Darf ich ihm gehören? - 3. Kapitel

3. KAPITEL

„Du siehst heute viel zu ernst aus, großer Bruder“, bemerkte Tanner.

     Sie saßen an einem der im Picknick-Stil gehaltenen Tische von Pizza Pete. Auf der anderen Seite des überfüllten Raumes tobten Lisbeth und Griffin in einer Netzgrube voller Bälle herum, während Andrew von außen auf sie aufpasste.

     „Ich denke bloß nach“, brummte Ryan. „Über Andrew … ich meine Drew. Man hat mich informiert, dass er ab jetzt Drew heißt.“

     „Informiert? Von wem?“

     „Habe ich dir schon erzählt, dass momentan eine Frau in unserem Gästehäuschen wohnt?“

     Tanner, breitschultrig und blauäugig wie sein Bruder, wenn auch ein wenig kleiner, lehnte sich über die Tischplatte nach vorn und zog die Augenbrauen hoch. „Ich bin ganz Ohr. Erzähl weiter.“

     Ryan erstattete Bericht über den Vorfall der vergangenen Nacht, allerdings in einer etwas zurechtgestutzten Version. Dass Ronni und er zwei Stunden lang in seinem Arbeitszimmer gesessen und sich über nichts Wesentliches unterhalten hatten, verschwieg er geflissentlich.

     „Ich schätze, deshalb bin ich wegen Drew ein bisschen beunruhigt“, schloss er. „Dass er sich womöglich zu viel auflädt und glaubt, er müsste …“

     „He, Moment mal“, fiel Tanner ihm ins Wort. „Mir scheint, sein einziges Problem ist, dass er genauso ist wie sein Vater. Er möchte sich um seine Familie kümmern, und es gibt wirklich Schlimmeres in der Welt als das.“

     „Na ja, schon, aber …“

     „Worüber ich gerne mehr erfahren möchte, ist diese nette, gut aussehende Kinderärztin mit den roten Haaren.“

     Ryan bemühte sich, nicht zusammenzuzucken. „Habe ich erwähnt, dass sie ein Rotschopf ist?“

     „Allerdings.“

     Ryan rutschte auf seinem unbequemen Stuhl herum. „Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Ich mochte sie. Sie hat sehr … verständnisvoll reagiert.“

     So leicht ließ Tanner sich nicht täuschen. „Klar, verständnisvoll.“

     „Schau mich nicht so an.“

     „Du bist interessiert.“

     „Na schön, vielleicht. Aber wo soll das hinführen? Ich arbeite sechzig Stunden die Woche, und ich denke immer, ich müsste eher mehr Zeit mit den Kindern verbringen.“

     „Es muss doch zu gar nichts führen. Du fragst sie, ob sie mit dir ausgeht, das ist alles. Und wenn ihr Spaß miteinander habt, gehst du wieder mit ihr aus.“

     „Schon, aber …“

     „Ich hab’s. Der Herzensball.“ Der Herzensball war ein Wohltätigkeitsball, der alljährlich vom Freundeskreis des Memorial veranstaltet wurde. „Der ist in zwei Wochen. Hast du schon eine Verabredung dafür?“

     „Nein, aber …“

     „Du gehst doch hin, oder?“

     „Selbstverständlich.“ Ryan war offiziell als Redner vorgesehen, um eine kleine Ansprache über den Neuanbau zu halten.

     „Dann frag sie“, forderte Tanner ihn auf. „Heute noch. Ich will, dass du mir eine verbindliche Zusage machst, und zwar bevor unsere Riesen-Peperoni-Pizza kommt.“

     „Ich denk drüber nach.“

     „Denk nicht, handle.“

     „Tanner, ich werde es mir überlegen.“

     „Dann überleg schnell. Hier ist schon unsere Pizza. Und drei hungrige Kinder kommen auf uns zugestürmt.“

 

Den Rest des Nachmittags und bis zum Abend dachte Ryan darüber nach. Und er dachte auch an das, was sein Bruder gesagt hatte. Es muss zu gar nichts führen. Du gehst mit ihr aus, und wenn ihr Spaß habt, gehst du wieder mit ihr aus …

     An diesem Abend, nachdem die Kinder schließlich im Bett waren, und Lily sich auf ihr Zimmer zurückgezogen hatte, ging Ryan leise zur Hintertür hinaus, lief die Garagenauffahrt hinunter und zur Vorderveranda des Gästehauses.

     „Oh“, machte Ronni, als sie öffnete. „Ryan. Hallo.“

     „Hallo.“

     Sie blickte ihn an. Er sah so … in sich ruhend aus, so unglaublich attraktiv und selbstsicher. Er trug eine Freizeithose und einen weichen, dunkelfarbigen Pullover.

     Ihre eigene Bekleidung hingegen bestand lediglich aus einem ausgebeulten Sweatshirt, schwarzen Leggings mit einem Loch im Knie sowie einem Paar dicker grauer Wollsocken. Ihre Haare waren zerwühlt und standen ihr nach allen Richtungen wild vom Kopf ab, wie dies immer der Fall war, wenn sie sie mehrere Stunden lang nicht durchgekämmt hatte. Auch Make-up hatte Ronni nicht aufgelegt, da sie den ganzen Tag ja nur damit verbracht hatte, ihre Sachen im Haus zu verstauen und wegzuräumen.

     Genau wie letzte Nacht, dachte sie. Da war ich auch ein wandelnder Mode-Notfall, als meine Haare sich unordentlich aus dem Zopf gelöst haben und ich mit meinen Stiefeln über seine Orientteppiche getropft habe. Er wird glauben, dass ich immer so aussehe wie etwas, das nicht einmal eine Katze hereinschleppen würde.

     Nichts dass es irgendetwas bedeutete.

     Es bedeutete rein gar nichts.

     Ryan war gegenwärtig ihr Gastgeber und sonst nichts. Kein Mann, von dem sie hoffte, dass er sie als Frau beachten würde, oder für den sie schön aussehen wollte.

     Ronni schluckte. „Äh, kommen Sie doch rein.“

     Sie trat zurück, und er betrat den winzigen Eingangsflur, der eigentlich zu klein für zwei Personen war. Ryan roch nach einem angenehmen Aftershave.

     Ronni zeigte zur Küche. „Nehmen Sie Platz.“

     „Danke.“ Er zog einen Stuhl hervor und setzte sich an den gemütlichen französischen Küchentisch, auf dem sich ein Notebook und ein Stapel medizinischer Fachzeitschriften neben mehreren handschriftlichen Notizblättern befanden.

     „Sie arbeiten?“

     „Bloß eine kleine Auffrischung.“ Ronni lehnte an der blau gefliesten Arbeitsplatte an der Spüle, da sie zu nervös war, um sich ebenfalls zu setzen. „Am Freitag ist eine meiner Dreijährigen mit einem juckenden, schuppig aussehenden Ausschlag im Gesicht und den Kniekehlen zu mir gekommen. Kindliches Ekzem. Ich habe Antihistamine verschrieben und ein paar Allergietests gemacht, aber es schadet nie, auch andere Möglichkeiten zu untersuchen. – Kann ich Ihnen irgendwas anbieten?“

     Ryan hob die Schultern. „Ein Bier, wenn Sie haben?“

     „Bier?“ Dummerweise hatte sie nicht daran gedacht, welches zu besorgen.

     „Falsche Wahl, hm? Kein Problem. Ich brauche wirklich nichts.“

     „Sicher?“

     „Ja, ganz sicher.“ Ein kleines Lächeln erschien um seine Mundwinkel. „Sie fragen sich bestimmt, warum ich hier bin, nicht wahr?“

     „Nun ja …“

     „Ich würde gerne mit Ihnen zum Herzensball gehen.“

     Darauf war Ronni überhaupt nicht gefasst. „Den Herzensball?“

     „Ja. Er ist am zwölften Februar.“

     Das wusste sie natürlich. Der Herzensball, der jedes Jahr um den Valentinstag herum stattfand, war eine große Sache in Honeygrove, und die meisten Ärzte versuchten dabei zu sein.

     Eindringlich betrachtete Ryan sie. „Sie haben schon eine Verabredung“, meinte er enttäuscht.

     „Ich …“ Schwindle ihm was vor, sagte sie sich. Tu so, als hättest du schon was vor. Doch das brachte sie nicht über sich. „Nein. Nein, ich bin nicht verabredet.“

     „Also?“ Er wartete, sein Gesichtsausdruck ruhig, aber seine Augen waren alles andere als das.

     Das Problem war, dass Ronni nur zu gern angenommen hätte.

     „Wenn Sie nein sagen, bin ich am Boden zerstört“, meinte er halb scherzend, und doch schwang etwas Wahres darin mit.

     Es könnte doch nett werden, sagte sie sich. Und außerdem ist es eine Veranstaltung, an der ich eigentlich wirklich teilnehmen sollte. Ihre beiden Kollegen, Randall und Marty, hatten sie bereits gedrängt zu kommen.

     „Sagen Sie Ja.“

     „Na gut. Ja.“

     „Na also, geht doch. War das denn so schwer?“

     Obwohl es eine rhetorische Frage war, erwiderte sie: „Nein, gar nicht.“

     Ryan stand auf. „Nun, ich schätze, ich sollte Sie dann jetzt wohl weiterarbeiten lassen.“

     Aber anstatt ihm zuzustimmen, erkundigte Ronni sich: „Wie war es bei Pizza Pete?“

     Und da er daraufhin wissen wollte, woher sie davon wusste, berichtete sie ihm von Lilys Besuch. Doch dies war erst der Anfang.

     Es war merkwürdig. Hatten sie erst einmal angefangen zu reden, schien es, als könnten sie nicht wieder aufhören. Ryan erzählte mehr von seiner Arbeit, die er offenbar ebenso liebte wie Ronni die ihre.

     Noch nie zuvor war sie einem Mann begegnet, mit dem sie sich so leicht und ungezwungen unterhalten konnte. Und die Zeit verging wie im Flug, so wie in der vorhergehenden Nacht. Als Ronni ihm schließlich zur Haustür folgte, wo sie sich verabschiedeten, war es beinahe elf.

 

Am Donnerstag erstand Ronni ein neues Kleid für den Herzensball. Zwar hatte sie eigentlich keine Zeit für einen Einkaufsbummel, aber irgendwie gelang es ihr dennoch, einen schnellen Gang ins Einkaufszentrum einzuschieben – zwischen den Sprechstundenzeiten, dem Besuch bei drei ihrer kleinen Patienten im Kinderkrankenhaus und einem kurzen Halt an ihrer neuen Wohnung. Dort musste sie sich mit dem Elektriker auseinandersetzen und bemühte sich, keinen Wutanfall zu bekommen, als sie feststellte, dass die falsche Badewanne geliefert worden war: eine rosafarbene anstatt der kobaltblauen, die sie bestellt hatte.

     Da sie am Abend noch zu einem Notfall gerufen wurde, war es bereits nach Mitternacht, als Ronni endlich in die lange Auffahrt zwischen dem Haupthaus und dem Gästehaus einbog. Direkt hinter ihr war ein großer schwarzer Lincoln. Ryan.

     Ronni fuhr weiter zum Carport vor dem Häuschen, griff nach ihrer Handtasche und stieg fröstelnd in der kalten Nachtluft aus.

     Ryan hatte seinen Wagen in die Garage gefahren. Sobald Ronni die Auffahrt erreicht hatte, blieb sie stehen und wartete. In der Hoffnung, dass Ryan zu ihr kommen würde? Und dann? Geh rein, Ronni Powers, ermahnte sie sich, doch sie blieb, wo sie war.

     Und dann vernahm sie Schritte. Ryan erschien in der Kurve der Auffahrt, so hochgewachsen und Achtung gebietend, in einem gut geschnittenen Anzug, den Wollmantel lässig über die breiten Schultern gehängt.

     „Überstunden?“, erkundigte er sich.

     „Alles Teil des Jobs. Aber Sie könnte ich genau das Gleiche fragen.“

     „Und Sie würden die gleiche Antwort kriegen. Eine Besprechung, die zu lang gedauert hat. Außerdem musste ich einiges aufarbeiten.“

     Vorsichtig lächelte sie ihn an. „Na ja, zumindest sind wir diesmal nicht im Schlafanzug.“

     „Ein Fortschritt, oder?“ Er ließ den Blick auf ihr ruhen.

     Ronnis Herzschlag beschleunigte sich. „Was schauen Sie mich denn so an?“

     „Sie. Ich hoffe, dass Sie mich hereinbitten werden.“

     Ronni schwieg. Sie wusste, wie unklug das wäre.

     Ryan hob halb die eine Schulter. „Ich weiß, es ist schon spät. Aber unsere Gelegenheiten sind begrenzt. Vielleicht sollten wir sie beim Schopf packen, wenn sie sich uns bieten.“ Er streckte den Arm aus und berührte kaum fühlbar ihre Wange, ehe er ihn wieder sinken ließ.

     Ronni hatte das Gefühl, als ob sie bis ins Innerste verbrannt worden sei.

     „Na gut“, meinte sie ein wenig benommen. „Kommen Sie.“

     Ryan folgte ihr, blieb aber nicht lange, nur eine Stunde. Und als er ging, bat er Ronni, am nächsten Tag mit ihm zu Mittag zu essen.

     „Ich könnte Sie von der Praxis abholen“, bot er an.

     „Nein“, lehnte sie ab, fügte auf seinen niedergeschlagenen Ausdruck hin jedoch hastig hinzu: „Ich … komme lieber ins Memorial, zu Ihnen. So gegen halb eins?“ Um dem Ganzen einen etwas unverfänglicheren Charakter zu verleihen, meinte sie: „Dann könnten Sie mir auch eine kleine Führung durch den neuen Flügel geben.“

     „Es ist ein großer Flügel“, warnte er. „Eine ganze Etage allein für die Kinderstation. Dazu kommen eine Tagesstätte und ein neuer Spielplatz. Mehr Betten für die Chirurgie. Und eine Dachterrasse. Vielleicht zu lang für eine Lunchtour. Aber wir können es ja drauf ankommen lassen.“

     „Einverstanden. Ich freue mich drauf.“ Viel zu sehr sogar …

     Sie sahen einander an. Zu lange, – bis Ryan schließlich sagte: „Ich schätze, ich muss jetzt wirklich gehen.“

     Am liebsten hätte Ronni ausgerufen: Nein! Bitte, ich möchte, dass du bleibst. Die ganze Nacht …

     Aber selbstverständlich kam nichts dergleichen über ihre Lippen.

 

Um 12 Uhr 25 am nächsten Tag trat Ronni in das Vorzimmer zu Ryans Büro ein und stellte sich seiner Sekretärin vor, einer liebenswürdigen, mütterlich wirkenden Frau in einer malvenfarbenen Bluse mit einer großen Schleife am Hals.

     „Nehmen Sie einen Moment Platz. Er kommt gleich“, sagte sie.

     Ryan erschien genau um halb eins. Er trug einen anderen Anzug als gestern, und den Wintermantel hatte er über dem Arm. Bei Ronnis Anblick wurden seine Augen warm. Sie erhob sich.

     Er zog den Mantel an und wandte sich an seine Sekretärin: „Was liegt als Nächstes an?“

     Sie warf einen Blick auf ihren Kalender. „Versicherungskonferenz. Raum A neben dem Vorstandssitzungssaal, um halb zwei.“

     „Tut mir leid“, meinte er zu Ronni. „Sieht aus, als müssten wir entweder die Führung oder das Essen ausfallen lassen.“

     „Ich glaube, mir wäre etwas zu essen lieber.“

     „Gut.“ Über den dicken grauen Teppichboden kam er zu ihr und nahm ihren Arm. Ihr Kopf reichte ihm kaum bis an die Schulter. „Fertig?“ Ryan lächelte auf sie herab.

     „Ja.“

     Nachdem sie mit dem Aufzug nach unten gefahren waren, schlug Ronni den Italiener vor, wo viele Mitarbeiter aus dem Krankenhaus aßen.

     Stirnrunzelnd bemerkte Ryan: „Bei ‚Granetti‘ werden wir nicht viel Privatsphäre haben.“

     Das war ihr nur recht. Ein geschäftiges Lokal wie „Granetti“ würde sie davor bewahren zu vergessen, dass sie und Ryan Malone lediglich eine nachbarliche Freundschaft pflegten, sonst nichts.

     „Wir haben ja nur eine Stunde“, erinnerte Ronni ihn, woraufhin auch er mit ihrer Wahl einverstanden war.

     Es gelang ihnen sogar, einen Tisch in einer Ecke zu ergattern, und Ronni bestellte ein Hühnchengericht, während Ryan Kalbsfilet mit Parmesan vorzog.

     „Wie läuft’s mit Ihrer Wohnung?“, fragte er.

     Sie erzählte, dass sie und der Elektriker nicht gerade die besten Freunde waren. „Er scheint vergessen zu haben, dass ich Steckdosen in der Küche brauche. Und die in meinem Arbeitszimmer sind alle am falschen Ort.“

     „Vielleicht sollten Sie sich jemand anderen suchen.“

     „Das würde ich auch, aber der Kerl hat einen Vertrag für den gesamten Gebäudekomplex. Aber seien Sie unbesorgt, zum nächsten Ersten sind Sie mich los.“

     „Habe ich was davon gesagt, dass ich Sie los sein möchte?“

     Ronni senkte den Blick auf ihr Knoblauchbrot und schaute dann auf. „Nein.“

     „Bleiben Sie, solange Sie wollen. Bitte.“ Ryans Stimme klang beinahe zärtlich.

     „Ronni“, hörte sie da jemand sagen. „Wie geht’s dir?“

     Mühsam riss Ronni ihren Blick von Ryan los. Neben ihr stand Dr. Kelly Hall, eine Gynäkologin, die im Medizinischen Frauenzentrum arbeitete.

     Ronni stellte die beiden anderen einander vor. „Was war los?“, erkundigte sie sich dann, da die Kollegin im grünen OP-Anzug hier war, über den sie rasch einen weißen Laborkittel geworfen hatte.

     „Das Übliche. Sechseinhalb Pfund, geboren …“, Kelly blickte auf die Uhr, „… vor genau fünfundfünfzig Minuten.“

     „Junge oder Mädchen?“

     „Mädchen. Und sie haben noch keinen Kinderarzt.“

     „Würdest du mich empfehlen?“

     „Aber sicher. Hast du eine Karte dabei?“

     Ronni kramte eine aus ihrer Tasche und gab sie ihr.

     „Und jetzt muss ich unbedingt was essen“, meinte Kelly und ging mit ihren langen, athletischen Beinen davon.

     Von der gegenüberliegenden Seite winkte jemand herüber, und Ryan hob grüßend die Hand. „Ich hab’s ja gleich gewusst“, brummte er. „Kein bisschen Privatsphäre.“

     Etwa eine Viertelstunde später begleitete er Ronni zu ihrem Wagen, einem unspektakulären japanischen Modell. Sie schloss auf und drehte sich dann wieder zu Ryan um.

     „Vielen Dank. Es war sehr …“

     Er hob die Hand, sie hielt inne, und er kam näher, viel zu nahe, und seine blauen Augen hielten die ihren fest. Da sie mit dem Rücken zum Wagen stand, konnte Ronni nicht weg, nicht einmal, wenn sie gewollt hätte. Was nicht der Fall war.

     Ryan strich ihr über die Wange. Dort wo seine Fingerspitzen ihre Haut berührten, schien sie zu glühen, genau wie gestern Abend. Er ließ die Hand hinabgleiten, und Ronni spürte seine kühlen, starken Finger im Nacken unter ihrem Haar.

     Und in diesem Moment senkte sich sein Mund auf ihre Lippen, erst leicht, dann fester, und danach …

     Oh, dachte sie. Wie wunderbar … Sie seufzte und merkte, dass er lächelte. Dann löste er sich von ihr. Ronni wollte etwas sagen, aber Ryan legte ihr den Finger an die Lippen.

     „Das wollte ich schon in der ersten Nacht tun. Und auch am zweiten Abend, als ich Sie gebeten habe, mich zum Herzensball zu begleiten. Und gestern Abend ebenso.“

     „Wirklich?“, brachte sie atemlos hervor.

     Er nickte.

     Sie hörte Stimmen und Schritte auf dem Betonparkplatz – zwei ihr unbekannte Männer, die zu ihren Autos gingen. Ryan grüßte, ehe er sich wieder Ronni zuwandte, die genau wusste, was er gerade dachte.

     „Keine Privatsphäre …“

     „Richtig.“ Er zog an dem Türgriff. „Steigen Sie ein.“

     Sie setzte sich hinters Steuer, und er beugte sich zu ihr hinunter. „Denken Sie an den Sicherheitsgurt.“

     Gehorsam schnallte sie sich an.

     „Und fahren Sie vorsichtig“, mahnte er.

     „Mach ich“, versprach sie.

 

Ein Kuss, es war doch nichts weiter als ein Kuss, sagte Ronni sich an diesem Tag wieder und wieder; ebenso beim Schlafengehen, und auch am Samstagmorgen, als sie nach dem Frühstück für ein paar Stunden in die Praxis wollte.

     Bloß ein Kuss, ein einziger zärtlicher Moment zwischen Bekannten, die einander freundschaftlich zugetan waren …

     Gegen drei Uhr fuhr sie zu ihrer neuen Wohnung. Die Handwerker hatten heute natürlich ihren freien Tag, aber Ronni ging durch die Räume und versuchte, sich von ihren Gedanken an Ryan dadurch abzulenken, dass sie sich vorstellte, wie diese aussehen würden, wenn erst einmal alles fertig war.

     Kaum bog sie um halb fünf zum Gästehäuschen ein, flog die Tür des Haupthauses auf, und Drew kam auf ihren Wagen zugerannt. Ronni kurbelte das Seitenfenster herunter.

     „Wir schmücken gerade“, verkündete er. „Kommen Sie und schauen Sie sich’s an.“

     Seine Begeisterung war ansteckend, und Ronni lächelte. „Schmücken? Wofür?“

     „Für den Valentinstag. Das machen wir jedes Jahr. Wir machen das bei allen Feiertagen – Weihnachten, Ostern, St. Patrick’s Day, für den vierten Juli, und Halloween. Das ist mein Lieblingstag. Den Valentinstag mag ich am wenigsten, all dieses Liebeszeug, wissen Sie. Aber ich mache Odie und Garfield und so was. Witzige Sachen.“ Er wollte die Tür öffnen. „Kommen Sie, ich zeig’s Ihnen.“ Schon hatte er die Tür aufgerissen. „Beeilen Sie sich.“

     Ronni lachte. „Darf ich vorher vielleicht noch mein Auto parken, damit dein Vater nicht in mich reinfährt?“

     „Das würde mein Vater nie tun. Er ist ein guter Autofahrer.“

     Kinder, dachte Ronni, die nehmen immer alles so wörtlich. „Ich habe nur gemeint, dass ich ihm im Weg stehen würde, wenn er nach Hause kommt. Oder ist er schon zu Hause?“

     „Nein. Ich glaube, er ist zum Squashspielen im Club.“

     Schamlos quetschte sie den Jungen noch weiter aus. „Meinst du, dass er bald nach Hause kommt?“

     „Ronni, bei meinem Vater weiß man nie, wann er nach Hause kommt. Kommen Sie jetzt mit, oder nicht?“

     Dem bittenden Ausdruck in seinen Augen, die denen seines Vaters so ähnlich waren, konnte sie einfach nicht widerstehen. „Na klar. Lass mich nur eben schnell das Auto wegfahren, ja?“

 

Axel Pembroke, der quer über den Court hechtete, versuchte sein Bestes, um Ryans Aufschlag zu erreichen. Er schaffte es nicht. Der Ball traf die Frontwand, prallte ab, schoss an die linke Seitenwand, dann an die rechte und stoppte schließlich parallel zur Rückwand.

     „Ein perfekter Z-Aufschlag“, keuchte Axel. „Spiel und Satz. Du hast mich platt gemacht. Mal wieder.“ Er schleppte sich zu seinem Handtuch, legte es sich um den Hals und trocknete sich den Schweiß. „Warum spiele ich überhaupt mit dir?“ Er verdrehte die Augen, die hinter seinen dicken Sportgläsern übergroß und leicht hervortretend erschienen. „Du lässt mich nie gewinnen, obwohl ich der Mann bin, der direkt dafür verantwortlich ist, dass du diese Riesenschecks vom Pembroke Fond kriegst, die du brauchst, um deinen Super-Neubau zu finanzieren.“

     Ryan lachte. „Ach Unsinn, Axel. Erstens ist es nicht mein Neubau, und zweitens würdest du mich nicht mehr respektieren, wenn ich dich gewinnen ließe.“

     „Woher willst du das denn wissen? Du hast es nie ausprobiert. Aber andererseits, ich beschwere mich ja eigentlich gar nicht.“ Axel nahm die Sportbrille ab, um sich den Schweiß um die Augen abzuwischen, und setzte sie wieder auf. „Die Wahrheit ist, ich wusste immer, wenn ich dich jemals schlagen würde, wäre das ein echter Sieg.“

     Ryan griff nach seinem Handtuch und warf es über die Schulter. „Wusste? Vergangenheit? Ist das etwa deine Art, mir zu sagen, dass wir gerade unser letztes Spiel gespielt haben?“

     Axel zögerte, dann schmunzelte er. „Ich fürchte, was mich betrifft, wirst du mich nicht so schnell los.“

     „Moment mal, habe ich je behauptet, dass ich das will?“

     „Nein“, gab Axel zu. „Hast du nicht. Mir gegenüber bist du ein wahres Muster an Geduld.“ Gemeinsam verließen sie den Court, wobei Ryan voranging, und Axel fuhr fort: „Ehrlich gesagt, du bist ein wahres Ideal, Punkt. Ein in jeder Beziehung überlegener Mann. Mein Analytiker meint, ich beneide dich. Du bist all das, was mein lieber dahingeschiedener Vater sich von mir erhofft hat.“

     Ryan sagte nichts. Er konnte nachvollziehen, dass der alte Pembroke ein wunder Punkt bei Axel war. Die Pembrokes waren eine alteingesessene und einflussreiche Familie in Honeygrove. Als Axel Pembroke III gestorben war, hatte er den größten Teil seines Vermögens der Stiftung vermacht, die den Namen seiner Familie trug. Seinem einzigen Sohn, Axel IV, hatte er hingegen nur einen bescheidenen Treuhandfond hinterlassen, und die Aufgabe, das Geld für gute Zwecke zu verwalten, von dem dieser sicherlich überzeugt war, dass es von Rechts wegen eigentlich ihm selbst zugestanden hätte. Dass Axel nur eine so geringe Summe geerbt hatte, war so etwas wie ein örtlicher Skandal gewesen.

     Ihre Squash-Taschen standen an der Wand neben der Tür, die zum Court hineinführte. Ryan kniete sich neben die seine und verstaute seinen Schläger.

     Axel stand neben ihm. Ryan blickte zu ihm auf. Axels Miene wirkte auf unheimliche Weise nachdenklich.

     „Ja“, sagte Axel. „Das ist das richtige Wort – Ideal. Du hast mit nichts angefangen, und sieh dir an, wo du jetzt bist. Während ich dagegen alles hatte, alle Privilegien, zumindest im Hinblick auf Geld und Ausbildung. Und was habe ich daraus gemacht? Nicht viel.“

     Ryan zog den Reißverschluss der Sporttasche zu. „Axel, wieso sagst du mir nicht einfach gerade heraus, was dich beschäftigt?“

     Axel bückte sich zu seiner eigenen Tasche. „Die Sache ist die, ein Mann muss seine Chance dann ergreifen, wenn sie sich ihm bietet.“

     Was zum Teufel sollte das heißen? „Axel, willst du mir damit irgendwas Bestimmtes sagen?“

     Axel schien seine Gedanken abzuschütteln. Und dann schmunzelte er erneut. „Nein. Nichts. Gar nichts. Ich hab nur laut gedacht.“

 

Den ganzen Heimweg über fragte Ryan sich, was wohl mit Axel los sein mochte.

     Er war noch immer verwundert, als er durch die Hintertür ins Haus kam. Von der Küche her hörte er Stimmen, und unwillkürlich horchend hielt er auf der Waschveranda inne.

     „Sehen Sie, das ist Garfield“, sagte sein ältester Sohn gerade. „Ich werde ihm eine von diesen Blasen über den Kopf hängen. Er denkt: ‚Wer braucht schon Liebe? Ich will mein Abendessen.‘“

     Eine Frau lachte. Ryan erkannte das Lachen. Es war Ronni.

     Dann sagte sie: „Klingt genau nach Garfield.“

     „Du meine Güte, haben wir viele Dekorationen gemacht.“ Das war Lilys Stimme. „Wo tun wir die bloß alle hin?“

     „Omi, schau mal“, rief da Lisbeth. „Ein großes grünes Herz. Nur für dich.“

     „Oh, Schätzchen, das ist ja lieb. Aber ich glaube, Herzen sollen eigentlich rot sein.“

     „Ich mag aber grün, Omi.“

     „Und ich mag lila!“, erklärte Griff, und Ryan musste lächeln. Alles, was sein Jüngster in letzter Zeit äußerte, schien mit einem Ausrufezeichen versehen zu sein.

     „Jetzt müssen wir anfangen, sie aufzuhängen“, meinte Drew.

     „Gleich“, gab Lily zurück. „Aber zuerst …“

     „Ich weiß, zuerst müssen wir unseren Kram aufräumen.“

     „Richtig.“ Lilys Tonfall veränderte sich, wurde tiefer, sachlicher. „Natürlich hat Patricia hiermit begonnen. Es ist eine Familientradition, für jeden Feiertag zu schmücken.“

     „Eine wundervolle Idee.“ Ronni klang höflich, und bemüht, das Richtige zu sagen.

     Erst in diesem Augenblick wurde Ryan bewusst, dass er lauschte, und er schlug die Tür geräuschvoller als nötig hinter sich zu.

     „Das muss Ryan sein“, hörte er Lily sagen.

     Er betrat die Küche, wo alle zusammen am Tisch saßen. Tonpappe, Filzstifte, Scheren, Papierdeckchen, Leim und Glitzerklebstoff bedeckten die gesamte Tischplatte. Ronni saß mit dem Rücken zu ihm. Sie drehte sich um, und ihre grünen Augen strahlten so hell, dass er sich beinahe geblendet fühlte, als ihre Blicke sich begegneten.

     Griff sprang von seinem Stuhl herunter. „Daddy, schau mal!“ Er streckte ihm ein etwas krumm und schief ausgeschnittenes lila Herz entgegen. „Lila! Das mag ich!“

     Ryan ließ seine Sporttasche in eine Ecke fallen und kniete sich zu seinem Sohn. „Ja, das ist lila. Ein prima lila Herz.“

     „Guck dir mal meins an, Daddy.“ Lisbeth hielt ihre Kreation hoch.

     „Sieht schön aus“, nickte er.

     „Erst müssen wir aufräumen“, sagte sie. „Dann dürfen wir die Sachen aufhängen. Du kannst uns dabei helfen.“

     „Dad hat bestimmt zu viel zu tun“, wandte Drew ein.

     „Nein“, erwiderte Ryan fest, auch wenn noch viel Arbeit auf ihn wartete. „Ich bin jetzt hier, und ich werde euch helfen.“

     „Oh, Ryan“, protestierte Lily. „Das ist wirklich nicht nötig.“

     „Doch“, erklärte er. „Es ist sehr nötig.“

     Ronni stand auf. „Nun, ich jedenfalls finde diese Dekorationen einfach unglaublich. Aber ich denke, ich sollte jetzt besser …“

     Auf keinen Fall würde er sie jetzt entkommen lassen. „Bleiben Sie.“ Das kam heraus wie ein Befehl, aber das war Ryan egal.

     „Ja“, fiel Drew mit ein. „Bleib doch noch.“ Unwillkürlich war er wie seine Geschwister ins Du verfallen.

     „Ja“, piepste auch Lisbeth. „Daddy kann die Leiter holen, damit er an die hohen Stellen drankommt, und du kannst das Klebeband halten.“

     „Bleib da!“, rief Griff.

     „Ach, Kinder“, schalt Lily. „Wenn Ronni gehen muss, dann sollten wir sie nicht …“

     „Muss sie aber nicht.“ Ryan suchte Ronnis Blick. „Oder?“

     „Ich …“ Sie strich sich ihren weiten Rock glatt und versuchte wegzuschauen.

     „Bleiben Sie noch“, wiederholte er.

     Und sie gab nach. „Also gut, ja gern.“

     Innerhalb einer Stunde waren alle Vorderfenster mit Herzen aller Formen und Farben zugehängt, nicht zu vergessen Garfields und Odies von Drew. Als Ryan die Trittleiter schließlich wegstellte, war es sechs Uhr. Und Lily sagte, dass das Essen in etwa einer halben Stunde fertig sein würde.

     Wieder wollte Ronni sich verabschieden, doch Ryan kam ihr zuvor.

     „Sie müssen etwas essen“, meinte er. „Dann können Sie das genauso gut auch bei uns tun.“

     „Aber ich …“

     „Ja, dableiben!“ Aufgeregt sprang Griff auf und ab. „Sie essen mit uns!“

     Und erneut gab Ronni nach.

     Aber um halb acht, nachdem der Tisch abgeräumt war und die Kinder sich zum x-ten Mal den König der Löwen anschauten, blieb sie standhaft dabei, dass sie nun aber wirklich gehen musste.

     „Fein“, sagte Ryan. „Ich bringe Sie rüber.“

     Sie wollte Einwände erheben, doch er ließ ihr keine Gelegenheit dazu.

     „Ich möchte Sie gerne nach Hause bringen. Haben Sie ein Problem damit?“

     „Na ja, nein, aber …“

     „Gut. Dann sagen Sie den Kindern gute Nacht, und wir gehen.“

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