Versteck dich nicht vor der Liebe!

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"Cathy!" Jack traut seinen Augen nicht. Die Ärztin, die seinem kleinen traumatisierten Neffen helfen soll, ist Cathy Heineman, mit der er studiert hat. Die genauso hinreißend ist wie früher! Aber warum nennt sie sich jetzt Kate Martin? Und scheint Angst vor Zärtlichkeit zu haben?


  • Erscheinungstag 08.08.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733718152
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

„Wenn Sie Ihr Kind mit Mantra-Singen und Delfinen retten wollen, die unsere Fische fressen, dann verschwenden Sie ruhig Ihr Geld. Im Delfinzentrum wird man für dumm verkauft, und Sie fallen direkt drauf rein.“

So etwas wollte Dr. Jack Kincaid nun gar nicht hören. Er warf einen Blick auf das blasse Kind auf dem Beifahrersitz und hoffte, dass Harry nichts mitbekommen hatte.

Das Gesicht des kleinen Jungen war ausdruckslos, wie immer. Seit dem Autounfall, bei dem seine Eltern ums Leben gekommen waren, hatte Harry kaum gesprochen.

„Das Delfinzentrum scheint aber einen guten Ruf zu haben.“ Etwas Besseres fiel Jack nicht ein. Er hätte lieber gar nicht erst angehalten, doch er musste tanken. Der dicke, schmuddelige Tankwart, der sich offensichtlich langweilte, war herausgekommen, um ein Schwätzchen zu halten.

Kein Wunder, dass er gelangweilt aussah. Auf dieser Straße fuhren wahrscheinlich kaum Autos entlang. Jack war knapp fünfhundert Kilometer von Perth entfernt und wollte zu einem der entlegensten Teile Australiens, zur Dolphin Bay.

Delfine. Heilung. Er dachte an die unzähligen kitschigen New-Age-Plakate, die er im Laufe der Jahre gesehen hatte, und ihm wurde beinahe übel.

Was tue ich hier eigentlich, fragte er sich.

„Ihr Kind ist also krank?“, meinte der Tankwart.

Jack drückte auf die Fernbedienung, und die Autofenster glitten lautlos hoch. Harry sollte nicht mithören.

Doch der Junge reagierte gar nicht. Er schien nicht einmal zu merken, dass er ausgeschlossen wurde. Er schien nie irgendetwas zu merken.

„Er ist vor einiger Zeit bei einem Unfall verletzt worden“, sagte Jack.

Die Benzinpumpe arbeitete unendlich langsam, und dieser Typ hatte es sich offenbar in den Kopf gesetzt, seinen Kunden einem Kreuzverhör zu unterziehen. Jack blieb also nichts anderes übrig, als es über sich ergehen zu lassen.

„Sie sind sein Dad?“, fragte der Mann.

„Sein Onkel“, antwortete Jack. „Seine Eltern wurden bei dem Unfall getötet.“

„Armer kleiner Kerl“, erwiderte der Tankwart. „Aber wieso bringen Sie ihn zur Dolphin Bay? Dort werden Sie doch bloß übers Ohr gehauen, Kumpel. Früher konnte man dort gut fischen, aber jetzt nicht mehr. Diese New-Age-Hippies haben sogar die Erlaubnis, die Delfine zu füttern, und locken sie damit extra an.“

„Wie lange werden sie dort schon zur Therapie eingesetzt?“, erkundigte sich Jack.

„Seit diese Frau, Dr. Kate, gekommen ist. Davor ging es nur um Delfinrettung. Der Ort ist voll von Tierschützern und Spinnern, die glauben, Meditation ist besser, als sich dem Leben zu stellen. Meiner Meinung nach ist nur ein toter Delfin ein guter Delfin“, erklärte der Dicke. „Wenn wir sie wenigstens erschießen dürften …“

Da der Tank endlich voll war, zog Jack erleichtert sein Portemonnaie heraus. „Das Wechselgeld können Sie behalten.“ Er wollte so schnell wie möglich weg von hier. „Kaufen Sie sich Fischköder davon.“

„Danke, Kumpel“, sagte der Mann. „Aber an Ihrer Stelle würde ich mich im Motel einbuchen und mit dem Jungen angeln gehen. Viel besser, als sich mit den Hippies abzugeben.“

„Ich würde auch lieber angeln gehen“, gestand Jack. „Aber ich habe keine Wahl.“

„Sie sehen aus wie ein Mann, der weiß, was er will. Was hält Sie also davon ab?“, entgegnete der Tankwart.

„Frauen“, meinte Jack. „Ist doch immer so, oder?“

Der Tod des vierjährigen Toby Linkler kam plötzlich. Es war herzzerreißend – und ein wunderbarer Segen.

Kate beobachtete Tobys Mutter Amy, die im seichten Wasser stand und ihren kleinen Sohn in den Armen hielt. Zusammen hatten sie zugeschaut, wie Hobble, der jüngste der ausgebildeten Delfine, seine Kreise um sie zog. Das Gesicht des kleinen Jungen, abgemagert von der Krankheit und monatelanger Chemotherapie, leuchtete auf, und er lachte sogar fast.

Dann, als Hobble untertauchte und Toby mit einem sanften Stups ein Stückchen aus dem Wasser hob, wandte sich Tobys Blick auf einmal nach innen.

Kate stand nur etwa eineinhalb Meter entfernt, und sie reagierte schnell. Aber als sie ihn erreichte, war der Kleine gestorben.

Tobys Mutter weinte, doch sie rührte sich nicht. Die Kreise des Delfins wurden weiter, als würde er sie abschirmen wollen. Kate fragte sich, wie viel das Tier wohl verstand. Niemand störte diesen Moment, auch nicht die anderen Delfine.

„Er … er ist tot“, brachte Amy schließlich unter Tränen hervor. „Oh, Toby. Die Ärzte haben gesagt, es könnte … Er könnte …“

Ja, mehrere Ärzte hatten Anfälle und einen plötzlichen Tod vorhergesagt. Kate hatte die Patientenakte sorgfältig studiert, so wie sie alle Unterlagen ihrer Patienten las. Vier Jahre alt. Gehirntumor. Unvollständige Entfernung vor einem Jahr. Durch die Chemotherapie war der Tumor etwas zurückgegangen, doch letztendlich war er stärker gewesen als die Behandlung.

Die letzte Eintragung lautete: „Bei dem aktuellen Tumorwachstum beträgt die Lebenserwartung nur noch wenige Wochen. Wir empfehlen Palliativversorgung nach Wunsch und überweisen zurück an den Hausarzt.“

Eine andere Mutter auf der Kinderkrebsstation hatte Amy von der Delfintherapie in Dolphin Bay erzählt. Und Kate war es trotz ihres vollen Terminkalenders gelungen, Toby und seine Mutter noch in das Therapieprogramm mit aufzunehmen.

Gott sei Dank, dachte sie jetzt. Den größten Teil der vergangenen Tage hatte Toby in seinem kleinen Neoprenanzug im Wasser bei den Delfinen verbracht, die ihn vollkommen verzaubert hatten.

Es gab vier Delfine, denen Kate diesen kleinen, zerbrechlichen Jungen anvertrauen konnte. Und alle vier hatten mit ihm gespielt. Sie hatten ihn zum Lachen gebracht, ihn angestupst, während er mit Schwimmflügeln auf dem Wasser paddelte. Die Delfine hatten Bälle hoch in die Luft geworfen, die dann dicht neben ihm landeten, und sie selbst zurückgeholt, wenn der Kleine nicht mehr konnte.

Natürlich hatte Toby auch weiterhin Medikamente einnehmen müssen. Aber sechs herrliche Tage lang war er einfach wieder ein kleiner Junge gewesen. Er hatte gelacht und Spaß gehabt, hatte Dinge erlebt, die nichts mit der Krankheit und den vielen Operationen zu tun hatten. Nachts hatte er zusammen mit Kates Therapiehund Maisie im Arm geschlafen. Mit seiner Mum an seiner Seite hatte er einen beinahe fröhlichen Eindruck gemacht.

Heute Morgen war er beim Aufwachen stiller und blasser gewesen, und seine Atmung flacher. Kate hatte gespürt, dass es bald zu Ende gehen würde.

Doch trotz seiner Schwäche hatte der kleine Junge eindeutig seinen Wunsch geäußert: „Ich möchte mit Hobble schwimmen.“

In den Armen seiner Mutter hatte Toby die glänzende, glatte Haut des Delfins fühlen können, als dieser ihn umkreiste.

„Er ist mein Freund“, hatte der Junge geflüstert.

Und jetzt war Toby gestorben.

Hier gab es keinen Platz für vergebliche Wiederbelebungsmaßnahmen, sondern nur den unendlichen Schmerz einer Mutter, die ihr Kind verloren hatte.

Dennoch, als ihr heftiges Weinen schließlich nachließ, flüsterte Amy erstickt: „Ich bin ja so froh. Ich bin so froh, dass ich ihn hergebracht habe. Oh, Kate, ich danke Ihnen.“

„Danken Sie nicht mir.“ Kate umarmte sie und führte sie sanft ans Ufer. „Danken Sie meinen Delfinen.“

„Dr. Kate wird sich ein bisschen verspäten“, meinte die freundliche Frau am Empfang in entschuldigendem Ton. „Es tut mir leid, Harry.“

Jack war überrascht. Die Frau sprach seinen Neffen an und nicht ihn.

„Das hier ist Maisie.“ Sie zeigte auf einen großen blonden Labrador-Retriever, der unter ihrem Schreibtisch döste. „Maisie, das ist Harry.“ Sie stieß die Hündin leicht mit dem Fuß an, woraufhin Maisie fragend aufschaute.

Ich? Meinst du mich?

„Maisie“, sagte die Rezeptionistin streng. „Sag Hallo zu Harry.“

Die Hündin rollte sich auf den Rücken, streckte sich ausgiebig und seufzte, ehe sie sich aufrappelte, durch das Zimmer trabte, sich vor Harry hinsetzte und die Pfote hob.

Der Junge starrte sie an. Geduldig blieb die Hündin in dieser Pose sitzen, bis Harry die erhobene Pfote schließlich vorsichtig ergriff. Erstaunt bemerkte Jack, dass sein kleiner Neffe fast ein Lächeln zustande brachte. Nicht ganz, aber fast.

Während Harry und Maisie sich ein zweites Mal Hand und Pfote schüttelten, wandte sich die Frau an ihn. „Dr. Kate ist im Wasser bei der Therapie. Aber sie wird sicher gleich fertig sein. Wollen Sie schon mal an den Strand runtergehen? Bitte stören Sie sie nicht, aber wenn Sie hinter der Hochwassermarke bleiben, dürfen Sie gerne zugucken.“

Er wollte sehr gerne zuschauen. Obwohl Harry vollkommen entspannt wirkte und dem großen Hund gerade zum dritten Mal die Pfote schüttelte, war Jack jedoch noch immer äußerst skeptisch.

Wieso bin ich überhaupt hier, fragte er sich erneut. Ihr Zuhause war in Sydney. Harry benötigte gute Physiotherapie, damit sein verletztes Bein heilte. Außerdem brauchte er einen hervorragenden Kinderpsychologen, der endlich seine Mauer des Schweigens durchbrechen konnte.

Obwohl Jack einige ausgezeichnete Kinderpsychologen für Harry ausfindig gemacht hatte, war es keinem von ihnen gelungen, den Jungen aus seinem Kummer herauszuholen. Das hier war Helens Idee gewesen, und sie hatte sich bereit erklärt, Harry in Jacks Obhut zu lassen, falls er ihn hierher brachte.

War es das Risiko wert?

„Harry, willst du mit an den Strand gehen, oder möchtest du lieber hier bei Maisie bleiben?“, fragte die Rezeptionistin.

Harry sah Maisie an und nickte. Allein das war schon ein kleines Wunder. Seit dem Unfall war er willenlos und tat einfach immer nur das, was die Erwachsenen um ihn herum von ihm verlangten. Vor drei Monaten war er noch ein normaler Siebenjähriger gewesen. Vielleicht ein bisschen verwöhnt und etwas zu ernst, aber geborgen, geliebt und glücklich. Jetzt, ohne seine Eltern, wirkte er verloren.

„Bist du sicher?“, fragte Jack. Wie immer bekam er keine Antwort.

Harry kniete gerade vor dem Hund auf dem Boden, und Maisie robbte langsam seitwärts. Jack verstand, was sie vorhatte. Ein Ball lag in ihrer Nähe, zu dem sie auffordernd hinschaute.

Jack schob ihn ihr zu, Maisie packte ihn mit der Schnauze und ließ ihn vor Harry auf den Boden fallen. Dann entfernte sie sich etwas, legte sich hin und sah Harry mit eindringlichem Blick an.

Harry schaute Maisie an, und sie schaute ihn an. Im Raum herrschte atemlose Stille.

Dann nahm Harry vorsichtig den zerkauten Ball, stand auf und warf ihn ein kleines Stück. Maisie sprang sofort auf und fing den Ball, bevor er zu Boden fiel. Sie drehte sich dreimal im Kreis, warf den Ball selbst in die Luft und fing ihn erneut auf, bevor sie zurückkam und ihn Harry wieder vor die Füße legte.

Der Junge lachte leise.

„Ich kaufe den Hund“, murmelte Jack.

Die Rezeptionistin lachte. „Sie ist unverkäuflich. Sie bedeutet Kate mehr als Diamanten. Gehen Sie, und beobachten Sie sie bei der Arbeit, wenn Sie wollen. Harry und Maisie sind bei mir gut aufgehoben.“

Allerdings. Jack schaute Harry noch einen Moment lang zu und entspannte sich merklich. Zum ersten Mal seit dem Tod seiner Schwester. Die Hündin kümmerte sich um Harry, und Jack fühlte sich unglaublich erleichtert.

„Gehen Sie ruhig“, wiederholte die junge Frau. Ihre Botschaft war klar.

Es ist besser, wenn Sie nicht dabei sind. Lassen Sie die beiden Freundschaft schließen.

Sie hatte recht. Harry brauchte ihn nicht. Seit dem Unfall schien er überhaupt niemanden mehr zu brauchen.

Doch wenn ein Hund eine solche Veränderung bewirken konnte … Jack hatte es sogar mit einem Welpen versucht. Er hatte fast alles ausprobiert. Aber jetzt …

Egal, was das hier für ein seltsames Delfin-Mantra-Zentrum war, dieser Hund schaffte es, zu Harry durchzudringen.

Beruhigt ging Jack hinaus.

Toby war tot. Jetzt musste seine Mutter anfangen, sich dem Leben ohne ihn zu stellen.

Kate hatte den Arm um Amy gelegt, als sie das Wasser verließen.

Wenigstens war die Woche vor Tobys Tod nicht mehr mit Krankenhäusern, Chemotherapie und allgemeiner Hektik erfüllt gewesen. Die Delfine hatten dem Jungen geholfen.

Am Strand drehten Kate und Amy sich noch einmal um. Weit draußen vom tiefen Wasser her schien Hobble sie noch immer zu beobachten. Er schwamm in großen Kurven am Rand des abgetrennten Beckens. Am Ende jeder Kurve sprang er aus dem Wasser auf sie zu, ehe er wieder tief hineintauchte. Immer wieder.

„Danke“, flüsterte Amy ihm zu. Und vielleicht konnte das Tier sie ja verstehen, wer wusste das schon. Doch so oder so hatten die Delfine dem kleinen Jungen das Sterben erleichtert.

Nun warteten andere Patienten auf Kate. Sie musste weiterarbeiten. Aber das, was gerade geschehen war, hatte auch den Schmerz in ihrem eigenen Herzen ein bisschen gelindert.

Jack kam über die Uferböschung, als die beiden Frauen sich gerade abwandten und begannen, den Strand hinaufzugehen. Er sah zwei Frauen und ein Kind. Die Frauen trugen blaue Quallenschutzanzüge und das Kind einen Neoprenanzug.

Das Kind war tot.

Jack arbeitete schon lange genug als Mediziner, um das zu erkennen. Das Kind lag in den Armen der kleineren Frau. Sie weinte, und jeder Schritt zeigte ihre schmerzliche Trauer.

Was zum …

Jack fing an zu laufen. Vielleicht war es noch nicht zu spät. Warum versuchte niemand, das Kind zu reanimieren? Im Laufen zog er sein Handy aus der Tasche und drückte die Kurzwahl für den Notruf. Er dachte an Sanitäter, Sauerstoff, Rettung.

„Nicht anrufen.“ Die Stimme der größeren Frau klang streng und so eindringlich, dass Jack innehielt. Die andere Frau sank auf die Knie, das Kind noch immer in den Armen.

„Was zum Teufel …“, stieß er hervor.

„Es ist in Ordnung.“

Was sollte das? Das war doch vollkommen verrückt! Als er sie erreichte, wollte er zu dem Kind, doch die Frau hielt ihn zurück.

„Ich bin Dr. Kate“, sagte sie. „Es tut mir so leid, dass Sie das mit angesehen haben. Aber glauben Sie mir, es ist gut so.“

„Wie kann das gut sein?“, fragte er fassungslos.

„Toby hatte Krebs.“ Ihre Stimme war leise, um die andere Frau nicht in ihrer Trauer zu stören. Kate nahm ihn am Arm und zog ihn beiseite. „Er hatte Metastasen im Gehirn und war todkrank. Heute Nachmittag, als er mit den Delfinen spielte, hatte er einen Anfall und ist gestorben. Wir konnten nichts tun.“

„Haben Sie es denn überhaupt versucht?“, gab Jack ungläubig zurück. „Bestimmt hätte man …“

„Amy wollte es so“, erwiderte Kate. „Sie hat das Recht, für ihren Sohn zu entscheiden. Und ich glaube, es war eine gute Entscheidung.“ Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. „Sie sind sicher Harrys Vormund. Verzeihen Sie, dass ich spät dran bin. Aber Sie werden verstehen …“ Mit einer Handbewegung wies sie auf die Frau mit dem Kind. „Manche Dinge haben Vorrang. Konnte Maisie Ihren Harry beruhigen?“

Jack war entsetzt. Diese Frau verließ sich auf ihren Hund, um einen neuen Patienten zu empfangen? Andererseits hatte Maisie es tatsächlich geschafft, Harry zu beruhigen. Besser, als er selbst es je hätte tun können.

„Ja“, gab er zu. Dabei riss er widerstrebend den Blick von der trauernden Frau mit dem Kind los.

„Das freut mich“, meinte Kate lächelnd.

In diesem Augenblick stand plötzlich die Zeit still.

Jack kannte diese Frau! Sehr gut sogar. Dr. Catherine Heineman. Sie hatten zusammen studiert. Sie waren Praktikumspartner gewesen. Freunde.

Er hatte sie nicht mehr gesehen, seit …

„Du bist Dr. Kate?“ Er war vollkommen verblüfft.

„Ich bin Kate Martin“, erklärte die Frau. „Dr. Kate Martin.“

„Du bist Cathy.“

Sofort wich alle Farbe aus ihren Wangen. Sie blickte zu ihm auf und trat unwillkürlich einen Schritt zurück.

„Was für ein Quatsch ist das hier?“ Jack hatte die Broschüre des Delfinzentrums gelesen. Für den Therapiebereich war eine gewisse Dr. Kate Martin verantwortlich. Die Frau, die jetzt vor ihm stand. Der Broschüre zufolge besaß sie Qualifikationen in Physiotherapie und Psychotherapie. Zutiefst misstrauisch hatte Jack alles überprüft, aber die Studienabschlüsse stammten von einer der renommiertesten Universitäten Neuseelands.

Das passte jedoch weder zu dem, was er jetzt sah, noch zu dem, was er wusste. Die Frau hier war etwa Anfang dreißig. Cathy hatte er zwar zuletzt mit Anfang zwanzig gesehen, aber er erkannte sie.

„Du bist Cathy“, wiederholte er.

Sie zuckte sichtlich zusammen. „Das kann ich erklären.“

Das sollte sie auch. Psychotherapeutin und Physiotherapeutin? Hatte sie ihr Medizinstudium aufgegeben und im Ausland eine andere Ausbildung absolviert? Unter einem anderen Namen? Wieso? War ihr womöglich die ärztliche Zulassung entzogen worden?

Als Jack sie aufmerksam musterte, fielen ihm die Schatten unter ihren Augen auf. Sie war etwa eins fünfundsiebzig groß und etwas zu schlank. Im Studium hatte er sie attraktiv gefunden. Sehr attraktiv. Jetzt wirkte sie beinahe mager. Das rotbraune Haar hatte sie zu einem praktischen Knoten geschlungen, und der blaue Ganzkörper-Quallenschutzanzug wirkte an ihr absolut unschmeichelhaft. Ihre grünen Augen, die oft belustigt geblitzt hatten, wenn Jack ein Laborversuch misslungen war oder irgendjemand einen Witz machte, sahen aus, als würde sie nicht mehr viel lachen.

Warum versteckte sie sich hier?

Vielleicht wegen Drogen? Drogen- und Medikamentenmissbrauch waren der häufigste Grund, weshalb Medizinern die Zulassung entzogen wurde. Instinktiv fiel sein Blick auf ihre Arme, wo er nach verräterischen Narben suchte. Die Ärmel des Quallenanzugs waren hochgerollt, und ihre Unterarme schienen sauber zu sein.

Sobald Kate merkte, wohin sein Blick ging, wich sie zurück, als hätte er sie geohrfeigt. „Es ist nicht das, was du denkst. Ich kann es erklären.“

„Dann tu das.“ Schließlich hatte er Harry den ganzen Weg hierher geschleppt. Und das nur, um ihn von einer nicht zugelassenen Ärztin behandeln zu lassen?

„Jetzt geht es nicht.“ Kurz schloss sie die Augen. Dann sah sie ihn offen und direkt an. „Ich muss bei Amy und Toby bleiben. Ja, ich bin Cathy. Aber ich bin auch Kate. Ich bitte dich darum, es für dich zu behalten, bis du dir meine Erklärung angehört hast.“

Müde fuhr sie sich mit den Händen durchs Haar, wodurch sich der Knoten lockerte und sich einige Haarsträhnen daraus lösten. Dadurch wirkte sie auf einmal viel jünger und auch verletzlicher.

„Kannst du deinen Neffen und Maisie an den Strand bringen? Baut zusammen eine Sandburg. Gib mir bitte ein bisschen Zeit, ja?“

Damit drehte sie sich um und ging zurück zu der Frau mit dem Kind. Sie beugte sich zu ihr herunter, um der Mutter dabei zu helfen, den leblosen Körper ihres kleinen Sohnes hochzuheben. Gemeinsam trugen sie ihn den Strand hinauf.

Völlig entgeistert schaute Jack ihnen nach.

2. KAPITEL

Jack konnte es nicht fassen. Kate Martin, Physiotherapeutin und Psychotherapeutin, medizinische Direktorin des Delfintherapie-Zentrums von Dolphin Bay, hatte sich als Cathy Heineman entpuppt, eine Kommilitonin aus dem Medizinstudium.

Er war mit Cathy befreundet gewesen, und er hätte damals auch nichts dagegen gehabt, wenn mehr daraus geworden wäre. Cathy war lebhaft, witzig und schön gewesen, aber auch ein bisschen distanziert. Sie hatte nie über ihr Privatleben geredet und alle Annäherungsversuche lachend abgewehrt. Freundschaft, mehr nicht, hatte sie erklärt. Obwohl er immer eine gewisse Anziehung zwischen ihnen gespürt hatte, wenn sie manchmal noch spät abends zusammen im Labor gearbeitet hatten.

Im vierten Studienjahr war Cathy nach den Sommersemesterferien jedoch mit einem Ring am Finger zurückgekommen.

„Für Simon und mich war es schon seit unserer Kinderzeit klar, dass wir mal heiraten würden“, hatte sie erzählt. Mehr nicht.

Jack hatte ihren Mann nie kennengelernt; niemand kannte ihn. Und danach sah man in der Studentengruppe von Cathy auch nicht mehr viel. Sie nahm zwar noch an den Vorlesungen teil, aber mit der alten Kameradschaft war es vorbei.

Cathy war nicht einmal zur Examensfeier erschienen. Offenbar hatte sie sich ihre Urkunde per Post zuschicken lassen. Irgendein anderer Student hatte erzählt, dass sie nach Melbourne gezogen war, um dort ihre Assistenzzeit zu absolvieren. Das war das Letzte, was Jack von ihr gehört hatte.

Und jetzt … Ihm schossen unzählige Fragen durch den Kopf, doch vor allem würde er seinen Neffen niemals von jemandem behandeln lassen, der nicht ehrlich war.

Die Cathy, die er gekannt hatte, war hochintelligent gewesen.

Die Cathy von eben hatte ein totes Kind aus dem Wasser gebracht. Sie war an einem fragwürdigen Ort, wo sie fragwürdige Dinge tat, und es ging schließlich um das Wohlergehen seines Neffen.

Am liebsten wäre Jack sofort wieder aufgebrochen.

Da klingelte sein Handy. Es war Helen. Auf der Straße hierher hatte es so gut wie keinen Empfang gegeben.

„Wo bist du?“, fragte sie vorwurfsvoll.

„Im Delfinzentrum natürlich“, erwiderte er.

Sie atmete hörbar aus. „Ihr habt es also geschafft? Ist es gut? Oh, Jack, glaubst du, es wird ihm helfen?“

„Bis jetzt habe ich ein totes Kind gesehen und eine Ärztin, die nicht diejenige ist, für die sie sich ausgibt“, erklärte er schroff. „Helen, erinnerst du dich an Cathy Heineman? Sie hat zusammen mit Arthur und mir Medizin studiert. Nach dem vierten Studienjahr ist sie mehr oder weniger von der Bildfläche verschwunden. Erinnerst du dich?“

„Ja, die Superstudentin, mit der du im Labor zusammengearbeitet hast“, bestätigte Helen.

Helen hatte Zahnmedizin studiert, während ihr Bruder Arthur ein Kommilitone von Jack gewesen war. Arthur und Jack waren Freunde gewesen, und dadurch hatten Arthur und Helen Jacks Schwester Beth kennengelernt. Sie hatten sich schnell angefreundet, und durch die Heirat von Beth und Arthur war der Kontakt zwischen ihnen allen noch enger geworden. Daher kannten sie auch den jeweiligen Freundeskreis des anderen.

„Es ging das Gerücht, dass der Typ, den sie geheiratet hat, sehr besitzergreifend war“, sagte Helen nachdenklich. „Er ließ sie nicht aus den Augen. Nach ihrer Hochzeit hat man nicht mehr viel von ihr gesehen, und nach dem Abschlussexamen dann gar nichts mehr.“

„Sie ist hier“, sagte Jack. „Sie arbeitet als Physiotherapeutin und Psychotherapeutin. Das Ganze kommt mir irgendwie merkwürdig vor.“

„Na ja, es ist immerhin ein Delfinschutzzentrum“, antwortete Helen scherzhaft. „Jack, du hast versprochen, es auszuprobieren. Kate oder Cathy, ist doch egal, wie sie sich nennt, wenn die Sache funktioniert. Du weißt, dass ich selbst mit Harry hingefahren wäre. Aber dann hätte ich die Kinder mitnehmen müssen.“

Helen war eine Übermutter von fünf lebhaften, lauten Kindern und hatte ein großes Herz. Sie und ihr liebevoller Ehemann waren sofort bereit gewesen, ihren kleinen verwaisten Neffen in ihre große Familie aufzunehmen.

Es schien die perfekte Lösung zu sein. Helen war Harrys Tante, sie liebte ihn und war in der Lage, sich um ihn zu kümmern.

Jack war Harrys Onkel, aber er war Single. Er hatte sich als Spezialist in seinem onkologischen Fachbereich einen Namen gemacht und hatte keine Absicht, eine Familie zu gründen. Daher hatte er nie daran gedacht, seinen sieben Jahre alten Neffen aufzunehmen.

Nur dass der kleine Junge sich mitten in Helens lärmender Kinderschar nicht besonders wohlzufühlen schien. Harry war immer still und zurückhaltend gewesen. Durch den Verlust seiner Eltern und die schlimmen Verletzungen an seinem Bein hatte er sich noch mehr in sich selbst zurückgezogen.

Als Jack ihn das letzte Mal bei Helen besucht hatte, war Harry nicht einmal aus dem Zimmer gekommen, das er mit einem seiner Cousins teilte.

Helen hatte ihm dann Unterlagen über dieses Zentrum gezeigt.

„Es kann doch nicht schaden“, hatte sie gesagt. „Ich bringe die drei Großen woanders unter und nehme die Kleinen mit. Doug hat sicher nichts dagegen, oder, Schatz?“ Liebevoll hatte sie ihrem leidgeprüften Ehemann zugelächelt. „Wir tun alles, was für unsere Kinder nötig ist. Das gilt auch für Harry.“

Aber Harry war nun mal nicht so wie ihre Kinder. Jack hatte ihn an dem Abend beobachtet, wie er lustlos in dem Essen auf seinem Teller herumstocherte. Vollkommen unbeteiligt, als würde er den Lärm und das Gewusel um ihn herum gar nicht wahrnehmen.

Daraufhin hatte Jack einen Entschluss gefasst. „Lass mich eine Weile für ihn sorgen. Ich nehme mir ein paar Wochen frei von der Arbeit. Vielleicht ist er bei mir ja glücklicher.“

Danach konnte er kaum glauben, dass er das tatsächlich gesagt hatte. Mit Kindern kannte er sich überhaupt nicht aus. Und seine Freundin Annalise war entsetzt gewesen.

„Erwarte keine Hilfe von mir“, hatte sie erklärt. „Ich und Kinder? Nein! Darling, ich bin Radiologin, kein Kindermädchen.“

In den vergangenen zwei Wochen hatte Jack sein Bestes getan, war aber dennoch nicht zu Harry durchgedrungen.

„Aber du fährst mit ihm dorthin, ja?“, hatte Helen verlangt. „Ich schwöre dir, Jack, das ist genau das, was Harry braucht.“

„Er braucht Zeit, keinen esoterischen Schwachsinn.“

„Wenn du nicht mit ihm hinfährst, dann tu ich’s.“ Ihr Ton klang entschlossen. „Außerdem sollte ich hier die Entscheidungen treffen. Du bist nicht in der Lage, dich um ihn zu kümmern. Ich schon.“

Sie teilten sich die Vormundschaft für ihren Neffen. Eigentlich hätte Jack ihr das Feld überlassen sollen, weil Helen dem Jungen ein Heim und mütterliche Liebe bieten konnte und zudem jede Menge Erfahrung mit Kindern hatte. Lediglich Harrys trostloser Ausdruck hatte ihn davon abgehalten.

Mit ihm zu der Delfintherapie zu fahren, ist ein Test, dachte Jack. Helen und auch andere Verwandte wollten einen Beweis dafür, dass er es mit der elterlichen Rolle ernst meinte. Allerdings war er selbst sich dessen nicht einmal sicher. Vor allem, da Harry mittlerweile seit zwei Wochen bei ihm lebte, aber der Junge war kein bisschen aus seiner Trauer aufgetaucht.

Erst heute Nachmittag hatte ein großer Hund Harry zum Lächeln gebracht.

Autor

Marion Lennox
Marion wuchs in einer ländlichen Gemeinde in einer Gegend Australiens auf, wo es das ganze Jahr über keine Dürre gibt. Da es auf der abgelegenen Farm kaum Abwechslung gab, war es kein Wunder, dass sie sich die Zeit mit lesen und schreiben vertrieb. Statt ihren Wunschberuf Liebesromanautorin zu ergreifen, entschied...
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