Gefährliche Küsse für Lady Rose

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Es sollte die Hochzeit der Saison werden! Doch gerade als Lady Rose Rutherford die Vernunftehe mit einem Duke eingehen will, stürmt ein muskulöser Fremder in die Kirche und behauptet, sie sei bereits verheiratet – mit ihm! Schockiert erkennt Rose ihre große Liebe Thomas Beresford. Angeblich starb der Marineoffizier vor vier Jahren kurz nach ihrer heimlichen Hochzeit. Was ist ihm zugestoßen? Ist er wirklich aus Liebe zu ihr zurückgekehrt – oder will er nur an ihr beträchtliches Vermögen gelangen? Obwohl Rose immer stärker spürt, dass ihr fast mittelloser Ehemann ein dunkles Geheimnis hat, kann sie seinen verlangenden Küssen nicht widerstehen …


  • Erscheinungstag 24.05.2022
  • Bandnummer 379
  • ISBN / Artikelnummer 9783751511049
  • Seitenanzahl 264
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Eheglück ist reiner Zufall.

Jane Austen, Stolz und Vorurteil

Lady Rose Rutherford war keine junge Dame, die zum Zaudern neigte. Hatte sie sich einmal entschieden, hielt sie gemeinhin an ihrem Entschluss fest. Es war, befand sie, höchste Zeit, in die Zukunft zu blicken.

Auch war sie im Allgemeinen nicht abergläubisch. Doch nachdem sie zwölf Heiratsanträge abgelehnt hatte, erschien ihr der dreizehnte … nun, der gab einem Mädchen zwangsläufig zu denken. Vor allem, da er von einem Duke kam.

Selbst wenn es sich um den beiläufigsten, leidenschaftslosesten Heiratsantrag handelte, den ein Mädchen erhalten konnte. „Oh, und übrigens, falls Sie diesem Firlefanz ein Ende bereiten wollen …“

Das wollte sie tatsächlich.

Dies nun war der Abend vor ihrer Hochzeit. Rose hatte ihn gemütlich zu Hause verbringen wollen, nur mit ihrer Schwester und ihrer Nichte – die im Grunde wie eine Schwester war. Sie hatten auf ihrem Zimmer essen und im Kamin Brot und Crumpets, kleine pfannkuchenartige Hefeküchlein, rösten wollen. Aber statt einer ruhigen, beschaulich trauten Feier unter Schwestern drohte das Ganze in einen Streit auszuarten.

„Es ist ein schickliches Arrangement“, sagte Rose.

„Nein, es ist ein Fehler“, beharrte ihre Schwester Lily.

„Mir ist schleierhaft, wie irgendwer den Wunsch verspüren kann, ihn zu heiraten“, warf Roses Nichte Lady Georgiana Rutherford ein. „Er ist ungehobelt, er ist arrogant, und er schert sich keinen Pfifferling um irgendwen. Wieso glaubst du, er könnte dich glücklich machen?“ Sie beäugte den leicht angebrannten Crumpet auf ihrer langen Röstgabel und entschied offenbar, dass er genießbar war, denn sie griff nach der Butterschale. Der riesige Wolfshund hinter ihr beobachtete sie traurig und gab eine überzeugende Vorstellung als Hund, der wochenlang nicht gefüttert worden ist, zum Besten.

Rose spießte Brot auf ihre Röstgabel. „Niemand kann einen anderen Menschen glücklich machen, George. Das Geheimnis des Glücks liegt in uns selbst und ist eine individuelle Angelegenheit.“ Wenn sie sich dies oft genug vor Augen hielt, glaubte sie es vielleicht irgendwann.

George schnaubte. „Mag sein, aber Menschen können andere Menschen unglücklich machen – und das wird er, davon bin ich überzeugt.“ Was die Ehe anbelangte, war und blieb sie zynisch. George war von jedem Mann in ihrem Leben hintergangen worden, bis ihr Onkel Cal, Roses Bruder, sie gefunden und in den Schoß der Familie geholt hatte – der Familie, von deren Existenz George nichts geahnt hatte.

Lily legte Rose eine Hand auf den Arm. „Bist du dir sicher, Rose? Noch ist es nicht zu spät, es sich anders zu überlegen.“

Roses Miene wurde weich. Ihre Schwester war ein Engel, aber Tatsache war, dass es an diesem Punkt kein Zurück mehr gab. „Nein, Lily, mein Schatz, ich werde keinen Rückzieher machen. Der Ehevertrag ist unterzeichnet, das Aufgebot ist verkündet, die Kirche ist reserviert, mein Kleid ist fertig, und die Gäste sind eingeladen. Ende der Diskussion.“

„Aber du kennst ihn kaum.“

„Und du hast Ned Galbraith kaum gekannt, als du ihn geheiratet hast, und sieh dir an, wie glücklich du bist – wobei ich nicht vorhabe, mich zu verlieben“, entgegnete sie. „Derlei Dinge überlasse ich dir, kleine Schwester.“

„Aber …“

„Die Sache ist die: Irgendwen muss ich heiraten, und der Duke ist eine mehr als passable Partie – die Leute reden von der Partie des Jahres.“ Sie musste heiraten und die Warterei, die endlose, vergebliche Warterei, hinter sich lassen. Anfangen zu leben, anstatt zu … träumen.

„Weshalb musst du überhaupt heiraten? In fünf Jahren kannst du uneingeschränkt über dein Vermögen verfügen und tun, was du willst.“ So sah Georges Plan aus, wie sie alle wussten.

„Sie wünscht sich Kinder“, rief Lily ihr ins Gedächtnis. Sie bestrich ihr geröstetes Brot mit Erdbeermarmelade, schnitt es sorgsam in vier Dreiecke und versah ein jedes davon mit einem Klecks Sahne.

Rose nickte. „Das stimmt, doch es geht um mehr. Fünf weitere Jahre warten, George? Das würde mich um den Verstand bringen. Ich ertrage dieses Dasein nicht länger, in dem nie etwas Interessantes passiert und alles, was ich tue, protokolliert und verfolgt und beurteilt wird. Als junge, ledige Dame bin ich, oh …“, sie warf die Arme hoch, „… ’beengt, beschnitten, eingepfercht’. Als fesche junge Matrone hingegen werde ich meine eigene Herrin sein.“

George schüttelte den Kopf und tat so, als würde sie etwas mit dem Daumen zerquetschen. Unter der Fuchtel.

„Ja, aber warum der Duke, Rose?“, bohrte Lily nach. „Du liebst ihn nicht, und er liebt dich nicht. Ich weiß, dass du zwanzig geworden bist, doch du hast immer noch jede Menge Zeit, den richtigen Mann zu finden und dich zu verlieb …“

„Nur will ich mich gar nicht verlieben, Lily, mein Schatz“, fiel Rose ihr behutsam ins Wort. „Weder er noch ich haben ein Interesse an einer solchen Ehe.“ Aus ebendiesem Grund hatte sie seinen Antrag angenommen.

„Ersparen Sie mir Gefühlsausbrüche“, so hatte er es formuliert. Und war das nicht beruhigend, nachdem ihr all die anderen Anwärter ewige Liebe und Hingabe geschworen – und dasselbe von ihr erwartet – hatten? Das zumindest hatten sie gesagt.

Wie furchtbar es wäre, einen Mann, der sie liebte, in dem Wissen zu ehelichen, dass sie seine Gefühle beim besten Willen nicht würde erwidern können. Sie war nie eine gute Lügnerin gewesen. Vermutlich hätte sie einem solchen Mann letztlich wehgetan, und sie wollte niemandem wehtun.

Der Duke indes hatte deutlich gemacht – ja, immer wieder betont –, dass er sie nicht liebe und auch keine Liebe erwarte, ganz im Gegenteil. Was er wolle, so hatte er ihr beschieden, sei ein zivilisiertes, nüchternes, vernünftiges Arrangement. Und Kinder. Insbesondere einen Erben.

Rose war zu dem Schluss gelangt, dass sie damit leben konnte, und hatte daher akzeptiert.

Sollte der Rest der Welt sie ruhig für berechnend, kaltblütig und ehrgeizig halten. Sie wusste, wer sie war. Eine Ehe wurde zwischen zwei Menschen geschlossen, und wenn sie und der Duke sich mit einem lauwarmen bodenständigen Abkommen zufriedengaben – ein solches gar bevorzugten –, ging das niemanden etwas an.

„Aber du weißt ja nicht, was dir entgeht“, begann Lily. „Liebe ist …“

„Nichts für mich“, unterbrach Rose sie entschieden. Sie wusste genau, was ihr entging. Und war dankbar dafür.

„Aber du hast dich noch nie verliebt, also woher willst du …?“

„Hör auf, Lily“, fiel George ihr ins Wort. „Wenn sie sich nicht verlieben möchte, dann möchte sie es nicht. Mir setzt du auch nicht immerfort mit der Liebe zu. Wieso bedrängst du Rose damit?“

„Ich bedränge sie nicht“, wandte Lily empört ein. „Außerdem seid ihr zwei grundverschieden.“

„Ich weiß – du würdest mich nicht dabei erwischen, dass ich mein Vermögen und meine Zukunft einem Mann übereigne, den ich weder kenne noch mag. Oder überhaupt einem Mann.“

„Im Gegenteil, ich werde nahezu unabhängig sein. Cal hat den Ehevertrag aufgesetzt, und die Vereinbarung ist sehr großzügig. Und Tante Agatha ist außer sich vor Freude.“

George schnaubte. „Spricht das etwa dafür? Tante Agatha würde dich kalt lächelnd mit einem … einem Kannibalen verheiraten, wenn dieser nur reich und adelig wäre.“

Rose lachte unwillkürlich. Das traf mehr oder weniger ins Schwarze. „Unsinn. Ein Kannibale würde niemals Tante Agathas hochtrabenden Ansprüchen an sein Benehmen gerecht werden. Allein schon seine Tischmanieren würde sie bemängeln.“

„Solange er nur einen Titel und eine fette Geldbörse besäße, würde sie ihm seine absonderlichen Essgewohnheiten nachsehen“, bemerkte George düster.

„Ich bedränge Rose nicht“, wiederholte Lily. „Als Schulmädchen haben sie und ich davon geträumt, uns zu verlieben – wir haben ständig darüber geredet, weißt du noch, Rose?“

Das war typisch für ihre kleine Schwester. Lily mochte keine Bücher lesen können, doch sie war in der Lage, Menschen zu lesen, vor allem Rose.

Aber Lily wusste nicht alles.

„Ja, tja, das ist lange her. Seitdem hat sich vieles geändert. Ich bin nicht sanftmütig und liebreizend wie du. Mir liegt nichts an Herzchen und Blümchen. Ich möchte schlicht heiraten und endlich leben.“

„Er wird dir nicht treu sein, weißt du“, sagte George in die Stille hinein.

Rose wischte sich Krümel von den Fingern.

„Ist dir das egal?“, fragte Lily fassungslos.

„Das ist der Preis der Freiheit.“

„Freiheit?“, echote George. „Unter der Knute eines Mannes zu stehen?“

„Ich werde nicht unter seiner Knute stehen“, entgegnete Rose. „Wir haben eine Übereinkunft. Ich werde ihm einen Erben schenken, und er wird mir die Freiheit zugestehen zu tun, was ich will, solange ich diskret vorgehe.“ Wobei sie keineswegs die Absicht hatte, ihr Ehegelübde zu brechen. Sie nahm dieses Gelübde ernst.

„Das ist schrecklich“, meinte Lily entsetzt. „Ich kann nicht glauben, dass du so … so zynisch bist, Rose.“

„Kaltblütig“, fügte George hinzu.

„Pragmatisch“, berichtigte Rose sie. „Früher habe ich mir zu viel vom Leben erhofft. Inzwischen bin ich reifer.“

„Oh, aber du solltest dir mehr erhoffen!“, rief Lily aufgebracht. „Ich hätte nie für möglich gehalten, dass ich auch nur die Hälfte dessen bekomme, was ich mir erträumt habe, bis ich Edward begegnet bin. Du weißt nie, was – oder wer – noch auf dich wartet.“

Rose war froh darüber, ihre Schwester so glücklich zu sehen, wusste jedoch, dass ihr dies nicht vergönnt war. Sie neigte sich vor und fasste Lily und George bei der Hand. „Bitte, meine Lieben, lassen wir das Thema ruhen. Mir ist bewusst, dass diese Ehe nicht das ist, was ihr euch für mich vorgestellt habt. Aber ihr werdet euch damit abfinden müssen, dass ich eine kaltherzige Kreatur bin und einen Mann heiraten werde, den ich nicht liebe, und das für Freiheit, ein schönes Zuhause und ein äußerst großzügiges Taschengeld. Und Kinder.“ Sie sehnte sich nach einem eigenen Kind, und ihre Schwägerin Emm zu sehen, die kugelrund war und förmlich strahlte, weil ein Kind in ihr heranwuchs …

Lily schüttelte den Kopf. „So sehr kannst du dich unmöglich verändert haben, das nehme ich dir nicht ab. Ich begreife nicht, weshalb du es tun willst, und ich denke, es wäre besser, du tätest es nicht, aber wenn es das ist, was du willst – was du wirklich und wahrhaftig willst –, werde ich nichts mehr einwenden.“

Rose drückte sie. „Mach dir meinetwegen keine Sorgen, kleine Schwester. Mir wird es gut gehen.“ Die liebe Lily, frisch vermählt und bis über beide Ohren verliebt. Verständlich, dass sie sich für Rose dasselbe wünschte.

Doch Liebe war das Letzte, was Rose wollte. Weshalb, das konnte sie Lily und George nicht erklären – oder sonst irgendwem. Nicht ohne Dinge aufzuwühlen, die … besser unangetastet blieben.

Liebe war einfach zu schmerzvoll.

Vor dem Kirchenportal blieb Rose stehen. Lily und George machten sich eifrig an ihr zu schaffen, rückten den Blumenkranz auf ihrem Haar zurecht und richteten die Spitzenschleppe ihres Kleides. Rose stand einfach da, so lebendig wie eine Statue und auch ebenso warm. „Also, sei nicht nervös“, hatte Tante Dottie ihr soeben geraten. „Alles wird sich ganz wunderbar entwickeln, vertrau mir, meine Liebe. Ich habe eine meiner Eingebungen.“

Doch Rose war nicht im Mindesten nervös, sondern fühlte sich seltsam distanziert, als würde all dies einem anderen Mädchen passieren. Sie befeuchtete sich die Lippen und wartete.

George steckte den Kopf durchs Portal, spähte in die Kirche und schnitt eine Grimasse. „Er ist da.“

„Nun, natürlich ist er da“, erwiderte Lily gereizt. Arme Lily. Sie war den ganzen Morgen über empfindlich gewesen und hatte versucht, gute Miene zu einer Hochzeit zu machen, der sie nach wie vor hochgradig skeptisch gegenüberstand. Lily war nicht besonders gut darin, ihre Gefühle zu verbergen.

Was, wenn der Duke nicht aufgetaucht wäre? Er war berüchtigt für seine Unzuverlässigkeit in puncto Absprachen. Was, wenn er sie vor dem Altar stehen gelassen hätte? Kurz stellte Rose sich dies vor und befand, dass es peinlich gewesen wäre … und möglicherweise erleichternd.

Unfug. Sie musste es tun, musste eine Grenze zwischen ihrem alten und ihrem neuen Leben ziehen. Einen klaren Schnitt machen und die Vergangenheit hinter sich lassen.

Die Kirche war voller Menschen – Roses Bekannte und Angehörige waren gekommen, um ihrer Hochzeit beizuwohnen. Wie natürlich auch die Bekannten und Angehörigen des Dukes sowie weitere Mitglieder des ton, die bestaunen wollten, was einige als Hochzeit der Saison bezeichneten. Draußen auf der Straße scharten sich Fremde, die auf eine großzügige Geste in Form eines Münzregens vom glücklichen Bräutigam hofften.

Dies alles fühlte sich unwirklich an.

„Bereit?“, fragte ihr Bruder Cal. Sie nickte und hakte sich bei ihm unter.

Es war so weit. Rose atmete tief durch und betrat die Kirche. Kurz verharrte sie blinzelnd, bis ihre Augen sich an das trübe Licht im Innern gewöhnt hatten. Stille senkte sich nieder, gefolgt von Getuschel und dem leisen Rascheln von Seide, als die Versammelten sich geschlossen umdrehten, um die Braut zu betrachten.

In der Kirche roch es nach Blumen, Frühlingsblumen, sowie nach Bienenwachs, Messingpolitur und Parfümen, zahllosen Parfümen, die nicht miteinander harmonierten.

Am Ende des Mittelgangs stand in den Lichtsprenkeln eines Buntglasfensters ihr zukünftiger Gatte, der Duke of Everingham, und wirkte angeödet. Er hatte sich die grauen Glacéhandschuhe abgestreift und klatschte sich damit in die Handfläche. Angeödet und ungeduldig.

Wenigstens war er erschienen.

Die Orgel gab einen Akkord von sich, der zu einem Crescendo anschwoll und erstarb, woraufhin die Musik begann. Rose setzte sich in Bewegung, schritt dahin wie eine Marionette, auf den Altar, auf ihr Schicksal zu.

Sie spürte die Blicke aller Anwesenden auf sich. Sie hatte kaum geschlafen. Sah man es ihr an? Kümmerte sie das?

Der Duke trat vor. Cal wartete, sein Arm ein sicherer Halt. Gleich würde er sie übergeben – wie ein Paket. Wie einen Besitz, hatte George einst bei einer anderen Hochzeit gemurmelt.

Rose schaute auf und begegnete dem Blick des Dukes. Dunkle Augen, grau-grün und kalt wie die winterliche See. Durchaus schöne Augen, aber die falsche Farbe. Die falschen Augen.

Sie musterte ihn beklommen. Die Zeit heilte alle Wunden. Das zumindest sagte man.

Der Bischof, prachtvoll in Gold und Lila gewandet, räusperte sich, und sie wandten sich ihm zu. Für die Vermählung eines Dukes mit der Tochter eines Earls war ein gewöhnlicher Priester offenbar nicht gut genug. Zweifellos Tante Agathas Werk.

Rose hoffte, dies möge keiner der Bischöfe sein, die sich in langen monotonen Predigten ergingen. Sie sehnte sich nach dem Ende dieser Hochzeit. Wollte sie hinter sich bringen. Auf dass es kein Zurück mehr gab.

„Liebes Brautpaar, wir haben uns heute hier versammelt …“

Die vertrauten Worte umspülten sie. Sie war ruhig, ganz ruhig. Erfüllt von kühler, vollkommener Ruhe. Anders als beim letzten Mal.

Der Bischof fuhr fort. Er sprach in jenem melodischen Auf und Ab, das so typisch für Geistliche war. Lernte man diesen Singsang im Priesterseminar? „… und soll daher von niemandem unberaten, leichtfertig oder mit schamlosem Ansinnen, um die niederen Gelüste des Menschen zu befriedigen … sondern ehrfürchtig, besonnen, nach reiflicher Überlegung sowie klaren Verstandes …“

Rose erschauerte. Himmel, wie kalt es in dieser Kirche war.

„… um Kinder hervorzubringen …“

Kinder. Ja, daran sollte sie denken. Daran, genau wie Emm immer rundlicher zu werden und vor Freude über das Kind in sich förmlich zu strahlen. Bei Emm würde es nicht mehr lange dauern. Würde sie einen Jungen oder ein Mädchen bekommen?

„So irgendwer einen triftigen Grund nennen kann, der gegen diesen heiligen Bund spricht, so erhebe er jetzt seine Stimme oder schweige für immer.“

Ihre Finger waren eiskalt. Sie hätte Glacé- und keine Spitzenhandschuhe anziehen sollen.

Der Bischof legte eine kurze Pause ein, um Luft zu holen, und sprach dann weiter: „So fordere ich euch beide auf, da ihr euch werdet verantworten müssen am schaurigen Tage des Jüngsten Gerichts, an dem die Geheimnisse aller Herzen offenbar werden …“

„Brecht die Hochzeit ab!“

Die Versammelten keuchten vernehmlich, ehe sie verstummten, weil jeder hören wollte, was als Nächstes geschah. Roses Herz geriet aus dem Takt – ihr war, als wäre es ihr stehen geblieben, bevor es ihr bis zum Halse schlug. Sie drehte sich um und starrte den Mann an, der soeben eingetreten war.

Nach einem langen Moment der Erstarrung atmete sie wieder. Flüchtig hatte sie sich eingebildet … doch nein. Sie hatte diesen Mann nie zuvor gesehen.

Das Kirchenportal schlug hinter ihm zu, und der Knall hallte in der stillen Kirche wider.

„Was zum Teufel …?“, raunte Cal.

Rose rang um Fassung, nachdem sie kurz von … was auch immer durchzuckt worden war.

Der Fremde stach aus der geschniegelten, eleganten Menschenmenge hervor. Er war hochgewachsen und ausgezehrt, doch seine Schultern waren breit – Arbeiterschultern. Seine Kleider saßen schlecht und waren von derber Machart. Die Hose war zerlumpt und an manchen Stellen geflickt. Er trug keine Jacke. Sein Hemd war zu dünn für die Jahreszeit, und an den Füßen trug er Schnürschuhe aus Segeltuch, verdreckt und sichtlich durchlöchert.

Sofern ihm bewusst war, dass er hier – in der opulentesten Kirche Londons, wo er die opulenteste Hochzeit der Saison unterbrach – gänzlich fehl am Platze war, ließ er es sich nicht anmerken. Er zeigte keinerlei Anzeichen von Befangenheit.

Er hatte einen dichten Bart. Sein ebenfalls dichtes Haar fiel ihm wirr bis über die Schultern und war struppig und sonnengebleicht. Das, was oberhalb des Bartes von seinem Gesicht zu sehen war, war schmal und stark gebräunt. Die Haut spannte sich über ausgeprägte Wangenknochen. Seine Nase sah so aus, als wäre sie ihm mindestens einmal gebrochen worden. Die zerfetzten Hemdsärmel enthüllten braun gebrannte, kräftige Muskeln.

Nein, sie hatte sich die flüchtige Ähnlichkeit nur eingebildet. Doch wer war er? Und welche Absicht verfolgte er?

„Ist das ein Streich?“, verlangte der Duke von seinem Trauzeugen zu wissen.

„Grundgütiger, nein, Hart – natürlich nicht. Damit habe ich nichts zu tun.“

„Rose?“, fragte Cal.

Noch immer raste ihr das Herz. Sie starrte den großen, wild anmutenden Mann an, der mitten im Gang aufragte, schäbig, aber souverän, so als herrschte er über diesen. Er begegnete Roses Blick mit einer Selbstsicherheit, die sie aufwühlte.

Einen Moment lang fragte sie sich … Aber nein. Dieser Kerl wirkte zu brutal, zu roh, zu unzivilisiert.

„Rose?“, wiederholte Cal.

Sie schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung.“

Der Bischof trat vor. „Heda, Bursche, mit welchem Recht stören Sie Gottes Werk?“

„Mit dem Recht des Gesetzes“, entgegnete der Fremde kühl. „Lady Rose ist bereits verheiratet.“

Aufgeregtes Gemurmel setzte ein, als die Versammelten gedämpft Mutmaßungen anstellten.

Rose blieb beinahe das Herz stehen. Das konnte er unmöglich wissen.

„Werft den schmutzigen Bettler hinaus!“ Tante Agatha fuchtelte mit ihrem Gehstock in seine Richtung.

„Rose?“ Cal warf ihr einen kurzen Blick zu, und trotz ihres trommelnden Herzens und ihres verkrampften Magens schüttelte sie abermals den Kopf. Sie kannte diesen Mann nicht. Wie oft hatte sie sich ausgemalt … doch nein. Nein! Dies war ein grausamer, geschmackloser Scherz.

Cal schnaubte und erhob die Stimme. „Tatsächlich? Und mit wem, bitte schön, soll meine Schwester verheiratet sein?“

Schweigend warteten alle auf die Antwort.

„Mit mir.“ Seine Stimme klang tief und ein wenig rau. Und leicht erstaunt ob der Frage.

Allenthalben wurde gekeucht, ehe eine so amüsierte wie empörte Diskussion begann. Mehrere Leute lachten. Ein paar Pfiffe ertönten.

„Das ist gelogen!“ Rose war der Mund trocken geworden. Atemlos und plötzlich wütend wollte sie vorstürmen.

„Bleib hier, Rose.“ Cal packte sie am Arm und schob sie in Richtung des Dukes. „Passen Sie auf sie auf, Everingham. Ich werde diesen Umnachteten hinausbefördern. Galbraith?“ Roses Schwager Ned Galbraith nickte, und die zwei näherten sich dem verwildert aussehenden Fremden.

„Bleiben Sie zurück, meine Herren“, warnte der sie, und in seinem Tonfall schwang eine eisige Drohung mit. „Ich bin weder umnachtet noch ein Bettler. Lady Rose ist tatsächlich meine Frau.“ Sein Auftreten stand in krassem Gegensatz zu seiner verlotterten Erscheinung. Und er bediente sich der präzisen Aussprache eines Gentlemans.

Stirnrunzelnd schaute Cal zu Galbraith hinüber.

„Welch ein Unsinn! Für wen zum Teufel halten Sie sich, dass Sie einfach hier hereinspazieren, um meine Hochzeit zu stören?“ Erzürnt darüber, dass ihr Bruder zögerte, und verstimmt ob der Selbstsicherheit dieses hochgewachsenen Bettlers und seiner grausamen Lügen, schüttelte Rose die Hand des Dukes ab und marschierte los. Der Duke versuchte, sie zu packen, aber sie wich ihm aus. Im Laufschritt strebte sie den Mittelgang entlang, wobei sie ins Straucheln geriet, weil sie fast über ihre Schleppe gestolpert wäre. Sie drängte sich zwischen ihrem Bruder und ihrem Schwager hindurch, um dem großen, wettergegerbten Unbekannten, der ihre Hochzeit zu ruinieren trachtete, die Stirn zu bieten.

„Was soll dieser Unfug?“, fuhr sie ihn an. „Ich habe Sie nie zuvor gesehen …“

Weiße Zähne blitzten hinter dem Bart auf. „Ah, dein ungezähmtes Temperament, Rosie.“

Sie erstarrte. Dieser schlanke, langgliedrige Mann mit den kräftigen Schultern, der schiefen Nase und dem zerzausten sonnengebleichten Haar war auf keinen Fall … Er konnte unmöglich … Er sah so gar nicht aus wie …

Wieder setzte sie an, sich von ihm zu distanzieren – und begegnete seinem Blick. Augen von hellstem Silberblau. Sie zauderte. Und in sich hörte sie das Echo ihres jüngeren Selbst sagen: Wie ein Sommerhimmel in der Dämmerung.

„Thomas?“, hauchte sie und sank in eine tiefe Ohnmacht.

Roses Bruder stürzte vor, doch es war Thomas, der Rose auffing, ehe sie fallen konnte. Er stützte sie und barg sie an seiner Brust. Sie war die Seine, und er würde sie nicht hergeben. Er schaute auf ihr blasses Gesicht hinab. Im Kerzenschein schimmerte ihre Haut wie Perlmutt. Er betrachtete die schwarzen Halbmonde ihrer geschwungenen Wimpern, die vollen rosigen Lippen, die leicht geöffnet waren. Sie war besinnungslos, doch ihr Atem ging gleichmäßig. Seine Frau. Seine Ehefrau. Rose.

Sie hatte ihn nicht erkannt …

Der Kreis aus abweisenden Gesichtern rückte näher. Thomas musterte sie kalt und forderte sie stumm heraus, sich einzumischen.

Roses Bruder streckte die Arme aus. „Ich werde sie nehmen.“

Thomas drückte sie umso fester an sich. „Sie ist meine Frau. Sie haben sie gehört.“

„Ich habe gehört, dass sie Sie Thomas genannt hat. Das beweist gar nichts“, knurrte er, machte jedoch keine Anstalten, sie Thomas zu entreißen. Das konnte er nicht. Nicht in einer Kirche. Vor diesem Publikum. Er sah Thomas fest an, verhohlenen Zorn im Blick.

Er musste doch wissen, wer Thomas war. Dass Rose ihn, wenngleich verspätet, erkannt hatte, musste doch Beweis genug sein. Es musste für jeden offenkundig sein. Weshalb also verleugnete Roses Bruder ihn? Wieso gab er vor, ihn nicht zu kennen?

Noch jemand, der ihn auslöschen wollte? Wann würde es aufhören? Thomas rang die vertraute kalte Wut nieder. Er war endlich wieder zu Hause, in England, und Rose lag in seinen Armen. Das war es, was zählte. Alles Übrige würde er später angehen.

Ihr warmes Gewicht in seinen Armen drohte seine Sinne zu überwältigen, ebenso wie der Duft ihres Parfüms, ihre seidenweiche Haut und ihr Haar, das fein gesponnenem Gold glich. Sie war noch immer besinnungslos und viel zu blass. Ihr Atem ging flach. Er umfasste sie fester. Der Schreck war es, der sie hatte ohnmächtig werden lassen, nichts weiter.

Vier Jahre …

Eine kleine, dralle junge Frau mit lieblichen Zügen schob sich durch den Kreis aus männlichen Beschützern. „Was haben Sie ihr angetan?“, herrschte sie ihn an. „Rose fällt nie in Ohnmacht!“ Sie öffnete einen kleinen Kristallflakon und schwenkte ihn unter Roses Nase hin und her.

Thomas erinnerte sich, einst ein Miniaturbild von ihr gesehen zu haben. Darauf war sie sehr viel jünger gewesen, aber er erkannte sie dennoch. „Sie müssen Lily sein, Roses kleine Schwester.“

Sie schnaubte. „Alle Welt weiß das.“

„Sie hat sich um Sie gesorgt. Sie waren sehr krank.“

Kurz hörte sie auf, mit dem Riechsalz zu wedeln, und schaute stirnrunzelnd zu ihm auf. „Wer sind Sie – wirklich?“ Welch seltsame Frage. Für wen zur Hölle hielt sie ihn?

„Ihr Ehemann.“

„Niemals.“ Sie schüttelte heftig den Kopf. „Wäre Rose verheiratet, wüsste ich es.“

Er krauste die Stirn. „Sie haben es nicht gewusst?“

In diesem Moment kam Rose ruckartig zu sich. Sie nieste, drehte den Kopf weg und schüttelte ihn. „Igitt! Nimm das schauderhafte Zeug weg …“ Sie verstummte und betrachtete die besorgten Mienen ringsumher, ehe sie zu Thomas aufsah. Sie riss die Augen auf und öffnete den Mund.

„Wie geht es dir, Rose?“ Die Worte kamen ihm leise, stockend und rau über die Lippen.

Darauf folgte eine lange, angespannte Stille. Niemand in der Kirche regte sich. Alle reckten den Hals, um zu hören, was Rose sagen würde.

Sie hob eine zitternde Hand, zögerte, strich ihm über die Wange. Ihre Berührung glich dem Flügel eines Falters, federleicht und flüchtig, ehe sie die Finger wieder fortnahm. „Du bist es, oder?“, fragte sie schließlich. „Aber du … Ich dachte …“ Beinahe anklagend fügte sie hinzu: „Aber du müsstest tot sein.“ Sie klang … War sie wütend? Auf ihn? Weil er nicht tot war?

Das war nicht die Reaktion, die er erwartet hatte. Er wusste nicht recht, was er erwartet hatte, aber in seinen Fantasien waren Freude, Lachen und … Küsse vorgekommen.

Narr. Hatte er aus den vergangenen vier Jahren nichts gelernt?

Sie war dabei zu heiraten. Heute. Jemand anderen.

Er war in ihre extravagante Hochzeit geplatzt. Sein unangekündigtes Erscheinen hatte sie schockiert. Das war unvermeidlich gewesen.

Dennoch …

Du müsstest tot sein. Verübelte sie ihm, dass er am Leben war? Da wäre sie nicht die Einzige. Dafür würde er sich nicht entschuldigen. Er hatte hart um sein Leben gerungen, hatte darum gekämpft, zurück nach England zu gelangen. Zu Rose.

Kurz packte sie sein Hemd mit einer Hand, während ihre Lippen bebten. Abrupt ließ sie ihn los und stieß ihn gegen die Brust. „L … lass mich hinunter, bitte.“

Mehrere Frauen drängten sich durch ihr Mannsvolk und scharten sich um Thomas. „Lassen Sie sie los!“, zeterten sie. „Geben Sie sie frei, Sie Unhold!“

Er setzte Rose ab. Sie schwankte. Kaum blieb ihm Zeit, sie zu stützen, als ihre Schwester und die übrigen Frauenzimmer sie auch schon schützend umschwärmten und ans andere Ende der Kirche führten.

Du müsstest tot sein. Was zum Teufel hatte sie damit gemeint? Wollte sie seinen Tod?

Das war nicht die Heimkehr, die er sich erhofft hatte. Zugegeben, manche Menschen reagierten absonderlich auf einen großen Schreck …

„He, Sie, wer immer Sie sind …“, begann Roses Bruder.

Thomas drehte sich zu ihm um und sagte schneidend: „Commander Thomas Beresford, bis vor Kurzem Fregattenkapitän der Königlichen Marine Seiner Majestät.“ Auf seine Verlautbarung hin erhob sich erneut ein Raunen unter den Versammelten.

Leute standen von den Kirchenbänken auf und kamen näher, um dem Geschehen besser folgen zu können. „Der ist kein Offizier!“, rief jemand.

„Schämen Sie sich“, zischte eine Frau.

„Werft den Halunken zurück in die Gosse.“ Eine weißhaarige alte Dame fuchtelte erbost mit einem Ebenholzgehstock in seine Richtung.

„Erschießt den Schurken!“, rief ein alter Mann. Zustimmendes Gemurmel folgte.

Thomas drehte sich um und betrachtete die Umstehenden kühl, sah diese Menschen – diese feisten, verwöhnten, blasierten Lieblinge der Gesellschaft – direkt an. Das Gemurmel erstarb, Blicke wurden abgewandt, keiner sah ihm mehr in die Augen.

Nachdem er seine Verleumder zum Schweigen gebracht hatte, wandte er sich wieder Roses Bruder zu, der ihn mit schmalen Augen musterte und kühl sagte: „Sie behaupten, mit meiner Schwester vermählt zu sein? Auf welcher Grundlage?“

Flüchtig schaute Thomas zu Rose hinüber, ehe er wieder ihren Bruder ansah. „Soll das heißen, Sie haben nichts davon gewusst? Hat sie es Ihnen nie erzählt?“

Ein großer dunkelhaariger Bursche – ein weiteres Familienmitglied? – trat vor und flüsterte dem Bruder zu: „Cal, ich glaube, wir sollten dieses Gespräch lieber woanders fortsetzen.“

Roses Bruder nickte. Dies also war Calbourne Rutherford, der Bruder, der im Krieg gewesen war.

„In der Sakristei?“, schlug der Bischof vor.

Rutherford willigte ein, ehe er das Kinn in Thomas’ Richtung ruckte. „Beresford?“

Abermals schaute Thomas zu Rose hinüber, die inmitten ihrer weiblichen Verwandten saß und ihn mit großen Augen kummervoll betrachtete. Woher rührte ihr Kummer? Lag es am Schreck, ausgelöst durch seine plötzliche Rückkehr? Oder daran, dass er ihre Hochzeit ruiniert hatte? Daran, dass er nicht tot war? Er vermochte es nicht zu sagen.

Da sie ihn anscheinend für tot gehalten hatte, war sein unverhofftes Erscheinen natürlich ein Schock für sie gewesen. Vor allem, da er mitten in ihre Hochzeit geplatzt war – was zumindest bewies, dass sie ihn tatsächlich für tot gehalten hatte. Hinzu kam sein Aussehen, denn er hatte noch keine Zeit gehabt, sich zu rasieren und angemessen zu kleiden. Bedachte man, wie er in den vergangenen Jahren gelebt hatte, war es kein Wunder, dass sie ihn nicht gleich erkannt hatte.

Doch es passte nicht zu Rose, sich stumm im Hintergrund zu halten. Das war nicht die Rose, an die er sich erinnerte. Oder die Rose, die vor fünf Minuten auf ihn zugestürmt war und zu erfahren verlangt hatte, wie er dazu komme, ihre Hochzeit zu stören.

„Beresford?“, fragte Rutherford erneut. Thomas nickte knapp.

„Kommen Sie, Everingham?“ Rutherford sprach zum Bräutigam – zu Roses Bräutigam –, der bislang kein Wort gesagt hatte. Thomas musterte ihn. Auf asketische Weise gut aussehend und in eleganter, wenn auch strenger Garderobe.

Thomas war nicht beeindruckt. Er hätte niemals schweigend mit angeschaut, wie ein anderer Mann Anspruch auf Rose erhob.

„Duke?“, richtete Rutherford noch einmal das Wort an den Mann. „Kommen Sie?“

Duke? Rose hatte sich angeschickt, einen Duke zu ehelichen? Das mochte erklären, weshalb sie derart aufgewühlt wirkte. Es mochte den Zorn erklären, den er in ihrer Stimme vernommen hatte.

Erst jetzt fiel ihm ein, dass Ollie ihm irgendetwas über „die Hochzeit der Saison“ zugerufen hatte, während Thomas davongeschossen war, ohne ihm zuzuhören. Nachdem Ollie ihm gesagt hatte, dass Rose um elf Uhr heiraten werde, hatte Thomas nicht gewartet, um mehr zu erfahren. Wie von Sinnen war er losgerannt, durch Gassen und Parkanlagen.

Er war gerade noch rechtzeitig gekommen.

Der Duke sah ihn durchdringend an und beäugte ihn von Kopf bis Fuß. Thomas erwiderte seinen Blick freimütig und ungerührt. Rose war die Seine. Und niemand, weder Familie noch Duke oder eine aufgebrachte, mit Stöcken fuchtelnde Hochzeitsgesellschaft, würde ihn davon abhalten, ihr klarzumachen, dass sie seine Frau war.

Der Duke bedachte Roses Bruder mit einem geringschätzigen Blick und zuckte gleichgültig mit der Schulter. „Das ist Ihr Schlamassel, Ashendon. Kümmern Sie sich darum.“

Ashendon? Roses Vater musste gestorben sein, sofern Cal Rutherford nunmehr Lord Ashendon war. Und was war aus dem älteren Bruder geworden? Vermutlich ebenfalls tot.

Für Thomas machte es keinen Unterschied.

Der Duke trat vor und richtete gelangweilt das Wort an die Gästeschar. „Meine Damen und Herren, haben Sie Dank für Ihr Erscheinen, aber ich fürchte, Ihre Zeit – und die meine – wurde verschwendet. Heute wird es keine Hochzeit geben.“ Er nahm seinen Hut und schlenderte aus der Kirche, anscheinend taub gegenüber dem Gemurmel und Getuschel, das ihm folgte, als wäre er nicht soeben erfolgreich aus dem Rennen geworfen worden.

Sein Trauzeuge zögerte, schnappte sich schließlich ebenfalls seinen Hut und eilte dem Duke nach. Mit einem Knall fiel das Portal hinter ihnen zu.

Roses Bruder fluchte leise.

Keiner der Anwesenden rührte sich. Alle warteten ab, was geschehen würde.

Der Bischof öffnete die Tür zur Sakristei. Eine dürre, elegante, ältere Dame – diejenige, die angewiesen hatte, Thomas in die Gosse zu befördern – erhob sich. „Ich werde bei diesem Gespräch ein Wörtchen mitreden“, verkündete sie.

Der Bischof lächelte nachsichtig. „Werte Lady Salter, diese unerquickliche Angelegenheit ist nichts für Damen. Wir Herren werden dies regeln …“

Lady Salter. Thomas entsann sich, dass Rose zwei Tanten hatte, eine liebenswerte und einen Drachen. Die liebenswerte hatte er kennengelernt, also musste diese hier Tante Agatha sein.

Sie erdolchte den Bischof förmlich mit dem Blick. „Pah! Ich habe meiner Nichte zu einer glänzenden Partie verholfen – zu einem Duke! Und falls irgendeine dahergelaufene zerlumpte Vogelscheuche glaubt, sie könnte diese Partie mittels einer zwielichtigen Lüge zunichtemachen …“ Sie betrachtete die Vogelscheuche verächtlich.

Willkommen in der Familie. Die Vogelscheuche konnte es sich nicht verkneifen, ihr zuzuzwinkern.

Die alte Dame drohte vor Entrüstung zu platzen, doch ehe sie ihn ob seiner Unverfrorenheit rügen konnte, lenkte der Bischof sie ab, indem er ihr beschied: „Lady Salter, dies ist ein komplizierter Sachverhalt, der besser dem männlichen Verstand überlassen bleibt.“

Sie fixierte ihn mit einem sengenden Blick. „Dem männlichen Verstand? Papperlapapp! Hochzeiten sind Frauensache!“

Der Bischof setzte zu einem Einwand an, als vom Portal her eine Stimme ertönte und aller Aufmerksamkeit auf sich zog. „Ich verbürge mich für Commander Beresford wie auch für den Wahrheitsgehalt seiner Behauptung.“ Geschlossen drehten sich alle zum Sprecher um. Thomas’ Freund Ollie war endlich eingetroffen.

Ollie kam gemächlich den Mittelgang herauf, als wären nicht aller Augen auf ihn gerichtet. „Ich nehme an, du hast es noch rechtzeitig geschafft“, meinte er, an Thomas gewandt.

„Und wer sind Sie?“, blaffte Ashendon.

Ollie verbeugte sich geschmeidig. „Oliver Yelland vom Marinerat, zu Ihren Diensten. Verzeihen Sie, dass ich zu spät komme. Ich musste mich um ein paar Dinge kümmern, eine Droschke finden, den Kutscher bezahlen.“

„Yelland? Yelland?“, wiederholte Lady Salter gereizt. „Nie von Ihnen gehört. Was bilden Sie sich ein, Ihre lange Nase in das Leben anderer Leute zu stecken? Dies geht Sie nichts an, mein Herr, daher …“

„Im Gegenteil, Madam, ich habe äußerst sachdienliche Dinge beizutragen.“ Ollie ließ den Blick über die Gruppe vor der Sakristei wandern. „Ich kenne Thomas Beresford seit zehn Jahren und verbürge mich auf ganzer Linie für ihn.“

Auf Ashendons skeptisches Schnauben hin fügte er hinzu: „Sie zweifeln meine Glaubwürdigkeit an? Admiral Sir Thomas Byam Martin – oberster Revisor der Marine – wird sich seinerseits für mich verbürgen.“

„Schön und gut, aber was …?“, setzte Ashendon an.

„Ich bin Zeuge.“

„Zeuge?“, brauste Lady Salter auf. „Dies ist eine vertrauliche Familienangelegenheit. Wir brauchen keine weiteren Zeugen.“ Sie gestikulierte mit ihrem Gehstock in Richtung der lauschenden Hochzeitsgäste. „Wir haben bei Weitem genügend verflixte Zeugen. Und jetzt fort mit Ihnen.“

„Zeuge der Vermählung der Braut“, ergänzte Ollie liebenswürdig. „Der ursprünglichen Vermählung. Ich war Thomas’ Trauzeuge.“

Ollie hatte seinen Spaß, erkannte Thomas. Ihm gefiel ein wenig Dramatik, er genoss es, für Wirbel zu sorgen. Doch Thomas sorgte sich nicht um Belege für seine Behauptung. Er wusste, dass er mit Rose verheiratet war.

Was ihm Sorge bereitete, war Rose. Ihre Reaktion – oder vielmehr ihr Mangel an einer solchen. Er spürte, dass sie ihn beobachtete, wenn sie glaubte, er würde nicht hinsehen. Aber sie machte keine Anstalten, sich von ihren Verwandten zu lösen und zu ihm zu kommen. Die Rose, die er kannte und geheiratet hatte, wäre nicht zu schüchtern gewesen vorzutreten.

Doch Menschen änderten sich. Wer wusste das besser als er?

„Wo und wann hat diese Hochzeit stattgefunden?“, hörte er den Bischof fragen.

An Ashendon gerichtet, erkundigte sich Thomas: „Haben Sie wirklich nichts davon gewusst?“

„Nein. Und warum hätte meine Schwester es vor ihrer Familie verheimlichen sollen, wäre sie wirklich verheiratet?“

Ja, warum? Ashendon wirkte aufrichtig. Aber wieso hätte Rose es verhehlen sollen? Immerhin war es bei der Eheschließung allein darum gegangen, ihre Position zu stärken.

Damals war es ihnen völlig richtig erschienen. In den vier Jahren, die seither vergangen waren, hatte Thomas nie Grund gehabt, daran zu zweifeln, so überstürzt diese Ehe auch geschlossen worden war. Er hatte sie für das Beste gehalten, was er je getan hatte.

Weshalb also hatte Rose ihrer Familie nichts davon erzählt? Und wieso kam sie jetzt nicht zu ihm, um gemeinsam mit ihm vor diese Menschen zu treten und ihnen zu erklären, dass sie wirklich verheiratet waren?

Er sah zu ihr hinüber und ertappte sie dabei, dass sie ihn betrachtete. Ihre Blicke trafen sich, und einen Moment lang schauten sie einander an, ehe Rose die Augen niederschlug und sich auf ihrem Platz zurücklehnte, sodass sie aus seinem Blickfeld verschwand. Ohne sich zu ihm zu bekennen.

Eine vertraute kalte Bitterkeit befiel ihn. Auch du, Rose?

Die letzten vier Jahre hätten ihn auf dies hier vorbereiten sollen. Doch das hatten sie nicht.

Voller Erwartungen war er in die Kirche gestürmt. Er hatte damit gerechnet, dass sie überrascht wäre, ja, aber im positiven Sinne. Nicht gerechnet hatte er mit ihrer unnahbaren Miene und ihrem Schweigen.

„Mit der Hochzeit hatte alles seine Ordnung“, erklärte Ollie. „Hat vor vier Jahren stattgefunden, in einem kleinen Dorf bei Bath, in der Kirche von St. Thomas – schwer, diesen Namen zu vergessen, meinen Sie nicht? Die Trauung ist vollzogen worden von …“ Stirnrunzelnd schnippte er mit den Fingern. „Purdy oder Proudy, etwas in der Art. Alter Bursche. Weißes Haar, zumindest das, was davon übrig war. Natürliche Tonsur.“ Er ließ einen Finger über seinem Scheitel kreisen.

„Bath?“ Roses Bruder sah den Bischof fragend an.

Der Bischof schürzte die Lippen und nickte. „Cecil Purdue war der Pfarrer von St. Thomas in besagter Diözese, aber er ist tot, er ist letztes Jahr von uns gegangen.“

„Purdue, das ist er“, bestätigte Ollie. „Tot, hm? Überrascht mich nicht. War damals schon steinalt. Aber die Hochzeit ist im Kirchenregister vermerkt. Alles hieb- und stichfest, nicht wahr, Thomas? Thomas?“ Ollie knuffte ihn mit dem Ellbogen in die Rippen.

Thomas riss sich aus seinen Gedanken und kehrte in die Gegenwart zurück. „Ja. Rose hat – hatte – eine Abschrift der Heiratsurkunde.“ Dafür hatte er gesorgt für den Fall, dass sie ihre Vermählung würde beweisen müssen. Stattdessen hatte sie diese nie auch nur erwähnt. Hatte sie das wertvolle Dokument verbrannt?

„Blanker Unsinn!“, ereiferte sich Lady Salter. „Vor vier Jahren war Rose ein sechzehnjähriges Schulmädchen. Sie hätte gar nicht heiraten können ohne die Erlaubnis ihres Vaters – und die hätte er sicherlich niemals erteilt!“ Sie schoss Thomas und dessen Zeugen einen vernichtenden Blick zu.

„Rose?“ Ashendon sah seine Schwester an. „Du hast noch kein Wort gesagt. Ist an dieser Geschichte etwas Wahres?“

Abwartend verschränkte Thomas die Arme vor der Brust. Was sollte er tun, wenn sie es abstritt? Diese Möglichkeit war ihm gar nicht in den Sinn gekommen. Andererseits war nichts an diesem Tag auch nur annähernd wie geplant verlaufen.

Endlich stand Rose auf. Sie war aschfahl und wirkte verstört. Sie setzte an, etwas zu sagen, presste die Lippen aufeinander und nickte nur. Kurz schaute sie Thomas an, ehe sie den Blick senkte. Eine ältere Frau legte einen Arm um sie und zog sie wieder aus seinem Sichtfeld.

Eine eisige Faust schien sich um Thomas’ Herz zu schließen. Es war, wie er geargwöhnt hatte. Sie schämte sich, ihn geheiratet zu haben. Bereute es. Wollte es leugnen, musste es jedoch, in die Enge getrieben, einräumen. Das erklärte, weshalb sie ihm nicht in die Augen sehen konnte, weshalb sie schwieg.

Thomas ballte die Hände zu Fäusten. All die Jahre hatte er von Rose geträumt, davon, zu ihr zurückzukehren, und jetzt … das.

Sie hatte niemandem von ihm erzählt. Nicht einmal ihrer Familie.

Sie war im Begriff gewesen, einen Duke zu ehelichen.

Kalte, vertraute Wut flammte in seinen Eingeweiden auf. Während der vergangenen vier Jahre war ein Versuch nach dem anderen erfolgt, ihn auszulöschen. Aber er hatte überlebt. Er war niemand, der sich leicht aus dem Weg räumen ließ, niemand, dessen man sich so einfach entledigen konnte. Er würde es allen zeigen.

Aber ach, Rose. Es tat weh. Das sollte es nicht, doch das tat es.

„Welch ein verdammter Schlamassel.“ Finster musterte Ashendon die flüsternde Gästeschar, die begierig nach jedem delikaten Detail haschte, als wäre dies ein Bühnenstück, das nur zu ihrer Unterhaltung aufgeführt wurde. Zu gern hätte Thomas einen Schlauch auf sie gerichtet und sie allesamt mit eiskaltem Meerwasser abgespritzt.

„Verfluchte klatschsüchtige Aasgeier“, fuhr Ashendon fort. „Tante Agatha hat recht. Dies ist eine vertrauliche Familienangelegenheit. Wir werden sie in Ashendon House klären.“

Er wandte sich dem Publikum zu und hob die Stimme. „Verzeihen Sie, meine Damen und Herren. Wie der Duke bereits sagte, findet die Hochzeit nicht statt. Haben Sie Dank für Ihr Erscheinen. Auch das Hochzeitsmahl ist abgesagt. Die Geschenke erhalten Sie selbstverständlich zurück.“

Er nickte der kleinen Frauengruppe um Rose zu. Sogleich sprangen die Frauen auf, um Rose geschwind aus der Kirche zu führen. Im Portal blieb Rose stehen, drehte sich um, bedachte Thomas mit einem langen Blick, den er nicht zu deuten vermochte, und tauchte ins Tageslicht.

Nachdem die Braut und deren weibliche Verwandtschaft verschwunden waren, löste sich die verbliebene Gästeschar unter Ashendons scharfem Blick widerstrebend auf. Dabei wurde aufgeregt und unablässig über den soeben erlebten Eklat getuschelt. Die Hochzeit der Saison – auf brisante Weise ruiniert. Bis zur Teestunde würde der gesamte ton Bescheid wissen.

2. KAPITEL

Wie schwer es in manchen Fällen ist,

ernst genommen zu werden!

Und wie unmöglich in anderen!

Jane Austen, Stolz und Vorurteil

Du dummes, dummes, dummes Mädchen!“, rief Tante Agatha, kaum dass die Damen Rutherford den großen Salon von Ashendon House betreten hatten und die Tür hinter ihnen zugefallen war. „Die Chance auf einen Duke einfach zu vertun! All meine Bemühungen, dir eine erstklassige Partie zu sichern – all die wochenlangen Verhandlungen … vergebens. Die Hochzeit der Saison, vor aller Augen in eine banale Farce verwandelt!“

Rose saß stumm auf dem Sofa. Sie wusste nicht, was sie erwidern sollte. Tante Agathas Zorn prasselte auf sie nieder wie Hagel gegen ein Fenster. Sie nahm ihn wahr, doch er berührte sie nicht.

In ihrem Kopf war nur Platz für einen Gedanken: Thomas lebt. Und ich habe ihn nicht erkannt.

Wie hatte sie ihn nicht erkennen können, als er in der Kirche erschienen war? Sie war sich so sicher gewesen, dass es sich um einen furchtbar grausamen Scherz handelte. Aber wie konnte das sein, wenn niemand von ihrer Hochzeit wusste?

Ganz gleich, wie wirr sein Haar oder wie wild sein Bart war oder welche Kleider er trug, sie hätte ihn erkennen müssen. Oh, da war jener Moment des Zögerns gewesen, jener flüchtig aufflackernde Zweifel. Aber sie hatte kurz zuvor an ihn gedacht und es darauf geschoben.

Eine Ehefrau sollte ihren Ehemann erkennen. Stattdessen hatte Rose ihn regelrecht von sich gestoßen. Skrupel plagten sie.

Tante Agatha schimpfte weiter: „Wenn es Unregelmäßigkeiten bezüglich deines Familienstandes gibt, hättest du uns davon in Kenntnis setzen müssen, anstatt es zu einer solch schmachvollen – und öffentlichen – Szene kommen zu lassen!“

„Oh, sei still, Aggie“, beschied Tante Dottie ihrer Schwester. „Siehst du nicht, dass das Mädchen einen fürchterlichen Schreck bekommen hat?“

„Da ist sie nicht die Einzige, Dorothea! Mit ihrer Gedankenlosigkeit hat sie Schande über uns alle gebracht! Alle Welt lacht über uns! Ich werde mich tagelang nicht mehr erhobenen Hauptes in der Öffentlichkeit zeigen können!“

„Oh, Sie Arme“, murmelte George und fing sich einen unheilvollen Blick von Tante Agatha ein.

George hatte ihren Hund Finn mit hereingebracht, einen schlaksigen Irischen Wolfshund. Er saß da, den Kopf auf Georges Knie gelegt, und Rose beobachtete abwesend, wie George ihn zärtlich hinter den Ohren kraulte.

„Wie fühlst du dich, Rose, Liebes?“, erkundigte sich Emm und beugte sich vor. „Du bist sehr blass.“

Rose konnte nicht antworten. Sie wusste nicht, wie sie sich fühlte. Thomas lebt. Jahrelang hatte sie ihn für tot gehalten, und nun …

Sie hätte vor Freude außer sich sein sollen – und das war sie. Oder würde es sein, bald. Wenn er hier einträfe. Wenn sie ihn sehen, ihn berühren, unter vier Augen mit ihm reden könnte. Um sich wieder mit ihm vertraut zu machen. Gewiss würde dann alles zurückkommen. Alles würde wie früher sein, wie vor vier Jahren.

Allerdings …

Er hatte sich stark verändert.

Wie dünn er war. Sie hatte seine Rippen deutlich gespürt, als er sie an sich gedrückt hatte. Thomas – ihr Thomas, der Thomas ihrer Erinnerung – war schlank gewesen, aber auf geschmeidige, knabenhafte Weise. Dieser Thomas sah … ausgezehrt aus, als wären Fleisch und Geschmeidigkeit geschmolzen. Und doch wirkte er größer, zäher, härter. Sie dachte an die straffen, sehnigen Muskeln, die unter seinem zerschlissenen Hemd zu sehen gewesen waren, an seine kräftige Brust und seine breiten Schultern.

Zudem war er gealtert, um weit mehr als vier Jahre, wie es schien. Seine Augen waren von feinen Fältchen umgeben, und Schatten lagen darunter, als schliefe er nicht genug. Sie hatte seine Augen von Anfang an geliebt – sie waren von einem ungewöhnlichen Silberblau, wirkten wie Fragmente eines Sommerhimmels im Dämmerlicht. Die Farbe war natürlich noch dieselbe, doch heute war ihr gewesen, als schaute sie in glitzerndes Eis. In ihnen hatte etwas Stählernes gelegen, das sie nicht kannte …

Und der Blick, den er ihr zugeworfen hatte, kurz bevor sie aus der Kirche gegangen war.

Als sie ein kleines Mädchen gewesen war, noch bevor sie und Lily zur Schule geschickt worden waren, war im Dorf eine alte Frau gestorben. Deren Katze, ein zierlicher, schlanker schwarz-weißer Kater, war davongelaufen, vermutlich weil niemand daran gedacht hatte, das arme kleine Ding zu füttern.

Einige Jahre später war Rose ihm im Wald begegnet. Sie wusste, dass es sich um denselben Kater handelte – die schwarz-weiße Fellzeichnung war unverkennbar. Das Tier war abgemagert, die Rippen standen hervor. Dennoch erschien es ihr größer – langgliedrig und struppig. Sie lockte es, doch es hatte sein Vertrauen zu Menschen verloren. Es hatte sie angefaucht und war verschwunden.

Etwas an Thomas erinnerte sie an jenen Kater.

Was lächerlich war. Menschen verwilderten nicht. Womöglich war er aufgebracht; verärgert darüber, dass sie kurz davor gestanden hatte, einen anderen Mann zu heiraten.

Sie musste es ihm erklären. Sie schluckte. Das würde nicht leicht werden.

Tante Agatha wütete weiter. „Was Ashendon angeht, wie konnte er diese Vogelscheuche unsere Hochzeit verderben lassen? Sein Vater würde sich im Grabe umdrehen. Er hätte gewusst, was zu tun ist.“

„Was hätte Cal denn unternehmen können?“, wandte George ein. „Es ist nicht seine Schuld, dass dieser Mann aufgetaucht ist.“

„Wenn er mir gehorcht und diesen elenden Bettler zurück in die Gosse befördert hätte …“

„So einfach ist das nicht“, warf Emm ein. „Es steht wohl außer Zweifel, dass es vor einigen Jahren eine Hochzeit gegeben hat. Doch Rose hat offenbar angenommen, davon entbunden zu sein und erneut heiraten zu können. Sie hat eine Menge zu erklären, aber nicht jetzt. Sie ist noch nicht in der Lage dazu. Wir wollen warten, bis Cal und Ned mit Mr. Beresford eintreffen, vielleicht wird uns dann einiges klarer …“

Tante Agatha ignorierte sie. „Du hättest die Sache gleich abstreiten sollen, Rose. Wie eine Mimose in Ohnmacht zu sinken hat bloß Aufmerksamkeit erregt …“

„Oooh, aber wie er sie aufgefangen und in die Arme geschlossen hat, als sie die Besinnung verloren hat. Und dieser glühende, besitzergreifende Blick, mit dem er sie bedacht hat. Sooo romantisch.“ Tante Dottie seufzte tief.

„Dorothea!“, erwiderte ihre ältere Schwester scharf. „Unterstütze sie nicht auch noch. Das Mädchen hat sich schändlich verhalten! Hinter unserem Rücken eine solch abscheuliche Mesalliance einzugehen! Hätte ihr Vater das herausgefunden, hätte er den Schuft auspeitschen und die leidige Verbindung annullieren lassen! Rose hätte jetzt eine Duchess sein sollen, und stattdessen ist sie … ist sie …“

„Oh, hör auf, ein solches Gewese um etwas zu machen, das sich nicht ändern lässt, Aggie“, beschwichtigte Tante Dottie sie.

„Nicht ändern lässt? Nicht ändern lässt? Unfug, selbstredend lässt es sich ändern!“

Das Gezänk ihrer Tanten brandete über Rose hinweg. Ihre Hände, die nach wie vor in den albernen Spitzenhandschuhen steckten, zitterten, jedoch nicht vor Kälte. Ihr schwindelte förmlich vor unbeantworteten Fragen.

Oh, Thomas. Was sollte sie nur tun? Was sollte sie ihm sagen? Sie hatte keine Ahnung.

Die Tür ging auf, und Rose verspannte sich in der Erwartung, Thomas zu erblicken, doch es waren nur zwei Lakaien mit voll beladenen Tabletts. „Ah, endlich, die Stärkungen.“ Dankbar stürzte sich Emm auf die Ablenkung. „Lily, wärst du so gut, den Tee einzuschenken? Nichts wirkt beruhigender auf die Nerven als eine schöne Tasse Tee, und das tut uns allen gut. Und vielleicht könnten wir vorerst aufhören, über Roses Situation zu streit … zu diskutieren. George, würdest du deiner Tante die Sahnetörtchen reichen? Und bitte gib dem Hund nichts … oh, also wirklich, musst du dieses Tier auch noch ermuntern?“

„Ich habe das Törtchen aus Versehen fallen lassen“, behauptete George. Finn, der das kleine Gebäckstück hastig in einem Bissen verschlungen hatte, starrte melancholisch auf die dargebotenen Leckereien, ganz in seiner Rolle als Hund, der nie gefüttert wird, aufgehend.

Roses Anspannung ließ ein wenig nach, als Tante Agathas Flut an Fragen – Fragen, auf die sie keine Antwort wusste – in eine Tirade darüber mündete, weshalb Tiere – vor allem große Hunde – im Salon einer feinen Dame nichts zu suchen hatten.

George lauschte mit ausdrucksloser Miene und steckte Finn dann und wann verstohlen ein Plätzchen zu. Flüchtig schaute sie zu Rose herüber und zwinkerte.

Der Tee wurde eingegossen, und Törtchen, Kekse und Gurkensandwiches wurden herumgereicht. Rose fühlte sich krank.

Thomas lebte. Wo war er all die Jahre gewesen? Was war passiert?

Tante Agatha winkte ab, als ihr die Törtchen angeboten wurden. „Die Ehe muss natürlich annulliert werden.“

„Nun, Aggie, hast du Emm nicht gehört? Geben wir Rose ein wenig Zeit, sich zu sammeln, bevor wir entscheiden, was geschehen soll“, meinte Tante Dottie beschwichtigend. „Rose, Liebes, trink deinen Tee und iss eines dieser köstlich aussehenden Törtchen oder ein leckeres kleines Sandwich – ja, ich weiß, du möchtest nichts, aber vertrau mir, du wirst dich besser fühlen, wenn du etwas im Bauch hast.“

„Und nachdem du deinen Tee ausgetrunken hast, kannst du uns darlegen, wie es zu dieser scheußlichen Situation gekommen ist“, fügte Tante Agatha hinzu. „Die wichtigste Frage lautet, ob wir den Duke dazu bewegen können, die Kränkung zu verzeihen und Rose trotz alledem zu heiraten. Der arme Mann muss am Boden zerstört sein.“

George nahm sich ein Sandwich. „Am Boden zerstört? Er wirkte allenfalls leicht pikiert.“

„Ganz recht. Ein wahrer Gentleman zeigt seine Gefühle nicht.“ Tante Agatha nippte an ihrem Tee.

Tante Dottie legte Rose besorgt eine Hand auf den Arm. „Du hast den Duke doch nicht geliebt, oder, mein Schatz?“

Aus ihrem inneren Aufruhr gerissen, blinzelte Rose. „Was? Oh. Nein.“

„So, wie es sein sollte“, stellte Tante Agatha spröde fest. „Leute unseres Standes heiraten nicht aus Liebe.“

„Unfug.“ Tante Dottie griff nach einem Törtchen, aus dem Sahne quoll.

Ihre Schwester wandte sich ihr gereizt zu. „Du hattest noch nie einen Sinn für die Realität, Dorothea. Kein Wunder, dass du nie geheiratet hast. Die Chancen, die du vertan hast – ein Duke, dieser Marquess, diverse Earls …“

„Ich bin vollkommen glücklich mit der Wahl, die ich getroffen habe.“

„Aber du hast keinen von ihnen gewählt.“

„Stimmt.“ Tante Dottie biss in ihr Sahnetörtchen, einen seligen Ausdruck auf dem Gesicht.

Tante Agatha verdrehte die Augen. „Und sieh dich heute an, eine bedauernswerte alte Jungfer!“

„Das war furchtbar gemein!“ Lily legte Tante Dottie tröstend einen Arm um die Taille.

Tante Dottie lachte leise. „Oh, kümmere dich nicht um Aggie, mein Liebling. Sie wird immer unleidlich, wenn ihre Pläne durchkreuzt werden. Ich bin mehr als zufrieden mit meinem Leben. Ich bereue nichts und fühle mich kein bisschen bedauernswert. Diese Törtchen sind köstlich, Emm, meine Liebe. Mein Kompliment an deine Köchin.“ Sie nahm sich ein weiteres.

„Es ist nichts Bedauernswertes daran, ledig zu bleiben“, warf George ein. „Genau das habe ich vor – glücklich und unverheiratet zu leben, ohne einen tyrannischen Gatten. Mein Schicksal selbst in der Hand zu haben. Und allein über mein Geld zu verfügen.“

„Sei nicht töricht, Georgiana!“, wies Tante Agatha sie entrüstet zurecht. „Es ist deine Pflicht …“

Emm setzte klappernd ihre Teetasse ab. „Rose, mein Schatz, gewiss möchtest du dieses Kleid ablegen. Komm, gehen wir hinauf.“ Sie erhob sich, ein wenig ungelenk wegen ihres dicken Bauches, und streckte eine Hand aus. „Nein, Lily“, fügte sie hinzu, als diese sich anschickte, sie zu begleiten. „Bitte bleibe hier bei George und kümmere dich um deine Tanten.“

Rose spürte einen beschämenden Anflug von Erleichterung. Es war feige, wusste sie, aber sie war noch nicht bereit, sich Lily zu stellen. Nicht allein. Es gab so viel zu erklären, und sie hatte keine Ahnung, wo sie anfangen sollte.

Und nicht nur Lily. Was war mit Thomas? Was würde sie ihm sagen?

Emm schritt ihr voran zur Treppe. „Die liebe Dottie. Ist dir bewusst, dass sie Tante Agathas Beschuss absichtlich auf sich lenkt?“

Rose lächelte. Auch George provozierte Tante Agatha mit voller Absicht. „Ich weiß. Tante Dottie ist ein Engel.“

Emm küsste sie auf die Wange. „Sie liebt dich, so wie wir alle – selbst Tante Agatha, auch wenn sie eine solch ordinäre Regung niemals eingestehen würde. Und jetzt nach oben mit dir. Wasch dir das Gesicht – nimm ein Bad, wenn du magst –, und zieh dieses Kleid aus. Komm herunter, wenn du bereit dazu bist.“

Rose sah sie betreten an. „Und was, wenn das nie der Fall sein wird? Oh, Emm, was soll ich bloß tun?“

Emm umarmte sie behutsam. „Das kann ich dir nicht sagen, mein Schatz. Erforsche dein Herz und entscheide selbst, was für dich das Richtige ist. Was immer du willst, dein Bruder und ich werden dich unterstützen.“

„Aber was, wenn ich nicht weiß, was ich will?“

„Bewältige einfach einen Tag nach dem anderen. Es besteht kein Anlass, eine überstürzte Entscheidung zu treffen – immerhin war Mr. Beresford vier Jahre lang fort. Da kommt es auf ein paar weitere Tage oder Wochen kaum an, oder?“

„Vermutlich nicht.“ Rose schlang sich ihre Schleppe über den Arm und ging langsam die Treppe hinauf.

Emm musste nach ihrer Zofe Milly geläutet haben, denn diese erschien kurz darauf. Milly zeigte sich auf unaufdringliche Weise mitfühlend und stellte keine Fragen, während sie Rose aus dem Hochzeitskleid half.

Als ihr der schwere Seidenbrokat über den Kopf gestreift wurde, fühlte Rose eine Woge von … war es Erleichterung? Sie starrte das kostbare Kleid an, das von Milly sorgsam auf dem Fußende des Bettes ausgebreitet wurde, und empfand nicht das leiseste Bedauern. Hatte sie den Duke gar nicht heiraten wollen? Hatte sie sich selbst etwas vorgemacht?

Allerdings hatte sie nichts von Thomas gewusst, als sie den Entschluss gefasst hatte.

„Ich denke, ich werde ein Bad nehmen“, sagte sie zu Milly. Sie hatte erst morgens gebadet, verspürte aber den Drang, es abermals zu tun. Sie seufzte ob ihrer eigenen Torheit. Glaubte sie etwa, die Geschehnisse des Tages abwaschen und neu anfangen zu können? Dennoch fühlte es sich richtig an zu baden.

Während die Zofe geschäftig umhereilte, saß Rose an ihrer Frisierkommode und zupfte sich Blumen und Nadeln aus dem Haar. Sie fühlte sich der Frau im Spiegel seltsam entfremdet. Wer war sie nun? Nicht länger Lady Rose Rutherford. Nicht länger die Braut des Duke of Everingham.

Die Braut, die keine mehr war.

In einem hölzernen Kästchen in einer Ecke der Frisierkommode lag ein schlichtes Goldmedaillon, das an einer filigranen Goldkette hing. Darin befand sich ihr Ehering, zusammen mit einer Locke von Thomas’ Haar.

Sie nahm das Medaillon und ließ es einen Moment lang an der Kette baumeln und sich drehen, ehe sie es in der Handfläche barg.

Während der letzten vier Jahre hatte sie es zwischen ihren Brüsten getragen, verborgen unter dem Ausschnitt ihres Kleides. Nur zum Baden hatte sie es abgenommen.

Heute Morgen – war es wirklich erst wenige Stunden her? Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor – hatte sie sich gefragt, ob sie es für die Hochzeit ablegen solle. War es falsch, eines Mannes Ring zu tragen, während sie einen anderen heiratete – auch wenn Ersterer tot war?

Der Duke hatte betont, dass Liebe nicht Teil ihres Arrangements sei, aber dennoch hatte sie entschieden, dass es nicht richtig wäre, den Ring zu tragen. Sie hatte das Medaillon abgenommen, um es zu küssen – Thomas ein letztes Mal zum Abschied zu küssen – und zu verstauen.

Mrs. Beresford – nun, im Grunde war sie nach wie vor Lady Rose, nur dass sie nun Beresford und nicht länger Rutherford hieß. Wieder eine vermählte Frau. Wobei sie sich nie wie eine solche gefühlt hatte. Sie hatte sich von einem Schulmädchen in ein heimlich verheiratetes Schulmädchen und abermals in ein Schulmädchen verwandelt.

Die Ehe muss natürlich annulliert werden.

Selbstredend wollte Tante Agatha das und womöglich auch Cal – womöglich wollten alle dies. Aber was wollte sie?

Und was wollte Thomas? Vermutlich wollte er sie, wollte ihre Ehe bestehen lassen. Doch nach seinem „Brecht die Hochzeit ab!“ hatte er kaum noch etwas gesagt. Oder getan, abgesehen davon, dass er sie aufgefangen hatte, als sie ohnmächtig geworden war.

Auch sie hatte nicht viel gesagt. Oder getan.

Lakaien füllten den Badezuber mit heißem Wasser und verschwanden. Milly gab Badesalz hinzu, verrührte es und sorgte dafür, dass das Bad die richtige Temperatur hatte. Rose legte ihre verbliebenen Kleider ab und ließ sich ins heiße, wohlduftende Wasser sinken.

Sie hätte es nicht geglaubt, hätte irgendwer behauptet, eine Frau, die sich für eine Witwe – obendrein die Witwe eines geliebten Mannes – gehalten hatte, könnte ob seiner Rückkehr … ja, was empfinden? Zerrissenheit? Verwirrung? Fassungslosigkeit?

Oh, ihr Verstand sagte ihr, dass sie heilfroh war, von Freude erfüllt, erleichtert, außer sich vor Glück – dass sie all die schönen, erhebenden Regungen empfand, die man erwarten durfte. Doch stattdessen fühlte sie sich … taub.

Sie seifte ihren Schwamm ein.

Nicht gänzlich taub. Eher so, wie es sich anfühlte, wenn ein Arm oder ein Bein kribbelnd wieder zum Leben erwachte, nur hundertmal unangenehmer.

Sie hatte Thomas begraben, im Herzen wie auch im Geist – zumindest hatte sie es versucht, hatte sich größte Mühe gegeben. Ein Teil von ihr war zu Eis erstarrt, als sie jenen kleinen Absatz in der Zeitung gelesen hatte: „Mit der gesamten Besatzung untergegangen.“

Nun war er zurück, und ihr war, als bräche ihr erneut das Herz … nein, als wüchse es wieder zusammen. Das war ebenso schmerzhaft, wenn nicht schlimmer.

Sie wusch sich mit dem Schwamm, von Schuldgefühlen geplagt, weil sie Thomas aufgegeben hatte wie auch wegen ihres Verhaltens nach Erhalt der Todesnachricht. Sie fühlte sich schuldig, weil sie nie irgendwem von ihm erzählt hatte.

Und sie machte sich Vorwürfe, weil sie ihn nicht erkannt hatte, als er in der Kirche das Wort ergriffen hatte. Weil sie ihn – ihren eigenen Ehemann – vor Zeugen verleugnet hatte. Wie Judas.

Derweil sie sich angeschickt hatte, einen anderen Mann zu heiraten.

Sie liebte Thomas, natürlich tat sie das. Jedenfalls hatte sie das einst getan.

Doch was war mit ihm geschehen? Wo war er die ganze Zeit über gewesen? Und warum hatte er nie von sich hören lassen, damit sie wusste, dass er noch lebte?

Dieser sehnige, finstere, verwildert wirkende Fremde … Dass es Thomas war, daran zweifelte sie nicht, aber war es ihr Thomas? Er war es und doch auch wieder nicht.

Nicht zuletzt das bereitete ihr Pein.

Ließe sie sich darauf ein, ihn zu lieben wie früher – blind und hemmungslos, mit ihrem ganzen ungestümen, rebellischen Herzen … wie könnte sie es ertragen, abermals von ihm verlassen zu werden?

Was, wenn er sich so sehr verändert hatte, dass er nicht mehr ihr Thomas war?

Früher habe ich mir zu viel vom Leben erhofft.

Auch das impulsive junge Mädchen, das Thomas geheiratet hatte, war inzwischen ein anderer Mensch.

Rose spülte sich ab und stieg aus dem Badezuber. Unten wartete ihre Familie auf eine Erklärung, die ihr nicht einfallen wollte.

Rasch zog sie sich an.

Bald würde Thomas eintreffen. Die Erklärung, die er erwartete, würde noch schwieriger werden.

Sie wollte davonlaufen. Ich bin jetzt reifer.

Rose schnitt dem Mädchen im Spiegel eine Grimasse, nahm das Medaillon und legte es sich um den Hals. Danach fuhr sie sich glättend übers Kleid, atmete tief durch und ging nach unten.

„Ich kann leider nicht bleiben“, sagte Ollie zu Thomas, als sie aus der Kirche hinaus in die frische kühle Luft traten. Auf der Kirchentreppe blieben sie stehen. Da den Schaulustigen sowohl ein Drama als auch der erhoffte Münzregen vorenthalten worden war, hatten sie sich weitestgehend zerstreut. „Ich muss zurück. Habe mein Büro verlassen, ohne Bescheid zu geben. Das sieht die Admiralität nicht gern.“ Er griff sich in die Tasche, zog ein elegantes silbernes Visitenkartenetui hervor und reichte Ashendon eine Karte. „Meine Karte, Ashendon. Stets zu Ihren Diensten.“

Ashendon warf einen flüchtigen Blick darauf und steckte sie ein.

Thomas war keine Gelegenheit eingeräumt worden, mit Rose zu sprechen. Die Damen Rutherford hatten sie eilends in einer Kutsche fortgebracht. Lord Ashendon hatte verfügt, dass sie – womit er sich selbst, Thomas und den dritten Gentleman, der offenbar ebenfalls zur Familie gehörte – den Damen zu Fuß folgen würden.

Mit anderen Worten: Er wollte Thomas allein befragen, ohne dass Rose oder eine der anderen Damen zugegen war. Oder vielleicht will er sich meiner auch in einer dunklen Gasse entledigen, dachte Thomas grimmig. Versuchen konnte er es ja.

Ollie kritzelte etwas auf eine zweite Karte und reichte sie Thomas. „Meine Adresse, Thomas. Betrachte es auch als die deine, bis du selbst etwas findest.“

Thomas dankte ihm. Er hatte noch keinen Gedanken daran verschwendet, wo er heute Nacht schlafen würde. Die Ereignisse hatten sich überschlagen.

Ollie hielt eine vorbeifahrende Droschke an und stieg behände ein.

Thomas schaute ihm nach. Wenigstens Ollie hatte ihn nicht im Stich gelassen.

Rose gleich am Tag seiner Ankunft zu finden, damit hatte Thomas nicht gerechnet. Er hatte zunächst der Marine Bericht erstatten und alles in die Wege leiten wollen, um für die Rettung seiner Männer zu sorgen. Anschließend hatte er sich auf die Suche nach ihr machen wollen. Er war darauf eingestellt gewesen, sich nach Bath begeben zu müssen, wo er sie damals verlassen hatte, und sie im Haus ihrer Tante aufzuspüren. Der netten.

Anscheinend blieben Frauen nicht da, wo man sie zurückließ.

„Hier entlang“, sagte Ashendon, und sie setzten sich in Bewegung. Es war Frühling, ein heiterer, wolkenloser Tag, doch die fahle Sonne wärmte Thomas kaum die Haut. Schwer zu glauben, dass dies dieselbe Sonne war wie jenes unbarmherzig brennende Gestirn, unter dem er vier Jahre lang geschuftet hatte.

Es war kein Tag vergangen, an dem er nicht an Rose gedacht hatte.

Hatte sie an ihn gedacht? Das fragte er sich jetzt.

Er hatte erwartet, dass sein erster Tag zurück in England ein Tag der Überraschungen sein würde, aber auch ein Tag der Wiedersehensfreude und des Jubels. Stattdessen hatte ein Schreck den nächsten gejagt. Nicht genug damit, dass die Marine auf seinem Ableben beharrte, weil er laut ihren Unterlagen tot war. Obendrein hielt Rose ihn ebenfalls für tot – und hatte keiner Menschenseele erzählt, dass sie seine Frau war.

Sein Onkel und sein Cousin hingegen hatten gewusst, dass er lebte. Sie hatten gewusst, dass er den Schiffbruch überstanden und es zurück in das geschafft hatte, was in jenem Teil der Welt als Zivilisation galt. Sie hatten keinen Versuch unternommen, ihn nach Hause zu holen – schlimmer noch, sie hatten seine bloße Existenz bestritten, und er hatte keine Ahnung, wieso. Dadurch hatten sie ihn zu einem Dasein unter unvorstellbar grauenvollen Bedingungen verdammt.

Doch das war ein Verrat, dem er sich später widmen würde. Rache, so hieß es, sei ein Gericht, das am besten kalt serviert werde. Er hatte vier Jahre lang Zeit gehabt, es zuzubereiten.

Heute ging es ihm allein um Rose, die Frau, die ihn hinter sich gelassen hatte, um einen Duke zu ehelichen.

Er hatte sich ein freudiges Wiedersehen ausgemalt. Er hatte sich erträumt, dass sie sich ihm in die Arme werfen würde. Stattdessen hatte sie ihn von sich gestoßen und verlangt, dass er sie loslasse. Und seitdem kaum ein Wort gesagt.

Eine weitere zerschmetterte Illusion.

Ashendon sah ihn scharf von der Seite an. „Bedenken, Beresford? Bereuen Sie es schon? Sie können gehen, wenn Sie wollen.“

Thomas sah ihn eindringlich an. „Ich gehe nirgendwohin.“

Sie bogen um eine Ecke und überquerten eine belebte, von florierenden Läden gesäumte Straße. Thomas spürte, dass Ashendon ihn unverwandt musterte. Er verströmte Argwohn und stumme Feindseligkeit.

Thomas mochte den Mann nicht, konnte ihm seine Animosität jedoch nicht verübeln. Er hätte ganz ähnlich empfunden, wenn wie aus dem Nichts ein zerlumpter Bursche aufgetaucht wäre und behauptet hätte, mit seiner bildschönen Schwester verheiratet zu sein – eine Ehe, von der er bis dato nichts gewusst hatte.

Sofern das stimmte.

Die Hochzeit mit einem Duke war nicht zu verachten; es bedeutete einen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufstieg, selbst für die Tochter eines Earls.

„Haben Sie wirklich nichts davon gewusst? Hat sie Ihnen nie davon erzählt?“ Ihm war klar, dass er sich wiederholte, aber er verstand es einfach nicht.

Autor

Anne Gracie

Schon als junges Mädchen begeisterte sich Anne Gracie für die Romane von Georgette Heyer – für sie die perfekte Mischung aus Geschichte, Romantik und Humor. Geschichte generell, aber auch die Geschichte ihrer eigenen Familie ist Inspirationsquelle für Anne, deren erster Roman für den RITA Award in der Kategorie beste...

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