Traue niemals einem Milliardär

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Lydia ist verzweifelt. Um ihre Familie vor dem Ruin zu retten, soll sie einen Wildfremden heiraten. In Rom trifft sie Milliardär Raul Di Savo - den Erzfeind ihres zukünftigen Mannes. Mit ihm verbringt sie unvergesslich sinnliche Stunden. Und die bleiben nicht ohne Folgen …


  • Erscheinungstag 08.11.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733738679
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Raul Di Savo stand am Grab seiner Mutter und nahm die Beileidsbekundungen der Trauergäste entgegen. Als sein Blick auf einen jungen Mann im Hintergrund fiel, stockte ihm der Atem.

Wie konnte er es wagen zu kommen?!

Die Glocken in der kleinen sizilianischen Kirche waren längst verstummt, aber sie schienen immer noch in Rauls Ohren zu dröhnen.

„Sentite condoglianze.“

Raul zwang sich, die Aufmerksamkeit von dem jungen Mann am Rand des Friedhofs auf den älteren Herrn vor sich zu richten. „Grazie“, bedankte er sich steif.

In Anbetracht der Umstände von Marias Tod, aber auch aus Furcht vor dem Zorn von Rauls Vater, waren viele Leute weggeblieben. Doch Gino war gar nicht zur Beerdigung seiner Frau erschienen.

„Sie war eine Hure, als ich sie geheiratet habe, und als Hure geht sie auch ins Grab!“ Nie würde Raul die schrecklichen Worte seines Vaters vergessen!

Als Raul von Rom an die sizilianische Westküste nach Casta gefahren war, hatte er nur gewusst, dass Maria einen Autounfall gehabt hatte. Erst bei seiner Ankunft hatte er von ihrem Tod erfahren.

Er war zu spät gekommen.

Inzwischen hatte Raul herausgefunden, welche Ereignisse dem Tod seiner Mutter vorausgegangen waren. Er hatte schmerzliche Dinge erfahren. Schockierende Dinge …

Trotzdem erfüllte Raul nun seine familiären Pflichten und stand neben ihrem Grab, während die wenigen Trauergäste langsam an ihm vorbeidefilierten.

Alle drückten ihm ihr Beileid aus, doch darüber hinaus fielen nur wenige Worte. Die Ereignisse der letzten Tage und die wilden Beschuldigungen, die gefallen waren, ließen auch die schlichtesten Sätze falsch und unaufrichtig klingen.

„Sie war eine gute Frau …“, rang ein lebenslanger Freund der Familie um die passenden Worte. „Sie war …“ Wieder stockte er, bevor er hastig hinzufügte: „Maria wird uns fehlen.“

„Das wird sie“, antwortete Raul pflichtbewusst. Der Geruch frischer Erde stieg ihm in die Nase und brannte in seinem Hals. Er würde hier keinen Trost finden.

Niemals.

Er hatte zu lange gewartet, um sie zu retten. Und jetzt war sie tot.

Als fleißiger Schüler hatte er bei seinen Examen so gut abgeschnitten, dass er dank eines Stipendiums endlich das Tal von Casta hatte verlassen können. Das Tal der Hölle – wie Raul und sein bester Freund Bastiano es immer genannt hatten. Damals hatte Raul sich fest vorgenommen, seine Mutter aus den Klauen seines Vaters zu befreien.

Maria Di Savo.

Zügellos hatten manche sie genannt. Zerbrechlich traf es seiner Meinung nach besser.

Bis zur Begegnung mit Rauls Vater war sie tief religiös gewesen und hatte sogar vorgehabt, Nonne zu werden. Am liebsten wäre sie in das nahe gelegene alte Kloster eingetreten, einen mächtigen Steinbau mit Blick über das Meer. Sie hatte geweint, als das Kloster später geschlossen wurde. Für Maria hatte es sich angefühlt, als hätte ihr Nichteintreten in den Orden irgendwie zum Niedergang des Klosters beigetragen …

Seitdem stand das Klostergebäude leer und verlassen. Und es hatte keinen Tag gegeben, an dem Rauls Mutter nicht bereut hätte, nicht dem Ruf ihres Herzens gefolgt und Nonne geworden zu sein.

Hätte sie das doch nur getan!

Aufgewühlt stand Raul am Grab seiner Mutter und stellte seine eigene Daseinsberechtigung infrage. Nur Marias Schwangerschaft mit ihm hatte sie zu ihrer unglücklichen Ehe gezwungen.

Raul hatte das Tal immer schon gehasst, doch noch nie so heftig wie jetzt. Er schwor sich, nach dem heutigen Tag nie wieder zurückzukehren. Sollte sein versoffener Vater ohne Marias Pflege ruhig zugrunde gehen!

Eine Rechnung hatte Raul jedoch noch offen. Mit dem Mann, der Marias tragisches Ende erst herbeigeführt hatte. Als Raul vorhin eine Handvoll Erde in das offene Grab seiner Mutter geworfen hatte, hatte er sich geschworen, alles zu tun, um diesen Mann zu vernichten!

„Ich werde sie vermissen.“

Raul hob den Blick zu Loretta, einer langjährigen Freundin seiner Mutter, die in der Bar seines Vaters arbeitete.

„Mach bitte keinen Ärger, Raul.“

Er wusste sofort, was sie meinte – die Anwesenheit des jungen Mannes am Rand des Friedhofs.

Bastiano Conti.

Der Siebzehnjährige war ein ganzes Jahr jünger als Raul und stammte aus einer Familie, mit der Rauls Familie verfeindet war. Während Bastianos Onkel fast alle Häuser und Weinberge im Westen des Tals gehörten, beherrschte Rauls Vater den Osten. Die Rivalität bestand schon seit Generationen, doch die beiden Jungs hatten die unheilvolle Tradition durchbrochen und waren Freunde geworden.

Sie waren gemeinsam zur Schule gegangen und hatten während der langen Sommerferien viel Zeit miteinander verbracht. Bevor Raul das Tal verlassen hatte, hatten er und Bastiano sich hingesetzt und Wein aus den sich gegenüberliegenden Weinbergen ihrer beider Familien getrunken. Und sie waren sich sofort einig gewesen, dass beide Weine schrecklich schmeckten!

Äußerlich sahen sie einander sehr ähnlich – beide waren groß gewachsen und dunkelhaarig –, doch in ihrer Wesensart waren sie grundverschieden.

Bastiano, ein Waisenkind, war bei seiner weit verzweigten Familie aufgewachsen und verließ sich vor allem auf seinen Charme, wenn er etwas erreichen wollte. Der ernste und misstrauische Raul hingegen hatte früh gelernt, sich anzupassen. Er sagte, was man von ihm erwartete, weil er damit am besten fuhr.

Die Frauen liefen ihnen beiden hinterher, doch auch in dieser Hinsicht hatten sie sich nie als Konkurrenten empfunden. Es hatte im Tal genug Auswahl gegeben.

Doch dann hatte Bastiano seinen Charme bei der Schwächsten eingesetzt – und sich mit Maria eingelassen.

Im Lauf der Zeit hatten immer mehr Menschen im Tal von ihrem gefährlichen Verhältnis erfahren. Allen war klar, dass Gino nie erfahren durfte, dass Marias Liebhaber ausgerechnet der verfeindeten Familie angehörte!

Als Gino schließlich doch alles erfuhr, hatte Loretta ihre Freundin sofort angerufen und davor gewarnt, dass ihr Ehemann sich gerade wutentbrannt auf den Heimweg gemacht hatte. Maria war daraufhin panisch in einen Wagen gestiegen, mit dem sie nicht zurechtkam, und losgefahren.

Raul war fest davon überzeugt, dass ihr tödlicher Unfall ohne Bastiano nie passiert wäre.

„Raul …“, sagte Loretta, die seine innere Anspannung spürte, und hielt ihn an einer Hand fest. „Du bist Sizilianer. Du hast noch dein ganzes Leben Zeit, dich zu rächen. Aber heute ist nicht der richtige Tag.“

„Nein“, stimmte Raul zu.

Oder widersprach er ihr?

Raul wusste selbst nicht, was in ihm vorging. Seine Stimme war rau vor Trauer, und das Blut rauschte ihm in den Ohren, so vollgepumpt mit Adrenalin war er. Er wusste nur eins: dass er Bastiano von ganzem Herzen hasste.

Er schüttelte Lorettas Hand ab, ging an ihr vorbei und stieß jemand anderen zur Seite, der versuchte, sich ihm in den Weg zu stellen.

„Raul!“, warnte ihn der Priester. „Nicht hier. Nicht jetzt!“

„Dann hätte er sich von hier fernhalten sollen!“, zischte Raul, während er quer über den Friedhof auf jenen Mann zusteuerte, der seine Mutter ins Grab gebracht hatte.

Raul beschleunigte seine Schritte, außer sich vor Hass und Wut.

Jeder normale Mensch in Bastianos Situation hätte sich jetzt sofort umgedreht und wäre davongelaufen, doch stattdessen kam Bastiano Raul entgegen. „Deine Mutter wollte …“

Raul ließ ihn nicht ausreden. Bastiano hatte Marias Ruf schon genug beschmutzt! Er schlug mit voller Wucht zu.

Trauer, Wut und Scham waren eine tödliche Mischung.

Er wollte Bastiano am liebsten umbringen, das war das Einzige, was er noch empfand.

Doch Bastiano setzte sich energisch zur Wehr.

Raul hörte einige Trauergäste erschrocken aufschreien. In der Ferne war eine Polizeisirene zu hören, als Bastiano ihn mit voller Wucht gegen einen Grabstein schleuderte. Eine scharfe Granitkante bohrte sich in Rauls Schulter und riss seinen Rücken auf.

Doch sein Rücken war ohnehin schon von den Schlägen seines Vaters vernarbt, und Adrenalin war ein sehr effektives Betäubungsmittel. Er stand einfach wieder auf, ignorierte die blutende Wunde, und stürzte sich erneut auf seinen Rivalen.

Doch Bastiano gab immer noch nicht nach.

Immer wieder schlug Raul auf Bastiano ein, heftige Faustschläge, mitten ins Gesicht. Erst als Bastiano wehrlos am Boden lag, rief er ihm zu, dass er sich von seiner Mutter hätte fernhalten sollen.

„So wie du?“

Diese Worte trafen Raul schmerzhafter als jeder Schlag.

Denn im tiefsten Innern wusste er, dass Bastiano recht hatte – er hatte Maria im Stich gelassen.

1. KAPITEL

Rom …

Die Stadt der Liebe.

Lydia Hayward lag in ein Handtuch gewickelt auf dem Bett ihrer Hotelsuite und dachte über die Ironie des Schicksals nach. Ja, sie war in Rom und traf sich heute Abend mit einem sehr begehrenswerten Mann, aber Liebe war dabei ganz bestimmt nicht im Spiel.

Es ging eher ums Geschäft.

Woraus natürlich niemand einen Hehl gemacht hatte.

Ihre Mutter hatte sich neulich auf Lydias Bettkante gesetzt und ihr erklärt, dass sie ohne das gewaltige Vermögen dieses Mannes alles verlieren würden. Womit sie das Schloss meinte, in dem sie lebten und das ihren Lebensunterhalt gewährleistete. Valerie hatte dabei natürlich mit keinem Wort gesagt, dass Lydia mit dem Mann würde schlafen müssen, mit dem sie und ihr Stiefvater heute verabredet waren.

Was Valerie jedoch gefragt hatte, war, ob Lydia die Pille nahm. „Du willst doch nicht etwa deinen Urlaub ruinieren?“, hatte sie ihre Frage begründet.

Doch seit wann interessierte ihre Mutter sich für solche Dinge? Lydia war früher schon einmal in Italien gewesen, als Siebzehnjährige auf Klassenreise. Damals hatte ihre Mutter ihr keine solche Frage gestellt.

Außerdem – warum sollte Lydia die Pille nehmen? Schließlich hatte man ihr immer nahegelegt, sich aufzusparen.

Und genau das hatte sie getan.

Allerdings nicht, weil ihre Mutter ihr dazu geraten hatte, sondern weil es ihr schwerfiel, ihre kühle, abweisende Maske abzulegen. Viele Menschen hielten sie für hochmütig und arrogant. Doch Lydia war es lieber, arrogant zu wirken, als sich verletzlich zu zeigen.

Und bisher war sie mit dieser Strategie gut gefahren. Insgeheim sehnte sie sich zwar nach Liebe, aber dieses Glück schien ihr nicht vergönnt zu sein, zumindest nicht mehr in diesem Leben.

Denn sie wusste: Heute Abend würde man sie wie zufällig mit diesem Mann allein lassen.

Als ihr Handtuch verrutschte, bedeckte Lydia sich sofort wieder, obwohl niemand bei ihr im Zimmer war. Sie stand kurz vor einer Panikattacke! Dabei hatte sie keine mehr gehabt seit …

Rom. Oder war es Venedig gewesen? Oh Gott, diese schreckliche Klassenfahrt!

Sie hatte nur Ja zu der jetzigen Italienreise gesagt, weil sie gehofft hatte, damit die Gespenster der Vergangenheit vertreiben zu können. Dass Rom ihr in einem völlig neuen Licht erscheinen würde, jetzt, wo sie erwachsen war. Doch sie hatte feststellen müssen, dass die Welt ihr heute genauso viel Angst machte wie damals als Teenager.

Reiß dich zusammen, Lydia!

Also riss sie sich zusammen, stand auf und zog sich an.

Um acht war sie mit ihrem Stiefvater Maurice zum Frühstück verabredet. Um sich nicht zu verspäten, kämmte sie sich rasch das frisch gewaschene und an der Luft getrocknete lange blonde Haar. Sie hatte sich gestern ein taupefarbenes Leinenkleid mit Knöpfen vom Ausschnitt bis zum Saum gekauft, aber so wie ihr die Hände zitterten, war das anscheinend keine gute Entscheidung gewesen.

Sie erwarten von dir bestimmt nicht, mit ihm zu schlafen!

Lydia versuchte sich einzureden, wie lächerlich diese Vorstellung war. Sie würde heute Abend nur etwas mit diesem Mann trinken, sich anschließend höflich für seine Gastfreundschaft bedanken und ihm erklären, dass sie mit einer Freundin verabredet war. Arabella wohnte nämlich inzwischen hier in Rom und hatte vorgeschlagen, sich mal zu treffen.

Eigentlich …

Lydia griff nach ihrem Handy und tippte rasch eine Nachricht ein.

Hi Arabella,

bin mir nicht sicher, ob du meine Nachricht bekommen hast. Bin jetzt in Rom und habe heute Abend Zeit für ein Treffen, falls du Lust hast.

Lydia

So, und jetzt musste sie zum Frühstück.

Lydia verließ ihre Suite und fuhr mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss. Als sie die luxuriöse Empfangshalle durchquerte, blieb ihr Blick an ihrem Spiegelbild hängen. Die Benimmkurse waren anscheinend doch für etwas gut gewesen – sie sah aus wie die Gelassenheit in Person und hatte den Kopf hoch erhoben.

Obwohl sie am liebsten davonlaufen würde.

„No, grazie.“

Raul Di Savo lehnte einen zweiten Espresso ab und las sich weiter den Geschäftsbericht des Hotels Grande Lucia durch, in dem er gerade sein erstes Frühstück verzehrt hatte. Sein Anwalt hatte umfangreiche Informationen zusammengetragen, die Raul jedoch erst heute Morgen erhalten hatte. In zwei Stunden würde er sich mit Sultan Alim treffen, also gab es noch eine Menge vorzubereiten.

Das Grande Lucia war in der Tat ein fürstliches Hotel. Raul hob für einen Moment den Blick von seinem Computerbildschirm, um den eleganten Speisesaal zu betrachten. Das Klirren von Besteck und Stimmengemurmel erfüllten den Raum, doch trotz der Eleganz war die Atmosphäre locker genug, um sich zu entspannen. Das Hotel verströmte den Charme der Alten Welt und legte Zeugnis von Roms ereignisreicher Geschichte und Schönheit ab.

Raul hatte schon länger mit der Idee gespielt, es seinem Portfolio hinzuzufügen, und hatte die letzte Nacht daher als Sultan Alims Gast in der Präsidentensuite verbracht. Bisher war er tief beeindruckt. Das Hotel war optisch ein Juwel, und das Personal war sowohl aufmerksam als auch diskret. Außerdem war es ausgebucht – es schien sowohl Geschäftsreisende als auch vermögende Touristen anzulocken.

Rauls Entschluss, dieses historische Baudenkmal von einem Hotel zu kaufen, nahm allmählich feste Formen an.

Doch das bedeutete, dass er Bastiano ausstechen musste.

Nach fünfzehn Jahren war ihre Rivalität immer noch ungebrochen. Ihr gegenseitiger Hass war eine stumme, aber beständige Triebfeder – ein schwarzes Band, das sie für immer aneinanderfesselte.

Raul nahm an, dass Bastiano heute ebenfalls eintreffen würde. Bastiano war ein guter Freund Sultan Alims, was Raul anfangs etwas skeptisch gemacht hatte. Doch Alim war ein brillanter Geschäftsmann und würde seine geschäftlichen Entscheidungen nicht von seinem Privatleben beeinflussen lassen, davon war Raul fest überzeugt.

Raul freute sich schon auf Bastianos Gesicht bei seinem Anblick! Denn obwohl sie sich in denselben Kreisen bewegten, liefen sie einander nur selten über den Weg. Raul hatte seinen Schwur wahrgemacht und war nach der Beerdigung seiner Mutter nie wieder nach Casta zurückgekehrt, noch nicht mal zur Beerdigung seines Vaters. Wozu diesem Schweinehund noch seinen Respekt erweisen?

Bastiano hingegen war in Casta geblieben und hatte das alte Kloster in ein Luxushotel für die oberen Zehntausend verwandelt. In Wirklichkeit verbarg sich dahinter jedoch eine extrem exklusive Entzugsklinik.

Rauls Mutter würde sich im Grabe umdrehen, wenn sie das wüsste!

Das missbilligende Grunzen des gesetzten Herrn mittleren Alters am Nebentisch riss ihn aus seinen finsteren Gedanken. „Muss man hier erst mit jemandem ins Bett gehen, um bedient zu werden?“, murmelte der Mann in makellosem Englisch.

Raul musste innerlich grinsen, als er beobachtete, wie der Kellner den aufgeblasenen Engländer weiter ignorierte. Anscheinend hatte er die Nase gestrichen voll von ihm. Der Mann beschwerte sich nämlich, seitdem man ihn an seinen Tisch gebracht hatte, obwohl er absolut keinen Grund hatte.

Raul konnte das beurteilen, denn er war selbst sehr kritisch, was den Service in Hotels anging. Er verbrachte viel Zeit in Hotels, und zwar meist in seinen eigenen, und kannte sich wirklich gut aus. Seiner Meinung nach gab es im Umgang mit dem Personal bestimmte Regeln, an die dieser Mann sich trotz seines gepflegten britischen Akzents nicht hielt. Er schien zum Beispiel davon auszugehen, dass in Rom niemand Englisch sprach und dass seine Schimpftiraden daher unbemerkt bleiben würden.

Da irrte er sich gewaltig!

Raul zeigte mit einem Zeige- und Mittelfinger auf die kleine Porzellantasse auf seinem Tisch. Eine ganz diskrete, für das ungeübte Auge kaum wahrnehmbare Geste, die dem aufmerksamen Kellner jedoch reichte, um zu wissen, dass Raul seine Meinung geändert hatte und nun doch einen zweiten Espresso wollte.

Raul wusste genau, wie sehr diese Vorzugsbehandlung den Mann zu seiner Rechten aufregen würde. Es bereitete ihm daher große Genugtuung, als er seinen Kaffee serviert bekam und ein empörtes Schnaufen neben sich hörte. Recht so!

Oh ja, er wollte dieses Hotel.

Nach nochmaliger Durchsicht der Zahlen beschloss Raul, ein paar Anrufe zu tätigen, um herauszufinden, warum der Sultan ein so renommiertes Hotel verkaufen wollte. Bisher war er auf keinen plausiblen Grund gestoßen. Die Ausgaben waren zwar hoch, aber das Hotel warf trotzdem Gewinn ab. Die Crème de la Crème übernachtete und feierte im Grande Lucia.

Als er gerade aufstehen wollte, um seine Suite aufzusuchen, betrat eine Frau den Saal.

Für Raul war der Anblick schöner junger Frauen nichts Besonderes, und im Saal war genug los, um sie zu übersehen, aber sie hatte irgendetwas an sich, das sofort seine Aufmerksamkeit fesselte.

Sie war groß und schlank und trug ein taupefarbenes Kleid. Ihr langes blondes Haar fiel ihr in sanften Wellen über die Schultern. Raul beobachtete interessiert, wie sie ein paar Worte mit dem Ober wechselte und dann in seine Richtung ging.

Er konnte den Blick gar nicht wieder von ihr losreißen, als sie sich elegant und anmutig den Weg zwischen den Tischen hindurchbahnte. Sie hatte eine gute Haltung und sehr helle makellose Haut. Schade, dass sie zu weit weg war, um ihre Augenfarbe zu erkennen.

Als sie eine Hand hob und dem Mann am Nebentisch zuwinkte, verspürte er einen Stich der Enttäuschung – ein Gefühl, das ihm eigentlich völlig fremd war, was Frauen anging. Dann gehört sie also zu ihm, dachte er. Sie frühstückte mit dem schrecklichen Briten.

Schade auch.

Als die blonde Schönheit an seinem Tisch vorbeikam, fiel ihm die durchgehende Knopfleiste ihres Kleides ins Auge. Abrupt richtete er den Blick wieder auf seinen Computerbildschirm, weil er sich dabei ertappte, jeden einzelnen dieser Knöpfe der Reihe nach aufzumachen. Seltsam! Frauen, die vergeben waren, interessierten ihn eigentlich grundsätzlich nicht.

Er verabscheute Ehebrecher und Betrüger.

Es gelang ihm, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, bis ihm plötzlich der frische, verführerische Duft der jungen Frau in die Nase stieg.

„Guten Morgen“, hörte er sie sagen. Im Gegensatz zu der Stimme ihres Gefährten klang ihre sehr angenehm.

„Hmpf.“

Der Engländer reagierte kaum auf ihren Gruß. Manche Menschen wussten die guten Dinge des Lebens anscheinend nicht zu schätzen. Und diese Frau hier gehörte mit Sicherheit zu den besseren.

Das schien auch der Kellner zu wissen, denn er war sofort an ihrer Seite und überschüttete sie förmlich mit Aufmerksamkeit. Er lobte sogar ihr schlechtes Schuldmädchenitalienisch, als sie sich einen Tee bestellte und ein unbeholfenes „per favor“ hinzufügte. Auf ein so schlechtes Italienisch würde jeder Kellner normalerweise arrogant auf Englisch antworten, doch er nickte nur freundlich. „Prego.“

„Ich nehme noch einen Kaffee“, sagte der Mann und fügte an seine Gefährtin gewandt hinzu: „Der Service hier ist einfach schrecklich. Seit meiner Ankunft habe ich nichts als Ärger mit dem Personal.“

„Also, ich finde den Service hier ausgezeichnet“, erwiderte sie kühl. „Bitte und Danke wirken manchmal Wunder. Du solltest es mal ausprobieren, Maurice.“

„Was hast du heute noch so vor?“, erkundigte er sich kühl.

„Ich will mir ein bisschen die Stadt ansehen.“

„Du solltest dir lieber ein neues Kleid kaufen. Vielleicht eins, das weniger blass ist“, fügte Maurice hinzu. „Ich habe den Concierge gefragt, und er hat mir einen Schönheitssalon in der Nähe des Hotels empfohlen. In einer Stunde hast du einen Termin.“

„Wie bitte?“

Raul war drauf und dran, seinen Laptop zuzuklappen und zu gehen. Sein Interesse war sowieso erloschen, seitdem er wusste, dass die junge Frau nicht solo war.

Na ja, es war zumindest fast erloschen.

Doch dann sprach der Mann weiter: „Wir treffen uns um sechs mit Bastiano. Dann willst du doch wohl möglichst vorteilhaft aussehen.“

Raul erstarrte, als er den Namen seines Erzfeindes hörte, und spitzte unauffällig die Ohren.

Du triffst dich mit ihm“, widersprach die blonde Schöne. „Ich verstehe nicht, warum ich mitkommen soll, wenn ihr doch sowieso nur über Geschäftliches redet.“

„Du wirst pünktlich um sechs da sein, Ende der Diskussion!“

Raul trank seinen Espresso aus, blieb jedoch sitzen. Er wollte wissen, was die beiden mit Bastiano zu tun hatten – jedes Insiderwissen über den Mann, den er so verabscheute, war Gold wert.

„Das geht leider nicht“, protestierte sie. „Ich treffe mich heute Abend mit einer Freundin.“

„Ich bitte dich!“ Der andere Mann schnaubte verächtlich. „Wir wissen doch beide, dass du keine Freunde hast.“

Was für eine schreckliche Bemerkung! Raul vergaß, so zu tun, als höre er nicht zu, und wandte den beiden das Gesicht zu. Die meisten Frauen, die Raul kannte, würden jetzt empört widersprechen, doch sie lächelte nur dünn und zuckte die Achseln.

„Dann eben eine Bekannte. So oder so bin ich verabredet.“

„Lydia, du wirst das tun, was du für deine Familie tun musst.“

Dann hieß sie also Lydia.

Als sie sich zu Raul umdrehte – vielleicht, weil sie spürte, dass er ihnen zuhörte – und seinen Blick erwiderte, stellte er fest, dass ihre Augen porzellanblau waren. Was die Frage beantwortete, welche Augenfarbe sie hatte. Doch Raul hatte plötzlich noch viel mehr Fragen.

Sie wandte den Blick wieder ab und schwieg, während der Kellner die Getränke servierte.

Raul blieb immer noch sitzen. Er wollte mehr erfahren.

In der Zwischenzeit hatte eine Familie mit kleinen Kindern das Restaurant betreten und wurde an einen Nachbartisch geführt. Ihre Stimmen waren so laut, dass sie die Unterhaltung am Nebentisch fast übertönten.

„… irgendein altes Kloster …“, hörte Raul Lydia sagen.

Abrupt stellte er seine leere Tasse auf die Untertasse, als ihm bewusst wurde, dass sie gerade über das Tal sprachen. Casta.

„Tja, er kennt sich eben mit alten Gebäuden aus“, erwiderte Maurice. „Anscheinend ist sein Hotel ein Riesenerfolg.“

Das Baby nebenan wurde in einen antiken Hochstuhl gesetzt und begann zu weinen. Ungeduldig runzelte Raul die Stirn, als ein älteres Geschwisterkind lautstark einen Kakao verlangte.

„Scusi …“ Er winkte den Kellner zu sich heran und brachte diskret sein Missfallen zum Ausdruck.

Sein Missfallen fiel nicht nur dem Kellner auf, sondern auch Lydia.

Autor

Carol Marinelli
<p>Carol Marinelli wurde in England geboren. Gemeinsam mit ihren schottischen Eltern und den beiden Schwestern verbrachte sie viele glückliche Sommermonate in den Highlands. Nach der Schule besuchte Carol einen Sekretärinnenkurs und lernte dabei vor allem eines: Dass sie nie im Leben Sekretärin werden wollte! Also machte sie eine Ausbildung zur...
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