Unter dem Vanillemond

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Ein geheimnisvoller Liebesbrief, ein altes Foto, ein lang gehütetes Familiengeheimnis …

Nach dem Tod ihres Vaters steht Annabel Hansen vor einer schweren Entscheidung: Was soll mit der Vanilleplantage geschehen, die ihr Vater auf Madagaskar betrieben hat? Nur widerwillig macht die junge Hamburgerin sich auf den Weg ins ferne Afrika und wird sofort gefangen genommen von der exotischen Schönheit der Insel: Von der tropischen Landschaft, den fremden Gerüchen, der Farbe des Indischen Ozeans. Plötzlich versteht sie, was ihren Vater immer wieder hierher gezogen hat. Doch als sie in seinen Unterlagen einen zärtlichen Liebesbrief und das Foto einer schönen Fremden findet, ahnt sie, dass die Insel noch mehr Geheimnisse birgt. Geheimnisse, die ihr bisheriges Leben in einem völlig anderen Licht erscheinen lassen …


  • Erscheinungstag 11.01.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783956495205
  • Seitenanzahl 304
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Petra Pfänder

Unter dem Vanillemond

Roman

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2015 by MIRA Taschenbuch
in der HarperCollins Germany GmbH

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner Gmbh, Köln
Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Sarah Hielscher

Titelabbildung: Thinkstock

ISBN 978-3-95649-520-5

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

PROLOG

Der Mann saß allein am Ufer der halbmondförmigen Bucht und blickte zum Horizont. Die letzten Strahlen der Abendsonne verwandelten das Meer in flüssiges Gold. Über das Wasser strich eine sanfte Brise und schob kleine Wellen auf den Sand. Der Mann schloss die Augen und genoss die kühlende Seeluft auf seiner Haut.

Getrockneter Schweiß und Erde auf dem ehemals weißen Leinenhemd zeugten von einem anstrengenden Tag, sein Rücken schmerzte, doch ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Er hatte seine Entscheidung getroffen. Er würde nicht länger eine Lüge leben.

Hier auf Madagaskar blühte er auf, wuchs über sich hinaus. Jeder Morgen brachte neue Herausforderungen, aber er fühlte sich unbesiegbar, genau wie vor dreißig Jahren, als er zum ersten Mal auf die Insel gekommen war. Madagaskar lag in seinem Blut. Er liebte die Wildheit, die Unberechenbarkeit, und gleichzeitig kam er an keinem Ort der Welt so zur Ruhe wie hier.

Mit seiner Entscheidung setzte er viel aufs Spiel, vielleicht würde er das Vertrauen seiner Tochter für immer verlieren. Doch er konnte ihr die Wahrheit nicht länger verschweigen.

Er öffnete die Augen und sah aufs Meer hinaus. Nie war ihm ein Sonnenuntergang so schön vorgekommen. Nicht mehr seit jener Nacht vor so langer Zeit.

Der entfernte Schrei eines Lemuren riss ihn aus seinen Erinnerungen. Er hatte nicht bemerkt, wie die Zeit vergangen war. Nur ein orangefarbener Streifen am Horizont trennte den Tag von der Nacht. Wenn er nicht im Dunkeln zur Plantage fahren wollte, musste er sich beeilen.

Er erhob sich aus dem Sand und streckte seine steif gewordenen Glieder. Plötzlich schien der Boden unter seinen Füßen zu schwanken. Schweiß trat auf seine Stirn.

Er atmete tief ein und aus, um seinen raschen Herzschlag zu beruhigen, dann eilte er am Wasser entlang zurück zum Wagen. Immer wieder gab der Sand unter seinen Füßen nach. In seinen Ohren rauschte das Blut, und er rang nach Luft. Obwohl er erst wenige Meter zurückgelegt hatte, fiel ihm jeder Schritt schwer.

Er fuhr sich mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn. War er wirklich so weit den Strand hinuntergewandert? Auf dem Hinweg war es ihm nicht so weit vorgekommen.

Mit zusammengebissenen Zähnen zwang er sich, einen weiteren Schritt zu gehen. Ihm war, als würde ein eiserner Ring seine Brust zusammenpressen.

Nein! Nicht hier, nicht jetzt!

Verzweifelt tastete er nach den Tabletten in seiner Jackentasche. Die Jacke! Er hatte sie im Wagen gelassen.

Das darf nicht sein! Ich muss es zum Auto schaffen!

Sein Körper gehorchte ihm nicht. Hilflos fiel er auf die Knie.

Bitte, lass mich nicht sterben, nicht jetzt, flehte er still, doch er wusste, dass es vergeblich war. Es ist zu früh, ich habe noch so viel zu tun!

Er sank auf die Seite, sein Kopf ruhte im warmen Sand.

Wirst du mir vergeben? Vielleicht habe ich damals den falschen Weg gewählt, aber glaub mir, ich wollte das Beste für dich.

Seine Augen glitten zum Horizont. Die Sonne war nur noch eine schmale Linie über dem Meer. Plötzlich spürte er kaum noch den Schmerz in seiner Brust. Tiefe Ruhe erfüllte ihn, und ein Lächeln glitt über sein Gesicht.

Meine Geliebte, bald sind wir für immer vereint.

1. KAPITEL

Hamburg, Oktober 2014

Absolut nicht! Auf gar keinen Fall ziehen wir die Klage zurück! Was? Wie hoch soll die Abfindung sein? … Absolut lächerlich! Und selbst wenn er Fotos haben sollte … Das ist doch nur ein mieser Trick, mit dem er versucht, Sie einzuschüchtern.“

Während sie zuhörte, was ihre Klientin antwortete, trank Annabel Hansen einen Schluck von ihrem Kaffee. Sie verzog angewidert das Gesicht. Der Kaffee war kalt. Mit einem Knall stellte sie die Tasse auf den Schreibtisch. „Wir ziehen ihn aus bis aufs letzte seiner maßgeschneiderten Hemden, das verspreche ich Ihnen! “

Annabel trug ein hautenges dunkelgraues Kleid mit langen Ärmeln. Ihr Haar war zu einem Knoten festgesteckt und glänzte lackschwarz wie die Möbel im Büro. Die einzigen Farbtupfer waren ihr purpurfarbener Lippenstift und die blauen Augen.

Der Raum war durch Milchglasscheiben vom Rest der Kanzlei Jansen & Jansen abgetrennt. An das große Fenster peitschte der Regen und verschleierte den Blick auf die Alster. Trotz des schlechten Wetters war am Ufer ein Jogger mit einem Schäferhund unterwegs. Annabel freute sich schon auf ihr neues Büro, ein großes Eckzimmer, das sie beziehen würde, wenn sie in wenigen Wochen ihren Vertrag als Partner der Anwaltskanzlei unterzeichnet hatte.

Die Tür wurde einen Spalt geöffnet, und ihre Sekretärin Betty schaute herein. Annabel schüttelte den Kopf und wedelte ungeduldig mit der Hand. Betty schloss die Tür wieder.

Ärgerlich sah Annabel ihr hinterher. Nach drei Jahren Zusammenarbeit sollte sie wirklich gelernt haben, nicht hereinzukommen, wenn sie ausdrücklich keine Störung angeordnet hatte. „Nein, auf keinen Fall hält der Ehevertrag“, sagte sie ins Telefon. „Ja, da bin ich mir sicher. Gut, wir sehen uns Montag, Frau Johannsen.“

Sie legte auf, schloss die Augen und massierte einen Moment lang ihre Schläfen, dann zog sie einen der zahlreichen Aktenordner auf dem Schreibtisch zu sich und begann, darin zu blättern.

Wieder öffnete sich die Tür. Diesmal schlüpfte Betty ganz ins Zimmer. Sie schloss die Tür hinter sich und lehnte sich gegen das Glas, als würde sie Halt suchen. Ihre kurzen rotblonden Locken standen etwas wirr um ihr rundes Gesicht, als hätte sie sich gerade mit allen zehn Fingern die Haare gerauft.

Annabel würde nie Bettys eigenartigen Gesichtsausdruck vergessen, eine Mischung aus Angst und Entschlossenheit. Wahrscheinlich fürchtete sie sich halb zu Tode vor dem, was sie jetzt sagen musste. Aber das begriff Annabel erst viel später.

„Annabel …“

„Schon wieder, Betty? Welchen Teil von Ich möchte nicht gestört werden haben Sie nicht verstanden?“ Wenn sie demnächst Partnerin war, sollte sie sich vielleicht auch gleich nach einer neuen Assistentin umsehen. Am besten würde sie noch heute mit Peter darüber reden.

Peter Jansen war der älteste Sohn eines der Jansen und Jansen ihrer Kanzlei und Juniorchef. Sie kannten sich seit ihrer Studienzeit. Annabel wusste schon lange, dass er sich mehr von ihr erhoffte und nur auf eine Ermutigung von ihr wartete, doch irgendetwas hatte sie bisher davon abgehalten.

„Es tut mir so leid, Annabel …“

Betty war ja immer noch da! „Das sollte es auch!“, fuhr Annabel sie an.

„… aber … Ihr Vater … es ist etwas Furchtbares passiert.“

Das Glockenspiel klirrte, als Annabel Hansen die Tür zum Madagaskar-Vanillekontor öffnete. Sie zögerte, dann holte sie tief Luft und trat ein. Der warme Vanilleduft ließ Bilder aus ihrer Kindheit in ihrem Kopf aufblitzen.

Damals hatte sie davon geträumt, eines Tages hier im Laden zu arbeiten. Sie wollte all die geheimnisvollen Gläser und Dosen in den Regalen öffnen, die Inhalte abwiegen, mischen und in Tütchen füllen, genau, wie es ihr Vater immer tat. Am schönsten war es, wenn er sie hochhob, auf die blank polierte Holztheke setzte und sie an dem Hebel der eisernen Kasse ziehen durfte. Fast war ihr, als könnte sie wieder das Klingeln hören, mit dem die Schublade aufsprang. Für einen Moment vergaß Annabel, warum sie heute hierhergekommen war.

In ihrer Erinnerung sah sie den Vater als jungen Mann vor sich, groß und schlank, mit blonden Haaren und blauen Augen hinter einer Brille. Unwillkürlich blickte sie zu der Tür am anderen Ende des Raums, hinter der sein Büro lag. Doch er würde nie wieder durch diese Tür treten. Er war auf Madagaskar geblieben. Diesmal für immer.

Langsam ging Annabel durch den Laden. Fast zwölf Jahre war ich nicht mehr hier, rechnete sie nach. Nicht mehr seit dem Tag, an dem sie ihrem Vater gesagt hatte, dass sie nichts mit Vanille zu tun haben wollte, sondern Jura studieren würde.

Sie hatte erwartet, dass er wütend reagieren würde, traurig oder wenigstens enttäuscht. Stattdessen hatte er sie nur so gleichmütig wie immer angelächelt. Seine blauen Augen verrieten nichts. „Wenn es das ist, was du wirklich willst. Vielleicht ist es ja besser so.“

Annabel konnte selbst nicht genau sagen, warum sie seitdem das Vanillekontor gemieden hatte. Vielleicht, weil sie immer ein wenig das Gefühl gehabt hatte, dass ihrem Vater das Geschäft wichtiger war als sie. Doch heute kam ihr das Kontor wie eine Zuflucht vor. Es war das Einzige, das sie noch mit dem Vater verband.

Sie war erstaunt, wie vertraut die Räumlichkeiten ihr nach all der Zeit noch waren. Jedes Dielenbrett, das unter ihren Füßen knarrte, die tiefe Kerbe neben der Kasse in der Holztheke. Vielleicht lag es daran, dass sie sich im Laden immer mehr zu Hause gefühlt hatte als in ihrer stillen Villa in Blankenese. Immer wieder blieb sie stehen, rückte hier eine Teedose gerade oder ordnete dort kleine Schokoladentäfelchen neu.

Vor langer Zeit war das Kontor eine Apotheke gewesen. Carsten Hansen hatte das antike Mobiliar behalten, und jetzt lagerten in den Fächern der deckenhohen Regale Tees, Gewürzmischungen, Schokoladen, Gebäck und andere Köstlichkeiten. An der Mahagonitheke wurden nicht länger Medikamente gemischt, sondern Madagaskar-Vanille verkauft.

Und alles gehörte Annabel.

Hätte sie nur Geschwister! Dann würde die Verantwortung nicht allein auf ihren Schultern liegen. Als Anwältin regelte sie oft Erbschaftsangelegenheiten. Zahlen und Verträge gehörten zu ihrem täglichen Geschäft. Aber hier ging es um mehr.

Annabel verstand nichts von Vanilleimport oder Geschäftsführung. Was sollte sie mit einem Vanilleladen anfangen? Natürlich konnte sie ihn verkaufen und den Erlös als Startkapital für eine eigene Anwaltskanzlei nehmen. Aber der Gedanke fühlte sich an wie Verrat. Das Vanillekontor war das Lebenswerk ihres Vaters.

Annabel hielt inne, als sie an einer geöffneten Teedose vorbeikam. Silke, die den Laden führte, wenn Carsten Hansen unterwegs war, musste vergessen haben, sie zu schließen.

Annabel schloss die Augen und sog tief das würzige Aroma ein. Aus einem Impuls heraus füllte sie einen Löffel Teeblätter in ein Schälchen und ging in die kleine Küche, in der die Teemischungen zusammengestellt wurden. Zielstrebig wählte sie eine Vanilleschote, Koriander, getrocknete Orangenschalen und Kardamom aus den zahlreichen Gewürzgläsern aus. Nach kurzem Überlegen ergänzte sie noch eine Prise gemahlene Nelken und stellte das Feuer unter dem Wasserkessel an.

Vater hat immer behauptet, ich hätte eine außergewöhnlich feine Nase und ein Gespür für Gewürze, erinnerte sich Annabel. Sie schob den ungebetenen Gedanken zur Seite. Das Interesse an Gewürzen und allem, was damit zu hatte, gehörte in ihre Kindheit, und sie war froh, dass sie diese Zeit lange hinter sich gelassen hatte.

Sie zuckte zusammen, als der Kessel pfiff, und goss das Wasser in die Kanne. Einige Minuten später füllte sie den fertigen Tee in einen Becher und nahm ihn mit in Carsten Hansens Büro. Hier gab es keinen gediegenen Luxus wie im Verkaufsraum, nur hohe Aktenschränke, zwei Stühle und einen geschnitzten Eichenschreibtisch. Vor dem Fenster stand ein grünes Ledersofa, das schon bessere Tage gesehen hatte.

Zum ersten Mal im Leben setzte Annabel sich auf den Platz ihres Vaters am Schreibtisch. Erst jetzt wurde ihr wirklich bewusst, dass er für immer gegangen war. Sie suchte in ihrer Handtasche, bis sie ein Taschentuch fand. Sie hielt es fest mit der Faust umklammert, während sie die gerahmten Fotos auf dem Schreibtisch betrachtete. Alle zeigten Annabel – auf der Schaukel im Garten, bei einem Ausflug mit dem Vater im Zoo, auf ihrer Abiturfeier.

Er hat mich auf seine Art geliebt, auch wenn er es nicht zeigen konnte, dachte sie. Und es hatte immer wieder schöne Momente gegeben, auch wenn in der Erinnerung vor allem ihre unerfüllten Sehnsüchte geblieben waren.

Für Außenstehende musste es so ausgesehen haben, als hätte Carsten Hansen seiner einzigen Tochter alle Liebe und Aufmerksamkeit geschenkt, die ein kleines Mädchen sich nur wünschen konnte.

Nur das Beste war ihm gut genug für Annabel gewesen – eine exklusive Hamburger Privatschule, ein luxuriös eingerichtetes Mädchenzimmer in der Villa in Blankenese, ihr Schrank vollgestopft mit teurer Kleidung. Morgens brachte der Vater sie zur Schule, und abends sah er ihre Hausaufgaben nach.

Mithilfe einer Haushälterin hatte er nach dem frühen Tod seiner Frau allein für Annabel gesorgt. Er nahm die Mahlzeiten gemeinsam mit ihr ein, brachte sie mit einem Gutenachtkuss ins Bett und erzählte ihr eine Geschichte zum Einschlafen. An den Wochenenden besuchte er zusammen mit ihr den Zoo, und im Sommer verbrachten sie viele Tage am Elbstrand.

Aber auch wenn er ihr den Großteil seiner Freizeit widmete, hatte sie nie ganz das Gefühl abschütteln können, dass er nur seine Pflicht erfüllte. Ein Teil von ihm schien immer unerreichbar zu sein.

Carsten Hansen hatte nie viele Gefühle gezeigt, und wenn er seine Tochter umarmte und küsste, kam er ihr dabei immer etwas abwesend vor. Er war ein ruhiger Mann gewesen. Annabel konnte sich nicht erinnern, ihn jemals ärgerlich erlebt zu haben, aber er hatte auch selten gelacht. Wenn sie ihm von der Schule erzählte, hörte er aufmerksam zu, doch er stellte nur selten Fragen.

Als würde es ihn nicht halb so sehr interessieren wie die letzte Vanilleernte auf Madagaskar, hatte Annabel oft gedacht. Das Gefühl, ihm nicht wichtig zu sein, hatte ihr das Herz gebrochen.

Seine Abende verbrachte er allein. Er besaß keine Freunde und verabredete sich nie. Nur wenn er von Madagaskar sprach, trat dieses ganz besondere Leuchten in seine Augen. Die Insel war seine einzige Leidenschaft.

Jedes Jahr im Oktober flog Carsten Hansen für einen Monat auf die Vanilleplantage seines Bruders, um nach der Erntezeit persönlich die besten Schoten auszuwählen. Oft kam es Annabel so vor, als lebte er nur für diese Wochen. Je näher die Zeit seiner Abreise rückte, desto federnder wurde sein Gang, und manchmal passierte es sogar, dass er mit Annabel scherzte.

Braun gebrannt kam er dann wieder zurück, die Haare von der Sonne gebleicht. Seine Haut und seine Kleidung rochen nach Vanille. Der Duft begleitete jede Erinnerung an ihre Kindheit. Ihr Vater hatte Vanille in ihren Kakao gemischt, in Süßspeisen und Limonade, und sogar Vanilleschokolade hatte er für sie zubereitet. Schmeckte Annabel etwas besonders gut, nahm er es in sein Sortiment für den Laden auf.

Nach jeder Reise quollen seine Koffer von Gewürzen über. Die Reisetaschen waren prall gefüllt mit Vanille, Zimt, Pfeffer, Kardamom, Koriander und Nelken. Annabel durfte sich von den duftenden Kostbarkeiten aussuchen, was sie wollte. Sie hatte mit Gewürzen gespielt wie andere Mädchen mit Puppen.

Eine Weile lang hatte sie ihre eigenen Gewürzkreationen in jedes Essen gemischt und die Köchin fast zur Verzweiflung getrieben. Doch irgendwann hatte Annabel mit dem Vanillearoma untrennbar die Abwesenheit des Vaters verbunden und begonnen, den Geruch zu hassen.

Sie erinnerte sich noch genau an die Sehnsucht in seiner Miene, an seine leuchtenden Augen, wenn er ihr abends am Bett von den blendend weißen Stränden Madagaskars, dem saphirblauen, palmengesäumten Ozean und den liebenswürdigen Menschen erzählte. Als könnte er es kaum abwarten, wieder dorthin zurückzukehren.

Annabel hatte sich verzweifelt danach gesehnt, in seinen Augen einmal dieselbe vorbehaltlose Begeisterung zu sehen, wenn er sie anschaute. Aber ganz gleich, wie sehr sie sich auch bemüht hatte, war es nie geschehen. Als wäre jeder einzelne Einwohner dieser verfluchten Insel interessanter für ihn als seine eigene Tochter.

Sie dachte daran zurück, wie sie mit acht Jahren versucht hatte, Geigenspiel zu lernen, um einmal die ungeteilte Aufmerksamkeit ihres Vaters zu bekommen. In ihrer Fantasie sah sie sich damals schon auf der Bühne stehen, vor sich ein ergriffen schweigendes Publikum. In der ersten Reihe saß ihr Vater und blickte stolz zu ihr hinauf.

Es war bei dem Traum geblieben. Sie übte Stunden um Stunden unermüdlich, aber ihre plumpen Händchen bekamen einfach keinen klaren Ton zustande. Selbst jetzt spürte Annabel noch einen Stich bei der Erinnerung an die Worte der Geigenlehrerin: „Nein, Klavierspielen würde ich dir auch nicht empfehlen. Und Singen … Vielleicht suchst du dir besser ein Hobby, das nichts mit Musik zu tun hat.“

Als Nächstes hatte Annabel sich für Ballettstunden entschieden. Doch am Ende stand nur wieder eine neue Demütigung. Während die anderen Mädchen leichtfüßig durchs Studio schwebten oder Pirouetten drehten, bei denen Annabel vom bloßen Hinschauen schwindelig wurde, bemühte sie sich vergeblich auch nur um den kleinsten Hauch von Anmut.

Vielleicht hatten darum die anderen Mädchen über sie gekichert und hinter ihrem Rücken getuschelt. Vielleicht auch, weil sie keine richtige Familie besaß, keine Mutter, die sie von der Schule abholte – oder einfach nur, weil sie anders aussah als ihre blassen, eleganten Mitschülerinnen.

Selbst im norddeutschen Klima wirkte Annabels Haut stets so, als hätte sie gerade einige Wochen in der Sonne verbracht, und ihre schwarzen Haare hätte sie sich am liebsten mit den Wurzeln ausgerissen. Sie waren dick und störrisch und so glatt, dass kein Band und keine Spange darin hielt. Egal, wie lange sie ihr Haar auch bürstete und wie stramm sie den Pferdeschwanz zusammenband, machten sich die ersten Strähnen nach wenigen Minuten unweigerlich selbstständig.

Es half auch nicht, dass sie kein besonderes Talent zu besitzen schien. Ganz gleich, was sie anfasste, nichts wurde zu einem Erfolg. Irgendwann hatte sie dann entdeckt, dass sie eine Begabung zum Lernen besaß. Die guten Noten brachten ihr zwar keine Freunde ein und auch nicht die Aufmerksamkeit des Vaters, aber über den Büchern konnte sie wenigstens ihren Kummer vergessen.

Damals war es ihr so vorgekommen, als würden alle anderen Kinder Mütter besitzen, die sie liebten, sie trösteten, wenn sie sich wehgetan hatten, Geschwister, mit denen sie spielten und lachten. In ihrer großen Villa in Blankenese war es dagegen immer still gewesen, als würde eine düstere Wolke das Haus beschatten. Annabel konnte sich nicht erinnern, dass jemals fröhliches Lachen durch das Haus geschallt war.

„Hast du denn nicht gesehen, wie einsam und unglücklich ich war, Papa? Wie sehr ich dich gebraucht habe?“, murmelte sie. Beim heiseren Klang ihrer Stimme zuckte sie zusammen und verstummte.

Ärgerlich schüttelte sie den Kopf. Sie wischte die Tränen mit dem Taschentuch ab und stopfte es zurück in die Tasche. Mit dreißig Jahren sollte sie die Probleme ihrer Kindheit wirklich hinter sich gelassen haben! Aber der Gedanke tröstete sie auch nicht.

Ausgerechnet vor dieser letzten Reise hatte der Vater sie zum ersten Mal gebeten, ihn nach Madagaskar zu begleiten. Aber in wenigen Wochen sollte sie Juniorpartnerin in ihrer Anwaltskanzlei werden. Sie konnte sich nicht leisten, gerade jetzt Urlaub zu nehmen.

Vielleicht habe ich zum Teil aber auch einfach aus Trotz abgelehnt, gestand Annabel sich jetzt ein. Vielleicht hatte sie nur zu oft vergeblich darum gebeten, dass sie ihn begleiten durfte.

„Bitte, bitte, nimm mich mit, Papa“, hatte sie als Kind gebettelt, wenn er wieder seine Koffer packte, um nach Madagaskar zu reisen. „Lass mich nicht alleine!“

„Nein, Kleines. Madagaskar ist ein wildes Land und viel zu gefährlich für ein Kind.“

„Aber dann ist es auch zu gefährlich für dich!“

„Ich bin ein großer starker Mann. Ich kann gut auf mich aufpassen. Mir passiert nichts. Das verspreche ich dir.“

Doch er hatte sein Versprechen gebrochen.

Gestern Morgen war Carsten Hansen tot an einem einsamen Strand gefunden worden. Herzinfarkt, hatte man Annabel gesagt. Sie konnte es noch immer kaum glauben. Ihr Vater war keinen Tag in seinem Leben krank gewesen.

Hätte ich dir helfen können, wenn ich bei dir gewesen wäre?

Sie drängte die leise Stimme zurück. Selbst wenn sie ihre Entscheidung noch so sehr bereute, halfen ihr Grübeln und Selbstvorwürfe auch nicht weiter. Sie musste Entscheidungen treffen. Zum Beispiel darüber, was mit dem Vanillekontor geschehen sollte.

Oder mit dem Grundstück auf Madagaskar, das zu ihrem Erbe gehörte, wie sie heute Morgen vom Anwalt ihres Vaters erfahren hatte. Wahrscheinlich ein Anteil an der Vanilleplantage, überlegte sie. Am besten würde sie Onkel und Tante vorschlagen, sie auszuzahlen. Das Grundstück konnte nicht viel wert sein.

Annabel stellte die Fotos zurück. Sie stutzte. Ihr war noch nie aufgefallen, dass auf dem Schreibtisch kein einziges Bild ihrer Mutter stand. War das schon immer so gewesen?

Wahrscheinlich war die Erinnerung zu schmerzlich für ihn, überlegte sie.

Nach dem Tod seiner Frau hatte Carsten Hansen nie wieder geheiratet, darum war Annabel immer davon ausgegangen, dass ihre Mutter die Liebe seines Lebens gewesen war. Sie hatte sich als Kind die romantischsten Liebesgeschichten für ihre Eltern ausgedacht. Ihr Vater hatte nie viel über seine Frau gesprochen, aber er sorgte dafür, dass Annabel sie in ihr Abendgebet einschloss.

„Du erinnerst mich an sie“, hatte er einmal gesagt.

„Wirklich? Sehe ich ihr ähnlich? Wie war Mama? Erzähl mir von ihr!“ Aber er hatte sie nur mit einem seltsamen Ausdruck angeschaut.

Als Mädchen war sie stundenlang in alten Fotoalben versunken. Sie erinnerte sich nicht mehr an die Mutter, aber sie konnte nicht genug davon bekommen, sich die wenigen Bilder von ihr anzuschauen und sich vorzustellen, wie sich das ernste, blasse Gesicht der Mutter bei ihrem Anblick zu einem strahlenden Lächeln verzog. Wie sie ihre Tochter in die Arme nahm und zärtliche Koseworte flüsterte.

Annabel wünschte, sie hätte ihre feingliedrige Schönheit geerbt. Ihre Haarfarbe war die gleiche, aber warum konnten Annabels Haare nicht auch so weich und seidig sein und in eleganten Wellen fallen?

Sie öffnete die oberste Schreibtischschublade, um nachzusehen, ob ihr Vater dort noch mehr Fotos oder Erinnerungen aufbewahrte. Neben Kugelschreibern und einem Kästchen mit Radiergummis stand eine flache goldene Blechschachtel. Annabel hob den Deckel ab. Ganz oben auf einem Stapel Unterlagen lag ein kleines Glasfläschchen mit rötlich-orangefarbenem Inhalt.

Sie schüttelte das Fläschchen. Offenbar ein Pulver. Vielleicht ein besonderes Gewürz? Neugierig zog sie den Korken ab und roch an dem Inhalt, dann schüttelte sie sich etwas von dem Pulver in die Handfläche und hob es noch einmal zur Nase. Das Pulver war fast geruchlos, mit dem Hauch eines dumpfen, erdigen Aromas. Es schien eine Art Lehm oder Ton zu sein. Seltsam war allerdings die leuchtende Farbe. Etwas Ähnliches hatte Annabel noch nie gesehen.

Sie zuckte mit den Schultern, verkorkte das Fläschchen und ließ es gedankenverloren in ihre Jackentasche gleiten. Dann sah sie wieder in die Schachtel. Ganz oben auf den Papieren lag das Foto einer schönen jungen Frau unter Palmen. Hinter ihr schillerte türkisblau ein tropisches Meer.

Ein Foto von Mama! dachte Annabel, als sie das schwarze Haar sah. Es musste auf Madagaskar aufgenommen sein. Wie jung und glücklich und braun gebrannt sie damals gewesen war.

Auf den zweiten Blick erkannte sie, dass die Frau auf dem Bild nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihrer Mutter besaß. Dieses Gesicht war voller, mit hohen Wangenknochen, die Augen dunkel, nicht groß und hell wie die von Barbara Hansen. Ihre milchkaffeefarbene Haut schimmerte im Sonnenlicht. Die Unbekannte hielt ihren Blick auf den Fotografen gerichtet. Annabel konnte fast spüren, wie glücklich sie in dem Moment gewesen war.

Es handelte sich um ein älteres Foto. Die Oberfläche war abgegriffen und an einigen Stellen matt, als wäre es unzählige Male berührt worden. Annabel betrachtete das Bild eingehender. Die Frau trug ihr glattes Haar offen, es reichte fast bis zu der schmalen Taille. Obwohl das Bild etwas unscharf war, kam es Annabel fast vor, als würden die mandelförmigen Augen ihren Blick erwidern.

Warum lag das Bild bei den Unterlagen ihres Vaters? Sie drehte das vergilbte Foto in der Hand.

Ein Herz war mit rotem Stift auf den Bildrücken gemalt, darin stand in zierlicher Schrift:

„Der Sonne entgegen …“, murmelte Annabel.

Die Zeile erinnerte sie an ein Gedicht aus ihrer Kindheit.

„Flieg … der Sonne entgegen …“, sagte sie leise, doch der restliche Text fiel ihr nicht mehr ein. Wenn sie sich als kleines Kind wehgetan hatte oder traurig war, hatte ihr Vater es aufgesagt, um sie zu trösten.

Hatte die Frau das Gedicht gekannt, oder war es nur ein seltsamer Zufall?

Thérese.

Der Name klang französisch, aber die Frau sah eher wie eine Südseeschönheit aus. Konnte es eine Erinnerung an seine frühen Reisen sein?

Annabel suchte vergeblich nach einem Datum auf dem Bild. War die Widmung überhaupt an ihren Vater gerichtet?

Sie nahm die restlichen Unterlagen aus dem Karton, in der Hoffnung, einen Hinweis auf die Identität der fremden Frau zu finden. Enttäuscht blätterte sie stattdessen nur durch alte Rechnungen, Rezepte für Teemischungen und zwei Geburtstagspostkarten von Carstens Bruder Bernd.

Ganz unten in der Schachtel lag ein schwarzes Notizheft. Zögernd öffnete Annabel das schmale Buch, doch die Seiten waren leer. Sie wollte das Heft schon wieder zurücklegen, als ein zusammengefaltetes Blatt aus den Seiten rutschte. Nur wenige Zeilen standen in der schwungvollen Handschrift ihres Vaters auf dem vergilbten Papier.

Mein Herz,
ich vermisse dich unendlich.

Jeder Atemzug bringt die Erinnerung an dich.

Wenn ich die Augen schließe, sehe ich dich vor mir, als wäre es erst gestern gewesen, dass du an meiner Seite warst. Fast kann ich dein Lachen hören. Manchmal drehe ich mich um und erwarte, dich hinter mir zu sehen.

Nacht für Nacht bist du in meinen Träumen bei mir. Die Sonne lässt dein schwarzes Haar glühen, als würde es in Feuer stehen, der Wind weht dir eine Strähne ins Gesicht. Atemlos vor Glück strecke ich die Hand aus und berühre deine Wange. Wir sehen uns an, und nichts existiert außer uns und unserer Liebe.

Doch immer wieder, viel zu früh, wache ich auf und bin allein. Jeden Tag aufs Neue ist mir, als würde mein Herz brechen. Ein Teil von mir wünscht, ich könnte ewig schlafen, endlich für immer bei dir sein.

Ich bin verloren ohne dich, meine Liebe, meine Seele, meine Zuflucht. Mein alles. Du hast jedes Glück mit dir genommen. Doch ich muss weiterleben, für unsere Tochter.

In meinen wachen Stunden frage ich mich oft, warum? Warum bist du mir viel zu früh genommen worden? War es die Strafe für meine Schuld?

Du würdest die richtigen Worte finden, wenn du bei mir wärest. Du wusstest immer, wie du die Qual in meinem Inneren mit einem Wort, einer Liebkosung lindern konntest. Doch erst seitdem du nicht mehr bei mir bist, weiß ich wirklich, was Leid bedeutet.

Ich lebe weiter, einen Tag nach dem anderen. Ich atme, ich esse, ich arbeite, ich schlafe. Nur die Liebe zu unserer Tochter gibt mir die Kraft dazu.

Für immer, habe ich dir an unserem Strand geschworen. Bis an mein Lebensende werde ich dich lieben. Auch wenn du mir geraubt wurdest, werde ich diesen Schwur halten. Bis wir eines Tages wieder vereint sein werden.

Für immer dein,

Carsten

Das kann nicht wahr sein! war Annabels erster Gedanke.

Unmöglich konnte ihr gleichmütiger, kühler Vater einen so leidenschaftlichen Liebesbrief geschrieben haben. In der oberen rechten Ecke stand ein Datum. Erster September neunzehnhundertfünfundneunzig. Annabel rechnete nach. Zu der Zeit war ihre Mutter seit mehr als fünf Jahren tot gewesen.

Er hat mich geliebt! Für mich wollte er weiterleben, begriff sie dann. Der Gedanke ließ Tränen in ihre Augen steigen.

Je länger sie über den Brief nachdachte, desto mehr kam es Annabel so vor, als hätte sie ihren Vater nie gekannt. Warum hatte er ihr nie gezeigt, was er wirklich dachte und fühlte?

Sie starrte wieder auf das Foto der schönen Fremden. Hatte diese Frau eine Bedeutung für den Vater gehabt? Sie schüttelte den Kopf. Eine Liebe, wie sie aus jedem Wort seines Briefes sprach, ließ keinen Raum für Affären. Außerdem hatte er zwar keinen Namen genannt, aber der Brief war eindeutig an ihre Mutter gerichtet. Er hatte von ihrer gemeinsamen Tochter gesprochen.

Wenn nichts sonst, bewies dieser Brief, dass Annabels Vater zu tiefer Liebe fähig gewesen war. Selbst Jahre nach dem Tod der geliebten Frau war seine Bindung zu ihr nicht ins Wanken gekommen.

Aber wenn er sie so geliebt hatte, warum gab es dann nicht wenigstens ein Foto von ihr auf seinem Schreibtisch oder bei seinen Unterlagen? Sein Tod warf so viele Fragen auf, auf die Annabel keine Antworten besaß. Vielleicht fand sie auch erst jetzt den Mut, einige dieser Fragen zu stellen.

Annabel war damit groß geworden, dass über manche Themen nicht gesprochen wurde. Sie hatte immer gedacht, es bliebe noch genug Zeit, all ihre Fragen zu stellen – über sein zweites Leben auf Madagaskar, über ihre Mutter, die Verwandten auf der Insel. Annabel fragte sich, warum er nach all der Zeit ausgerechnet in diesem Jahr gewünscht hatte, dass sie ihn nach Madagaskar begleitete. Sie sah wieder auf den Brief in ihrer Hand, dann auf das Foto. Bis heute war ihr nicht klar gewesen, wie wenig sie wirklich über ihn wusste.

Hätte sie den Vater doch nur begleitet! Sie hatte die letzte Chance vertan, ihm näherzukommen. Jetzt war das Vanillekontor alles, was von ihrer Familie geblieben war.

Nein! Ein winziger, absurder Funke Hoffnung flammte in ihr auf. Es gab immer noch Onkel und Tante auf Madagaskar.

Annabel hatte ihre einzigen Verwandten nie persönlich kennengelernt. Zu ihren Geburtstagen hatten sie ihr Karten geschrieben und manchmal auch angerufen. Als sie vierzehn oder fünfzehn geworden war, hatte auch das aufgehört. Abgesehen vom Vanilleimport, hatte ihr Vater nur selten über seinen Bruder und dessen Frau gesprochen. Aber die beiden hatten nicht nur jedes Jahr einige Wochen gemeinsam mit Carsten Hansen auf der Plantage verbracht, sie hatten auch Annabels Mutter gekannt – Tante Marlene sogar besser als jeder andere Mensch. Sie war immerhin ihre Zwillingsschwester gewesen.

Das ist es! Aufregung mischte sich in Annabels Traurigkeit. Warum war sie nicht schon eher auf den Gedanken gekommen?

Ich fliege nach Madagaskar!

2. KAPITEL

Vier Tage später, Antananarivo

Annabel stieß die Glastür ihres Hotelzimmers auf und trat auf den Balkon. Das Brüllen von Rindern hatte sie aus dem Schlaf gerissen. Sie gähnte und streckte ihre verspannten Schultern. Es war erst halb sechs morgens, und nach dem langen Flug fühlte sie sich wie erschlagen, doch bei dem Blick auf Antananarivo vergaß sie alle Müdigkeit.

Über der Hauptstadt Madagaskars erhellte die afrikanische Morgendämmerung den Himmel. Antananarivo erstreckte sich über zwölf steile Hügel. Tana, wie es die Einheimischen nannten, war eine bezaubernde Ansammlung bunter Häuschen, die atemberaubend schief an den Hängen klebten. Die verwitterten Terrakottadächer und Backsteinmauern mit zerfallenden Fensterläden und ehemals kunstvoll geschnitzten Holzbalkonen lehnten Schulter an Schulter mit modernen Gebäuden. Oben auf den Hügeln, dort wo der frische Wind die feuchte Hitze vertrieb, thronten prächtige Häuser wie Paläste.

Am Straßenrand stapelten Händler Orangen, Tomaten und Papaya auf Bastmatten zu kunstvollen Pyramiden und hängten Bananen wie Girlanden an Schnüren auf. Andere boten Vanille, Pfeffer oder lebende Hühner an. Zu ihrer Rechten sah Annabel den Engelssee. Stahlblau lag er inmitten pinkfarbener Jacaranda-Bäume, die sich über sein mit Teichrosen bewachsenes Wasser neigten.

Annabel sog tief die Luft ein. Der Geruch Antananarivos war intensiv. Anders als alles, was sie kannte. Seitdem sie aus dem Flugzeug gestiegen war, begleitete sie ein Hauch von Vanille. Mit jedem Windstoß wurde er herangetragen. Doch dies war nicht der reine, klare Vanilleduft, der sich Annabel seit den Kindertagen unauslöschlich eingebrannt hatte. Hier mischte sich das süße Aroma mit Autoabgasen, dem Geruch von Tieren, Menschen und Holzkohlefeuern und ließ ihr Herz schneller klopfen.

Vom ersten Atemzug an empfand Annabel auf Madagaskar eine neue Energie und das ungewohnte Gefühl, als wäre sie angekommen. Ein Tag nur trennte sie vom kalten deutschen Winter, aber es war mehr als nur Wetter und Entfernung. Es kam ihr vor, als hätte sie die Grenze zu einer neuen Welt überschritten.

In der Luft lag noch die Kühle der Nacht. Sie fröstelte und rieb ihre nackten Arme. Gleichzeitig konnte sie spüren, wie es mit jeder Minute heißer wurde.

Annabel streckte sich, gähnte und sah sehnsüchtig zu dem breiten Bett. Aber es blieb keine Zeit zum Schlafen. In wenigen Stunden ging ihr Weiterflug in den Norden, nach Sambava, der Vanillehauptstadt der Insel. Dort würden Onkel Bernd und Tante Marlene sie vom Flughafen abholen. Annabel wollte die Zeit bis zum Abflug nutzen, um mehr von Antananarivo zu sehen.

Kurz darauf verließ sie in einem eleganten weißen Leinenkleid und einem breitkrempigen weißen Sonnenhut mit schwarzem Band das Hotel. Trotz der frühen Stunde drängten sich die Menschen auf den Wegen. Autos, die aussahen, als stammten sie aus einem alten Film, teilten sich die Straßen mit handgezogenen Karren und Ochsengespannen. Zwischen modernen Gebäuden und Hochhäusern standen strohgedeckte Hütten, doch die Gegensätze fügten sich erstaunlich harmonisch zusammen.

Die Atmosphäre wirkte entspannt. Annabel dachte daran, wie ihr Vater von der Freundlichkeit und Offenheit der Madagassen geschwärmt hatte. Bei dem Gedanken an ihren Vater wurde ihre Kehle eng.

Ach wärst du doch hier, Papa!

Für einen Moment vergaß sie das Treiben um sich herum. Noch vor einer Woche hätte sie ein Vermögen darauf gewettet, dass sie niemals einen Fuß nach Madagaskar setzen würde. Erst recht nicht ohne ihren Vater. Sie seufzte und fuhr sich mit der Hand über die feuchten Augen. Vielleicht hatte Tante Marlene recht gehabt, und ihre Idee, alles hinzuschmeißen und nach Madagaskar zu reisen, war verrückt.

Aber warum sollte sie nicht auch einmal etwas Verrücktes tun? Ihr Chef in der Kanzlei hatte ihr zwei Wochen Urlaub gegeben, um ihre Angelegenheiten zu regeln.

„Meine liebe Annabel“, hatte Dr. Jansen senior ihr mit einer Stimme gesagt, die mitfühlender klang, als er je sein würde. „Regeln Sie in aller Ruhe Ihre Angelegenheiten, bevor Sie in die Kanzlei zurückkommen.“

Zu regeln gab es nicht viel. Ihr Vater würde auf Madagaskar beerdigt werden, und Tante Marlene hatte ihr am Telefon versichert, dass sie schon alles für das Begräbnis in die Wege geleitet hatte. Für Annabel gab es zwei Möglichkeiten: Sie konnte entweder in Hamburg sitzen und trauern oder zur Beerdigung ihres Vaters fliegen und zugleich die Zeit nutzen, mehr über ihn herauszufinden. Und nur auf Madagaskar hatte sie jetzt noch eine Chance, den Teil seines Lebens kennenzulernen, über den sie kaum etwas wusste.

Annabel bemerkte, dass sie über ihren Gedanken nicht darauf geachtet hatte, wohin sie gelaufen war. Sie blieb stehen, blätterte suchend in ihrem Reiseführer, dann beschattete sie die Augen mit der Hand und sah sich um. Ganz in der Nähe musste der Zoma sein, der Freitagsmarkt.

Am Ende der Straße entdeckte sie strohgedeckte Dächer und Hunderte ehemals weißer Sonnenschirme, unter denen die Händler ihre Stände aufgebaut hatten. Kleidung und bunte Stoffe lagen ausgebreitet zwischen Tischen mit Schmuck und Edelsteinen.

Dieser Basar besaß keine Ähnlichkeit mit einem deutschen Markt. Auf Ochsenwagen türmten sich Käfige mit lebenden Hühnern, Obst und Gemüse. Tiere muhten, gackerten und schnaubten. Ein paar Hunde stromerten schnüffelnd herum und wurden gutmütig von den Händlern verscheucht. An jeder Ecke stieg Annabel ein neuer Geruch in die Nase. Neben ihr biss ein Kind so herzhaft in eine Mango, dass ihm der Saft über das Kinn tropfte. Das kleine Mädchen zupfte am Rock seiner Mutter und sagte etwas in einer melodischen Sprache, die Annabel noch nie gehört hatte.

Wie weit mochten die Händler an diesem Morgen schon gefahren sein? Viele von ihnen waren mit Ochsengespannen angereist, doch niemand hier wirkte müde. Annabel betrachtete die Leute eingehender. Die meisten waren muskulös und ohne Fett, aber kräftig gebaut. Obwohl ihre bunte Kleidung oft abgetragen wirkte, machten die Menschen keinen ärmlichen Eindruck, sondern wirkten fröhlich und stolz.

„Bonjour, vazaha“, riefen viele Annabel zu. Das bedeutete Fremde und war die übliche Begrüßung für Weiße, wie sie aus ihrem Reiseführer wusste.

„Bonjour“, grüßte sie zurück.

Langsam schlenderte sie über den Markt und beobachtete das bunte Treiben. Niemand schien einfach etwas zu dem verlangten Preis zu kaufen. Lautstarkes Handeln gehörte offenbar zum Geschäft. Annabel nahm ein Baumwolltuch in leuchtendem Rot und Purpur von einem Tisch, das perfekt zu ihrem schwarzweißen Kleid passte. Sie rollte es zusammen und drapierte es um ihren Hals, sehr zum Vergnügen der Verkäuferinnen.

Die beiden fülligen Frauen hinter dem Stand kicherten hinter vorgehaltener Hand. Eine von ihnen kam um den Tisch herum zu Annabel, nahm das weiche Tuch und legte es ihr um die Hüften.

„Das ist eine Lamba. So müssen Sie sie tragen“, erklärte die Händlerin in schnellem Französisch. „Oder so.“ Sie deutete auf ihre eigene Lamba, die sie wie ein Cape um die Schultern geknotet hatte.

Annabel stimmte in das Lachen mit ein. Die großen Stoffstücke wurden von Männern und Frauen für nahezu jeden Zweck genutzt – als Bluse, Umhang oder Wickelkleid, um Babys damit auf dem Rücken zu tragen, als Rock über nackten Beinen oder manchmal auch über einer Anzughose – aber offenbar nicht als Schal.

„Wie viel kostet es?“ Ohne nachzudenken antwortete sie auch auf Französisch. Jetzt war sie froh, dass ihr Vater darauf bestanden hatte, dass sie die Sprache lernte. Das war das Einzige gewesen, wobei er hartnäckig geblieben war.

Annabel hatte das Gefühl, die Händlerin wäre enttäuscht gewesen, wenn sie einfach den geforderten Preis gezahlt hätte. Instinktiv begann sie, ausgiebig zu handeln, bis sie sich schließlich zur beiderseitigen Zufriedenheit auf einen Preis in der Mitte einigten.

Sie verstaute das Tuch in ihrer Tasche und ging weiter. Vielleicht konnte sie auf dem Markt auch ein Geschenk für Tante Marlene und Onkel Bernd finden. Sie betrachtete eingehend eine Kette aus weißen Muscheln. Sie legte sie wieder zurück, als ihr ein blonder Schopf auffiel, der all die dunkelhaarigen Köpfe überragte. Selbst um diese frühe Uhrzeit war sie offenbar nicht der einzige Tourist auf dem Markt.

Für einen Moment sah sie dem Mann hinterher. Bei näherer Betrachtung wirkte er nicht wie ein Urlauber, sondern als wäre hier zu Hause. Immer wieder blieb er stehen und wechselte einige Worte mit den Händlern. In der Hand trug er einen geflochtenen Korb, der mit Obst und Gemüse gefüllt war. Eine Aura intensiver Lebendigkeit umgab ihn, als er schlank und hoch aufgerichtet durch die Menge ging.

Ein Glitzern lenkte Annabels Blick von dem Fremden ab. Auf einer zerschlissenen Decke schimmerte eine Auswahl von Edelsteinen. Langsam trat sie näher zu dem Stand.

Aus den Erzählungen ihres Vaters wusste sie, dass es auf der Insel zahlreiche Fundorte für Edelsteine gab. Einige der weltbesten Juwelen stammten von Madagaskar. Fast alle Arten wurden hier abgebaut, von Rubin und Saphir, Topas und Smaragd bis hin zu Granat und Amethyst.

Sie betrachtete die ausgestellten Steine näher. Einige waren noch roh und ungeschliffen, andere geschliffen und glänzten rot, blau, grün oder violett in der Morgensonne. Annabel hob ein silbernes Kettchen mit einem blauen Anhänger auf. Vielleicht war dies ein hübsches Geschenk für Tante Marlene.

„Echter Saphir!“, versicherte der Händler und kam näher. „Beste Madagaskarqualität, madame.“

„Was kostet die Kette?“

Er nannte einen erstaunlich geringen Preis für einen echten Saphir. Annabel wollte gerade ihr Portemonnaie aus der Handtasche holen, als sich eine Hand auf ihren Arm legte.

„Lassen Sie das Geld in der Tasche“, sagte eine Männerstimme dicht an ihrem Ohr.

Sie fuhr herum und sah in das sonnengebräunte Gesicht des blonden Mannes. „Am besten gehen Sie wieder in ihr Hotel zurück, bevor Ihnen Schlimmeres passiert, als hier übers Ohr gehauen zu werden“, sagte er unfreundlich.

Annabel befreite mit einem Ruck ihren Arm. „Was bilden Sie sich ein? Mit welchem Recht sagen Sie mir, was ich zu tun oder zu lassen habe?“

„Diese Steine sind nicht echt, und wenn Sie so aufgetakelt auf offener Straße mit ihrem Geld rumwedeln, brauchen Sie sich nicht zu wundern, wenn es Ihnen abgenommen wird.“ Aus sturmgrauen Augen starrte er sie unfreundlich an. „Aber Sie haben bestimmt nicht einmal eine Vorstellung davon, wie bitterarm die Leute hier sind. Sie kommen wegen der Traumstrände nach Madagaskar und hoffen, dazu vielleicht noch billig ein paar hübsche bunte Juwelen zu bekommen.“

Aufgetakelt! Annabel schnappte nach Luft. „Wie schön, dass Sie so genau wissen, warum ich hier bin und wofür ich mich interessiere.“

„Touristen sind doch alle gleich“, sagte er kalt.

„Warum haben Sie mich dann nicht einfach in Ruhe gelassen? Was kümmert es Sie, wenn ich von einem dieser bitterarmen Menschen übers Ohr gehauen werde?“, fauchte sie.

„Das hätte ich garantiert auch getan, wenn Sie es nicht ausgerechnet hier versucht hätten. Sie wären wahrscheinlich nicht mit einem leeren Portemonnaie davongekommen. Und jetzt lassen Sie uns endlich von hier verschwinden.“

Annabel wollte trotzig widersprechen, als sie sah, dass sich inzwischen immer mehr Männer um sie geschart hatten und sie finster anblickten. Sie schloss den Mund wieder und folgte dem Fremden, als er sich durch die Umstehenden schob. Schweigend machten sie ihm Platz. Erst jetzt bemerkte Annabel, wie weit sie sich von dem Hauptteil des Basars entfernt hatte.

„Danke“, sagte sie, als sie wieder die Hauptstraße erreicht hatten, und sah sich nach ihrem Retter um, doch er war nicht mehr an ihrer Seite.

„Unverschämter Kerl“, murmelte sie und versuchte zu lachen, aber die Lust am Einkaufen war ihr vergangen.

3. KAPITEL

Annabel hob ihre Reisetasche vom Gepäckband und wandte sich zusammen mit den anderen Passagieren ihres Fluges zum Ausgang. Vor der Tür blieb sie stehen und strich mit den Händen noch einmal glättend über ihre schwarzen Haare. In wenigen Minuten würde sie zum ersten Mal Onkel und Tante gegenüberstehen, und sie wollte einen guten Eindruck auf ihre Verwandten machen.

Sie seufzte, als sie ihr Spiegelbild in der Glastür auffing. Ihr war wichtig, stets makellos gekleidet und frisiert zu sein. Schon in der Schule hatte sie gelernt, dass Menschen nach ihrer äußeren Erscheinung beurteilt wurden. Ihre ließ im Moment leider einiges zu wünschen übrig. In der feuchten Luft hatten sich einige Haarsträhnen aus dem strengen Knoten gelöst, und ihr Leinenkleid war nach dem Flug zerknittert.

In der Hoffnung, damit gepflegter auszusehen, nahm sie den weißen Strohhut aus der Tasche und setzte ihn auf. Nach einem weiteren Blick in die Scheibe zuckte sie mit den Schultern. Es gab überhaupt keinen Grund, nervös zu sein. Sie war schließlich nicht hier, um ihre Verwandten zu beeindrucken. Onkel und Tante hatten nie großes Interesse an ihr gezeigt.

Sie wusste über sie nur das wenige, das der Vater ihr erzählt hatte. Gemeinsam mit seinem Bruder Bernd war Carsten Hansen in seiner Jugend einige Jahre lang um die Welt gereist, bis sie nach Madagaskar gekommen waren. Die Insel hatte die beiden jungen Männer so fasziniert, dass sie für immer bleiben wollten. Als sich ihnen die Gelegenheit bot, eine Vanilleplantage zu kaufen, griffen sie ohne zu zögern zu.

Einige Zeit später holte Carsten seine Verlobte Barbara aus Hamburg zu sich nach Madagaskar. Bei der Reise wurde sie von ihrer Zwillingsschwester Marlene begleitet. Marlene und Bernd verliebten sich auf den ersten Blick ineinander, und bald darauf feierten die vier eine Doppelhochzeit.

Doch im Gegensatz zu ihrer Schwester konnte Barbara sich nie auf der Insel einleben. Als sie schwanger wurde, reisten sie und Carsten zurück nach Hamburg und eröffneten dort einen Vanillehandel. Wenige Jahre später war Barbara Hansen gestorben.

Ich weiß nicht einmal, woran meine Mutter gestorben ist, schoss Annabel durch den Kopf, nur, dass es eine Krankheit war. Als sie klein war, hatte eine seltsame Scheu sie davon abgehalten, den Vater zu drängen, ihr mehr zu erzählen. Immer wenn sie begann, von ihrer Mutter zu sprechen, oder von seinem Leben auf Madagaskar, trat ein Ausdruck in seine Augen, der sie zum Schweigen brachte.

Eines Tages hatte sie schließlich ihren ganzen Mut zusammengenommen. Sie erinnerte sich noch genau. Es war ihr zwölfter Geburtstag gewesen. In der Nacht davor hatte sie lange wach gelegen und sich genau überlegt, was sie ihren Vater alles fragen wollte. Vielleicht würde er alte Bilder herausholen, ihr erzählen, wie ihre Mutter mit ihr gesungen und gespielt hatte.

Auf dem Frühstückstisch hatte eine Eistorte auf sie gewartet. Annabel konnte noch immer die dicken weißen Sahnetupfen vor sich sehen, in denen die zwölf Kerzen steckten.

Sie hatte es nicht abwarten können. Noch bevor sie die Kerzen ausblies, war sie herausgeplatzt: „Papa, ich bin jetzt alt genug. Bitte erzähl mir von Mama! Warum ist sie gestorben? War sie lange krank? Hatte sie mich richtig doll lieb? Hat sie viel mit mir gespielt? Bitte, ich kann mich nicht mehr erinnern …“ Vor Aufregung überschlugen sich ihre Worte.

Ihr Vater sah sie lange schweigend an. Doch das reichte Annabel nicht mehr. „Bitte, du musst mir endlich von ihr erzählen. Sie war doch meine Mutter. Alle haben eine Mutter, bloß ich weiß nichts über meine …“

„Das reicht! Ich möchte nicht darüber reden, Annabel.“ Carsten Hansen nahm das Messer und teilte die Torte in mehrere Stücke. „Ich kann nicht darüber reden, Liebes“, fuhr er sanfter fort. „Irgendwann … aber nicht heute. Jetzt lass uns die Torte essen, bevor das Eis schmilzt.“

Annabel erinnerte sich genau an den Geschmack der Torte. Ihr Vater hatte sie selbst für sie zubereitet. Noch heute wurde ihr übel, wenn sie auch nur an Vanilleeis dachte.

Nach ein paar Bissen hatte sie den Löffel auf den Teller geworfen, war aus der Küche gestürmt und hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen. Ihr Vater klopfte immer wieder an die Tür, aber sie drückte sich ihr Kissen auf den Kopf, damit sie seine Stimme nicht hörte, aber auch, um ihr bitteres Schluchzen zu ersticken.

An jenem Tag war etwas in ihr zerbrochen. Sie hatte nicht länger versucht, ihren Vater zu beeindrucken, ihn nie wieder nach ihrer Mutter gefragt – und auch nach sonst nicht viel. Sie hatte gespürt, wie sehr sie ihn mit ihrem Schweigen verletzte. Aber das geschah ihm ganz recht. Sie war selbst verletzt, jetzt sah er mal, wie sich das anfühlte. Sollte er doch kommen! Wenn er bereit war, ehrlich mit ihr zu reden, hatte er jede Gelegenheit.

Aber er war nicht gekommen, und die Kluft zwischen ihnen war mit jedem Tag größer geworden, bis sie schließlich unüberbrückbar erschien.

Hätte ich damals bloß das verfluchte Schweigen gebrochen, wünschte sie sich in diesem Moment.

Dann schob sie die wehmütigen Erinnerungen zur Seite. Dafür war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Sie war nicht nach Madagaskar gekommen, um die Vergangenheit wiedergutzumachen. Sie würde ihren Vater beerdigen und hoffentlich Antworten auf einige Fragen finden, das war alles. Annabel holte tief Luft, straffte die Schultern und verließ die Ankunftshalle.

Sie erkannte die beiden sofort. Onkel Bernd sah aus wie eine stämmigere Ausgabe ihres Vaters, dasselbe kantige Kinn, dieselben weizenblonden Haare. Die Kakihose und das beigefarbene Hemd betonten seine von der Tropensonne gebräunte Haut. Die blauen Augen erinnerten Annabel so sehr an den Vater, dass ihre Kehle eng wurde.

Tante Marlene dagegen besaß nicht die geringste Ähnlichkeit mit den Fotos von Annabels Mutter. Hatte Barbara weiblich und zerbrechlich gewirkt, sah Marlene vor allem zäh aus, als würde sie sich von nichts unterkriegen lassen.

Sie war groß und mager, ihr schwarzes Haar war großzügig mit grauen Strähnen durchzogen. Sie trug es kurz, die Locken ringelten sich um ihr schmales Gesicht. Im Gegensatz zu den regelmäßigen Zügen ihrer Schwester, war Marlene eher markant als hübsch zu nennen. Statt Barbaras hoher Wangenknochen besaß Marlene eine ausgeprägte Nase und ein leicht fliehendes Kinn. Ihre Kakihose sah etwas fadenscheinig aus, ebenso die weiße Bluse, doch beides war makellos sauber und gebügelt.

Annabel wusste, dass die Tante achtundfünfzig Jahre alt war, zwei Jahre jünger als ihr Mann, aber sie hätte sie älter geschätzt. Zahlreiche Falten zogen ein Netz über ihre tief gebräunte Haut. Sie wirkte, als hätte sie nicht die Zeit oder das Interesse, viel über ihr Äußeres nachzudenken. Als einziges Zeichen von Eitelkeit klirrten einige silberne Reifen an ihren sehnigen Handgelenken. Ihr etwas männlicher Gang passte zu ihrer Figur ohne weibliche Rundungen. Es war der Gang einer Frau, die gewohnt war, hart zu arbeiten und ihre eigenen Entscheidungen zu treffen.

Sie wirkte wie jemand, der oft und gern lachte, doch als sie jetzt Annabel entdeckte, blieb ihr schmaler Mund ernst. Trotz der Hitze erschauerte Annabel bei ihrem kühlen Blick, aber dann lächelte die Tante, hob den Arm und winkte.

Das muss ich mir eingebildet haben, dachte Annabel. Bestimmt war sie einfach übermüdet, und die fremden Eindrücke hatten ihre Nerven überreizt.

„Mein Liebes! Endlich lernen wir dich persönlich kennen.“ Onkel Bernd schloss Annabel in die Arme. „Carsten hat uns immer so viel von dir erzählt.“

Wenn Annabel die Augen schloss, konnte sie fast glauben, die Stimme ihres Vaters zu hören. Sie zwinkerte, um die Tränen zurückzuhalten.

Er hielt sie ein Stück von sich fort und betrachtete sie von Kopf bis Fuß. „Du bist noch hübscher, als ich nach den Bildern von dir gedacht habe. Und so elegant wie ein Filmstar!“ Er ließ sie los und nahm ihr den großen Rollkoffer ab.

Ein liebenswerter Mann, dachte Annabel. Während ihr Vater stets höflich gewesen war, strahlte Onkel Bernd echte Warmherzigkeit aus. Auch wenn er seinem Bruder so ähnlich sah, waren die beiden Männer dem ersten Eindruck nach zu urteilen sehr unterschiedlich.

„Herzlich willkommen auf Madagaskar.“ Tante Marlene küsste die Luft neben den Wangen ihrer Nichte.

„Ich bin sehr froh, bei euch zu sein, Tante Marlene.“

Die Tante lächelte. „Wir freuen uns auch, meine Liebe. Aber findest du Onkel und Tante nicht auch etwas unpassend? Ich meine, du bist schließlich kein kleines Kind mehr, nicht wahr? Sag einfach Bernd und Marlene zu uns.“

Annabels Lächeln verschwand. Sie empfand den Vorschlag der Tante als Zurückweisung, aber sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. „Ja, natürlich.“

Onkel Bernd lachte, als hätte seine Frau einen Scherz gemacht, aber Annabel hatte das Gefühl, als wäre ihm ihre Bemerkung unangenehm. „Ich würde mich freuen, wenn du Onkel Bernd zu mir sagst.“

Als sie das klimatisierte Flughafengebäude verließen, traf die feuchte Hitze Annabel wie ein Hammerschlag.

„Madame, Monsieur, moi, moi“, bettelten einige Jungen, die für ein paar Cent den Rollkoffer tragen wollten. „Donne-moi de l’argent, vazaha.“ Geben Sie mir Geld. Bernd Hansen wimmelte sie ab, doch sie liefen ihnen noch bis zum Parkplatz hinterher.

„Wie gefällt dir unsere Insel?“, erkundigte sich Bernd. „Ganz anders als Hamburg, nicht wahr?“

Marlene schüttelte den Kopf. „Ach Bernd, nun lass doch mal! Sie ist ja gerade erst angekommen!“

„Ich habe eine Nacht in Antananarivo verbracht und mir heute Morgen schon den Zoma angesehen. Antananarivo ist fantastisch!“, entfuhr es Annabel ehrlich.

„Wenn dir Tana gefallen hat, wirst du von unserer Plantage und den Stränden begeistert sein.“

„Annabel ist nicht zum Spaß hergekommen, Bernd“, erinnerte Marlene streng.

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