Darf ich ihm gehören? - 5. Kapitel

5. KAPITEL

Das Licht war an in ihrem Schlafzimmer. Ryan konnte es einladend durch die Bäume schimmern sehen.

     Die dünnen Gardinen waren zugezogen. Er klopfte. Gleich darauf erschien Ronnis Gestalt auf der anderen Seite der Glastür. Sie trug denselben Schlafanzug wie in jener ersten Nacht – Flanell mit Blümchen darauf. Und obwohl ihr Haar wie üblich zusammengebunden war, umgaben zahllose feine Löckchen ihr sommersprossiges Gesicht.

     Ronni öffnete die Tür.

     „Ich weiß, ich hatte versprochen, bis Samstag wegzubleiben“, entschuldigte Ryan sich. „Aber …“ Er wusste nicht, wie er fortfahren sollte, doch an ihrem Blick sah er, dass sie verstand.

     Ja, noch mehr als das. In dem Moment, als Ronni den Vorhang zurückgezogen und sein Gesicht erblickt hatte, hatte sie blitzartig die Erkenntnis getroffen.

     Ich liebe ihn, schoss es ihr durch den Kopf. Ich liebe Ryan Malone.

     Vielleicht war es verrückt, und auf jeden Fall war es zu schnell. Und vermutlich würde es nicht einfach werden. Aber dennoch – das hier war Liebe.

     Und all ihre Zweifel, ihr Zögern, ihre wohlüberlegten Pläne bedeuteten auf einmal nichts mehr.

     „Oh, Ryan …“

     Er lächelte. Es fühlte sich ungewohnt an. In den vergangenen drei Tagen hatte er, so viel er sich erinnern konnte, kein einziges Mal gelächelt.

     Ronni zog ihn herein, schloss die Tür hinter ihm und machte die Vorhänge zu.

     „Dir ist bestimmt kalt. Du hast ja noch nicht mal eine Jacke an“, tadelte sie.

     „Mir geht’s gut.“

     „Ich war ja so besorgt, dass du meine Nachrichten nicht bekommen hast.“

     „Du hast Nachrichten für mich hinterlassen?“, fragte er.

     „Ja, eine auf deiner Mailbox im Krankenhaus, und eine bei Lily …“

     „Die Mailbox habe ich nicht abgehört, und Lily hat nichts gesagt. Was … waren das für Nachrichten?“

     „Nur dass ich für dich da bin. Falls du mich brauchst.“

     Eine Welle der Wärme durchströmte ihn.

     „Ich habe es in der Zeitung gelesen, und habe mir Sorgen gemacht. Ich musste die ganze Zeit an dich denken“, sagte Ronni leise.

     Er öffnete die Arme, und sie kam zu ihm – weich, klein und kompakt, nach Seife und Shampoo duftend.

     Ryan hob sie empor, sodass er das Gesicht in ihr wildes rotes Haar drücken konnte. Zum ersten Mal seit Tagen fühlte er sich wieder lebendig. Das Blut pochte in seinen Adern, heiß und schnell. Er senkte den Mund auf den ihren.

     Ronni schlang ihre schlanken Arme um ihn, und Ryan spürte, dass sich etwas verändert hatte. Da war kein Zögern mehr von ihrer Seite. Rückhaltlos erwiderte sie seinen Kuss. Er nahm sie bei den Hüften, und hob sie noch höher, um ihren glatten hellhäutigen Hals zu küssen, von dem aus er weiter hinab zu ihrem Pyjamakragen glitt. Ronni, die wusste, was Ryan wollte, half ihm, indem sie die obersten Knöpfe öffnete.

     Ihre Brust lag entblößt vor ihm. Er presste die Lippen auf die sanfte Wölbung und umspielte die zarte Spitze mit der Zunge. Stöhnend schmiegte Ronni sich enger an ihn, und er nahm erneut von ihrem Mund Besitz, während er sie zugleich zum Bett hinüber trug.

     Dort glitt Ronni zu Boden und drückte Ryan auf die Bettkante herunter. Er schaute zu ihr auf.

     „Ich … habe nichts dabei.“

     Sie wusste sofort, was er meinte. „Ist schon okay.“

     „Ronni …“

     „Nein, wirklich. Ich hab was. Erinnerst du dich an Kelly Hall, die Gynäkologin, die wir im ‚Granetti‘ getroffen haben? Na ja, manche Ärzte verteilen Bonbons. Und Kelly verteilt …“

     „Du machst Witze“, brummte er.

     „Nein, im Ernst. Ich glaube, sie hat bei ihrer Arbeit schon mit zu vielen ungeplanten Schwangerschaften zu tun gehabt.“

     Zweifelnd sah sie Ryan an. „Ronni, bist du sicher, dass du das auch willst?“

     „Ja, Ryan“, flüsterte sie. „Ich bin mir sicher.“

     Sie kniete sich vor ihn, zog ihm Schuhe und Socken aus, wobei er nur dasaß, auf ihren glänzend roten Schopf blickte und dachte, dass er das Paradies gefunden hatte, mitten in einer endlosen, düsteren Nacht.

     Ronni stand auf, nahm seine Hand und ließ ihn ebenfalls aufstehen. Dann entkleidete sie ihn sorgfältig. Als er nackt war, küsste sie ihn und schmiegte sich dicht an seinen bloßen Körper. Ihr Schlafanzug fühlte sich warm und flauschig an, und sie selbst so weich und zart.

     „Leg dich hin“, flüsterte sie, und er gehorchte.

     Als sie über ihn gebeugt stand, küsste er sie und entfernte dabei das Gummiband aus ihrem Haar, sodass es wie ein roter Schleier um sie beide herum fiel. Ryan wollte sie zu sich herab ziehen, doch Ronni unterbrach den Kuss.

     „Warte.“ Sie verschwand im Badezimmer und kehrte gleich darauf mit einer Schachtel zurück, aus der sie ein kleines Folienpäckchen herausnahm.

     Ryan konnte nicht länger warten. Er ergriff Ronnis Arm und holte sie zu sich ins Bett. Sie küssend, streifte er ihr den Pyjama ab und warf ihn auf den Boden. Dann umschloss er eine ihrer herrlichen Brüste, senkte den Mund darauf und kostete sie dort wie schon zuvor. Danach ließ er die Hand weitergleiten, über ihren flachen Bauch hinab, und als er die warmen Härchen zwischen ihren Schenkeln erreichte, stöhnte sie leise auf.

     Er berührte sie, erkundete die köstliche seidige Feuchtigkeit, ihre heiße, verlangende Bereitschaft, die der seinen ebenbürtig war. Rasch streifte Ryan das Kondom über und sank dann schließlich auf Ronni herab, in sie hinein. Sie empfing ihn mit einem leisen, kehligen Laut, bog sich ihm entgegen, und Ryan verlor sich in ihr, bis es für ihn nichts mehr gab außer dem hungrigen Rhythmus ihrer Körper, Ronnis wilder, roter Mähne, ihren Händen, die ihn streichelten, umklammerten, ihn weiter und weiter trieben. Und als sie schneller atmete, dann aufschrie und er das Pulsieren ihres Höhepunkts spürte, ließ er los und verströmte sich lange völlig frei fallend …

     Wenige Minuten später stützte Ryan sich seitlich auf den Ellbogen, und sie tauschten liebevolle Zärtlichkeiten miteinander aus. Nach einer Weile setzte er sich auf, und Ronni kuschelte sich an ihn.

     „Du hast kaum etwas darüber gesagt, was du in den letzten Tagen durchgemacht hast“, meinte sie und schmunzelte dann. „Aber wir sind ja auch beschäftigt gewesen.“

     Er rieb die Nase an ihrem Haar. „Viel zu beschäftigt, um zu reden.“

     Ihr Ton wurde ernst. „Aber vielleicht sollten wir reden. Oder zumindest du solltest reden. Und ich hör dir zu. Manchmal hilft es, wenn einem jemand nur zuhört.“

     „Es ist ziemlich übel.“

     „Das ist schon in Ordnung.“

     Ryan wusste nicht recht, wie er beginnen sollte. „Wusstest du, dass Tanner der Bauherr des gesamten Neubauflügels ist?“

     „Ja.“

     „Das, was passiert ist, könnte ihn ruinieren. Ein Bauherr bezahlt seine Leute immer im Voraus. – Und weißt du, wie viele Arbeitsplätze durch dieses Projekt geschaffen wurden, und wie viele noch hätten geschaffen werden können? All diese Stellen, verloren. So viele Arbeitslose, und dann die Kranken, die nicht behandelt werden können, weil wir nicht die Möglichkeiten dazu haben …“

     „Ryan …“

     Er ließ sich nicht unterbrechen. „Und ich selbst bin auch … befleckt. Zwar nicht mehr der Goldjunge, das Spendengenie, das ich noch vor Kurzem gewesen bin. Aber ich habe meinen Job noch immer, und es ist unwahrscheinlich, dass ich ihn verlieren werde. Niemand würde mir die Schuld an diesem Schlamassel geben.“

     Ronni hob den Kopf und sah ihn streng an. „Weil es auch nicht deine Schuld ist.“

     „Ich hätte wissen müssen, was Axel vorhatte“, gestand er da.

     „Aber wie hättest du das denn ahnen können?“

     Ryan berichtete von seinem letzten Squash-Match mit Axel Pembroke. „Die kleine Ratte konnte der Versuchung einfach nicht widerstehen, mir unter die Nase zu reiben, was er getan hat. Ich hätte gewarnt sein müssen.“

     Ronni rutschte vom Bett und stellte sich vor ihn hin, die Hände in die Hüften gestemmt. „Wann ist dieses … verdächtige Verhalten von Pembroke aufgetreten?“

     „Am Samstag.“

     „Und wann ist er verschwunden?“

     „Nach dem, was die Presse schreibt, am Sonntag.“

     „Also.“ Sie breitete die Arme aus. „Ist Rückschau nicht eine gute Sache?“

     Finster blickte er sie an. „Du verteidigst mich. Ich brauche keine Verteidigung.“

     „Doch, allerdings. Du brauchst jemanden, der die Tatsachen objektiv betrachtet. Einen Außenstehenden, der nicht deine Neigung besitzt, dich für Dinge verantwortlich zu fühlen, für die du nichts kannst. Nicht dass ich diese Neigung nicht nachempfinden könnte. Als Ärztin geht es mir oft genauso. Weil es so vieles gibt, was wir alles über den menschlichen Körper nicht wissen, von dem wir aber glauben, wir sollten es wissen, wenn unsere Patienten Antworten von uns verlangen, zu denen wir einfach nicht imstande sind.“

     „Das ist nicht das Gleiche.“

     „Doch, ist es. Du hast dich in gutem Glauben an die Pembroke-Stiftung gewandt. Und so viel ich gehört habe, ist die Stiftung eine altehrwürdige Organisation, die sich bisher ihren Verpflichtungen niemals entzogen hat.“

     „Natürlich nicht.“

     „Siehst du, da haben wir’s doch. Niemand, wirklich niemand hätte aus Axel Pembrokes Worten darauf schließen können, was er ausgeheckt hatte. Und auch wenn du’s gewusst hättest, was hättest du in dem kurzen Zeitraum zwischen eurem Gespräch und seinem Verschwinden schon ausrichten können? Es war doch schon längst viel zu spät, um ihn an dem Diebstahl zu hindern.“

     Ronni lächelte triumphierend. „Vielleicht hättest du zur Polizei gehen können, aber ich kann mir kaum vorstellen, dass sie aufgrund einer solch schwammigen Aussage losgegangen wären und ihn verhaftet hätten.“ Sie zog die rotgoldenen Augenbrauen zusammen. „Aber da fällt mir ein: Du solltest es der Polizei erzählen. Es könnte ja immerhin sein, dass er etwas geäußert hat, was dir nichts sagt, ihnen aber eine mögliche Spur aufzeigt.“

     Ryan stieß den Atem aus. „Ich habe dort gestern schon angerufen.“

     „Und?“

     „Sie haben meine Aussage telefonisch aufgenommen und sich bedankt.“

     „Na, also. Du hast getan, was in deiner Macht stand.“

     „Außer ihn aufzuspüren und ihm mit meinen bloßen Händen den Hals umzudrehen.“

     Ronni tat so, als würde sie darüber nachdenken, schnaubte dann jedoch. „Nicht dein Stil. Und außerdem hast du keine Zeit für einen Rachefeldzug.“

     „Das wäre keine Rache, sondern Gerechtigkeit.“

     „Nenn es, wie du willst, jedenfalls ist es ein Luxus, den du dir nicht leisten kannst. Du hast zu viel damit zu tun, eine neue Finanzierung für den Neubau aufzutreiben.“

     Ryan konnte einen halblauten Fluch nicht unterdrücken. In dem Moment erschien ihm dies als eine schier unmögliche Aufgabe.

     Sanft drückte Ronni ihn in die Kissen zurück, krabbelte ebenfalls unter die Decke und schmiegte sich an ihn. Mit einem Kuss auf sein Ohr flüsterte sie: „Und jetzt solltest du zusehen, dass du etwas Schlaf kriegst. – Soll ich den Wecker stellen?“

     „Ja, stell ihn auf vier Uhr.“

     Eng umschlungen schliefen sie schließlich ein, wurden jedoch bereits um halb vier durch Ronnis Pieper geweckt.

     Ronni eilte ans Telefon und kehrte gleich darauf zurück. „Sorry“, meinte sie bedauernd. „Ein dreijähriges Mädchen mit hohem Fieber. Die Eltern sind außer sich. Ich treffe mich mit ihnen im Kinderkrankenhaus.“

     Hastig warf sie sich ein paar Kleidungsstücke über, während auch Ryan sich wieder anzog.

     Ronni ließ ihn zur Hintertür hinaus und küsste ihn zum Abschied. „Wenn du mich morgen Abend brauchst, ich bin hier.“

     „Es sei denn, es gibt wieder irgendeinen Notfall bei deinen Patienten“, neckte er.

     Sie krauste die von Sommersprossen übersäte Nase. „Tja, so ist das eben, wenn man sich mit einer Ärztin einlässt.“

     „Solange du diese Ärztin bist, lasse ich mir das zur Not gefallen.“

     „Gut. Und jetzt …“

     „Ich weiß, du musst gehen. Und ich auch.“

 

Als Ryan wieder in seinem eigenen Schlafzimmer war, gelang es ihm tatsächlich, noch ein wenig zu schlafen. Er erwachte um sieben, duschte, zog sich etwas anderes an, griff nach seinem Aktenkoffer und ging hinunter in die Küche.

     Lily stand am Herd. „Ah, da bist du ja. Die Rühreier sind sofort fertig.“

     Ryan stellte den Koffer auf einen Stuhl. „Ich will nur Kaffee. Ich hole mir später was im Krankenhaus.“

     „Bist du sicher? Du musst was essen.“

     „Werde ich auch. Nachher, bestimmt.“

     Sie schenkte ihm einen Becher Kaffee ein.

     „Danke. Was ist mit den Kindern?“

     „Stehen gerade auf.“ Lily warf ihm einen schrägen Blick zu. „Ach übrigens, ich habe gestern Abend vergessen, dir zu sagen, dass Dr. Powers da gewesen ist.“

     Hat sie das wirklich vergessen? Ryan hatte da so seine Zweifel.

     „Sie war wegen der Pembroke-Sache … besorgt“, fuhr Lily fort.

     „Ich weiß. Ich habe schon mit ihr gesprochen.“

     Stirnrunzelnd fragte sie: „Du hast nach Mitternacht noch mit ihr gesprochen?“

     Er setzte den Becher ab. „Ja.“

     „Ah so“, sagte sie. „Verstehe.“

     Ryan zog sich der Magen zusammen. Er hatte heute wieder einen höllischen Tag voller Notfall-Besprechungen vor sich. Und seine Schwiegermutter, seine Hauptstütze zu Hause, sah ihn an, als habe er Ehebruch begangen.

     Und in ihren Augen hatte er das vielleicht auch getan.

     „Ronni ist mir sehr wichtig geworden, Lily“, erklärte er geradeheraus.

     Ihr Blick war böse. „Meinst du wirklich, du hast im Moment Zeit für solchen Unsinn?“

     Diese Bemerkung traf Ryan wie ein Schlag ins Gesicht.

     „Das war ziemlich unangebracht“, erwiderte er ruhig.

     Lily wandte sich ab, schaltete die Gasflamme unter der Eierpfanne aus und murmelte: „Ich … du hast recht. Das geht mich nichts an.“

     Nein, dachte er, so ist es nicht. Lily war ein ausgesprochen wichtiger Faktor in Ryans Leben und dem seiner Kinder. Aber wenn Ronni und ich zusammen bleiben, und Lily sich weigert, sie zu akzeptieren, dann wird sich hier einiges verändern müssen.

     Lily hatte sich wieder gefasst und lächelte tapfer. „Lass uns dieses Thema erst einmal nicht weiter verfolgen. Du hast ohnehin schon genug um die Ohren. Und keiner von uns weiß, was die Zukunft bringen wird.“

     In diesem Augenblick stürmte Griff herein, sein Hemd falsch herum gedreht. „Omi! Daddy! Ich hab mich ganz alleine angezogen! Und ich habe Hunger!“

     Ryan nahm seinen Aktenkoffer. „Ich muss los.“ Er gab seinem Sohn einen Kuss auf den blonden Haarschopf. „Sei brav zu Omi.“

     „Daddy, ich bin doch immer brav! Viel Spaß bei der Arbeit!“

     Viel Spaß, na ja …

     „Lieb von dir, danke“, sagte er, und an Lily gewandt: „Ich werde heute Abend wahrscheinlich nicht zum Essen da sein.“

     „In Ordnung.“

 

Der Tag wurde nicht ganz so schlimm wie die beiden vorhergehenden. Der erste Schock war vorbei, und in den Gremien wurde hin und her überlegt, wie man Gemeindegelder, die ursprünglich für die spätere Innenausstattung bestimmt gewesen waren, umleiten konnte, und welche Regierungssubventionen möglicherweise noch angezapft werden könnten. Dennoch, alle Anstrengungen würden erst nach einer Weile Früchte tragen, und der Bau konnte erst dann weitergehen, wenn Tanner Geld in der Hand hatte.

     Um ein Uhr traf Ryan sich mit den Damen vom Freundeskreis des Memorial, die sich aufgrund der jüngsten Entwicklungen äußerst beunruhigt zeigten und vorschlugen, ob man Ryans Rede auf dem Herzensball nicht lieber einfach streichen sollte.

     Ihm persönlich wäre nichts lieber gewesen als das, aber es war schließlich nicht möglich, so zu tun, als sei überhaupt nichts geschehen. Daher erklärte er, dass er es vorziehen würde, im Programm zu bleiben.

     Murleen Anniston, die Frau eines prominenten Kardiologen und diesjährige Vorsitzende des Ball-Komitees, warf die Hände empor und rief: „Aber wir haben uns so viel Mühe gegeben, um den Ball zu einem besonderen Fest zu machen! Wir freuen uns alle auf einen schönen Abend, und wir möchten ihn nicht noch mehr durch ungute Stimmung überschatten lassen, als es wegen dieser Katastrophe ohnehin schon der Fall ist.“

     „Das verstehe ich völlig, Mrs. Anniston. Und ich verspreche Ihnen, ich werde weder Düsterkeit noch Pessimismus verbreiten.“ Hoffentlich kann ich dieses Versprechen auch halten, dachte er im Stillen.

     „Aber was bleibt Ihnen anderes übrig?“, meinte sie.

     Ryan blieb ruhig. „Ich glaube, es ist wichtig, dass wir der Situation ins Auge blicken und nicht so tun, als sei alles in bester Ordnung, obwohl jeder weiß, dass das nicht stimmt.“

     Mrs. Annistons üppiger Busen wogte erregt auf und ab, doch da schaltete sich Maggie MacAllister, die Frau des Personalchefs des Memorial, ein.

     „Murleen, ich finde, Mr. Malone hat recht. Wir können wegen dieser Sache nicht einfach den Kopf in den Sand stecken. Unser Verwaltungsdirektor muss im Programm bleiben, so wie es von Anfang an geplant war. Er ist ein hervorragender Redner, wie wir alle wissen, und ich bin sicher, er wird genau die richtigen Worte finden, um allen Gästen ihre eventuelle Befangenheit zu nehmen.“

     Mrs. Anniston legte die Hand auf den sich hebenden Busen. „Nun ja, mich macht das sehr nervös, aber wenn du wirklich denkst, dass es keinen anderen Weg gibt …“

     „Genau das denke ich“, sagte Maggie.

     Auch die übrigen Damen waren mit ihr einer Meinung, und so blieb es dabei, Ryan würde seine Rede halten.

 

Um sieben Uhr abends schließlich, als im Büro alles still war, setzte Ryan sich an den Schreibtisch, um eine neue Rede zu schreiben.

     Gegen zehn Uhr hatte er unzählige Konzepte entworfen und wieder zerknüllt. Es wollte ihm partout nicht gelingen, den richtigen Ansatzpunkt zu finden, und um halb elf gab er auf, schaltete den Computer ab, machte die Lichter aus und fuhr nach Hause. Dort tauschte er den Geschäftsanzug gegen legere Freizeitkleidung und ging über den Hinterhof auf das Licht zu, das vom Gästehaus herüber schien.

     Ryan klopfte leise an die Glasscheibe, und Ronni kam sofort an die Tür. Sie trug grüne Leggings, dicke Socken und einen weiten roten Pullover. Ryan fand, sie sah aus wie eine der Elfen des Weihnachtsmannes – eine ausgesprochen sexy Elfe.

     Sie fielen einander in die Arme, und sich den ganzen Weg zum Bett küssend, waren sie im Nu entkleidet. Von unstillbarem Verlangen getrieben, suchten und fanden sich fieberhaft ihre Lippen, ihre Körper, sodass sich ihre Lust in einem Rausch der Leidenschaft steigerte, bis sie sich in einem gemeinsamen, ekstatischen Höhepunkt auflöste. Ronnis seidige Haare waren wie ein Fächer um sie herum ausgebreitet, und Ryan spürte den Druck ihrer vollen Brüste an seinem Oberkörper, ihre Haut glatt wie Satin, während sich ihrer beider Atem allmählich beruhigte.

     Plötzlich jedoch traf es Ryan wie ein Donnerschlag. Ronni schaute auf und erstarrte. Ihr musste die Erkenntnis im selben Moment gekommen sein.

     „Oh nein …“, sagte sie. „Wir haben vergessen …“

     „Ich weiß.“

     Ryan fühlte sich wie ein Idiot, dass er so unachtsam gewesen war. „Es tut mir leid. Ich hätte …“

     Ronni legte ihm den Finger auf die Lippen. „Wir haben beide nicht aufgepasst.“

     Er griff nach ihrer Hand und küsste ihre Fingerspitzen. „Wie problematisch ist es?“

     Zögernd gab sie zu: „Es wäre genau die Zeit …“

     Ryan schloss die Augen und stieß eine Verwünschung aus.

     „Hör mal, lass uns nicht gleich das Schlimmste annehmen, okay?“ Sie fasste ihn bei der Schulter. „Und ich werde mich demnächst um eine dauerhaftere Lösung bemühen, damit das nicht noch mal passiert.“

     „Gute Idee.“ Er legte die Arme um sie, streichelte ihr übers Haar und den Rücken und wechselte entschlossen das Thema. „Wie ist es denn mit der Dreijährigen letzte Nacht gelaufen?“

     Ronni lachte. „Es stellte sich heraus, dass der Vater das Thermometer falsch abgelesen hatte.“

     „Also eine Fahrt zum Krankenhaus mitten in der Nacht für gar nichts“, brummte Ryan.

     „So was gehört nun mal dazu. Und wenn man so viele schwer kranke Kinder gesehen hat wie ich, dann ist man eher froh um jeden Fehlalarm.“

     Er zog die Bettdecke höher und wünschte, er könnte bei Ronni bleiben und hätte nicht noch diese entsetzliche Rede vor sich. Ronni, die seine Geistesabwesenheit bemerkte, sah ihn forschend an.

     „Du denkst immer noch daran, dass wir das Kondom vergessen haben.“

     „Nein, das ist es nicht.“

     Sie setzte sich auf. „Also gut, dann sag, was los ist. Ich höre.“

     Ryan berichtete von seinem Treffen mit den Damen vom Ball-Komitee. „Und jetzt muss ich eine neue Rede schreiben, aber ich weiß einfach nicht, wie ich anfangen soll.“

     „Willst du einen Rat von mir?“

     Er setzte sich ebenfalls aufrecht. „Wenn du einen hast, immer raus damit.“

     „Du musst sie dazu bringen, dass sie an die Sache glauben. Sie daran erinnern, wie weit ihr schon gekommen seid. Du musst ihnen das Projekt nahe bringen, beispielsweise mit einem Modell des fertigen Neubaus, oder wenn das nicht geht, dann mit ein paar maßstabgetreuen Zeichnungen, vorzugsweise in Farbe. Kannst du dir solche besorgen?“

     „Ich denke schon“, meinte er widerstrebend.

     „Was du jetzt brauchst, ist eine gute Show – Dramatik. Du musst sie an den Traum erinnern, an das, was hätte sein sollen. Und an das, was schon halb verwirklicht worden ist, und was wir noch schaffen können, wenn alle, jeder Einzelne in der Stadt, daran mitarbeitet, das Projekt wieder in Gang zu bringen.“

     „Und das soll ich alles bis morgen Abend hinkriegen?“

     „Allerdings. Und ich weiß, dass du’s kannst.“

 

Wenig später schickte Ronni Ryan nach Hause, wo er in seinem Arbeitszimmer den Entwurf für seine Rede niederschrieb.

     Um sieben Uhr morgens rief er Murleen Anniston an, um ihr mitzuteilen, dass er zwei Leinwände benötigen würde, jeweils eine rechts und links vom Rednerpult, ebenso wie zwei Diaprojektoren. Danach rief er Tanner an, der versprach, ihm die gewünschten Dias zu beschaffen und auch als Vorführer zu fungieren.

     „Du brauchst bestimmt Hilfe beim Aufbauen“, meinte Tanner.

     „Auf jeden Fall. Können wir uns um eins im Veranstaltungssaal treffen?“

     „Ich werde da sein.“

     Ryan tätigte noch zwei weitere Anrufe, einen an einen ihm persönlich bekannten Reporter bei der Gazette, und den anderen an den Moderator einer Talkshow im Lokalfernsehen.

     Gleich nach dem Mittagessen fuhr Ryan zum Honeygrove Golf und Country-Club, wo er und sein Bruder die Projektoren aufstellten. Mrs. Anniston hatte die Leinwände bereits aufstellen lassen, verhüllt mit roten Samtvorhängen, die man bei Bedarf zur Seite ziehen konnte. Und um drei Uhr, nach mehreren Probe-Durchgängen im Hinblick auf die Beleuchtung und um eine reibungslose Vorführung der Dias zu gewährleisten, war alles vorbereitet.

     Ryan kehrte nach Hause zurück, schloss sich in sein Arbeitszimmer ein und übte dort seine neue Rede laut vor einem imaginären Publikum.

     Als er schließlich um fünf herauskam, saß Drew am Fuß der Treppe.

     „Dad? Mit wem hast du da drin geredet?“

     Ryan blickte zu ihm hinunter. „Ich habe meine Rede für heute Abend geprobt.“

     „Ist irgendetwas mit deiner Arbeit nicht in Ordnung? Großmutter sagt im Moment ständig, dass du viel um die Ohren hast. Das sagt sie zwar immer, aber jetzt noch viel öfter als sonst. Und du bist fast gar nicht mehr zu Hause. Außerdem, Dad, wir haben auch Sachunterricht in der Schule, weißt du? Meine ganze Klasse hat in der Zeitung gelesen, dass Mr. Pembroke mit dem Geld weggelaufen ist, das Onkel Tanner hätte kriegen sollen, um das Krankenhaus weiter zu bauen. Ich meine, was ich eigentlich sagen will, Dad, was ist eigentlich los?“

     Nachdenklich sah Ryan ihn an. „Rück mal rüber.“

     Drew machte Platz, und sein Vater setzte sich neben ihn und erklärte ihm in einer etwas vereinfachten Version die Probleme, die ihm in den vergangenen Tagen so viel zu schaffen gemacht hatten.

     Nachdem er fertig war, sagte Drew: „Dad, ich möchte, dass du weißt, dass ich dir helfen möchte, wie ich nur kann.“

     „Ich danke dir, mein Sohn.“

     „Und dieser Ball, zu dem du gehst, nimmst du da eine Frau mit?“

     „Ja, ich habe Ronni gefragt, und sie hat gesagt, dass sie mitkommt.“

     „Ronni? Echt?“ Der erfreute Ausdruck in der Miene seines Sohnes tat Ryan gut. „Das ist toll. Ronni ist cool.“

     „Das finde ich auch.“

     „Wenn du sie heiraten willst, würde ich das okay finden.“

     „Ich werde daran denken.“

     „Ich meine, irgendwann musst du ja wahrscheinlich wieder irgendjemanden heiraten, oder?“

     „Ich muss nicht.“

     „Aber … ich finde, du solltest.“

     „Tatsächlich?“

     „Manchmal denke ich … du bist ein bisschen einsam, Dad. So als könntest du eine gute Frau gebrauchen. Und ich finde, du solltest die Richtige aussuchen. Eine, die mich und Lizzy und Griff mag. Und Großmutter auch. Ronni mag uns alle, auch wenn sie bei Großmutter ein bisschen nervös ist. Ronni wäre gut. Das glaube ich wirklich.“

     „Ich werde daran denken.“

     „Das hast du schon gesagt, Dad.“

     „Oh. Ach ja, stimmt.“

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