen ihrer feinen, mondbleichen Schönheit und der langweiligen, zugeknöpften Kleidung, die ihre schlanke Gestalt in Eintönigkeit wickelte, ließ sie … verführerisch erscheinen. Unvermittelt schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass es recht vergnüglich sein könnte, eine Gouvernante zu haben.

Wobei er sich natürlich nicht gestatten würde, verführt zu werden. Oder abgelenkt. Sie war tabu für ihn; eine Verpflichtung, mehr nicht. „Max hat mir das Versprechen abgenommen, während seiner Abwesenheit auf euch Mädchen aufzupassen. Eine verflixt lästige Aufgabe, wie sich nun herausstellt.“

Autor

Anne Gracie

Schon als junges Mädchen begeisterte sich Anne Gracie für die Romane von Georgette Heyer – für sie die perfekte Mischung aus Geschichte, Romantik und Humor. Geschichte generell, aber auch die Geschichte ihrer eigenen Familie ist Inspirationsquelle für Anne, deren erster Roman für den RITA Award in der Kategorie beste...

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