Sei tapfer, Eleanor

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Für Jack MacAllister ist der Autounfall, an dem er keine Schuld trägt, das schlimmste Erlebnis seines Lebens. Zumal dabei in dem anderen Wagen die bezaubernd schöne Eleanor ihr Augenlicht verliert. Fortan wird er alles für sie tun – nur nicht die ganze Wahrheit sagen …


  • Erscheinungstag 14.12.2014
  • ISBN / Artikelnummer 9783733787158
  • Seitenanzahl 128
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Jackson MacAllister stöhnte, jede Stelle seines Körpers schmerzte, am schlimmsten aber die über seinem linken Auge. Benommen starrte er auf … auf was?

Er brauchte einen Moment, bis ihm klar wurde, dass sein Gesicht in etwas Helles, Weiches gepresst war. In einen Ballon?

Nein.

In einen Airbag.

Plötzlich stürmte die Erinnerung auf ihn ein. Es war ein kalter Tag gewesen, und der eisige Wind hatte die Temperaturen rasch unter den Gefrierpunkt fallen lassen. Jack, der mit einem Filmteam in der Nähe von Estes Park, Colorado, arbeitete, hatte es kaum erwarten können, nach Kalifornien zu kommen, und war sofort nach Drehende losgefahren.

Er war gut vorangekommen. Um zwanzig Uhr abends war kaum Verkehr auf der Straße gewesen, die aus dem Canyon he­rausführte. Und Jack hatte leise zu der Musik aus dem Radio seines brandneuen Pick-ups gepfiffen und den heißen Kaffee genossen, den er sich an einer Tankstelle geholt hatte. Aber dann hatte er eine Anhöhe erreicht und war in eine unübersehbare Kurve hi­neingefahren.

Sobald er die Szene weiter unten auf der Straße erblickte, war seine gute Laune verschwunden. Im Scheinwerferlicht sah er, dass drei Wagen ineinandergefahren waren. Jack reagierte sofort. Durch seine jahrelange Arbeit als Stuntman war er es gewohnt, schnell zu reagieren. Er nahm den Gang raus, bremste in Intervallen und hatte gerade das Gefühl, die Situation in den Griff zu bekommen, als er auf Eis kam und …

Jack zuckte zusammen, als er an das Krachen des Metalls und an das explosive Geräusch dachte, das sein Airbag machte, als er sich beim Aufprall aufblies. Und dann hörte er einen Schrei.

Auf einmal war die Benommenheit verschwunden, und Jack setzte sich in Bewegung. Er ignorierte die Schmerzen seines Körpers und versuchte, die Tür zu öffnen. Ohne Erfolg, der Aufprall hatte die Tür offensichtlich verkeilt. Auch das Fenster ließ sich nicht herunterdrehen.

Er griff unter den Hintersitz seines Pick-ups und zog den Werkzeugkasten hervor. Dann öffnete er ihn und holte einen Schraubenzieher heraus. Geschickt setzte er die Metallspitze an, drückte kräftig, und das Glas zersprang in tausend Splitter. Schließlich steckte er sich den Schraubenzieher ein, griff nach dem Verbandskasten und stieg vorsichtig durch das Fenster aus. Besorgt betrachtete er die Szene, die vor ihm lag.

Ein Lieferwagen war zuerst auf dem Eis ins Schleudern geraten und hatte sich quer auf die Straße gestellt. Dann war ein Kombi in ihn hineingefahren und schließlich ein Kleinwagen.

Jack zuckte innerlich zusammen, als er sah, was für einen Schaden sein bedeutend größerer Pick-up bei dem kleineren Wagen angerichtet hatte. Diese Kleinwagen mochten ja wegen ihres geringen Benzinverbrauches günstiger im Unterhalt sein, aber sie besaßen keine Pufferzone, wenn es wirklich einmal zu einem Unfall kam. Wie man hier deutlich sehen konnte.

„Ist alles in Ordnung?“, rief Jack zwei Leuten zu, die jetzt langsam aus dem Kombi ausstiegen.

„Ich glaube schon“, rief ein älterer Mann zurück.

Jack schaute in die Richtung zurück, aus der er gekommen war, und ging am Straßenrand zu dem Paar hinüber. „Sehen Sie zu, dass Sie sich so weit wie möglich von der Straße fernhalten.“

„Was ist mit den anderen Fahrern?“

„Ich werde sehen, was ich tun kann. Könnten Sie ein Stückchen weiter die Straße hinaufgehen und auf heranfahrende Wagen achten? Das ist das Einzige, was Sie im Moment für mich tun können!“

„Ich werde sofort pfeifen, falls sich ein Wagen nähert“, erklärte der weißhaarige Herr, während er den Arm seiner Frau ergriff. „Komm, Martha. Wir werden auf diese Felsen klettern, dort kann uns nichts passieren, und wir können alles überblicken.“

Dann bemerkte Jack, dass sich etwas im Führerhaus des Lieferwagens bewegte.

„Geht es Ihnen gut?“, rief er dem Fahrer zu.

Der Mann hielt den Arm gegen seine Brust gepresst. Selbst im fahlen Licht der Scheinwerfer sah man, dass er unnatürlich blass war. Jack befürchtete, dass der Mann sich etwas gebrochen hatte.

„Ganz gut. Ich glaube, ich habe nur ein paar Schrammen abbekommen.“ Er rutschte vom Fahrersitz, sprang auf den Boden und schrie dabei vor Schmerz leise auf. In seiner gesunden Hand hielt er ein Warndreieck. „Ich werde die Straße sichern, und …“ Er zog vor Schmerz für einen Moment die Luft ein und fuhr dann fort: „Ich habe bereits die Polizei … und den Abschleppdienst … angerufen. Wir werden bald Hilfe bekommen. Sehen Sie mal in dem kleinen Wagen nach. Ich glaube, ich habe einen Schrei gehört.“

Jack lief zu dem Kleinwagen hinüber, dessen Länge sich auf gut ein Drittel reduziert hatte. Der Wind hatte sich gedreht, und Jack stellte erschrocken fest, dass der Geruch von Benzin in der Luft lag. Zu spät bemerkte er, dass sich unter dem zerquetschten Wagen bereits eine Benzinlache gebildet hatte.

Er wollte den Fahrer des Lieferwagens herbeirufen, aber der war bereits die Straße hinaufgelaufen, um das Warndreieck aufzustellen.

Es gab keine Zeit zu verlieren, Jack stieg über den Wagen hinweg zur Fahrerseite hinüber und schaute in das Innere. Die Fahrerin lag leblos auf dem Lenkrad, ihr langes Haar war wie ein dunkler Fächer über ihre Schultern ausgebreitet. Der Geruch nach Benzin wurde immer stärker. Er musste schnell handeln.

Zu seiner Erleichterung drehte die Frau leicht den Kopf und sah ihn mit weit aufgerissenen Augen benommen an.

„Ich muss Sie sofort hier rausholen. Stecken Sie irgendwo fest?“

Sie schüttelte den Kopf, zuckte dann zusammen und fasste sich an die Stirn. Sie blutete aus einer Wunde am Haaransatz.

Jack versuchte, die Tür aufzureißen, aber ohne Erfolg.

„Bedecken Sie Ihr Gesicht mit Ihren Armen“, rief er der Frau zu. „Ich werde das Fenster einschlagen.“

Sobald sie seiner Aufforderung gefolgt war, drehte Jack sein Gesicht zur Seite und brachte mit dem Schraubenzieher die Scheibe zum Bersten. Nachdem er das Glas entfernt hatte, griff er zu der Frau auf dem Fahrersitz hinüber.

„Schaffen Sie es, mit meiner Hilfe durch das Fenster zu kriechen? Es ist besser, wenn wir uns beeilen, der Wagen könnte explodieren.“

Panik fuhr über ihre zarten Gesichtszüge, und als sie ihn mit ihren tiefblauen Augen entsetzt anstarrte, bemerkte Jack, dass eine ihrer Pupillen erweitert war. Als Stuntman wusste er, dass das ein schlechtes Zeichen war. Sie hatte sich eine ernsthafte Kopfverletzung zugezogen.

„Ja“, flüsterte sie schließlich. „Ich habe nur eine Verletzung an der Stirn.“

„Gut, dann kommen Sie, aber ganz vorsichtig. Wir wissen nicht, ob Sie sich den Nacken verletzt haben.“

Sie ging auf die Knie und beugte ihren Oberkörper aus dem Fenster, Jack ergriff sie und zog sie vorsichtig aus dem Fenster. Sie taumelte, als er sie auf die Füße stellen wollte, und er hob sie rasch auf die Arme.

Ihr Körper war leicht und schmal. Sie hatte ihren Kopf an seine Schulter gelegt, und aus ihrem Gesicht war jede Farbe gewichen. Wahrscheinlich steht sie unter Schock, dachte Jack.

Vorsichtig ging er zum Gras hinüber und legte sie nieder. Dann zog er seine Jacke aus, rollte sie zusammen und legte sie ihr unter die Füße. Schließlich zog er seinen dicken Pullover aus und wickelte sie damit ein.

„Sie … Sie werden frieren“, flüsterte sie, während ihre Zähne vor Schock und Kälte aufeinanderschlugen.

Er zuckte die Schultern und tat so, als ob es für ihn normal wäre, bei Minusgraden im T-Shirt herumzulaufen.

„Mir geht es gut. Ich mache mir mehr Sorgen um Sie, Miss …“

Sie blinzelte ihn an. „Eleanor, Eleanor Rappaport.“

„Nun, Eleanor, wie geht es Ihrem Kopf?“

„Er schmerzt.“ Sie schloss für einen Moment die Augen und öffnete sie dann wieder. „Ich muss ihn mir angeschlagen habe, als ich aussteigen wollte.“ Sie runzelte die Stirn. „Aber das habe ich Ihnen bereits gesagt, nicht wahr?“

Jack bekam Schuldgefühle. Sie musste gerade ihren Sicherheitsgurt abgelegt haben, als er ihren Wagen gerammt hatte.

„Tut Ihnen sonst noch etwas weh?“

Sie schüttelte den Kopf. „Mir geht es … gut. Ich weiß nicht, warum … warum ich so zittrig bin und mir so schwindlig ist.“

Er zog sie sanft auf den Schoss und drückte ihr die Hand. „Machen Sie sich keine Sorgen. Sie frieren, und außerdem haben Sie sich eine ordentliche Beule über dem Auge zugezogen. Es ist ganz normal, dass Sie sich schlecht fühlen.“

Er ließ ihre Hand einen Moment los und öffnete den Verbandskasten. Er zog einen antiseptischen Wattebausch aus seiner Umhüllung und tupfte damit ihre Wunde ab. Zu seiner Erleichterung stellte er fest, dass sie nicht so groß war, dass sie genäht werden musste. Nachdem er ihr einen Verband gemacht hatte, legte er eine Hand auf die Stirn der Frau. Sie war feucht und kalt, sehr kalt.

Dann öffnete sie plötzlich die Augen. Sie blinzelte, schloss sie wieder und schaute ihn erneut an.

„Ich sehe alles so verschwommen“, klagte sie.

Jack spürte, wie sein Mund trocken wurde. „Können Sie mich nicht sehen?“

„Doch, aber nicht deutlich. Es verschwimmt alles vor meinen Augen.“

Da diese Tatsache ihr offensichtlich Angst einjagte, streichelte er ihr beruhigend über die Wange und ergriff dann erneut ihre Hand.

„Machen Sie sich keine Sorgen“, versuchte er sie zu trösten. „Sie haben wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung. Ein bisschen Ruhe, und alles wird wieder gut werden.“

„Sie haben …“, murmelte sie. Ihre Stimme wurde immer schwächer, „mir nicht … Ihren Namen gesagt.“

Er drückte ihr die Hand. „Jackson. Mac…“ Er hielt inne und hob den Kopf, als er die Sirene des heranfahrenden Krankenwagens hörte.

„Hören Sie?“, fragte er. „Es kommt bereits Hilfe. In kürzester Zeit werden Sie in einem Krankenhaus sein.“

Aber als er sie anschaute, merkte er, dass statt Erleichterung Panik auf ihrem Gesicht stand.

„Jackson? Jackson?“, rief sie mit weit aufgerissenen Augen.

„Psst“, tröstete er sie, obwohl er selbst all seine Willenskraft aufbringen musste, um ruhig zu bleiben.

„Ich bin ja hier, Eleanor“, sagte er und fürchtete, dass sie gleich in Ohnmacht fallen würde. Doch sie sah ihn immer noch mit weit geöffneten Augen an, und Tränen liefen ihr über das Gesicht.

„Jackson“, schluchzte sie erst leise und dann immer lauter. „Jackson, ich kann nicht mehr sehen.“

1. KAPITEL

Sechs Monate später

Jackson MacAllister setzte sich abrupt auf, sein eigener Schrei hallte in der Dunkelheit von den Wänden seines Hotelzimmers wider.

Schwer atmend fuhr er sich mit den Händen durchs Haar und versuchte sich zu beruhigen, um das schmerzhafte Pochen in seinem Kopf zu mildern.

Der Traum. Er war wiedergekommen – wie immer, wenn er erschöpft eingeschlafen war oder wie jetzt unter den Nachwirkungen einer Gehirnerschütterung litt.

Jack schwang die Beine über die Bettkante und schaltete die Nachttischlampe ein. Sein Körper schmerzte von den Prellungen, die er sich neben der Gehirnerschütterung am letzten Drehtag vor einer Woche geholt hatte, und sein Kopf schien vor Schmerz fast auseinanderzuplatzen.

Langsam ging er zum Badezimmer hinüber. Im harten Licht des Neonlichts nahm er sich zwei Aspirin aus der Schachtel, die auf der Ablage lag, und schluckte beide mit einem Glas Wasser hi­nunter.

Erst dann begann er sich langsam zu entspannen.

Er zwang sich, nicht an den Traum oder an die Frau zu denken, die ihm so wirklich erschienen war, und ging zum Fenster hinüber. Er zog die schweren Vorhänge zur Seite und schaute zum Lincoln Memorial hinüber, dessen Konturen in der langsam einsetzenden Dämmerung deutlich zu erkennen waren.

Es war jetzt eine Woche her, dass der Wagen, den er in einer Geschwindigkeitsszene für einen Thriller fuhr, sich ungewollt mehrere Male überschlagen hatte.

Jack verzog das Gesicht, als er daran dachte, wie begeistert der Regisseur wegen dieser Szene gewesen war, während er selbst um sein Leben gebangt hatte. „Wunderbar!“, hatte Jon Palermo immer wieder gerufen, als ob Jack es geplant hatte, sich neben einem zerschmetterten Wasserhydranten kopfüber in einem zerbeulten Wagen wiederzufinden, der auf dem Dach lag. Wenn Jack nicht sofort ins Krankenhaus gebracht worden wäre, hätte er den Regisseur am Kragen gepackt und ihm ordentlich seine Meinung gesagt.

Der Film war mit dieser Szene abgedreht gewesen, aber Jack war immer noch wütend auf ihn. Er war froh, dass er ihm nicht mehr unter die Augen gekommen war, sonst hätte er ihm wahrscheinlich ein paar Dinge gesagt, die für seine Arbeit als Stuntman nicht gut gewesen wären. Jon Palermo mochte ein Idiot sein, aber seine Filme waren spektakulär und stets Kassenknüller. Jack genoss die kreative Freiheit und das lukrative Gehalt, das man genoss, wenn man für Palermo arbeitete. Bis zum nächsten Film nahm er sich vor, Palermo einfach zu ignorieren. Irgendwann würde seine Wut schon wieder verrauchen.

Deswegen hatte Jack noch an diesem Nachmittag einen Flug nach Los Angeles gebucht. Wenn er erst einmal nach Kalifornien zurückgekehrt war, würde er diese furchtbare Woche hinter sich lassen können.

Dann wanderten seine Gedanken von Palermo wieder zu dem Albtraum zurück, von dem er soeben schweißgebadet aufgewacht war.

Eleanor Rappaport. Warum verfolgte ihn die Erinnerung an diese Frau immer noch?

Obwohl er sich selbst diese Frage stellte, wusste er bereits die Antwort darauf. In den Monaten seit dem Unfall hatte Jack mehr an Eleanor gedacht, als er bereit war, zuzugeben. Er konnte einfach nicht das Bild aus seinem Gedächtnis verbannen, wie sie so hilflos in seinem Schoß gelegen und seine Hand umklammert hatte. Und wie sie dann zu schreien begann, dass sie nichts mehr sehen könnte.

Noch heute griffen eiskalte Hände bei dieser Erinnerung an sein Herz. Er hatte sich oft gefragt, wie es ihr in den darauffolgenden Monaten wohl ergangen war. Und wenn sie blind geblieben war …?

Er schüttelte den Kopf, um diesen schrecklichen Gedanken zu vertreiben, und bereute es sofort, als ein stechender Schmerz seinen Kopf durchfuhr.

Mit der Zeit werde ich die Ereignisse dieser Nacht vergessen, sagte er sich. Schließlich war Eleanor Rappaport nur eine Fremde für ihn. Er hatte nur die wenigen Minuten, bis die Ambulanz kam, Kontakt mit ihr gehabt.

Aber du hast versucht, sie wiederzusehen, flüsterte ihm eine innere Stimme zu. Er hatte einen großen Strauß Blumen ins Krankenhaus gebracht, in das Eleanor gebracht worden war, nur um erfahren zu müssen, dass man sie in ein anderes Krankenhaus verlegt hatte.

Seufzend schaute Jack auf den Swimmingpool des Hotels hi­nunter. Vielleicht war der Stress seines Berufes dafür verantwortlich zu machen, dass in seinen Träumen dieser Unfallabend immer und immer wieder erschien.

Wenn er sich doch wenigstens versichern könnte, dass es ihr gut ging. Wenn er doch nur wüsste, dass sie ihr Augenlicht wiedergewonnen hätte. Wenn er sie doch nur ein Mal sehen könnte …

Nein. Er brauchte noch nicht einmal daran zu denken. Sie war nur eine Fremde für ihn. Die wenigen Minuten, die sie zusammen verbracht hatten, gaben ihm kein Recht, in ihr Leben einzudringen.

Aber sie brauchte es ja nicht zu wissen.

Noch im selben Moment, als dieser Gedanke durch seinen Kopf schoss, versuchte er, ihn zu verdrängen, doch er kehrte immer wieder zurück.

Wenn er doch nur ausfindig machen könnte, wo sie lebte. Ein Blick würde ihm ja schon genügen. Ein Blick, und er würde wissen, ob sie glücklich, gesund war und …

… und ob sie sehen konnte oder blind war.

Erneut versuchte er, sich den Gedanken aus dem Kopf zu schlagen. Es war verrückt, überhaupt an so etwas zu denken …

Aber er hätte die Zeit dafür.

Und er musste wissen, wie es ihr ging, um endlich seinen Seelenfrieden wiederfinden zu können.

Er erwischte sich dabei, wie er Pläne machte. Denver. Er könnte seinen Flug umbuchen und nach Denver fliegen, er könnte …

Nein!

Jacks gesunder Menschenverstand rebellierte. Eleanor Rappaport war eine Fremde. Was für einen Unterschied würde es machen, wenn er sie gesehen hätte?

Doch ein anderer Teil von ihm, der, der intuitiv reagierte, wurde immer ungeduldiger. Er musste sie einfach wiedersehen, musste sich vergewissern, wie es ihr ging.

Wie benommen lief er zum Wandschrank hinüber, warf seine Sachen aufs Bett und begann, seinen Koffer zu packen. Schließlich ging er noch zur Kommode hinüber, holte seine T-Shirts und Unterwäsche heraus und knallte die Schubladen lautstark wieder zu.

„Hey, wo willst du hin?“

Die Tür zum Nebenraum öffnete sich, und ein älterer Mann schaute Jack fragend an.

Jack verzog das Gesicht. Er hatte nicht daran gedacht, dass er mit seinem Lärm Ira Sullivan, seinen Kollegen und Mentor, bei seinen Freunden als Einauge bekannt, wecken könnte. Ira hatte vor Jahren bei einem Stunt ein Auge verloren und trug jetzt eine Augenklappe.

„Nach Denver.“

„Denver?“, wiederholte der Mann ungläubig. „Warum, zum Teufel? Ich dachte, wir fliegen um sechzehn Uhr nach L.A.“

„Ich muss dort jemanden sehen.“

„Wen?“

„Eleanor Rappaport.“

Einauge stand vor Erstaunen der Mund offen. Er hatte von dem Unfall gehört und war sichtlich überrascht, dass Jack Eleanor wiedersehen wollte. Er wollte etwas sagen, schloss aber dann den Mund wieder.

„Ich werde jetzt packen gehen. Du kannst mit dieser Gehirnerschütterung noch nicht allein durch Amerika reisen. Ich werde wohl mit dir nach Denver kommen müssen.“

„Wir sind da, Miss Rappaport.“ Die tiefe, freundliche Stimme des Busfahrers wurde begleitet von dem Quietschen der Bremsen und dem Geruch von Diesel. „Passen Sie gut auf, wenn Sie nach Hause gehen. Hören Sie? Der Regen hat die Straße schlüpfrig gemacht.“

„Danke, Burt.“

Eleanor erhob sich schwerfällig und strich die Jacke über ihrem runden Bauch glatt.

Noch zwei Monate. In zwei Monaten würde ihr Baby geboren und sie sich wieder schneller von dem Bussitz erheben können.

Nachdem Eleanor ihre Balance gefunden hatte, ging sie vorsichtig, eine Hand immer an der Haltestange an der Decke, zum hinteren Ausgang hinüber. Dann hielt sie sich an dem Sicherheitsgriff am Ausgang fest, holte mit der freien Hand den zusammenlegbaren Blindenstock hervor und klappte ihn auseinander. Schließlich schlug sie ihren Mantelkragen hoch und wartete ungeduldig, bis der Bus endlich die Haltestelle erreicht hatte. Nicht dass sie zu Hause irgendetwas Wichtiges erwartete. Sie hasste nur Verschwendung – verschwendete Zeit, verschwendete Energie, verschwendete Gefühle.

Vergebens versuchte sie, die Unruhe und die Frustration abzuschütteln, die sie immer bei schlechtem Wetter überfiel. Der Geruch von nasser Erde und feuchter Kleidung lag in der Luft. Das Prasseln des Regens gegen die Glasscheiben und das Trommeln auf den Asphalt übertönten die Geräusche, an die sie sich auf der Fahrt nach Hause so gewöhnt hatte – das leichte Schnarchen von Ed Mecham, der immer im Bus einnickte, da er bis zur Endstation fahren musste, das Rascheln der Zeitungen, das Geplauder von Selinas Schwester. Es waren beruhigende, vertraute Geräusche, die ihr ein Gefühl der Geborgenheit gaben.

Das Öffnen der Bustür riss sie aus ihrer Grübelei, und sie setzte vorsichtig die Füße von einer Stufe auf die nächste. Als sie den Boden erreicht hatte, trat sie über den Randstein auf den Bürgersteig und benutzte die Fahrradklingel am Griff ihres Stockes, um Burt Mescalero das Zeichen zur Weiterfahrt zu geben.

Hinter ihr heulte der Motor auf, Wasser einer Pfütze spritzte gegen ihre Waden, und dann war sie allein.

Eleanor bog den Kopf weit zurück, um etwas von der Spannung zu nehmen, die sich in ihren Schultern befand. Sie hatte eine Stunde lang in dem engen Kinokiosk im Flick Theatre verbringen müssen, das sich in der Nähe des Larimer Square befand und vor allem klassische Filme im Originalbreitwandformat spielte.

„Diese dummen Bonbons“, sagte sie sich und dachte daran, wie ihr ein ganzer Karton Bonbontüten heruntergefallen war und sie fast eine halbe Stunde auf ihren Knie zubringen musste, bis sie alle eingesammelt hatte. Wenn ihr dieses Missgeschick nicht passiert wäre, hätte sie bereits mit einem früheren Bus nach Hause fahren können. Aber … c’est la vie, wie ihre Mutter sagen würde. Alles geschah aus einem Grund.

Absolut alles.

Ein kalter Wind strich um ihre Knöchel, und sie zog den Mantelkragen noch enger um den Hals. Es war kalt an diesem Abend. Zu kalt für Anfang Mai, dachte sie, während sie drei Schritte in die Mitte des Gehweges machte, sich dann nach rechts drehte und zu zählen begann …

Eins, zwei, drei, vier …

Dabei schlug sie mit dem Stock auf den Boden, um Hindernisse aufzuspüren, die ihre Augen nicht sehen konnten. Zumindest nicht klar. Manchmal sah sie verschwommene Grauabstufungen oder nahm Lichtflecken war. Aber meistens lebte sie in der Dunkelheit. In einer Dunkelheit, in der sie mindestens so lange gefangen sein würde, bis ihr Baby geboren wäre. Und dann …

Sie versuchte, diesen Gedanken rasch wieder zu verdrängen. Sie wollte jetzt nicht über die Netzhauttransplantation nachdenken, die ihr Augenarzt vorgeschlagen hatte, wollte nicht darüber nachdenken, ob diese Operation ihr die frühere Sehstärke zurückgeben oder sie in einem Reich der Schatten weiterleben ließe.

Sechzehn, siebzehn, achtzehn …

Jeder, der sie kannte, meinte, dass Eleanor großartig mit ihrer Blindheit zurechtkam – ihr Arzt, ihre Mutter, ihre Kollegen. Aber Eleanor war sich nicht so sicher. Oh, sie konnte allein zu ihrer Arbeitsstelle fahren, erledigte ihre Aufgaben in ihrem Job und lebte allein. Aber manchmal, so wie an Abenden wie diesen, wenn sie frustriert und müde war, fragte sie sich, ob sie ihr Schicksal jemals annehmen könnte. Vielleicht wäre es einfacher für sie gewesen, wenn sie nicht gerade Malerin und das Sehen nicht die Grundlage ihres Berufes gewesen wäre, den sie über alles geliebt hatte. Vielleicht hätte sie dann ohne diese Bitterkeit, die sie jetzt empfand, ihr Los annehmen und mit Würde leiden können, wie ihre Schwester Blythe es ausgedrückt hatte.

Es war so unendlich schwer zu begreifen, dass ihr bisheriges Leben, ihre ganze Identität, in dem Moment zerstört worden war, als ihr Kopf an jenem Unfallabend gegen die Windschutzscheibe geflogen war. Sie war so verdammt wütend auf das Schicksal, das so unbarmherzig und sinnlos zugeschlagen hatte.

Verflixt noch mal, sie war eine gute Malerin gewesen.

Eine sehr gute sogar.

Und wenn sie ihre Sehstärke nur partiell zurückerhalten würde, könnte sie nie mehr jenen Grad der Vollendung erreichen, den sie einst besessen hatte.

Sechsundzwanzig, siebenundzwanzig, achtundzwanzig …

Eleanor Rappaports Absätze klickten laut auf dem Asphalt, und für einen Moment glaubte sie, noch andere Schritte außer ihren eigenen zu hören. Unwillkürlich ging sie etwas schneller. Es ärgerte sie, dass manche Leute annahmen, Blindheit wäre mit Inkompetenz gleichzusetzen. Sie wollte nicht, dass man ihr half, die Straße zu überqueren, sie wollte nicht, dass man sie wie ein verirrtes Kind nach Hause führte. Sie war dazu sehr gut allein in der Lage.

Wieder hörte sie Schritte hinter sich und blieb abrupt stehen. Doch plötzlich war alles still, ihr Verfolger musste ebenfalls innegehalten haben.

Sie konnte die ohnmächtige Wut, die sich bereits den ganzen Tag in ihr aufgestaut hatte, fast nicht mehr kontrollieren. Sie hasste es, wenn sich jemand über sie lustig machte, fast so sehr, wie sie es hasste, hilflos zu erscheinen.

„Wer ist dort?“, schrie sie und drehte sich um.

Keine Antwort. Man hörte nur den Regen, der eintönig auf den Asphalt niederprasselte.

Zitternd wandte sie sich wieder ab, überquerte die ruhige Straße und ging so schnell sie konnte weiter. Sie hatte keine Geduld für solche Spielchen. Sie wollte nach Hause ins Trockene.

Aber nach ein paar Schritten wurde ihr bewusst, dass sie vergessen hatte zu zählen.

Oh nein, auch das noch!

Sie blieb stehen und benutzte mehrere Male die Klingel an ihrem Stock. „Minnie! Maude!“

Als sie auf eine Antwort von ihren Vermieterinnen wartete, die beide schon älter, unverheiratet und fanatische Spielshow-Anhängerinnen waren, stiegen Tränen in ihr auf, die sie rasch hinunterschluckte. Für einen Moment schienen ihre Wut und Frustration überhandzunehmen. Es war die gleiche Frustration, die sie immer wieder seit jenem Unfallabend, an dem sie ihr Augenlicht verlor, überfiel. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie von einem Mann aus dem Autowrack herausgezogen worden war. Er hatte sich um sie gekümmert, bis die Ambulanz eingetroffen war. Sie konnte sich noch an sein dunkles Haar und seine noch dunkleren Augen erinnern und an die roten Reflexe der Warnleuchten auf seinem Gesicht. Dann waren die Farben verschwunden, und sie hatte die Hand des Fremden umklammert, als sie in diese schreckliche Dunkelheit getaucht war.

Hör endlich damit auf, befahl sie sich. Sie wollte sich nicht an diesen Abend erinnern. Nicht heute.

„Minnie!“, schrie sie noch lauter und klingelte erneut.

„Hier, Liebes.“ Die freundliche Stimme einer älteren Frau gab Eleanor die Orientierung, die sie benötigte.

Minnie.

Eleanors Großmutter hatte bis zu ihrem Tod in dieser Nachbarschaft gelebt, und Minnie und Maude Vanderbilt waren ihre besten Freundinnen gewesen. Sie waren sogar die Patentanten von Eleanors Mutter, und Eleanor kannte die beiden älteren Frauen bereits seit ihrer Kindheit. Minnie war klein und rundlich mit blond gefärbten Locken, während ihre Schwester Maude groß und überschlank war und ihr spärliches graues Haar unter Perücken versteckte, die sie in zahlreichen Haarfarben besaß.

„Du meine Güte, Kind, du bist ja bis auf die Haut durchnässt. Maude ist im Moment nicht zu Hause, aber ich werde dir rasch eine Tasse Tee machen. Meine Lieblingsshow Jeopardy fängt gleich an. Du kannst sie mit mir anschauen, wenn du dich umgezogen hast.“

Eleanor ging auf die Stimme zu, aber erst als sie gegen den Holzzaun stieß, löste sich etwas von ihrer Anspannung.

Hatte sie wirklich jemand verfolgt? Sie hatte das Gefühl, beobachtet zu werden, aber konnte es nicht sein, dass ihr nur die Einbildung einen Streich spielte? Sie lauschte, aber es war nichts zu hören außer dem fallenden Regen.

Sobald sie die erste Stufe erreicht hatte, die zur Haustür führte, hob sie den Kopf.

„Minnie? Siehst du jemanden auf der Straße?“

Falls Minnie ihre Frage seltsam fand, so zeigte sie es nicht. „Nein, Liebes. Da ist niemand. Komm rein.“

Trotzdem, Eleanors Intuition sagte ihr, dass da jemand gewesen sein musste.

Autor

Lisa Bingham
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