Küss mich noch einmal, Cinderella!

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Weiche Lippen, die sacht seinen Mund berühren, ein zarter Duft, der ihn umhüllt – überrascht öffnet Achilles aus tiefer Bewusstlosigkeit die Augen! Hat ihn etwa die junge Schönheit, die an seinem Krankenbett steht, wachgeküsst? Doch er kennt nicht seinen Namen, weiß nicht, dass er ein griechischer Tycoon ist oder was er in Schottland wollte. Er weiß nur, dass er Sofie begehrt wie keine Frau je zuvor! Als seine Erinnerung zurückkehrt, ist ihm klar, dass er sofort heim nach Athen muss – aber nicht ohne Sofie. Auch wenn eine gemeinsame Zukunft unmöglich scheint …


  • Erscheinungstag 01.11.2022
  • Bandnummer 2568
  • ISBN / Artikelnummer 9783751510042
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Der Patient war immer noch hier. Sofie MacKenzies Herz schlug schneller, als sie in das schlichte Krankenzimmer trat.

Eigentlich hatte sie hier nichts zu suchen. Schließlich war sie weder Krankenschwester noch Ärztin, sondern nur die Reinigungskraft.

Der Fremde lag immer noch bewusstlos in dem schmalen Bett. Genauso wie vor einigen Tagen, als ihn die Sanitäter hier in das kleine öffentliche Inselkrankenhaus gebracht hatten.

Wanderer hatten ihn am Ben Kincraig gefunden, dem berühmtesten Berg von Gallinvach. Jedes Jahr reisten Menschen aus der ganzen Welt hierher, um den Berg zu besteigen.

Niemand hier kannte den Fremden, und die Polizei hatte erfolglos nach einem Rucksack oder Papieren gesucht, mit denen er identifiziert werden könnte. Auch wenn seine einzige sichtbare Verletzung eine Beule am Kopf war, wachte er einfach nicht auf.

Sofie stand am Fußende des Krankenbettes und sah auf die Elektroden, die auf seiner nackten Brust klebten, um seine Gehirnfunktion zu überwachen. Das stetige Piepsen der Monitore milderte etwas die Sorge um ihn. Dass sie sich überhaupt welche machte, war lächerlich, denn sie kannte den Mann überhaupt nicht. Aber er war ganz allein … es gab niemanden hier, der ihn liebte oder auch nur wusste, wer er war. Das berührte Sofie, und sie fühlte sich ihm verbunden.

Im Gegensatz zu ihm hatte sie ihr ganzes Leben auf dieser Insel verbracht. Aber als Einzelkind hatte sie sich immer ein wenig einsam gefühlt, umso mehr, seit ihre Eltern nicht mehr lebten.

Sofie konnte nicht genau sagen, woher diese Einsamkeit stammte. Nicht einmal wenn sie etwas mit ihren Freunden unternahm, wurde sie das Gefühl los. Dafür kam es zu tief aus ihrem Inneren. Wahrscheinlich ertappte sie sich deshalb immer wieder dabei, wie sie nach diesem Fremden schaute. Nach dem Mann ohne Namen.

In den letzten Tagen hatte sie sich sogar nach Schichtende neben sein Bett gesetzt. Als wollte sie ihn spüren lassen, dass es jemanden gab, der sich um ihn sorgte.

Aber sie musste zugeben, dass ihr Interesse nicht ganz selbstlos war, denn er war der attraktivste Mann, den sie je gesehen hatte. Beim ersten Blick auf ihn hatte seine atemberaubende Schönheit ihr den Atem verschlagen. Noch kein Mann hatte so einen Effekt auf sie gehabt.

Es kam ihr vor, als wäre sie ihr Leben lang in einem Block Eis eingefroren gewesen, und plötzlich taute sie auf … verspürte völlig unbekannte Gefühle, Sehnsüchte, Verlangen. Es war, als erwachte ihr Körper zum Leben. Mit dreiundzwanzig!

Die Menschen auf der Insel nannten sie scherzhaft „Schwester Sofie“, weil sie so behütet lebte. Wahrscheinlich lag es daran, dass ihre Eltern immer schon mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen gehabt hatten.

Die beiden hatten immer darauf geachtet, dass Sofie sich nicht weit von zu Hause entfernte. Nicht nur wegen ihrer eigenen schwachen Gesundheit, sondern auch weil sie unter Flugangst litten – eine Angst, die Sofie nicht teilte.

Ihren Eltern zuliebe war sie nie weiter gereist als ein paar Stationen mit dem Boot oder dem Zug. Als Jugendliche war sie mit ihren Eltern im Sommer einmal nach Nordfrankreich gefahren, doch das war schon ihre exotischste Reise gewesen.

Während Sofies Freunde nach dem Schulabschluss um die halbe Welt geflogen waren, hatte Sofie am Sterbebett ihres Vaters gewacht. Aber das hatte ihr nichts ausgemacht. Schließlich war sie alles, was ihre Eltern hatten.

Die meisten jungen Leute in ihrem Alter hatten die Insel entweder schon verlassen oder eine Familie gegründet. Sie hatte keins von beidem getan. Stattdessen hatte sie die letzten Jahre damit verbracht, ihre kranke Mutter zu pflegen. Erst in den letzten Wochen fand sie ganz langsam einen Weg, mit dem Verlust und ihrer Trauer zu leben.

Vielleicht interessiert der Fremde mich deshalb so sehr, überlegte Sofie. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit bestimmten nicht mehr Sorge und Trauer ihr Leben. Zum ersten Mal musste sie sich um niemand anderen kümmern.

Aber wenn sie ganz ehrlich war, steckte mehr dahinter. Selbst auf dem Krankenhausbett erkannte sie, dass er über ein Meter neunzig groß war und den durchtrainierten Körper eines Athleten besaß. Sein volles dunkles Haar wirkte, als wäre er längere Zeit nicht beim Friseur gewesen.

Welche Farbe wohl seine Augen haben mochten? Wahrscheinlich waren sie dunkel, so wie der Rest von ihm.

Die Bartstoppeln auf seinem Kinn betonten die markanten Gesichtszüge. Und seinen Mund. Sofies Herz klopfte schneller. Seine Lippen waren voll und sinnlich. Fast zu schön für einen Mann. Aber bei ihm wirkten sie wie eine Herausforderung. Verführerisch.

Hastig riss sie ihren Blick von seinem Gesicht los und sah zu dem Tattoo auf seinem linken Oberarm. Auch wenn sie nicht wagte, näher an ihn heranzutreten, erkannte sie, dass es wie ein Tier aussah. Ein heulender Wolf in einem schwarzen Kreis.

Sofie konnte sich nicht davon abhalten, den Blick tiefer wandern zu lassen. Über seinen muskulösen Oberkörper, hinunter zu den wie gemeißelt aussehenden Bauchmuskeln.

Schnell wandte sie den Blick ab. Was war nur in sie gefahren?

Sie ging zu dem kleinen Nachttisch neben dem Bett und schob das Glas Wasser und eine Box mit Taschentüchern zurecht, als würde das ihre Anwesenheit in seinem Zimmer rechtfertigen.

Um ehrlich zu sein, hatte sie seitdem dieser Mann ins Krankenhaus eingeliefert worden war jeden Funken Vernunft verloren. Es kam ihr vor, als wäre sie das reinste Hormonbündel. Allerdings ging es nicht nur ihr so. Die Krankenschwestern – und sogar einige Pfleger! – waren genauso fasziniert von diesem mysteriösen Fremden wie sie.

Trotzdem kam es ihr vor, als verstünde nur sie, wie einsam er sich fühlen musste. Was verrückt war. Sobald er aufwachte, würde er die Menschen anrufen, die ihm nahestanden, und Sofies alberne Fantasien würden sich in Luft auflösen.

Sie wusste, sie sollte gehen, aber neben seinem Bett zögerte sie einen Moment. Obwohl er ruhig und friedlich dalag, wirkte er wie ein schlafendes Raubtier. Als schlummerte eine animalische Kraft in ihm, die nur darauf wartete, geweckt zu werden.

Ihre Haut prickelte, und ihr Blick wanderte wieder zu seinen Lippen. Diese perfekten Lippen. Wie mochte es sich anfühlen, sie zu berühren?

Nein. Nicht in einer Million Jahren konnte eine Frau wie sie sich einem Mann wie ihm nähern. Aber sie spürte, wie ein gefährlicher Leichtsinn in ihr aufstieg. Es überkam sie ein übermächtiges Verlangen, seine Lippen zu berühren. Herauszufinden, wie seine Lippen sich unter ihren anfühlten. Die Sehnsucht war zu stark, um dagegen anzukämpfen.

Bevor sie sich davon abhalten konnte, beugte sie sich über ihn. Ihr Gesicht war nur noch wenige Zentimeter von seinem entfernt. Dann schloss sie die Augen und legte ihre Lippen auf seine.

Sein Mund fühlte sich genauso an, wie sie es sich vorgestellt hatte. Und noch besser. Fest, aber zart. Und warm. Obwohl er bewusstlos war, spürte sie seine pulsierende Lebenskraft. Es war, als wartete er nur darauf aufzuwachen.

Aber natürlich wachte er nicht auf.

Plötzlich wurde ihr klar, dass sie eine Grenze überschritten hatte. Sowohl menschlich als auch beruflich.

Hastig sprang sie einen Schritt zurück. Ihre Wangen glühten, und sie sah sich um, als wäre sie gerade aus tiefer Trance erwacht.

Niemand hatte sie gesehen. Erleichtert seufzte sie auf. Sie musste gehen und diesen mysteriösen Fremden ein für alle Mal aus dem Kopf bekommen. Zum Glück hatte sie bald zwei Tage frei. Die Zeit würde sie nutzen, um auf andere Gedanken zu kommen.

Als sie sich umdrehte, legten sich plötzlich starke Finger um ihr Handgelenk. Erschreckt schrie Sofie auf und schaute über ihre Schulter.

Ihr erster Gedanke war: Seine Augen sind nicht braun, sondern grün. Dann öffnete er den Mund. Die Lippen, die sie gerade noch unter ihren gespürt hatte.

Sofie kam es vor, als drehte sich der Raum um sie. Passierte das wirklich?

Jetzt runzelte er die Stirn. Mit tiefer rauer Stimme sagte er etwas in einer fremden Sprache.

Also träumte sie nicht.

Sie atmete tief ein. „Entschuldigung, was haben Sie gesagt?“

Das Runzeln auf seiner Stirn vertiefte sich. Dann sah er ihr direkt in die Augen.

„Wo bin ich?“, fragte er auf Englisch. „Wo zum Teufel bin ich?“

Gedankenverloren berührte Sofie ihr Handgelenk dort, wo der Fremde sie vor zwei Tagen angefasst hatte. Immer noch spürte sie seine langen Finger auf ihrer Haut, das Prickeln, das sie verursacht hatten.

Nachdem sie die Patientenklingel gedrückt hatte, waren die Ärzte und Krankenschwestern ins Zimmer gestürmt. Erleichtert war Sofie zurückgetreten und aus dem Raum geschlüpft, bevor irgendjemand auf den Gedanken kam, sie zu fragen, was sie dort zu suchen hatte.

Hatte ihr Kuss ihn geweckt?

Sie schüttelte den Kopf und knöpfte ihre Dienstkleidung zu. Was für ein verrückter Gedanke, schließlich lebten sie nicht in einem Märchen!

Sie seufzte und betrachtete sich im Spiegel des Umkleideraums. Ihr dunkles Haar betonte die viel zu blasse Haut. Selbst im Hochsommer gab es hier in Schottland keine Chance auf Sommerbräune.

In ihrem ganzen Leben war Sofie noch an keinen dieser warmen, sonnigen Orte gereist, die sie im Fernsehen sah und von denen sie in Büchern las. Sie konnte sich nicht einmal vorstellen, wie sich ein Sommer im Süden anfühlen mochte.

Das Hemd spannte über ihrer Brust. Wieder seufzte sie und zupfte an dem Stoff, um ihn zurechtzurücken. Wie oft hatte sie sich gewünscht, ein paar Zentimeter größer als ihre ein Meter zweiundsechzig zu sein. Vielleicht würden ihre Kurven dann besser zu ihr passen.

Aber leider hatte sie die kleine und üppige Statur ihrer geliebten Großmutter geerbt. Inklusive ihrer Hüften. Und es gab nichts, was sie dagegen tun konnte.

Sie schloss ihren Spind und versuchte, an etwas anderes zu denken.

Plötzlich öffnete sich die Tür zur Umkleide, und Claire kam herein. Die Krankenschwester war eine gute Freundin von Sofie.

„Du wirst im Einzelzimmer gebraucht, Sofie. Jemand hat eine Blumenvase umgeworfen, und überall liegen Scherben.“

Sofie schluckte. „Das Zimmer, in dem der eine … Patient liegt?“

Claire rollte mit den Augen. „Genau das. Unser einziges Einzelzimmer.“

„Also ist er immer noch hier?“

Ihre Freundin runzelte ungeduldig die Stirn. „Ja, er ist immer noch hier. Was ist los mit dir?“

Bei dem Gedanken, ihn wiederzusehen, stieg Panik in ihr auf. „Nichts … gar nichts. Ich komme sofort.“

Sofie band ihr Haar zusammen und machte sich auf den Weg. Heute Morgen hatte sie gehört, wie die Krankenschwestern darüber sprachen, dass der Fremde sein Gedächtnis verloren hatte. Offenbar hatte er keine Ahnung, wer er war. Bisher hatte ihn niemand als vermisst gemeldet, und es schien, als wäre er allein gereist.

Abgesehen von dem Gedächtnisverlust und der Kopfverletzung war er bei bester Gesundheit. Sofie errötete bei der Erinnerung daran, wie gut und gesund er ausgesehen – und sich angefühlt – hatte.

Als sie an der Tür zu seinem Zimmer ankam, zögerte sie, denn sie hörte Stimmen aus dem Inneren. Aber dann öffnete die Oberschwester die Tür.

„Oh, sehr gut, Sofie. Komm herein, und kümmere dich um das Chaos, bevor jemand ausrutscht und sich verletzt.“

Egal wie gerne Sofie auch weggelaufen wäre, sie konnte es nicht. Also trat sie ein.

Ein Arzt und der Krankenhausmanager standen zwischen ihr und dem Bett und verdeckten ihre Sicht auf den Patienten. Die beiden sprachen mit gedämpfter Stimme.

Schließlich trat der Arzt zur Seite, und sie sah den Fremden. Er saß im Bett und wirkte hellwach. Diesmal war seine Brust nicht nackt, sondern er trug einen Krankenhauskittel.

Sein Anblick traf Sofie wie ein Schlag in den Magen. Wieder raubte seine Schönheit ihr den Atem. Dann sah er sie mit seinen unglaublich grünen Augen an. Sein Haar wirkte zerzaust, und der Dreitagebart verlieh ihm eine noch männlichere Ausstrahlung.

„Sofie?“

Sofie blinzelte und merkte, dass der Arzt und der Krankenhausmanager sie ansahen. Offenbar hatten sie mit ihr gesprochen.

„Die Scherben sind auf der anderen Seite des Bettes“, sagte die Oberschwester ungeduldig.

Mit glühenden Wangen nahm Sofie ihren Putzeimer und eilte um das Bett herum.

Die schwarzhaarige Frau kam ihm bekannt vor. Damit war sie das Einzige, was ihm bekannt vorkam. Fasziniert beobachtete er sie.

Sie wirkte wie ein Sonnenstrahl, der durch den dichten Nebel in seinem Kopf drang. Mit einem Mal hatte er das Gefühl, wieder klar denken zu können. Aufmerksam sah er zu, wie sie um das Bett herumeilte. Anstatt den Ärzten zuzuhören, wollte er viel lieber ihr beim Saubermachen zuschauen.

Er hätte sie gerne gebeten näher zu kommen, damit er sie aus der Nähe betrachten konnte, aber sie war damit beschäftigt, die Scherben vorsichtig in eine Plastiktüte zu legen. Als sie sich bückte, spannte der Stoff ihres Hemdes über ihren vollen Brüsten, und er erhaschte einen Blick auf weiße Spitze und cremefarbene Haut.

Diese Frau hatte den Körper einer kleinen kurvigen Göttin. Üppige Oberweite, runde Hüften und eine schmale Taille. Das seidige schwarze Haar hatte sie zu einem Zopf zusammengebunden.

Nachdem sie hereingekommen war, hatte sie ihn angestarrt, als hätte sie noch nie einen Mann gesehen, mit ihren riesigen Augen in der Farbe von dunklen Veilchen. Ungewöhnlich.

Aber woher wusste er, welche Augenfarbe sie hatte, obwohl er sie vom Bett aus nicht erkennen konnte? Hatte er diese Frau schon einmal gesehen? Warum kam sie ihm so bekannt vor? Als er versuchte, den Gedanken zu greifen, begann sein Kopf schmerzhaft zu pochen.

Sie hielt den Blick auf den Boden gerichtet und konzentrierte sich ganz auf die Arbeit. Aus irgendeinem Grund ärgerte ihn das. Möglicherweise war er es nicht gewohnt, dass eine Frau seinem Blick auswich. Er hatte das Gefühl, dass es normalerweise andersherum war.

Er riss den Blick von ihr los, als sich der Arzt betont räusperte, und konzentrierte sich wieder auf die beiden Männer. Auch wenn die endlosen Fragen seinen Kopf brummen ließen.

„Es gibt keinen Grund, Sie noch länger hierzubehalten. Aber natürlich können wir Sie auch nicht einfach wegschicken, solange Sie nicht einmal Ihren eigenen Namen kennen …“

Frustriert stieß er die Luft aus. Diese Leute zeigten ihm nur Probleme auf, ohne eine Lösung anzubieten.

„Um diese Jahreszeit sind alle Hotels und Pensionen ausgebucht“, sagte der Klinikleiter.

Der Arzt nickte. „Ich würde anbieten, ihn bei mir unterzubringen, aber unser Haus ist voll …“

„Meine Mutter kommt zu Besuch …“, meldete sich die Oberschwester zu Wort.

Ungeduldig hob er eine Hand. Dann sah er zu dem Mädchen, das gerade das Wasser vom Boden aufwischte.

„Ich bleibe bei ihr“, beschloss er und nickte in ihre Richtung.

Plötzlich wurde es ganz still im Raum. Alle Blicke richteten sich auf ihn. Langsam hob das Mädchen den Kopf und sah ihn an. Ihre Augen weiteten sich. Dunkelblau. Ganz sicher dunkelblau. Plötzlich stieg eine Erinnerung in ihm auf …

„Sie waren im Zimmer, als ich aufgewacht bin“, stellte er fest.

Bei seinen Worten errötete sie. „Ich … ja, das stimmt. Ich habe die Ärzte und Schwestern gerufen.“

Es kam ihm vor, als wäre da noch etwas anderes. Die Erinnerung an ein zierliches Handgelenk unter seinen Fingern. Weiche Haut.

Die Oberschwester räusperte sich. „Ich fürchte, bei Sofie zu wohnen, wäre keine passende Lösung.“

Sofie. Der Name passte zu ihr. Weich. Wie ihre Kurven. Aber dann sah sie ihn wieder an, und er erkannte etwas anderes in ihrer Miene. Stärke. Sein Körper reagierte auf sie. Er biss die Zähne zusammen.

„Kann ich bei Ihnen wohnen?“, fragte er.

Sie blinzelte. Ihm fiel auf, wie lang ihre dunklen Wimpern waren. Obwohl sie kein Make-up trug, wirkte ihre helle Haut zart wie Porzellan.

Sie sah von ihm zu den anderen und biss sich auf die Unterlippe. „Ich … äh. Ich wüsste nicht, was dagegen spricht.“

Ihre Stimme klang dunkel und klar. Melodisch. Angenehm.

Die Oberschwester trat einen Schritt vor. „Sofie, bitte denke nicht, dass du zustimmen musst. Diese ganze Situation ist sehr verzwickt.“

Sofie zuckte mit den Schultern. „Ich lebe allein, und seit dem Tod meiner Mutter habe ich einige ungenutzte Zimmer im Haus. Mir kommt es wie die einfachste Lösung vor.“

Jetzt wandte sich der Arzt an sie. „Miss MacKenzie, wären Sie wirklich bereit, das zu tun? Der Patient muss unter Beobachtung stehen. Sein Erinnerungsvermögen könnte jederzeit zurückkommen, und das könnte traumatisch für ihn sein. Außerdem muss er regelmäßig untersucht werden, um sicherzugehen, dass er sich gut erholt.“

Bevor die junge Frau etwas erwidern konnte, meldete sich die Oberschwester zu Wort.

„Wir könnten täglich eine Krankenschwester vorbeischicken“, schlug sie vor. „Wenn du bereit wärst, dich um ihn zu kümmern, würden wir dir solange freigeben.

„Also bekommt sie dafür bezahlten Urlaub?“, fragte er wie ferngesteuert nach.

Überrascht merkte er, wie wichtig es ihm war, dass sie gut versorgt war. Außerdem gewann er den Eindruck, dass er normalerweise derjenige war, der anderen Menschen Anweisungen gab.

„Selbstverständlich“, stimmte der Klinikleiter zu. „Sofie würde uns allen einen großen Gefallen tun. Solange wir Ihre Identität noch nicht herausgefunden haben, muss sich jemand um Sie kümmern.“

Ein Name tauchte in seinem Kopf auf.

„Darius“, sagte er, auch wenn er ziemlich sicher war, dass es nicht sein Name war. „Nennen Sie mich Darius.“

Einen Moment lang herrschte Stille.

Dann wandte Sofie sich an den Arzt. „Was denken Sie, wie lange es dauert, bis er sich wieder erinnert?“

„Das ist schwer zu sagen. Entweder kommen die Erinnerungen mit der Zeit Stück für Stück zurück oder ohne Vorwarnung alle auf einmal.“

Als sie ihn ansah, lag ein Ausdruck in ihren Augen, den er nicht sofort deuten konnte. Mitgefühl? Mitleid?

Das gefiel ihm gar nicht. Er brauchte kein Mitgefühl. Dann kam er lieber alleine zurecht.

Aber bevor er den Mund öffnen konnte, nickte sie.

„Gut, in Ordnung. Er … Mr. Darius … kann bei mir wohnen.“

„Bist du verrückt, Sofie? Er könnte ein Serienmörder sein!“

Sofie verdrehte die Augen und sah ihre Freundin Claire an, die neben ihr in der Umkleide stand. Nach Feierabend hatte sie ihre Arbeitskleidung gegen eine Jeans und ein langärmeliges Top getauscht.

Als sie sich nach ihrer Tasche bückte, widerstand sie dem Impuls, einen Blick in den Spiegel zu werfen. Das war nicht nötig. Sie wusste genau, dass sie seit heute Morgen nicht magischerweise fünf Zentimeter gewachsen war und sechs Kilogramm abgenommen hatte.

„Das bezweifle ich sehr, Claire. Außerdem wohnst du am anderen Ende der Straße. Wenn ich laut genug schreie, hörst du mich.“

Ihre Freundin wirkte immer noch besorgt. „Ich komme jeden Tag nach der Arbeit vorbei und schaue, ob es dir gut geht.“

Sofie schnaubte. „Ich bin nicht diejenige, die einen Berg hinuntergestürzt ist. Wenn man sich um jemanden Sorgen machen muss, dann um ihn.“

Claire winkte ab. „Er interessiert mich nicht. Mir geht es um dich. Bist du sicher, dass dir die Entscheidung nicht gegen deinen Willen aufgedrängt wurde?“

Sofie dachte daran, welche Wirkung die Stimme des Fremden auf sie gehabt hatte. Allein die Vorstellung, in seiner Nähe zu sein, ließ ihr Herz hämmern wie einen Presslufthammer.

Und dann hatte er sich auch noch daran erinnert, wie er sie in seinem Zimmer gesehen hatte. Ob er sich auch an den Kuss erinnerte? Hatte er deshalb vorgeschlagen, bei ihr zu wohnen? Weil er dachte, sie würde ihm … besondere Dienste anbieten?

Aber er hatte sie so fragend angesehen, dass sie den Gedanken schnell wieder verwarf. Schließlich war er bei dem Kuss bewusstlos gewesen. Außerdem war sie keine Frau, an die sich ein Mann erinnerte.

„Er weiß nicht, wer er ist. Vielleicht hat er eine Familie und Freunde, die sich Sorgen um ihn machen“, überlegte sie laut.

Vielleicht war er verheiratet. Hatte Kinder. Eine Geliebte.

Claire schnaubte. „Er hat alleine einen Berg bestiegen. Falls er eine Familie hat, rennen sie uns nicht gerade die Tür ein, um ihn zu finden.“ Sie kniff die Augen zusammen. „Du bist zu gutmütig, Sofie. Eines Tages bringt dich das noch in Schwierigkeiten.“

In Schwierigkeiten. In ihrem ganzen Leben war sie noch nie in Schwierigkeiten geraten. Aber jetzt lud sie einen vollkommen Fremden zu sich nach Hause ein. Einen atemberaubend attraktiven Fremden.

„Versprich mir, dass du sofort anrufst, wenn er sich irgendwie seltsam verhält.“

„Natürlich“, versicherte Sofie. „Bestimmt kommt seine Erinnerung in ein paar Tagen zurück. Wahrscheinlich ist er ein Londoner Geschäftsmann, der an einem Burn-out leidet.“

Claire lachte. „Wenn der Mann ein einfacher Geschäftsmann ist, dann ist mein Graham einer von den Chippendales.“

Als Sofie an Claires Ehemann dachte, unterdrückte sie ein Kichern. Mit seinem Bierbauch und dem schütteren Haar erinnerte er nicht gerade an einen muskelbepackten Stripper.

In diesem Moment öffnete die Oberschwester die Tür zur Umkleide. „Sofie? Der Patient ist fertig.“

Das Herz hüpfte aufgeregt in ihrer Brust. Sie lächelte Claire noch einmal zu, dann machte sie sich auf den Weg.

Wahrscheinlich kam seine Erinnerung in den nächsten Tagen zurück, und dann fuhr er nach Hause. Denn eins war sicher: Dieser Mann gehörte nicht hierher.

Ich gehöre nicht hierher. Die Worte hallten in Darius’ Kopf wie ein Echo, während er auf dem Klinikparkplatz auf Sofie wartete.

Er runzelte die Stirn. Trotzdem war er hier. Auch wenn ihm kein einziger Grund dafür einfiel. Selbst seine Kleidung fühlte sich seltsam ungewohnt an, nicht nur, weil die Outdoor-Hose, der langärmelige Fleecepullover und die Regenjacke offensichtlich neu waren. Auch die Wanderschuhe waren noch nicht eingetragen. Ein Hinweis, dass er nicht oft auf Berge kletterte?

Aus dem Augenwinkel bemerkte er einige Krankenschwestern, die sich nach ihm umdrehten.

Dann kam ein kleines blaues Auto um die Ecke und hielt mit quietschenden Reifen neben ihm. Die Beifahrertür öffnete sich.

Er trat näher und schaute durch die geöffnete Tür. Aus dem Innenraum sah ihm Sofie entgegen. Ihre Augen waren wirklich außergewöhnlich.

„Steigen Sie ein.“

Ungläubig blickte er sie an. Obwohl er sich an nichts erinnern konnte, war er sich sicher, dass er in seinem ganzen Leben noch nie in einem so winzigen Auto gesessen hatte.

„Ich glaube, ich passe nicht hinein.“

„Mein Vater war fast genauso groß wie Sie, und das hat prima funktioniert.“

Zweifelnd runzelte er die Stirn, aber er stieg ein. Und es passte, gerade eben, auch wenn er die Knie bis zur Brust anziehen musste und sein Kopf den Dachhimmel berührte.

Er schloss die Autotür, aber Sofie fuhr nicht los. Er sah sie an. Sie sah ihn an. Auf dem engen Raum stieg ihm ihr Duft in die Nase, frisch und ohne Parfum. Verführerisch.

„Warum fahren wir nicht?“, fragte er.

„Sie müssen noch Ihren Gurt anlegen.“

Nachdem er sich angeschnallt hatte, lächelte Sofie und schaute nach vorn. Dann trat sie so fest auf das Gaspedal, dass sie nach vorne schnellten und der Motor ausging.

Ihre Wangen glühten feuerrot, als sie den Schlüssel im Zündschloss drehte, um den Motor wieder anzulassen. Bei der Bewegung löste sich eine Strähne ihres tintenschwarzen Haars aus dem Zopf und fiel ihr ins Gesicht.

Er kämpfte gegen den Drang, die Strähne aus ihrem Gesicht zu streichen. Wie sie wohl aussah, wenn sie ihr Haar offen trug? Bei der Vorstellung pochte das Blut schneller durch seine Adern. Er biss die Zähne zusammen und sah zur Seite. Diese Frau zu begehren, war keine gute Idee. Aber er konnte nichts dagegen tun.

Nachdem sie das Krankenhaus hinter sich gelassen hatten, fuhren sie durch ein hübsches Dorf. Während der Fahrt erzählte Sofie ihm Dinge über die Umgebung. Er hörte ihr gerne zu. Ihre lebhafte und doch sanfte Stimme hatte eine seltsam beruhigende Wirkung auf ihn.

Nach einigen Minuten bog Sofie auf eine Küstenstraße ab. Sie zeigte auf einen Berg in der Ferne.

„Das ist der Ben Kincraig“, erklärte sie. „Dort wurden Sie gefunden.“

Der Anblick löste kein Gefühl in Darius aus. Gar nichts. Er hatte nicht die geringste Idee, warum er jemals das Bedürfnis gehabt haben sollte, diesen Berg zu besteigen.

„Bin ich weit gekommen?“ Aus irgendeinem Grund war es ihm wichtig, nicht gescheitert zu sein.

„Es sah aus, als wären Sie auf dem Rückweg vom Gipfel gewesen.“

Er nickte zufrieden. Wenigstens hatte er sein Ziel erreicht.

Sofie warf ihm einen Blick von der Seite zu. Als er ihn erwiderte, legte sich eine zarte Röte auf ihre Wangen.

Er musste zugeben, dass sie bemerkenswert hübsch war. Eine zierliche Nase, überraschend hohe Wangenknochen. Volle Lippen. So üppig wie einige andere Bereiche ihres Körpers … Sein Blick wanderte zu ihrem Sicherheitsgurt, der auf ihren vollen Brüsten lag. 

Gegen seinen Willen stellte er sich vor, wie sie nackt vor ihm lag, ihr seidiges Haar über ihren Schultern ausgebreitet, ihre Brüste einladend und schwer.

„Hier sind wir. Also nicht weit weg vom Dorf, wie Sie sehen“, riss ihre Stimme ihn aus seinen Gedanken.

Darius sah sich um. Sie bogen in eine Einfahrt ein, die zu einem zweistöckigen, weiß getünchten Haus führte. Es wirkte gleichzeitig bescheiden und doch groß genug, um eine ganze Familie zu beherbergen.

Hinter dem Haus entdeckte er einen See, an dessen anderem Ufer sich ein sanfter Hügel erhob. Grüne Heidefelder erstreckten sich zu beiden Seiten des Gewässers. Vor dem Haus standen Töpfe mit bunten Blumen. Heimelig und bildhübsch.

Darius runzelte die Stirn. Instinktiv spürte er einen Widerwillen gegen diesen Ort, auch wenn etwas daran eine unbekannte Sehnsucht in ihm weckte.

Sofie parkte vor der hellgelb gestrichenen Haustür. Er öffnete die Autotür und stieg aus. In diesem Moment kam ein dunkles Etwas um die Hausecke gerast und sprang an Sofie hoch. Ein großer, zotteliger Mischlingshund.

Als das Tier ihn bemerkte, hielt es für einen Moment inne. Eine Erinnerung stieg in Darius auf … an einen Hund, der diesem ähnelte. An fröhliche Stimmen. Gebell. Ein Ausflug. Grelle Sonne. Blauer Himmel. Das Gefühl von …

Uff. Fast wäre Darius nach hinten gefallen, als zwei große Hundepfoten auf seiner Brust landeten.

„Pluto, lass das.“

Sofort ließ der Hund von ihm ab. Mit großen braunen Augen und wedelndem Schwanz blieb er vor ihm stehen.

Autor

Abby Green

Abby Green wurde in London geboren, wuchs aber in Dublin auf, da ihre Mutter unbändiges Heimweh nach ihrer irischen Heimat verspürte. Schon früh entdeckte sie ihre Liebe zu Büchern: Von Enid Blyton bis zu George Orwell – sie las alles, was ihr gefiel. Ihre Sommerferien verbrachte sie oft bei ihrer...

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