Gegen acht Uhr am selben Abend trat Adam einen Schritt zurück und unterzog die Wände und die Decke der Küche einer kritischen Musterung.
„Ich schätze, wir sind fertig.“ Er klang nicht begeistert.
„Ich mag die Farbe“, sagte Kerry. „Sie wirkt frisch, sauber und hell.“
„Gelb ist einfach langweilig“, widersprach er.
„Nur, weil du es grell und dramatisch magst, muss nicht jeder deine Vorliebe teilen.“ Dies war ein weiterer Grund, warum seine Mutter ihre Verlobung anzweifeln würde. Adam mochte kräftige modische Farben, die zu seinen modernen Möbeln passten. Kerry hingegen bevorzugte Pastelltöne an den Wänden, traditionelle Sofas in zarten Farben mit vielen Kissen und weiches Licht. Was ihren Geschmack anbelangte, würde sie beide nie einen Mittelweg finden.
„Hey, wir sind ein tolles Team. Wenn dir deine Feuerwerke irgendwann mal langweilig werden sollten, eröffnen wir gemeinsam ein Geschäft für Innenausstattung. McRae und Francis“, sagte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen und stupste sie an.
„Francis und McRae“, korrigierte sie. „Die Reihenfolge sollte alphabetisch sein.“
„Na schön“, lenkte er ein und lächelte sie an.
„Ich mache uns Kaffee“, sagte sie schnell und flüchtete in die Küche, weil sie von seinem Lächeln wieder einmal weiche Knie bekam.
Während Kerry die Kaffeemaschine anstellte, begann Adam damit, die Abdeckfolien von Möbeln und Boden zu entfernen.
„Soll ich uns eine Pizza bestellen?“, fragte sie ihn.
Er schüttelte den Kopf. „Vielen Dank, aber ich habe noch eine Verabredung.“
Kerry musste sich erneut ins Gedächtnis rufen, dass es sie überhaupt nichts anging, was Adam heute Nacht vorhatte. Mit wem er sich treffen würde. Wen er küssen würde. Er hatte den ganzen Tag damit zugebracht, die Decken und Wände ihres Wohnzimmers und der Küche zu streichen. Das war, einschließlich aller Vorbereitungen und des Aufräumens hinterher, eine mehr als ausreichende Gegenleistung für ihr kleines Theaterspiel. Warum sollte er also den restlichen Abend mit ihr verbringen wollen?
„Und ich muss dringend die Notizen durchgehen, die ich mir heute Vormittag bei dem Ortstermin gemacht habe“, sagte sie, damit er nicht etwa auf die Idee kam, sie hätte es auf eine Einladung abgesehen.
Nachdem Adam die letzten Abdeckfolien entfernt hatte, leerte er seinen Kaffeebecher. „Dann bis bald, Kerry. Bevor ich es vergesse, macht es dir etwas aus, wenn ich dich aus Schottland mal anrufe? Meine Eltern werden vermutlich kurz mit dir reden wollen.“
„Kein Problem. Du musst mich nur vorwarnen, falls ich etwas Bestimmtes zu ihnen sagen soll.“
„Mach ich, danke.“
Für einen kurzen atemberaubenden Moment dachte sie, er würde sie berühren. Sie umarmen und an sich ziehen. Aber er lächelte nur verlegen, klemmte sich die Folien unter den Arm und verließ die Wohnung.
Kerry blieb allein zurück und trauerte um ihre alte, unkomplizierte Freundschaft. Noch vor wenigen Tagen hätte er sie in diesem Moment umarmt und ihr übers Haar gestrichen. Aber damit schien es jetzt endgültig vorbei zu sein.
„Adam? Stimmt etwas nicht?“, fragte Pansy.
Er zwang sich zu einem Lächeln. „Alles in Ordnung. Ich bin nur ziemlich müde. Ich könnte auf der Stelle einschlafen.“
Pansy starrte ihn fassungslos an. „Bist du sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist? Ich habe noch nie gehört, dass du eine Party verlässt, bevor sie zu Ende ist. Du gehörst doch immer zu den letzten Gästen.“
„Ich habe eine sehr anstrengende Woche hinter mir“, erwiderte Adam und zuckte die Schultern. Er wusste, was sie meinte. Und es verstörte ihn selbst, dass er sich langweilte. Seit wann fand er Partys langweilig? All diese Menschen, mit denen man reden und lachen konnte …
Aber es gab da diesen einen Menschen, den er sich einfach nicht aus dem Kopf schlagen konnte. Genauer gesagt, diese eine Frau. Eine Frau, die seinen Musikgeschmack überhaupt nicht teilte. Die alles andere als ein Partymäuschen war, mit der er aber nächtelang reden konnte.
„Also, wenn es dich ins Bett zieht …“, Pansy bedachte ihn mit einem verführerischen Augenaufschlag.
Adam konnte die Signale deuten. Er sollte sie küssen und sie fragen, ob sie ihn nach Hause begleiten wollte. Das war es, was sie von ihm erwartete. Was alle von ihm erwarteten, einschließlich ihm selbst. Pansy war genau sein Typ. Groß, blond, langbeinig und sehr hübsch.
„Ich glaube, du hast recht. Ich gehöre ins Bett, damit ich ein paar Stunden Schlaf bekomme. Ich rufe dich an“, hörte er sich zu seinem eigenen Erstaunen sagen.
Was stimmte nicht mit ihm? Er hatte gerade ein verlockendes Angebot von einer äußerst attraktiven Krankenschwester ausgeschlagen. Vielleicht sollte er einmal sein Gehirn untersuchen lassen!
Allen inneren Einwänden zum Trotz machte er sich auf die Suche nach seinen Gastgebern, dankte ihnen für den amüsanten Abend und fuhr nach Hause. Allein.
Als Kerry in der Wohnung über sich Schritte hörte, sah sie überrascht auf die Uhr. Es war noch nicht einmal Mitternacht. Wie kam es, dass Adam schon zu Hause war? Wenn er auf einer Party war, kehrte er normalerweise nicht vor zwei Uhr morgens zurück.
Sie gab ihm eine halbe Stunde, bevor sie wieder das Quietschen der Sprungfedern und die Lustschreie seiner aktuellen Flamme hören würde.
Ach, zur Hölle mit ihm! Es bestand kein Grund, ärgerlich zu sein. Schließlich gehörte Adam ihr nicht und war ihr auf keine Weise verpflichtet. Da er völlig unfähig zu einer festen Bindung war, würde sich daran auch nie etwas ändern.
Sie konzentrierte sich wieder auf die chemische Formel, an der sie gerade arbeitete. Nach einer Weile stand sie auf, setzte sich den Kopfhörer auf und legte eine Symphonie von Beethoven in den CD-Player. So musste sie das Quietschen nicht hören. Und musste sich nicht wünschen, dass sie es wäre, die in Adams Bett lag.
Am Samstag war in der Notaufnahme die Hölle los. Als Adam seine erste Pause machen konnte, war es bereits nachmittags. Er setzte sich mit Kaffee und Sandwiches in eine Ecke der Kantine und wollte eigentlich die erste ruhige Minute an diesem Tag benutzen, um abzuschalten.
Doch seine Gedanken drifteten unwillkürlich zu Kerry.
Und zu dem Moment, als ihre Balgerei gestern so eine unverhoffte Wendung genommen hatte. Er musste daran denken, wie sie unter ihm auf dem Boden gelegen hatte. Wie er in ihre schönen meergrünen Augen geblickt und erkannte hatte, dass er sie unglaublich gern küssen würde.
Das hätte er ja auch fast getan. Zum Glück war er noch rechtzeitig zur Vernunft gekommen. Dieser Kuss hätte ihre Freundschaft ruiniert.
Den ganzen Tag lang hatte er versucht, nicht an Kerry zu denken. Er war sogar für einen erkrankten Kollegen eingesprungen und hatte eine Doppelschicht geschoben, um etwas zu tun zu haben. Dennoch war es ihm nicht gelungen, sie ganz auszublenden. Ebenso wenig wie die Erkenntnis, dass sich zwischen ihnen etwas geändert hatte. Er musste den Tatsachen ins Auge sehen. Er betrachtete sie nicht mehr nur als gute Freundin.
Sondern als Frau. Und zwar als eine sehr attraktive Frau, die er begehrte.
Eine Frau, die er nicht haben konnte, weil sie ihn nie im Leben so nah an sich heranlassen würde.
Am Sonntagmorgen klingelte es an Adams Tür. Er öffnete ein Auge und warf einen Blick auf die Uhr. Halb zehn. Um neun Uhr wollte er eigentlich schon im Sportstudio sein. Das war verrückt. Er verschlief doch sonst nie. Und dabei war er gestern noch nicht einmal ausgegangen. Das erste Mal seit langer Zeit hatte er in einer Samstagnacht nicht nur vor zwei Uhr im Bett gelegen, sondern dazu auch noch allein.
Er schlüpfte in ein Paar Boxershorts, eilte zur Tür und riss sie auf.
„Seit wann machst du in Unterhosen die Tür auf?“, wollte Kerry wissen. „Ist das deine neuste Methode, Vertreter zu verschrecken?“
Er sah verlegen an sich herunter und zuckte die Achseln. „Komm rein. Willst du einen Kaffee?“
„Ich wollte eigentlich nicht bleiben. Ich bin nur vorbeigekommen, um dir das hier zu geben.“ Sie reichte ihm ein hübsch eingewickeltes Päckchen und einen Umschlag. „Für deinen Dad. Es ist ein Buch über das viktorianische Edinburgh.“
„Oh, danke. Das wird ihm bestimmt gefallen.“ Für einen kurzen Moment war er versucht, sie zu fragen, ob ihr Vater auch solche Art von Büchern las. Aber dann erinnerte er sich daran, dass sie einmal erwähnt hatte, sie wäre in einem Heim aufgewachsen. Dabei hatte sie so traurig ausgesehen, dass er es nicht übers Herz gebracht hatte, sie zu drängen, ihm die ganze Geschichte zu erzählen. Er nahm an, dass ihre Eltern auf tragische Weise ums Leben gekommen waren. Vermutlich hatte es keine weiteren Verwandten gegeben, die sich um Kerry hätten kümmern können. Die Frage nach den Lesegewohnheiten ihres Vaters verbot sich also von allein.
Kerry war frei und ungebunden. Offenbar gab es keine Familienmitglieder, die ihr nahestanden. Sie hatte viel Raum und Zeit für sich. Danach hatte Adam sich immer gesehnt. Aber dafür besaß er ja vielleicht das, was sie sich immer gewünscht hatte. Eine Familie. Eltern, die sich für seine Zeugnisse interessierten. Die ihm vor jeder wichtigen Prüfung Karten schickten, auf denen stand, dass sie ihm die Daumen drückten.
„Ich rufe dich an“, sagte Kerry lächelnd. Dann war sie auch schon verschwunden.
Komisch. Normalerweise verhielt sie sich ihm gegenüber nicht mehr so distanziert. Vielleicht dachte sie ja, dass er eine Frau zu Besuch hatte und wollte nicht stören.
Er nahm das Telefon zur Hand und drückte die Kurzwahltaste für ihre Nummer. Doch bevor der Wählvorgang beendet war, legte er wieder auf. Wenn er ihr mitteilte, dass er allein war, käme ihr das bestimmt ziemlich merkwürdig vor. Ihre Verlobung war schließlich nur ein temporäres Arrangement, bis es seinem Vater wieder besser ging. Kerry hatte bestimmt nicht das geringste Interesse an seinem Liebesleben.
Die ganze Geschichte wurde allmählich ziemlich kompliziert. Er musste sehr vorsichtig sein, sonst würde die Sache noch in einer Katastrophe enden.
Das Läuten des Telefons riss Kerry aus ihrer Konzentration. Sie war so in ihre Arbeit vertieft gewesen, dass sie alles andere um sich herum vergessen hatte.
„Hallo“, meldete sich Adam, als sie den Hörer abgenommen hatte. „Ich hoffe, ich störe dich nicht.“
Das hing ganz von der Definition ab. Kerry dachte nicht zum ersten Mal, dass Adam ihr seelisches Gleichgewicht sogar ganz erheblich störte. In der vergangenen Nacht hatte sie beispielsweise einen sehr erotischen Traum von ihm gehabt. Als sie erwachte, war sie schweißgebadet und ihr ganzer Körper brannte vor Verlangen.
„Ich wollte sowieso gerade eine Pause machen“, erwiderte sie ausweichend.
„Gut. Mein Vater würde gern kurz mit dir sprechen, wenn du nichts dagegen hast.“
„Aber sicher.“ Sie unterdrückte die Enttäuschung, die in ihr aufsteigen wollte. Natürlich rief Adam sie nicht an, um mit ihr zu reden. Wenn die vorgetäuschte Verlobung nicht wäre, hätte er sich aus Inveraillie überhaupt nicht gemeldet.
„Hallo, Kerry. Vielen Dank für das wunderbare Buch. Da haben Sie sich wirklich Gedanken gemacht“, sagte Donald.
„Es war mir ein Vergnügen. Wie geht es Ihnen, Mr McRae?“
„Nennen Sie mich doch Donald. Ich fühle mich hervorragend. Ich weiß gar nicht, was das ganze Getue soll.“
„Adam kommandiert Sie herum, nicht wahr?“
„Das können Sie laut sagen. Er will mir vorschreiben, was ich essen und trinken soll. Und er will, dass ich mit Golf anfange. Ausgerechnet Golf!“, brummte Donald unwirsch.
„Immerhin besser, als wenn er Sie zum Bergsteigen schicken würde“, meinte Kerry ironisch.
Donald lachte. „Das schon. Aber ich hasse Golf. Adam war schon immer ziemlich dominant. In dieser Hinsicht kommt er ganz nach seiner Mutter. Ist das Mozart, den ich da im Hintergrund höre?“
„Ja. Die Klaviersonate Nummer …“
„Elf“, beendete er den Satz für sie. „Wunderschön. Ich bin froh, dass mein Sohn jemand mit einem exzellenten Musikgeschmack gefunden hat.“
Jetzt war es an Kerry, zu lachen. „Da ist er aber ganz anderer Meinung.“
„Das glaube ich gern. Aber Sie und ich, wir wissen es besser.“
„Absolut. Meine beste Freundin ist Geigerin. Wenn ihr Quartett demnächst in Edinburgh auftritt, kann ich Ihnen gern Eintrittskarten besorgen.“ Kerry biss sich auf die Unterlippe. Dieses Angebot war ihr über die Lippen gekommen, noch bevor sie richtig darüber hatte nachdenken können.
„Das wäre großartig. Vielleicht können Sie uns ja begleiten“, erwiderte Donald begeistert. „Es macht überhaupt nichts, wenn Adam nicht mitkommen will. Meine Frau und ich würden Sie so gern kennenlernen. Wann haben Sie denn mal Zeit, uns zu besuchen?“
„Oh, im Moment stecke ich bis zum Hals in Arbeit. Aber bald“, versprach sie halbherzig.
„Vielleicht kommen wir ja vorher nach London. Falls mein rechthaberischer Sohn mir die Reise gestattet.“
Oh, Himmel! Das gehörte nun wirklich nicht zu ihrer Abmachung mit Adam. „Das wäre schön“, erwiderte Kerry und hoffte, dass ihre Stimme nicht allzu panisch klang.
„Dann habe ich ja etwas, auf das ich mich freuen kann“, meinte Donald zufrieden. „Ich muss jetzt Schluss machen. Adam will, dass ich mich ausruhe“, fügte er grantig hinzu.
Sie musste lachen. „Passen Sie gut auf sich auf.“
„Und Sie auf sich.“
Es war seltsam, zuzuhören, wie sein Vater mit seiner Verlobten telefonierte. Adam fand, dass Kerry ihre Sache gut machte. Donald scherzte, lachte und wirkte sehr aufgeräumt.
Noch seltsamer war allerdings, dass es ihm selbst ähnlich erging, wenn er mit Kerry sprach. Als ob die Welt ein wenig heller werden würde. Immer wieder musste er an den Kuss denken, zu dem es fast gekommen wäre. Und dann? Hätte sie seinen Kuss wohl erwidert?
„Du siehst bedrückt aus, mein Sohn“, sagte Donald unvermittelt.
„Ich? Oh, nein. Mir geht es gut.“
„Vermisst du dein Mädchen?“
„Ja“, antwortete Adam nachdrücklich. Und das war die reine Wahrheit. Er vermisste sie wirklich.
Diese Tatsache machte ihm Angst.