Darf ich ihm gehören? - 4. Kapitel

4. KAPITEL

Draußen war es kalt, die Sterne verdeckt von der allgegenwärtigen Wolkendecke. Ronni fasste sich bei den Armen und eilte rasch über den Rasen, aber Ryan konnte mühelos mithalten.

     Vor der Eingangstür des Häuschens wandte sie sich lächelnd zu ihm um.

     „Sagen Sie es nicht.“

     „Wie bitte?“, fragte Ronni verständnislos.

     „Sagen Sie nicht gute Nacht. Ich komme mit rein.“

     Sie erstarrte, sodass er befürchtete, sie würde ablehnen. Schließlich jedoch nahm sie nur den Schlüssel aus der Tasche und öffnete. Sie ging ihm ins Wohnzimmer voraus, wo sie sich hinter dem Couchtisch aufs Sofa setzte.

     Ryan wählte den kleinen Sessel ihr gegenüber und beugte sich vor, die Ellbogen auf die Knie gestützt.

     „Sie vermeiden es, mit mir allein zu sein“, stellte er fest.

     Ronni lehnte sich ebenfalls vor und sah auf den Tisch hinunter, atmete einmal tief durch und schaute dann auf. „Ryan, ich …“

     „Sie haben gedacht, dass wir das hier irgendwie unverbindlich halten können, nicht wahr? Dass Sie nicht zulassen werden, dass es zu … ernst werden könnte.“

     Kleinlaut bekannte sie: „Ja, wahrscheinlich.“

     „Warum?“

     Seufzend setzte sie sich in die Kissen zurück. „Ich … glaube eben einfach nicht, dass wir gut zusammenpassen würden. Wir haben beide einen sehr anspruchsvollen Beruf. Ich bin momentan noch nicht bereit für etwas Ernsthaftes. Und Sie haben drei Kinder. Da hängt so viel mit dran.“

     Nun war es Ryan, der auf den Couchtisch starrte. Er zwang sich, den Blick zu heben. „Wissen Sie was? Aus irgendeinem verrückten Grund ist mir das vollkommen egal.“

     Wieder seufzte Ronni. „Ryan …“

     Er stand auf und vergrub die Hände in den Hosentaschen. „Zum Teufel noch mal, Ronni.“

     Sie sah ihn an. „Ich wünschte, Sie könnten mich verstehen.“

     Er hatte in der Tat verstanden. Sie hatte ihm gerade gesagt, dass sie im Augenblick keinen Mann wollte, und wenn sie mal einen wollte, würde es nicht er sein. Aber das änderte nichts an dem, was Ryan für sie empfand. Er wollte sie an sich ziehen, ihren kleinen, süßen Körper an dem seinen spüren, seinen Mund auf ihre Lippen pressen und sich in dem Gefühl verlieren.

     Aber er behielt die Hände in den Taschen. „Sprechen Sie weiter. Ich höre.“

     Ronni schüttelte den Kopf. „Es ist bloß … altes Zeug. Wie ich aufgewachsen bin, und was ich mir dadurch für mich selbst vorgenommen habe.“

     „Sagen Sie’s mir.“

     Sie rieb sich die Oberarme, wie um eine plötzliche Kühle abzuwehren. „Würden Sie sich dann bitte … wieder hinsetzen? Ich kann es nicht ausstehen, wenn große Leute drohend über mir aufragen.“

     Er ließ sich in den Sessel zurückfallen und wartete ab.

     Zögernd begann Ronni: „Meine Mutter starb, als ich ungefähr so alt war wie Lisbeth. Mein Vater … nun ja, er wusste einfach nicht, wie er sich um ein kleines Mädchen kümmern sollte. Also hat er mich bei Verwandten abgeladen, einer langen Reihe von Verwandten. In der Rückschau kommt es mir so vor, als hätte ich meine gesamte Kindheit mit dem Bemühen verbracht, mich an das Leben anderer Leute anzupassen. Ich hatte nie … ein eigenes Zimmer.“ Sie lachte ein wenig verlegen. „Nun ja, das klingt nicht gerade besonders sinnvoll. Ich will Unverbindlichkeit, weil ich nie mein eigenes Zimmer hatte …“

     Für Ryan ergab dies durchaus einen Sinn, aber er schwieg.

     Sie fuhr fort: „Ich … Alles verlief so, wie ich es geplant hatte. Medizinstudium, Praktisches Jahr und Assistenz. Ich bin hier bei Marty Heber und Randall Sheppard in eine Gemeinschaftspraxis eingestiegen. Vor sechs Monaten habe ich meine letzten Kredite abgezahlt. Und ich habe mir eine Eigentumswohnung gekauft.“

     „Endlich Ihr eigenes Zimmer.“

     Sie presste den Mund zusammen. „Machen Sie sich über mich lustig?“

     „Nein, tu ich nicht. Erzählen Sie weiter.“

     Stumm sah sie ihn einen Moment lang an. „Alles ist genauso, wie ich es mir vorgestellt habe. Und in ein paar Jahren werde ich auch bereit sein, jemand Besonderem zu begegnen. Jemand, der nett ist, liebevoll, unbekümmert, und weniger an Karriere orientiert als ich.“ Ronni lachte. „Jemand, der gerne kocht und der vielleicht sogar bereit wäre, Hausmann zu sein.“

     „Hausmann, ah, ich verstehe. Ein netter, alleinstehender Kerl ohne Kinder, ohne … irgendwelchen Anhang. Und ganz bestimmt ohne einen anstrengenden Beruf, der den größten Teil seiner Zeit in Anspruch nimmt.“

     „Genau.“

     „Ich fürchte, das bin ich nicht.“

     „Eben. Und gestern haben Sie mich geküsst. Ich wünschte, das hätten Sie nicht getan.“

     „Wieso?“

     „Weil ich jetzt immer wieder an Sie denken muss, und mir wünsche …“

     „Ja?“

     „Ach Ryan, ich versuche doch nur, Ihnen zu erklären, dass ich dasselbe brauche wie Sie. Jemanden, der mir das Essen kocht, meine Wäsche wäscht, und der für mich da ist, wenn ich nach einem harten Arbeitstag nach Hause komme. Jemanden, der sich um die Kinder kümmert.“

     „Sie haben doch keine Kinder.“

     „Aber Sie. Drei liebe, reizende Kinder. Und irgendjemand wird sich um sie kümmern müssen. Im Augenblick sind Sie gut dran. Sie haben Lily. Aber wird sie auch bereit sein, die Kinder weiterhin zu betreuen, wenn Sie jemand gefunden haben, der an die Stelle ihrer Tochter tritt?“

     „Sie denken viel zu weit voraus“, wandte Ryan ein.

     „Nein, tu ich nicht. Es würde mir nicht guttun, etwas anzufangen, was mich am Ende nur verletzen würde.“

     „Spricht da jetzt Ronni oder die ängstliche Veronica?“

     „In diesem Fall sind sie beide ein und dieselbe.“

     „Ich würde Ihnen nicht wehtun.“

     „Nein, es wäre zumindest nicht Ihre Absicht. Aber ich will mich einfach nicht auf irgendetwas einlassen, das letztendlich zu nichts führen kann.“

     „Kommen Sie her.“

     Sie schluckte und setzte sich ein wenig gerader hin. „Ich glaube, das … wäre keine gute Idee.“

     „Das schert mich nicht. Kommen Sie zu mir.“

     Langsam stand sie auf, ging um den Tisch herum und stellte sich direkt vor Ryan, der ihre Taille umfasste. Ronni konnte in kleines, hilfloses Stöhnen nicht unterdrücken. Er spürte ihre Wärme unter dem weichen Wollrock, die feste Wölbung ihrer schmalen Hüften.

     Ryan blickte in ihr feines Gesicht auf und flüsterte: „Gibt es einen anderen?“

     Flüchtig schloss sie die Augen. „Nein.“

     Er fuhr mit den Händen an ihren Seiten empor, sodass Ronni scharf den Atem einzog, bevor er sie wieder zärtlich zu ihrer Taille hinabgleiten ließ.

     „Ich bin mit niemand mehr zusammen gewesen, seit meine Frau krank wurde. Ich schätze, für ‚Unverbindliches‘ bin ich nicht sonderlich gut geeignet.“

     Sie legte ihm die schlanken, hellen Finger an die Wange. Ein Pfeil reiner, glühender Hitze durchzuckte ihn und erregte ihn mit einer derartigen Plötzlichkeit, dass Ryan fast nach Luft schnappte.

     Er hielt Ronni noch fester und befahl: „Beug dich zu mir.“

     „Oh je“, murmelte sie.

     Er zog sie dichter an sich heran, zwischen seine Schenkel. Ihre Beine berührten die Innenseite seiner Oberschenkel, und eine Woge des Verlangens durchströmte ihn.

     „Ronni. Küss mich.“ Da sie zögerte, drückte er ihr eine Hand in den Nacken und brachte ihren Mund zu sich herab.

     Dann streifte er ihr das Gummiband ab, das ihre Haare zusammenhielt, und vergrub die Finger in der schweren, lockigen Mähne. Ryan erhob sich, wobei er Ronni mit sich nahm, die Hände unter ihrem festen Po verschränkt. Er schob ihren Rock in die Höhe, fühlte die dicken Wollstrumpfhosen unter seinen Fingern und legte ihre Beine um seine Hüften. Dabei wurde sein Kuss immer hungriger und leidenschaftlicher, während er sich an sie presste, sodass sie spüren konnte, wie sehr er sie begehrte.

     Ronni war klein und leicht, und auch als Ryan anfing zu gehen, hörte er nicht auf, sie zu küssen. Er hätte ins Schlafzimmer gehen können, doch stattdessen trug er sie in die Küche, wo er sie behutsam auf der Arbeitsplatte niederließ und ihr Gesicht in seine Hände nahm.

     Die Stirn an die ihre gelehnt, streichelte er ihre Schultern und Arme, verschränkte dann seine Finger mit den ihren und zählte bis fünfundzwanzig.

     Sobald seine Atmung sich etwas beruhigt und er seine Erregung einigermaßen unter Kontrolle hatte, drückte Ryan das Gesicht in ihr Haar.

     Ronni umarmte ihn und hielt ihn fest.

     Er flüsterte: „Was soll ich sagen? Außer dass ich verstehe. Ich weiß genau, was du dir aufgebaut hast, was du vom Leben möchtest. Bei mir ist es dasselbe. Ich habe meine beiden Eltern verloren, als ich vier war. Es gab niemanden, der uns hätte aufnehmen können, also kamen mein Bruder und ich ins Waisenhaus. Und danach ständig in eine Pflegefamilie nach der anderen …“

     Ronni löste sich von ihm und sah ihn an. Ihr Blick drückte mehr aus als alle Worte.

     Sanft zog Ryan ihren Rock wieder ein wenig weiter herunter. „Ich weiß, wie das ist, wenn man sich ein sicheres Leben erschaffen möchte, wo man … sein eigenes Zimmer hat. Wo nichts Schlimmes passieren kann. Genau so ein Leben habe ich für mich und meine Familie aufzubauen versucht.“

     „Aber dann … hast du deine Frau verloren.“

     Er fuhr mit der Hand durch ihr Haar und liebkoste ihre weiche zarte Wange. „So viel zur Sicherheit. Und so viel zu dem, was wir wirklich bestimmen können.“

     Eine lange Zeit blickten sie einander an.

     „Vielleicht bin ich nicht der Mann, den du gesucht hast“, meinte Ryan dann. „Aber hier sind wir nun mal.“ Er ballte die Hände, die auf Ronnis Schenkeln ruhten. „Ich will dich so sehr …“

     Sie legte die Finger über seine Fäuste und drückte sie leicht. „Ich will dich auch …“

     „Aber?“

     „Ich brauche ein bisschen Zeit. Um hiermit klarzukommen.“

     Er hob ihr Kinn und gab ihr einen Kuss auf die Nasenspitze. „Zeit.“

     „Ja. Bitte.“

     Ihre Lippen waren so nah. Ryan hätte sie erneut küssen können. Aber er tat es nicht.

     „Also gut“, erklärte er. „Bis zum Herzensball ist es noch genau eine Woche. Vielleicht traust du mir ja nicht zu, dass ich das schaffe, aber ich werde dich bis dahin in Ruhe lassen. Es sei denn, du kommst zu mir.“ Er stellte Ronni wieder auf die Füße. „Und jetzt bring mich zur Tür.“

     Dort küsste er sie ein letztes Mal, bevor er ging. „Acht Uhr, nächsten Samstag?“

     „Acht Uhr, gut.“

     Und damit verließ er sie.

 

Ryan traf Lily in der Küche an, wo sie die Arbeitsplatten mit einem großen Schwamm säuberte. Sie blickte kurz zu ihm herüber, nickte und schrubbte weiter.

     Ryan bückte sich nach seiner Sporttasche in der Ecke. „Lily?“

     „Mmm?“

     „Das Hühnchen heute Abend war hervorragend.“

     Sie fuhr fort zu schrubben.

     Er versuchte es noch einmal. „Vielleicht sage ich dir nicht oft genug, wie sehr ich all das, was du für uns tust, zu schätzen weiß.“

     „Ich freue mich, wenn ich helfen kann. Ist Dr. Powers also heil und sicher nach Hause gekommen?“

     Der leicht sarkastische Unterton entging Ryan keineswegs. Das Gästehäuschen war weniger als hundert Meter entfernt, und Ronni hätte den Weg gut und gern allein zurücklegen können.

     „Ja“, gab er gelassen zurück.

     Widerwillig fügte Lily hinzu: „Sie ist sehr … nett.“

     „Das finde ich auch.“

     „Nun, das ist ziemlich offensichtlich.“ Sie rieb heftig an einer Stelle herum, die Lippen aufeinander gepresst, das Gesicht hager und angespannt. In diesem Moment wirkte sie älter als ihre achtundfünfzig Jahre.

     „Lily, möchtest du mir irgendetwas sagen?“

     Endlich hörte sie mit dem vermaledeiten Schrubben auf und wandte sich zu ihm um. „Sollte ich denn?“

     „Was ist das für eine Antwort?“

     Sie legte den Schwamm beiseite. „Entschuldige. Dein Privatleben ist natürlich deine Sache.“

     Was sollte Ryan daraufhin sagen? Ganz recht. Also halte dich da raus …? Oder etwas Freundlicheres. Ich habe deine Tochter geliebt, aber sie ist fort. Wir können sie nicht mehr zurückholen. Und jetzt habe ich Ronni getroffen, und ich möchte mir ihr zusammen sein.

     Nein, das brachte er nicht über sich. Stattdessen teilte er ihr sachlich mit: „Ich werde mit Ronni am nächsten Samstag zum Herzensball gehen.“

     Lily kreuzte die Arme über ihrer Körpermitte. „Danke, dass du es mir gesagt hast. Ich hoffe, ihr beiden habt einen schönen Abend miteinander.“

     Noch ehe Ryan etwas erwidern konnte, wurden sie durch lautes Geschrei aus dem Wohnzimmer unterbrochen, wo ein Streit zwischen den Kindern geschlichtet werden musste.

 

Am Montag war in Ronnis Sprechstunde wie immer viel los. Ronni tastete Kinderbäuche ab, horchte Herzen und Lungen ab, nahm Krankengeschichten auf, verabreichte Routine-Impfungen und beantwortete eine endlose Liste häufig gestellter Fragen von besorgten Eltern.

     Erst als sie am Abend zu Hause war, gestattete Ronni es sich, an Ryan zu denken, an die Art, wie er sie geküsst hatte, die Zärtlichkeit in seinen Berührungen, seinen Augen …

     Sie wusste, sie durfte sich nicht mit ihm einlassen. Der Zeitpunkt war falsch, und er brauchte eine Frau, keinen zweiten Ernährer. Und dennoch …

 

Am Dienstag bekam Ryan einen Anruf von seinem Bruder.

     „Wir haben Geldprobleme mit dem neuen Flügel.“ Tanners Ton war ausdruckslos.

     „Erklär mir das genauer.“

     Tanner stieß hörbar die Luft aus. „Ich habe am Ersten des Monats meine Buchhalterin mit der Abrechnung zur Bank geschickt und dann darauf gewartet, dass sie mir sagen, dass das Geld zur Verfügung steht. Aber weil sie sich nicht gerührt haben, habe ich am Dritten angerufen, und ich wurde davon informiert, dass das Konto des Pembroke Fonds ungenügend gedeckt sei.“

     Ryan traute seinen Ohren nicht. „Ungenügend gedeckt“, wiederholte er fassungslos.

     „Ja, und zwar im höchsten Maße ungenügend“, bestätigte Tanner. „Also habe ich am Freitag bei der Stiftung angerufen. Heute haben sie sich bei mir gemeldet, und es ist genauso, wie ich es mir schon gedacht habe. Sie sind in Schwierigkeiten.“

     „Aber was zum Henker ist das Problem?“

     „Sie wollten nicht so recht damit herausrücken. Aber morgen um zehn haben wir eine Besprechung bei ihnen.“

     „Hast du probiert, Axel zu erreichen?“

     „Ja, aber vergeblich.“

     „Ich ruf ihn selber an und schau mal, was ich herausfinden kann.“

     „Es sieht nicht gut aus.“

     „Nein.“ Ryan kannte seinen Bruder gut genug, um zu wissen, dass dieser ernsthaft in Schwierigkeiten steckte. Im Allgemeinen bezahlte Tanner seine Mitarbeiter und Zulieferer im Voraus, in der Erwartung, dass er die Kosten durch den Fond erstattet bekam. „Ich werde morgen da sein.“

     „Gut. Und wenn du irgendwas rausfindest, sag Bescheid, ja?“

     „Mach ich.“ Ryan hängte auf und wählte dann sogleich Axels Büro an.

     „Pembroke Stiftung. Mr. Pembrokes Büro.“

     „Hier ist Ryan Malone. Ich möchte gerne mit Axel Pembroke sprechen.“

     „Es tut mir sehr leid, Mr. Malone. Mr. Pembroke ist momentan leider nicht zu erreichen.“

     „Und wann ist er zu sprechen?“

     „Wenn Sie Ihre Nummer hinterlassen, wird sich jemand bei Ihnen melden.“

     „Jemand? Beantwortet Axel seine Anrufe nicht mehr persönlich?“

     „Tut mir leid, Mr. Malone.“

     Am liebsten hätte er die Sekretärin angeschrien und eine konkrete Antwort verlangt, aber das Ganze war ja schließlich nicht ihre Schuld.

     Ryan legte auf und wählte Axels Privatnummer, wo er eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterließ. Danach versuchte er Axels Mobiltelefon, jedoch erfolglos. Und auch von Bill Langley, dem Projektleiter, der für den Neubau zuständig war, bekam er nur ausweichende Antworten.

     Da Ryan um halb zehn eine Besprechung mit einigen Abteilungsleitern hatte, wies er seine Sekretärin an, ihn sofort anzupiepen, sobald Axel Pembroke anrufen sollte. Doch der Pieper blieb stumm.

     Bei seiner Rückkehr um elf probierte Ryan es daher erneut an beiden Privatnummern Axels, aber wieder ohne Erfolg. Also meldete er sich bei Tanner, um ihn zu informieren, dass er leider nichts erreicht hatte.

     „Uns bleibt nichts anderes übrig, als die morgige Besprechung abzuwarten.“

 

Um zehn vor zehn am nächsten Vormittag trafen Ryan und Tanner vor dem Pembroke-Gebäude ein.

     Bill Langley kam gleich zur Sache. „Ich fürchte, wir haben hier eine außerordentlich schwierige Situation vor uns. Es scheint, als hätten einige Fehlberechnungen stattgefunden. Grobe Fehlberechnungen.“

     Ryan warf einen Blick auf die beiden anwesenden Rechtsanwälte. Was immer schief gelaufen sein mochte, die Stiftung würde es nicht offen zugeben. Dies hier bedeutete Schadensbegrenzung, und zwar in großem Stil.

     Langley nahm die Brille ab und rieb sich die Nasenwurzel. „Selbstverständlich werden wir unser Möglichstes tun, um unsere Verpflichtungen dem Memorial-Krankenhaus gegenüber einzuhalten. Wir haben eine Reihe von Optionen geprüft. Durch die Richtlinien des Pembroke Fonds sind wir leider nicht befugt, das Grundkapital anzugreifen. Zudem ist es nicht möglich, ein Darlehen auf den Fond aufzunehmen. Als Vorkehrung gegen einen Substanzverlust auf Grund genau solch einer Situation, wie wir sie jetzt vor uns haben, wurde der Fond so eingerichtet, dass alle Projekte ausschließlich über das Einkommen aus den jeweiligen Anlagewerten finanziert werden dürfen.“

     „Das heißt, es ist kein Geld da, und es wird auch in absehbarer Zukunft keines da sein“, meinte Tanner langsam.

     „Was ich damit sagen will, ist, dass wir mindestens für die nächsten Wochen die Stundung auf alle Zahlungen erklären müssen, bis wir das genaue Ausmaß des Fehlbetrags kennen und geklärt haben, wie wir unsere Zahlungsfähigkeit am besten zurückgewinnen können.“

     Tanner stieß einen gedämpften Fluch aus.

     „Wir haben von dem Fond bisher sechzig Millionen Dollar bekommen“, sagte Ryan. „Und in den nächsten sechs Monaten sollten noch weitere vierzig Millionen zur Verfügung gestellt werden. Was schätzen Sie, wie viel werden wir davon zu sehen kriegen?“

     Mit einem Seitenblick auf die beiden Anwälte räusperte Langley sich. „Im Augenblick kann ich leider überhaupt keine Schätzungen abgeben. Die Stiftung besitzt einige Aktiva außerhalb des Fonds. Und wir haben die Absicht, diese so schnell wie möglich zu verkaufen.“

     „Wie schnell wird das sein?“

     „Es ist momentan unmöglich, das zu sagen. Es tut mir aufrichtig leid. Aber gegenwärtig kann ich Ihnen wirklich keinerlei Zusagen machen. Es gibt auch andere Projekte, die das Geld ebenso dringend benötigen wie das Ihre. Eine schreckliche Sache, ich weiß. Und es wird erst noch schlimmer werden, ehe es wieder besser wird …“

 

Zwanzig Minuten später traten Ryan und Tanner auf die Straße.

     „Sie haben uns keine einzige Andeutung darüber gemacht, was eigentlich wirklich los ist“, stellte Tanner fest. „Aber ich kann mir nichts anderes vorstellen als Unterschlagung oder Veruntreuung. Meinst du nicht auch, dass da jemand die Hand in der Kasse hatte?“

     „Sieht ganz danach aus“, bestätigte Ryan.

     „Hast du Axel überhaupt erreicht?“

     „Nein.“

     „Und denkst du auch dasselbe wie ich? Er müsste es gewesen sein, stimmt’s, mit seinem Zugang und der Kontrolle über das Geld? Allerdings hat er sicher einen Komplizen gebraucht. Jemand weit oben in der Buchhaltung.“

     Tanners Vermutungen ergaben durchaus einen Sinn. Mehr und mehr schien es, als habe Axel Pembroke seine Chance erkannt und sich zunutze gemacht.

     „Die Stiftung und die Anwälte können es aber nicht ewig verheimlichen“, fuhr Tanner fort. „Es sind zu viele Leute daran beteiligt. Es wird sich herumsprechen. Und die Presse kriegt bestimmt bald Wind davon.“

     Ryan nickte. „Ich gebe ihnen noch vierundzwanzig Stunden, höchstens.“

     „Das wird eine hässliche Geschichte werden.“

     „Und das ist noch milde ausgedrückt.“

     „Wenn es Axel ist, werde ich der kleinen miesen Ratte eigenhändig den Hals umdrehen“, knurrte Tanner.

     „Wir wissen beide, wenn es Axel ist, dann hat er das Land längst verlassen.“

     „Ryan …“

     „Wie weit hast du überzogen?“

     „Zu weit. Ich bin zwar versichert, aber das wird nicht reichen.“

     „Und was wäre, wenn du sofort alle Bauarbeiten einstellen lässt?“

     „Kommt drauf an, wie lang es dauert, bis wir weitermachen können. Selbst wenn ich meine Verluste abschreibe, stecke ich zu tief drin. Ich brauche Geld, und zwar bald. Oder ich bin pleite.“

     Mein eigener Bruder bankrott, dachte Ryan schuldbewusst, bloß wegen meines gehätschelten Babys, diesem verflixten Neubauflügel, und weil ich die gesamte Finanzierung lediglich auf den Spenden der Stiftung aufgebaut habe.

     „Hör zu“, meinte Tanner angespannt. „Vielleicht kann ich noch ein paar Tage durchhalten.“

     „Und was würdest du tun, wenn ich nicht dein Bruder wäre?“

     Tanner schwieg.

     „Du hast keine Wahl“, erklärte Ryan daher. „Mach das verdammte Projekt dicht.“

 

Nachdem Ronni am Donnerstagnachmittag ihre Visite im Kinderkrankenhaus beendet hatte, fuhr sie noch bei ihrer Wohnung vorbei, wo sie die neue kobaltblaue Badewanne und das dazu passende Waschbecken bewundern konnte. Gegen acht Uhr abends war sie in dem kleinen Häuschen, wo sie zunächst ihre Post durchging, eine Dosensuppe aufwärmte und sich dann mit der Honeygrove Gazette zum Essen niederließ.

     Kaum hatte sie die Zeitung aufgeschlagen, sprang ihr schon die Schlagzeile ins Auge.

     „Pembroke-Fond in Schwierigkeiten. Stiftungspräsident verschwunden …“

     Ronni ließ den Löffel sinken.

 

Millionen von Dollar fehlen aus der Schatzkiste des Pembroke-Fonds. Und Axel Pembroke IV, Präsident der Stiftung, die den Namen seiner Familie trägt, ist nirgends zu finden. Ebenfalls verschwunden ist Miss Rhonda Jagger, die Managerin der Buchhaltungsabteilung der Stiftung …

 

Hastig überflog Ronni die nächsten Absätze. Wie es schien, hatten Axel Pembroke und Rhonda Jagger über Monate hinweg Erträge aus den Investitionsobjekten der Stiftung beiseite geschafft. Und keiner von beiden war seit Sonntag, dem 6. Februar, mehr gesehen worden.

     Ronni las weiter.

 

Am härtesten getroffen durch die Nachricht ist das Honeygrove Memorial-Krankenhaus. Der neue Flügel, dessen Fertigstellung bis zum September dieses Jahres anlässlich des zwanzigjährigen Krankenhaus-Jubiläums geplant war, sollte hundert Millionen Dollar aus dem Fond dafür bekommen …

 

Der neue Flügel. Ryans Lieblingsprojekt. Er musste am Boden zerstört sein.

     Ronni ließ die Zeitung neben ihrem unberührten Suppenteller liegen, packte ihre Jacke und verließ das Häuschen durch die Glastür im Schlafzimmer.

     Sie musste mehrmals an die Hintertür des Haupthauses klopfen, ehe Lily aufmachte.

     „Ist Ryan da?“

     Lily schüttelte den Kopf. Sie wirkte nicht sehr freundlich.

     Ronni sagte: „Ich habe den Artikel gelesen, über den Diebstahl aus dem Pembroke-Fond.“

     Mit zusammengepressten Lippen nickte Lily. „Ich fürchte, ich kann Ihnen dazu nicht viel sagen. Seit das alles passiert ist, habe ich Ryan kaum zu Gesicht bekommen.“

     „Oh, Lily, das tut mir so leid …“

     „Ich bemühe mich nur, hier alles in Ordnung zu halten.“

     „Kann ich irgendetwas tun?“

     „Uns geht’s gut. Aber jetzt muss ich mich wieder um die Kinder kümmern. Griffin sitzt in der Badewanne. Es wird schon alles schwimmen.“

     „Ja, natürlich. Würden Sie Ryan ausrichten, dass ich vorbeigekommen bin?“

     „Ich muss wirklich nach oben …“

     „Bitte, sagen Sie es ihm, Lily.“

     „Ja, ja, ich richte es ihm aus. Jetzt muss ich aber wirklich …“

     „Ich weiß. Rufen Sie mich an, wenn es irgendetwas gibt, was …“

     „Ja danke.“ Lily schloss die Tür.

     Ronni stand auf der Schwelle und starrte auf die verschlossene Tür. Sie fühlte sich abgewiesen. Lilys offensichtliches Widerstreben, Ronnis schlechte Nachricht weiterzugeben, schmerzte.

     Und es machte auch einiges deutlich. Falls Ronni und Ryan ihre Beziehung vertiefen sollten, würde Lily ein echtes Problem darstellen. Doch im Augenblick war nicht Lily Ronnis Hauptsorge, sondern Ryan.

     Sie lief zurück zu ihrem Häuschen und hinterließ auf Ryans Mailbox im Memorial ebenfalls eine Nachricht, und da ihr keine weitere Möglichkeit einfiel, wie sie ihn sonst noch erreichen könnte, wärmte sie ihre Suppe noch einmal auf und nahm danach ein langes, heißes Entspannungsbad.

 

Es war kurz nach Mitternacht, als Ryan das nächtlich stille Haus betrat. Mittlerweile funktionierte er nur noch mechanisch. Er drückte die Tasten des Sicherheitsalarms und hängte seinen Mantel auf. Den Aktenkoffer in der Hand, stieg er die Treppe hinauf. Als er auf halber Höhe war, ging das Licht an. Es war Lily.

     „Ryan. Ist alles … in Ordnung?“

     „Ja, sicher“, wich er aus. „Die Kinder?“

     „Schlafen.“

     „Gut.“

     „Du siehst erschöpft aus.“

     „Das bin ich auch.“

     „Ryan …“ Die feinen Linien in ihrem Gesicht wirkten tiefer als sonst.

     „Was denn?“

     Lily schaute zur Seite. „Ach nichts. Es ist nicht wichtig.“

     Er besaß einfach keine Energie mehr, um nachzuhaken. „Geh wieder schlafen.“

     „Ja, mach ich. Gute Nacht.“

     „Gute Nacht.“

     Lily wandte sich ab, um in ihr Zimmer am Ende des oberen Ganges zurückzukehren. Ryan hörte, wie ihre Tür sich schloss. Dann wurde ihm bewusst, dass er nur da stand, auf halber Treppe, und sich am Geländer festhielt, als würde er umkippen, wenn er es losließe. Er ging weiter.

     In seinem Zimmer machte er kein Licht. Den Aktenkoffer ließ er neben der Tür stehen, zerrte sich die Krawatte vom Hals und warf das Jackett aufs Bett. Dann ließ er sich in den großen Ohrensessel am Fenster fallen, legte den Kopf zurück und starrte an die Decke.

     Noch nie in seinem Leben war Ryan so müde gewesen. Und dennoch wusste er, dass er nicht würde schlafen können.

     Stöhnend setzte er sich auf und ließ den Blick durch den schönen, weiten Raum schweifen, den er einst mit Patricia geteilt hatte. Heute Abend wirkte er allzu leer, allzu still, zu düster und kalt.

     Nein, es war Ryan einfach unmöglich, hier zu bleiben. Leise ging er hinaus und wieder nach unten.

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