Darf ich ihm gehören? - 11. Kapitel
11. KAPITEL
Drew war in einem Einzelzimmer im Ostflügel untergebracht. Ronni sah vorsichtig zur Tür herein, unsicher, was sie vorfinden würde. Vielleicht Ryan, der sie mit distanziertem Ausdruck ansah, oder Lily mit ihrem kühlen, abweisenden Lächeln.
Aber Drew war allein. Und wach.
„Ronni.“ Seine blauen Augen füllten sich mit Tränen. „Ronni, du bist gekommen …“
Sie lief zu ihm, beugte sich zu ihm herab und drückte ihre Wange an die seine. Er hob die Hand und berührte ihr Haar. Seine Haut fühlte sich warm an, aber nicht fiebrig.
Erleichtert holte Ronni einen Stuhl herbei und setzte sich auf dessen äußerste Kante. Dann nahm sie Drews Hand, die ohne die Kanüle.
Tränen liefen ihm über die Wangen. Ronni zog gleich zwei Papiertaschentücher aus dem Karton auf dem Bett-Tisch, denn sie musste ebenfalls weinen.
„Hier.“ Sie drückte ihm das eine Taschentuch in die Hand und wischte sich mit dem anderen die Augen.
Doch Drew lag nur da, ein wenig blass, und weinte still.
„Ach, Schatz …“ Nur mühsam unterdrückte Ronni ein Schluchzen.
Er sagte: „Sie haben mich aufgeschnitten und meinen Blinddarm rausgenommen.“
„Ich hab’s gehört.“
„Es tut immer noch ein bisschen weh. Aber ich kriege Medizin. Deshalb tut es nicht so doll weh.“
„Du wirst wieder gesund.“
„Ich weiß. Das hat Dr. Heber auch gesagt.“ Ein kleines Schluchzen entfuhr ihm. „Ronni. Ronni, hör zu … Es tut mir leid, was ich gesagt habe. Das hätte ich nicht sagen sollen, ich weiß …“
Sie lehnte sich vor, um dem Jungen so nahe zu sein, wie es irgend ging. „Es ist schon gut. Das weißt du doch. Ich … habe dich sehr lieb. Und ich habe dich verletzt. Ich kann das verstehen.“
„Das … das habe ich auch bei meiner Mutter gemacht. Gerade kurz bevor sie gestorben ist …“ Er sprach so leise, dass sie sich anstrengen musste, um ihn zu hören.
Ronni neigte sich noch näher zu ihm. „Oh, Schätzchen. Was denn?“
„Ich … ich hab ihr gesagt, dass ich sie hasse. Ich war so böse auf sie. Weil ich wusste, dass für immer von mir weggehen würde. Und sie hat mich gebeten, mich um Dad und Lizzy und Griff zu kümmern. Und auch um Großmutter. Und ich habe ihr gesagt, dass das dumm ist, und dass ich das nicht kann. Ich bin doch bloß ein Kind. Und dann habe ich es gesagt. ‚Ich hasse dich.‘ Genau wie bei dir. Aber sie hat gesagt: ‚Und ich habe dich lieb.‘ Und ich wusste, ich hätte sagen sollen, dass es mir leid tut, und dass ich sie auch lieb habe. Aber es war einfach so … Ich weiß nicht. Ich konnte es nicht. Ich hab’s nicht gesagt. Sie ist gestorben, und ich hab’s ihr nicht mehr gesagt …“ Mit dem zusammengeknüllten Taschentuch rieb Drew sich nun die Wangen und die Nase.
Ronni fasste wieder nach seiner Hand. „Oh, Schatz. Hör mir mal zu. Deine Mutter hat dich geliebt. Und sie wusste auch, dass du nicht wirklich böse auf sie gewesen bist. Es hat dir nur alles so wehgetan, weil du dabei warst, sie zu verlieren.“
Seine Augen glänzten in einer Mischung aus Hoffnung und Tränen. „Glaubst du das? Glaubst du wirklich, sie hat es gewusst?“
Mit beiden Händen umschloss Ronni die seine. „Ich weiß es.“
Drew schniefte laut. „Ronni, ich weiß, dass du uns nicht wehtun wolltest. Und dass du dein feierliches Gelübde nicht gebrochen hast. Und auch wenn du nicht bei uns wohnst und mit zur Familie gehörst, können wir trotzdem Freunde sein?“
„Oh, das fände ich schön, sehr schön.“
„Gut. Du hebst doch unser Geld auf, ja? Damit es sicher ist?“
„Aber natürlich.“
„Und ich bin bestimmt bald wieder gesund. Das hat Dr. Heber gesagt. Dann gehen wir wieder hin, und vielleicht kriegen wir ja noch mal hundert Dollar an einem Tag.“
„Verlass dich drauf.“
Drews blaue Augen schienen auf einmal an ihr vorbei zu schauen, auf einen Punkt hinter ihr. Ronni wandte sich um.
Lily und Ryan standen an der Tür. Lilys Lippen zitterten. Und Ryan war … ganz einfach Ryan – der Mann, den Ronni immer lieben würde.
Lily biss sich auf die Unterlippe und sagte dann: „Ronni. Dürfte ich vielleicht einen Augenblick mit Ihnen sprechen, allein?“
Ryan wollte etwas sagen, doch Ronni gab ihm keine Gelegenheit dazu. Sie drückte Drews Hand und meinte: „Selbstverständlich.“
In der Caféteria setzten Ronni und Lily sich aneinander gegenüber an einen Tisch. Draußen regnete es noch immer.
Lily hatte den Blick auf ihre Kaffeetasse gesenkt.
Ronni nippte an ihrem Grapefruitsaft. „Wie geht es Griffin und Lisbeth?“
„Gut. Ein Nachbarsmädchen passt auf sie auf.“ Lily schob die Tasse fort. „Ich … mag mich im Moment nicht besonders.“
„Lily …“
„Nein. Hören Sie mich an. Bitte.“
„Na schön.“
„Am Montag begann Andrew darüber zu klagen, dass ihm der Bauch wehtut. Ich dachte, es wäre geschauspielert, wie er es damals vorhatte, als er nicht mit zu Pizza Pete wollte. Erinnern Sie sich?“
Ronni nickte.
„Ich dachte … er wollte mich nur dazu bringen, Sie anzurufen. Sie wissen ja, wie Kinder sind. Ich nahm an, er glaubte, wenn er krank wäre, würde ich Sie rufen, auch wenn Dr. Heber sein Arzt ist. – Dann, gestern Morgen, fing er an zu erbrechen. Er hatte Fieber. Und ich merkte, was für einen schrecklichen Irrtum ich begangen hatte.“ Lily trank einen Schluck Kaffee. „Wenn Sie da gewesen wären, hätte er sich nicht zwei Tage quälen müssen, nur weil seine Großmutter eine selbstsüchtige, störrische alte …“
Ronni legte ihr die Hand auf den Arm. „Lily, eine Blinddarm-Entzündung ist schwer zu erkennen. Selbst die erfahrensten Ärzte diagnostizieren sie manchmal nicht richtig. Bis sie akut wird, ist sehr schwierig zu sagen, was es genau ist.“
Lily schüttelte den Kopf. „Trotzdem. Ich hätte …“
„Ich habe mit Marty gesprochen. Es war eine Routine-Operation. Drew wird in kürzester Zeit wieder okay sein.“
Lily starrte in die halbleere Tasse. „Wirklich? In jeder Hinsicht?“
Ronni lauschte auf den Regen, wodurch sie Lily die Chance gab, ihre Frage selbst zu beantworten.
Und Lily enttäuschte sie nicht. „Ryan ist furchtbar unglücklich“, sagte sie. „Und schon bevor er krank wurde, ist Andrew wie ein Gespenst durchs Haus geschlichen. Griffin und Lisbeth haben beide nach Ihnen gefragt.“ Sie rieb sich die Stirn. „Die Wahrheit ist, Sie lieben Ryan, und Ryan liebt Sie. Und die Kinder lieben Sie auch. Sie vermissen Sie.“
„Und sie alle lieben Sie, Lily“, erwiderte Ronni.
Lily ließ die Hand sinken und sah Ronni direkt an. „Ja, sie lieben mich, und ich sie. Aber es wird Zeit, dass ich aufhöre, mir einzureden, ich könnte meine Tochter zurückholen, indem ich Sie aus unserem Leben fernhalte.“
Eine Weile saßen sie schweigend da.
Schließlich sagte Ronni: „Ich komme heute Abend zu Ryan. Spät, damit ich sicher sein kann, dass er da ist.“
Lily schloss die Augen und seufzte. „Natürlich.“
Um halb elf an diesem Abend bog Ronni in die Einfahrt zu Ryans Haus ein. Inzwischen war das Unwetter in einen feinen Nieselregen übergegangen.
Die Tür wurde geöffnet, noch ehe Ronni läutete.
Ryan stand auf der Schwelle. „Lily hat mir gesagt, dass du kommst.“
„Ja, und hier bin ich.“
Er nahm ihr den Mantel ab, hängte ihn an die Garderobe und ließ sie dann in sein Arbeitszimmer eintreten.
Ronni nahm in demselben Sessel Platz wie damals an jenem ersten Abend.
Ryan jedoch blieb stehen. „Drew hat mir von eurer Spendensammlung erzählt.“
„Ach ja? Wann denn?“
„Als ihr in der Caféteria wart. Er wollte eigentlich, dass es eine Überraschung ist, aber es sei eben auch eine Lüge, und Lügen seien nichts Gutes.“
„Er ist ein toller Junge.“
„Ja, einer der Besten. Und … er hat mir auch erzählt, was er zu seiner Mutter gesagt hat, bevor sie starb. Und auch zu dir. Dass er dich hassen würde.“
„Ich wusste, dass er es nicht so meint. Und ich würde meine Approbation darauf wetten, dass Patricia es ebenso gewusst hat.“
Schweigen trat ein.
Ryan ließ den Blick auf ihr ruhen. „Du siehst müde aus.“
„Mir geht es gut.“
„Sicher?“
„Alles, was ich brauche, ist etwas Schlaf.“ An deiner Seite …
„Wie ist die Wohnung?“
„Perfekt.“ Ronni hielt inne. „Und leer.“
Ein zögerndes Lächeln umspielte Ryans Mundwinkel. „Das ist das erste Mal, dass du zu mir kommst.“ Seine Stimme klang leise und heiser vor Gefühlsbewegung. „Immer bin ich es gewesen, der zu dir gekommen ist. Und dich gedrängt hat …“
„Ryan, so habe ich es nie empfunden.“
„Mag sein. Aber ich schon.“
„Ich habe mich gefragt …“ Schluckend gestand sie: „… ob du nicht vielleicht doch einige Vorbehalte dagegen hast, dass das Baby kommt. Du hast schon drei Kinder, und du bist immer so beschäftigt …“ Sie unterbrach sich, denn Ryan wandte sich unvermittelt ab.
Er trat an die Anrichte und nahm ein Foto in die Hand, auf dem strahlende Kindergesichter zu sehen waren. Er betrachtete es und stellte es wieder hin, bevor er Ronni ansah.
„Ja, ich hätte gerne mehr Zeit mit dir gehabt, ehe noch ein Baby kommt. Und wahrscheinlich bin ich nicht der Vater, der ich sein sollte oder sein möchte. Aber ich liebe meine Kinder. Und ich liebe dich. Und ich werde auch unser Baby lieben.“
Am liebsten wäre sie aufgesprungen und hätte ihm die Arme um den Hals geworfen. Aber sie konnte nicht. Noch nicht.
Also blieb sie sitzen und erzählte Ryan auch noch von den übrigen Zweifeln, die sie ihm bisher vorenthalten hatte.
„Ich … ich habe euch an dem Tag bei Pizza Pete gesehen. Dich und deinen Bruder. Ihr habt über irgendetwas gesprochen. Ich weiß nicht … Es schien, als wäre es nichts Gutes. Und ich dachte, vielleicht … na ja, dass es um mich ging.“
„Du hast mich gar nicht darauf angesprochen.“
„Ich hatte Angst.“
„Aber du hättest trotzdem fragen sollen.“
„Ich weiß.“
Ryan kam zu Ronni herüber und berührte mit unendlicher Zärtlichkeit ihr Haar. Dann ließ er den Arm wieder sinken.
„Tanner steckt in Schwierigkeiten. Es gibt da eine Frau, die ein Kind von ihm erwartet. Aber es ist nicht so wie bei dir und mir. Sie wollen nicht heiraten. Sie will nicht einmal das Baby. Aber er hat sie dazu überredet, es doch zu bekommen. Jetzt ist es bald so weit. Das Kind soll zur Adoption freigegeben werden. Allerdings ist sie nicht gerade besonders zuverlässig. Deshalb kann Tanner im Grunde nie sicher sein, was sie letztlich tun wird. Er behauptet, er sei noch nicht bereit, Vater zu werden. Andererseits ist er auch nicht wirklich bereit, das Kind einfach so wegzugeben.“
„Darüber habt ihr geredet?“
„Ja.“
Ronni schaute zu Ryan auf, verblüfft, zu was für absurden Abwegen ihre Befürchtungen sie verleitet hatten.
Ryan sagte: „Und das nächste Mal, wenn du glaubst, ich will unser Baby nicht haben, hättest du dann bitte die Güte, zu mir zu kommen und mich zu fragen, ob das überhaupt stimmt?“
„Ich …“ Sie nickte schuldbewusst. „Ja, das tue ich.“
„Du hattest übrigens recht wegen Lily. Sie hat mir heute Nachmittag gesagt, dass sie ein starrsinniger Dummkopf gewesen ist, und dass sie es sich anders überlegt hat. Wir sind ihre Familie, und sie möchte gerne bei uns bleiben. Falls du damit einverstanden bist …“
„Aber natürlich. Das ist doch genau das, was ich mir erhofft hatte.“
Ryan holte tief Atem. „Lieber Himmel, wie habe ich dich vermisst.“
„Oh, ich habe dich auch so schrecklich vermisst …“
„Ich war davon überzeugt, dass es für dich wichtig ist, erst einmal für eine Weile in deine Wohnung zu gehen, um dir über alles klar zu werden. Aber verdammt, du kannst dir nicht vorstellen, wie es gewesen ist. Jede Nacht. Ohne dich.“
„Doch, das kann ich. Genauso wie es für mich gewesen ist. Leer. Einsam. Und ich kann nicht schlafen.“
„Du brauchst deinen Schlaf. Du schläfst jetzt für zwei.“
„Ach, Ryan … Ich werde die Wohnung verkaufen. Ich möchte wieder zurück ins Gästehäuschen ziehen, – solange, bis wir heiraten, bald. Und danach möchte ich hier bei euch einziehen. Wie findest du das?“
Er streckte seine Hand aus. Ronni legte ihre hinein.
Dies ist mein Zuhause, dachte sie. Meine Hand in seiner Hand. Lieben und geliebt werden.
Sanft drehte Ryan ihre Hand um und legte ihr ein kleines Schmuckkästchen aus blauem Samt auf die Handfläche.
Ronni schnappte nach Luft und blickte zu ihm auf. „Wo kommt das denn her?“
Er lächelte zu ihr herab. „Ich habe ihn heute gekauft, nachdem ich dich im Krankenhaus gesehen habe. Und ich muss gestehen, wenn Lily mir nicht gesagt hätte, dass du heute Abend herkommst, wäre ich zu dir gekommen.“
„Tatsächlich?“
Er nickte und befahl dann: „Mach’s auf.“
Mit leicht zitternden Fingern tat sie wie geheißen. Ein großer, herrlich geschliffener Diamant-Verlobungsring leuchtete auf dem nachtblauen Samtbett. Und daneben funkelte der dazu passende, mit einer Reihe kleinerer Diamanten besetzte Ehering.
„Gefallen sie dir?“
„Sie sind herrlich.“
„Hier.“ Ryan hob das Kästchen von ihrer Hand, nahm den Verlobungsring heraus und steckte ihn ihr mit größter Sorgsamkeit an den Finger.
„Heirate mich, Ronni“, wisperte er mit rauer Stimme.
„Ja.“
Sanft zog er sie aus dem Sessel empor, in seine Arme. „Ich liebe dich“, sagte er leise.
Ronni löste sich nur gerade so weit, dass sie ihm tief in die Augen sehen konnte. „Ich liebe dich auch. Und ich werde deine Frau sein. Für immer. Solange wir beide auf dieser Erde sind. Das gelobe ich dir, Ryan Malone.“
– ENDE –