Darf ich ihm gehören? - 6. Kapitel

6. KAPITEL

An dem hohen roten Lacktor, das den Eingang zum Ballsaal schmückte, wurden Ronni und Ryan am Abend von Murleen Anniston begrüßt, angetan mit einem eng anliegenden, sehr chinesisch wirkenden Kleid aus goldbestickter roter Seide. Zwar schmeichelte das Kleid einer Frau von Mrs. Annistons großzügigen Ausmaßen nicht unbedingt, doch niemand hätte behaupten können, dass die Vorsitzende des Ball-Komitees sich nicht alle Mühe gegeben hatte, das fernöstliche Motiv in gebührender Form darzustellen. Sogar ihre Haartracht entsprach der Stimmung. Tiefschwarz und etwa dreißig Zentimeter auf ihrem Kopf aufgetürmt, zierten sie zwei gekreuzte, goldfarbene Stäbchen, einige lange Seidenbänder sowie eine ganz erstaunliche Anzahl winziger blauer Vögelchen.

     Ihr Ehemann, Dr. Clark Anniston, der einen Smoking mit goldfarbenem Kummerbund trug, stand an ihrer Seite.

     „Willkommen, willkommen.“ Mrs. Anniston lächelte und verbeugte sich in vermeintlich echt fernöstlicher Manier.

     Ryan und Ronni lächelten ebenfalls grüßend, traten durch das Tor und überquerten die kleine gebogene, höchst orientalisch aussehende Brücke dahinter.

     Im Ballsaal selbst waren die Tische mit roten Decken und glänzend schwarzem Porzellan gedeckt. Die Stühle waren mit Goldbrokat bezogen. Und der Tischschmuck, aufgebaut auf kleinen schwarzen Lackständern, bestand aus geöffneten Fächern und chinesischen Vasen, die mit kunstvoll gedrehten Stäbchen und Paradiesvögeln gefüllt waren.

     Das Zwölf-Mann-Orchester in der Ecke spielte irgendetwas Atonales, das Ronni an über glatte Steine rieselndes Wasser erinnerte. Oder vielleicht dachte sie an Wasser, weil an strategischen Stellen entlang der Wände sechs große, tragbare Felsspringbrunnen vor sich hinsprudelten, dazwischen Pappmaché-Statuen von finster dreinblickenden Tempelhunden, die geschickt so bemalt waren, dass sie aussahen, als seien sie aus Jade geschnitzt.

     Ronni und Ryan mischten sich unter die Gäste, schlenderten zwischen den Tischen hindurch und plauderten mit Leuten, die sie jeden Tag in Kitteln und OP-Anzügen sahen, und die sich alle für den Herzensball herausgeputzt hatten.

     Nach einer Weile erspähte Ronni Kelly Hall an dem überdimensionalen Messing-Gong neben dem erhöhten Podium in der Mitte des Raumes. Kelly winkte sie herbei.

     „Das ist ja schon das zweite Mal, dass ich dich mit Ryan Malone zusammen erwische“, scherzte Kelly. „Läuft da irgendetwas, von dem ich wissen sollte?“

     „Oh, das hoffe ich.“

     „Du müsstest mal dein Gesicht sehen.“

     „Ziemlich eindeutig, oder?“

     „Niemand sieht so glücklich aus, es sei denn, er ist verliebt.“

     „Na ja, es ist alles noch … sehr frisch.“

     „Frisch oder nicht“, meinte Kelly gedämpft. „Ich hoffe, ihr benutzt die Muster, die ich dir gegeben habe.“

     „Ja, klar.“ Ronni hatte Gewissensbisse wegen der gestrigen Nacht, aber geschehen war nun mal geschehen. Nur für Kellys Ohren bestimmt, fuhr sie fort: „Ehrlich gesagt, sie sind schon in Gebrauch. Und jetzt, wo du es erwähnst, ich bräuchte einen Termin.“

     „Die Pille?“

     Ronni nickte.

     „Ruf am Montag in der Praxis an. Wir kriegen dich bestimmt nächste Woche noch mit rein.“

     „Das wäre toll.“

     „Ich wünsche euch beiden das Allerbeste.“

     „Danke.“ Ihr atemloser Tonfall beschämte Ronni fast ein wenig.

     Kelly beugte sich noch dichter zu ihr. „Ich hab von dem Problemen mit dem Neubau gehört.“ Ronnis Miene sprach Bände, und teilnahmsvoll meinte Kelly: „Ziemlich übel, hm?“

     „Furchtbar. Aber er beißt sich durch. Er ist sehr entschlossen.“

     „Es heißt, er hält heute Abend eine Rede?“ Kelly hob die goldblonden Augenbrauen.

     Ronni straffte die Schultern und setzte ein forsches Lächeln auf. „Ja. Zeit, die Truppen zu mobilisieren.“

     Kelly lachte. „Du glaubst an ihn. Das ist ein gutes Zeichen.“

     Ronni sah Ryan in einiger Entfernung bei einem Mann stehen, der ihm recht ähnlich sah, nur etwas breiter. „Oh, schau mal, das muss sein Bruder sein. Den kenne ich noch gar nicht.“

     „Na, dann wirst du ihn heute Abend kennen lernen.“ Ihre Stimme klang leicht missbilligend, doch dann wechselte Kelly das Thema und erkundigte sich: „Und wie geht’s mit deiner Wohnung voran?“

     „Prima. Sie sind gerade bei den Tapeten und den Fliesen.“

     „Wann kannst du einziehen?“

     „Zum ersten März.“ Jedenfalls war es bis vor zwei Nächten so geplant gewesen. Ronni, die mit ihren Gedanken unwillkürlich abschweifte, hörte nicht, was Kelly sagte.

     „Was war das?“

     Kelly grinste. „Du bist ja Lichtjahre weit weg.“ Schmunzelnd setzte sie hinzu: „Jemand, den du sehr magst, versucht, dich auf sich aufmerksam zu machen.“

     Ronni schaute zu Ryan und Tanner hinüber, und als sie Ryans Blick begegnete, löste dies ein so herrliches Gefühl in ihr aus, dass ihr bewusst wurde, was sie sich in all den Jahren hatte entgehen lassen.

     „Kommst du mit?“, fragte sie Kelly.

     „Nein, mein Begleiter muss hier irgendwo herumschwirren. Ich gehe ihn lieber mal suchen. Gleich wird bestimmt das Chow Mein aufgetragen. Durch sorgfältige Beobachtung habe ich nämlich herausgefunden, dass die schwarzen Lackständer eigentlich Drehtabletts sind. Sieht mir nach chinesischem Potluck aus. Glaubst du, es gibt auch Glückskekse?“

     „Tja, mal sehen.“ Damit verabschiedete sich Ronni und bahnte sich dann mühsam einen Weg durch die Menschenmenge.

     Sobald sie Ryan erreicht hatte, legte dieser den Arm um sie – ein wunderbares Gefühl.

     „Das ist Ronni“, stellte er sie vor.

     Tanner lächelte ihr charmant zu. „Ich habe schon viel von Ihnen gehört.“

     „Nur Gutes, hoffentlich.“

     „Selbstverständlich.“

     Nachdem Ronni auch Tanners Begleitung vorgestellt worden war, führte Ryan sie alle an ihren Tisch, den sie sich noch mit zwei weiteren Paaren teilten. Eine große Kanne mit dampfend heißem Tee stand auf dem Tisch bereit, ebenso wie einige Flaschen Wein.

     Tanner entkorkte eine davon und schenkte ein.

     Kurze Zeit später ertönte der Gong, und es folgte Murleen Annistons überschwängliche Begrüßungsansprache, die schließlich durch einen weiteren Gongschlag beendet wurde.

     Das Orchester begann wieder zu spielen. Eine lange Reihe von Kellnern, in schwarze Seidenpyjamas und schwarze Pantoffeln gekleidet, erschien an allen Türen, mit großen Tabletts in den Händen. Jeder Kellner blieb an einem der Tische stehen, faltete seinen Tablettständer auseinander, setzte das Tablett darauf ab und begann, die vielen kleinen Schüsseln voller duftender chinesischer Köstlichkeiten auf den schwarzen Drehtabletts zu verteilen.

     „Weißer Reis, Frühlingsrolle, Ei-Rolle, Szechuan-Muscheln, Hühnchen in Papier, Shrimps in Hummersauce, scharf gepfeffertes Schweinefleisch …“, zählten die Kellner jeweils die Namen der Gerichte auf, während sie sie auf den Tisch stellten.

     Ryan lehnte sich zu Ronni herüber. „Ich hoffe, du magst chinesisches Essen.“ Sein warmer Atem an ihrem Ohr ließ ihr einen erregenden Schauer über den Rücken laufen.

     „Ich liebe es.“ Sie nahm ihre schwarzen Lack-Stäbchen auf und begann, mit großem Appetit zu essen.

     Eine Stunde lang etwa dauerte das Festessen. Zum Schluss erschienen die Kellner erneut, um Teller und Schüsseln zu entfernen und das Dessert aufzutragen, eine Orangeneis-Kreation, dekoriert mit rotgefärbten Kokos-Streuseln und je einem Glückskeks.

     Alle zerbrachen begierig ihre Glückskekse, um zu erfahren, was die Zukunft für sie bereithielt, doch bevor Ryan die Botschaft in dem seinen vorlesen konnte, hatte Mrs. Anniston sich bereits erhoben und schlug wiederum den Gong an. Das lebhafte Stimmengewirr im Saal machte erwartungsvoller Stille Platz.

     Mrs. Anniston bestieg das Podium, die Kronleuchter wurden abgedämpft, und das Rednerpult wurde von einem Scheinwerfer angestrahlt. Zunächst erklärte Mrs. Anniston, wie viel Gutes durch den Erlös des Herzensballs getan werden konnte, ehe sie zwei weitere Redner vorstellte, von denen der eine über die neue krankengymnastische Ausrüstung und der andere über das Freiwilligenprogramm des Memorial berichtete.

     Als Murleen Anniston erneut ans Rednerpult trat, drückte Ryan Ronnis Hand.

     „Jetzt bin ich dran. Wünsch mir Glück.“

     „Das tue ich, auch wenn du das gar nicht nötig hast. Du wirst sie alle begeistern.“

     Tanner schob seinen Stuhl zurück. „Das war mein Stichwort“, flüsterte er. „Ich bin nämlich das technische Personal.“

     Oben auf dem Podium holte Mrs. Anniston tief Luft. „Und nun kommen wir zu einem sehr wichtigen Teil unseres Programms. Keiner von uns kann sich den Geschehnissen entziehen, die sich in der vergangenen Woche bezüglich des Neubau-Flügels an unserem Krankenhaus ereignet haben.“

     Vier Damen in Abendkleidern kamen die Stufen zum Podium empor. Zwei gingen nach links, zwei nach rechts, dann zogen sie langsam die roten Samtvorhänge auf und befestigten sie an den Seiten, sodass dahinter zwei schneeweiße Leinwände sichtbar wurden.

     „Wir hoffen sehr“, fuhr Mrs. Anniston fort, „dass wir im nächsten Jahr zu unserem zwanzigsten Herzensball unsere Bemühungen auf die Kinder von Honeygrove ausrichten können. Ich spreche von der Pädiatrie, meine Damen und Herren, für die ein großer Teil des neuen Flügels bestimmt ist. Die jüngsten Vorfälle allerdings haben unsere Pläne gefährdet. Und unser geschäftsführender Direktor Ryan Malone ist heute Abend hier, um uns davon zu erzählen, was bisher getan worden ist, und was wir noch tun müssen, um dieses wichtige Projekt wieder auf die richtige Bahn zu bringen. Meine Damen und Herren, Ryan Malone …“

     Höfliches Klatschen ertönte. Alle Lichter gingen aus, und langsam, ganz allmählich nahmen zwei Bilder auf den weißen Leinwänden Gestalt an. Auf der einen Seite erschien ein Foto des Memorial, wie es gegenwärtig aussah, einschließlich des halbfertigen Rohbaus.

     Die zweite Leinwand zeigte eine künstlerische Darstellung des Krankenhauses, wie es in sieben Monaten aussehen sollte, wenn der neue Flügel sich nahtlos an das bereits bestehende Gebäude anschloss. Auf dem Gemälde sah man einen neuen Haupteingang mit einem überdachten Vorbau. Der gesamte Komplex war neu gestrichen in einem lachsfarben abgesetzten Taubengrau. Ein herrlicher Dachgarten bedeckte den Neubau, dessen Grünpflanzen herabwucherten, um die Betonwände abzumildern, sodass das große, massive Gebäude lebendig und einladend wirkte.

     Ryan, der ans Rednerpult getreten war, ließ den Blick über die Menge schweifen und wartete, bis der bescheidene Applaus verebbt war. Zwei Blitzlichter durchzuckten den Raum, was bedeutete, dass auch Zeitungsreporter anwesend waren.

     Ruhig begann Ryan zu sprechen. Seine volle, sonore Stimme erfüllte jeden Winkel des weiten Saales.

     „Vor vierunddreißig Jahren, an einem Winterabend ganz ähnlich dem heutigen, hatten ein Mann und eine Frau es nach einem Besuch bei einer kranken Verwandten eilig, zurück zu ihren Kindern nach Hause zu kommen. Ihr Wagen traf auf eine vereiste Stelle, geriet ins Schleudern und raste in eine Betonmauer. Beide, der Mann und die Frau, starben innerhalb weniger Minuten nach dem Aufprall. Sie sind niemals nach Hause gekommen zu ihren beiden kleinen Söhnen, die auf sie warteten.“ Er räusperte sich. „Bis zu dem Tod ihrer Eltern hatten die beiden Jungen alles, ein liebevolles Zuhause, zwei Menschen, die es als ihre Aufgabe sahen, ihnen den Weg ins Leben zu ebnen. Aber danach veränderte sich die Welt für sie. Niemand aus der Verwandtschaft wollte sie bei sich aufnehmen, sie wurden von niemand adoptiert. Sie wuchsen in staatlichen Heimen und Pflegefamilien auf. Alles sprach gegen sie, wie viele von Ihnen vielleicht sagen würden. – Und dennoch, heute besitzt einer von ihnen seine eigene Baufirma. Und der andere ist der geschäftsführende Direktor Ihres Krankenhauses, des Honeygrove Memorial.“

     Ryan machte eine Pause, um das Gesagte seine Wirkung tun zu lassen.

     Dann fuhr er fort: „Diese beiden, mein Bruder und ich, sind der lebende Beweis, dass niemand – wirklich niemand – vorhersagen kann, was die Zukunft bringt. Die beiden Jungen sind manchmal ins Stolpern geraten und auch gelegentlich gescheitert. Und oft haben sie sich sehr alleine gefühlt. Aber sie waren nicht allein. Helfende Hände wurden ihnen entgegen gestreckt. Der Staat hat für sie gesorgt. Und beide bekamen ein Studien-Stipendium von der Pembroke-Stiftung, von genau der Organisation, die jetzt in solch großen Schwierigkeiten steckt.“

     Erneut legte er eine Pause ein und blickte in die Menge, so, als würde er jeden persönlich ansehen.

     „Was ich Ihnen damit vermitteln möchte, ist, dass wir, auch wenn die Sachlage gegen uns spricht, es noch immer schaffen können, unseren Jubiläumsflügel zu bauen. Hinter mir sehen Sie, wie weit der Bau bereits gediehen ist.“ Er deutete auf das rechte Bild. „Die Hälfte haben wir schon geschafft, meine Damen und Herren. Momentan ist die Bautätigkeit zum Stillstand gekommen, und wir müssen sie wieder Gang bringen.“ Ryan lächelte. „Sind Sie da, meine Damen und Herren von der Presse? Im Augenblick berichten Sie gerade über einen Skandal. Aber wir möchten mehr von Ihnen. Wir wollen einen Ausblick in die Zukunft, auf die vierzig Millionen Dollar, die wir an Spenden benötigen. Zehn Millionen aus der Gemeindekasse, die ursprünglich für später bestimmt waren, werden uns voraussichtlich in den kommenden Wochen zur Verfügung gestellt. Aber wir brauchen mehr, viel mehr. Was wir brauchen, ist eine groß angelegte Spendenaktion, und ich hoffe, dass ich dabei auf Ihre Mithilfe zählen kann.“

     Schwacher Beifall regte sich hier und da, und Ryan sagte: „Gut. Außerdem werde ich alles in meiner Macht Stehende tun, um noch weitere Finanzierungsmöglichkeiten aus staatlichen und Bundesfördermitteln aufzutreiben. Und die Mitarbeiter der Pembroke-Stiftung arbeiten Tag und Nacht daran, uns wenigstens einen Teil der zugesagten Gelder zukommen zu lassen.“

     Er wies auf die Leinwand zu seiner Linken. „Das ist es, was wir bis zum zwanzigjährigen Jubiläum des Honeygrove Memorial im September erreichen können. Unsere Stadt braucht diesen Neubau. Dies hier ist das neue Jahrtausend, und der für die nächsten zehn Jahre erwartete Bevölkerungszuwachs in unserem Einzugsgebiet ist erstaunlich. Wir benötigen mehr Plätze für die Kinderkrankenpflege, mehr medizinische und chirurgische Betten, für die unser neuer Anbau gedacht ist. Mehr und bessere medizinische Versorgung für die Menschen in Honeygrove. Mit Ihrer Hilfe und der Hilfe der gesamten Einwohnerschaft, kann uns dies gelingen. Wir können es schaffen.“

     „Das Schlimmste mag eingetreten sein. Wir sind verwaist, wenn man so will. Wir haben verloren, was wir sicher geglaubt hatten, und das hat uns schwer getroffen. Aber wir sind nicht geschlagen. Die Zukunft ist nicht besiegelt. Und hier, heute Abend, das weiß ich, sind viele derjenigen, die uns in dieser schwierigen Zeit beistehen werden. Meine Tür im Memorial steht Ihnen jederzeit offen. Kommen Sie, besuchen Sie mich, oder rufen Sie mich an. Ich möchte Ihre Ideen hören. Und, ja, ich möchte, dass Sie und alle, die Sie kennen, Ihre Scheckbücher herausholen. Einmal mehr …“

     Gelächter erhob sich.

     „Ich sehe, Sie verstehen, was ich meine. Ich werde tun, was ich nur irgend kann, um uns trotz dieser harten Zeit zum Erfolg zu führen. Aber ich kann es nicht allein.“ Ryan senkte den Blick auf das Pult, als müsste er sich noch einmal sammeln. Dann hob er den dunklen Kopf, um sein Publikum noch einmal eindringlich anzusehen.

     „Meine Damen und Herren, ich weiß, es wird nicht leicht sein, aber wir werden es schaffen. Eigentlich bin ich jemand, der nicht an die Botschaft von Glückskeksen glaubt. Heute Abend jedoch hieß meine: ‚Einem anvertrauten Gut die Treue zu halten, bringt seinen eigenen Lohn mit sich.‘ Und daran glaube ich. Ich werde Ihnen ein Versprechen geben. Und Sie werden mir dabei helfen, es auch zu halten, genau wie diese Stadt meinem Bruder und mir geholfen hat, aufzuwachsen und ein erfolgreiches Leben aufzubauen, nachdem wir unsere Eltern verloren hatten.“

     „Wir werden erfolgreich sein.“

     „Und im September dieses Jahres wird der Freundeskreis des Memorial eine ebenso phantastische Party geben wie diese, eine Party zur Feier der Fertigstellung des Jubiläumsanbaus des Honeygrove Memorial. – Wir können es schaffen. Und ich verspreche Ihnen, das werden wir auch.“

     Ryan schwieg.

     Eine ungeheure, fast hörbare Stille trat ein.

     Und dann folgte ein langsam immer weiter anschwellender, tosender Applaus mit ohrenbetäubendem Beifallklatschen.

 

In der Sonntagsausgabe der Gazette am nächsten Tag erschien die abgedruckte Rede Ryans, einschließlich mehrerer schöner, großer Farbfotos sowie einer fett gedruckten Notiz, wohin man Spenden schicken konnte. Am Montag trat Ryan in den Frühabend-Nachrichten auf und hatte im Verlauf der Woche noch zwei weitere Gastauftritte im Lokalradio. Hinzu kamen Einladungen zu den verschiedenen Sportclubs, den Rittern des Columbus, dem Freundeskreis der Universität, ebenso wie zu einigen Frauenverbänden.

     Ronni sah Ryan niemals vor dem späten Abend, aber sie hatte auch selbst viel zu tun. Dennoch wünschte sie sich hin und wieder, sie hätten etwas mehr Zeit füreinander. Es gab so vieles, worüber sie miteinander hätten sprechen sollen. Wenn Ryan jedoch am Ende eines anstrengenden Tages endlich zu ihr kam, fielen sie einander nur noch in die Arme, liebten sich, schliefen zusammen ein, und in den frühen Morgenstunden schlich er zurück in das andere Haus.

 

Am Donnerstag dieser Woche hatte Ronni einen Termin bei Kelly Hall. Der routinemäßige Schwangerschaftstest fiel negativ aus. Allerdings wusste Ronni, dass eine Schwangerschaft sich erst nach etwa zwei Wochen über einen Test feststellen ließ.

     Doch beim Abtasten zeigten sich ihre Brüste druckempfindlich, und sie bekannte kleinlaut: „Wir hatten ungeschützten Sex. Einmal, letzte Woche.“

     Kelly sagte zunächst nichts dazu und meinte nach der Vorsorgeuntersuchung lediglich: „Sieht alles gut aus.“ Sie legte Ronni beruhigend die Hand auf die Schulter.

     Diese seufzte. „Ziemlich blöd von mir, stimmt’s? Und das mir, einer Ärztin!“

     „So was passiert eben. Aber mach dir jetzt erst mal keine unnötigen Sorgen. In zwei Wochen können wir mehr sagen.“

     Schwanger, dachte Ronni, Ich könnte schwanger sein.

     Das machte die ohnehin schon komplizierte Situation nicht einfacher.

     „Oh je, Kelly. Es wäre eine wirklich schwierige Zeit, um ein Baby zu kriegen. Ich kann das nicht glauben. Ich will es nicht glauben.“

     „Hey, nun mach dich nicht verrückt. Es kann gut sein, dass du gar nicht schwanger bist.“

     „Du hast recht. Es hat keinen Sinn, sich jetzt schon den Kopf zu zerbrechen.“

     „Genau.“ Kelly klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. „Du kannst dich jetzt anziehen. Ich schreibe dir ein Rezept für die Pille. Ab dem fünften Tag nach dem Einsetzen deiner nächsten Periode kannst du damit anfangen.“

     Meine nächste Periode …

     Bitte, lass sie pünktlich kommen, morgen in einer Woche …

 

Am Freitag war Ronni ausnahmsweise bereits um kurz nach fünf zu Hause. Kaum hatte sie sich umgezogen und überlegte, für welches Tiefkühlgericht sie sich heute entscheiden sollte, läutete es.

     Vor der Tür stand Drew, die Hände tief in den Taschen einer rotschwarzen Bomberjacke vergraben, die Stupsnase rot vor Kälte.

     „Ronni, ich muss unbedingt mit dir reden, und weil du nie zu uns kommst, dachte ich, ich komme zu dir.“

     Kinder, dachte sie amüsiert.

     Fröstelnd zog Drew die Schultern hoch. Sein Atemhauch war weiß in der eisigen Luft.

     Ronni trat zurück. „Na, dann komm mal rein.“

     Sie ging ihm in die Küche voran, wo er seine Jacke ordentlich über eine Stuhllehne hing. Er sah sich um.

     „Großmutter macht gerade einen Braten, mit Kartoffelbrei und Karotten. Magst du so was?“

     „Ja, sehr. Hast du deiner Großmutter gesagt, dass du hier bist?“

     Der Junge zog die Brauen zusammen. „Oh. Nein, habe ich vergessen. Dann rufe ich sie lieber mal an, oder?“

     Ronni wies auf das Telefon neben der Spüle.

     „Großmutter? Ich bin bei Ronni, und ich komm auch gleich zurück … Nein, das ist schon okay. Ronni hat nichts dagegen.“ Drew drückte das Mundstück unters Kinn und erkundigte sich ernsthaft: „Störe ich dich?“

     „Nein, überhaupt nicht.“

     „Hast du gehört, Großmutter? … Ja, ich bleib nicht lang. Und weißt du was? Ronni hatte noch kein Abendessen. Darf ich sie einladen?“ Er lauschte. „Moment.“ An Ronni gewandt, sagte er: „Sie meint, du bist zu beschäftigt.“

     „Lass mich mal mit ihr sprechen.“ Sie streckte die Hand nach dem Hörer aus. „Hallo, Lily.“

     „Hallo“, hörte sie Lilys vorsichtig höfliche Stimme. „Wie geht es Ihnen?“

     „Gut, und Ihnen?“

     „Gut.“

     „Fein. Und ich danke Ihnen für die Einladung. Ich würde sehr gerne kommen. Wir sind in ein paar Minuten drüben, okay?“

     „Oh, nun ja …“

     „Soll ich irgendetwas mitbringen?“

     „Nein, nicht nötig.“

     „Dann bis gleich.“

     „Ja, in Ordnung …“

     Ronni legte auf. Drew hatte sich wieder auf seinen Stuhl fallen lassen, die Beine gespreizt, und die Kante der Sitzfläche zwischen den Knien mit beiden Händen umfasst.

     Er grinste. „Sie wird sich schon an dich gewöhnen. Irgendwann.“

     „Na, das ist ja beruhigend.“

     Das Grinsen verschwand. „Sie vermisst meine Mom.“

     Sanft sagte Ronni: „Du bestimmt auch.“

     „Ja.“ Schulterzuckend blickte der Junge auf seine Hände hinunter. „Aber meine Mom ist nicht mehr da, verstehst du?“

     „Ich denke, es ist eines der schlimmsten Dinge, die passieren können, wenn man seine Mutter verliert. Ich habe meine verloren, als ich sieben war.“

     Drew schaute auf. „Deine Mom ist gestorben, so wie meine?“

     Ronni nickte.

     „Und dein Dad?“

     „Er ist vor ein paar Jahren gestorben.“

     „Aber da warst du schon erwachsen, oder?“

     „Ja.“

     „Wir haben hier ganz schöne viele verlorene Moms, Ronni.“

     So hatte sie es noch gar nicht betrachtet. „Da hast du recht.“

     „Du bist aber trotzdem gut klar gekommen, auch ohne deine Mom, ja?“

     „Ja. Aber ich habe sie sehr vermisst.“

     „Und mein Dad ist auch gut klargekommen.“ Drew lehnte sich vor und wieder zurück. „Soll ich dir jetzt mal sagen, worüber ich mit dir reden wollte?“

     „Ja, nur zu.“

     „Ich möchte meinem Dad gerne helfen. Damit er das Geld zusammenkriegt, das er für das Krankenhaus braucht.“

     Ronni setzte sich auf den Stuhl ihm gegenüber und hörte aufmerksam zu. Was für ein toller Junge, dachte sie.

     „Und deshalb habe ich mir überlegt, wie ich ihm helfen kann. Aber es ist ein Problem, dass ich erst neun bin … Und ich möchte meinem Dad helfen, und ihm keine Mühe machen. Ich will Geld sammeln, ohne dass er es weiß. Viel Geld. Vielleicht hundert Dollar oder so. Und dann möchte ich es ihm geben. Als Überraschung, verstehst du?“

     „Ja, ich weiß, was du meinst.“

     „Aber, Ronni, ich brauche einen Erwachsenen, der mir dabei hilft. Und Großmutter muss auf Griff und Lizzy aufpassen. – Ich weiß, dass du viel zu tun hast, dich um kranke Kinder kümmern musst und das alles. Aber samstags und sonntags hast du doch auch ein bisschen Zeit, oder?“

     „Ja, das stimmt“, bestätigte sie.

     „Das ist gut. Weil … ich habe nämlich gedacht, wir könnten uns vielleicht einen Tisch besorgen und ihn draußen vor diesem riesengroßen Supermarkt aufstellen. Die erlauben das, bei den Pfadfindern oder der Jungschar oder solchen Sachen. Wir könnten uns da hinsetzen und mit den Leuten reden. Nur für zwei Stunden, oder so, am Samstag und am Sonntag. Du könntest zum Beispiel so einen weißen Kittel anziehen.“

     „Einen Laborkittel?“

     „Ja. Damit die Leute wissen, dass du ein Doktor bist. Und vielleicht kannst du dir sogar dieses Ding da um den Hals hängen …“

     „Mein Stethoskop?“

     „Ja, genau. Und du müsstest auch wirklich fast gar nichts machen, das verspreche ich dir. Nur da sein. Und ich stelle mich an die Glastüren und fange die Leute ab, wenn sie rein und raus gehen. Ich würde ihnen von dem neuen Flügel am Krankenhaus erzählen, und dass wir das Geld wirklich brauchen, und dass sie einen Dollar oder auch nur fünfzig Cents geben können, wenn sie wollen. Dafür könnten wir doch so ein großes Glas aufstellen, weißt du? Oder wenn sie einen Scheck schreiben wollen, können sie das auch tun. Ich habe das aus der Zeitung abgeschrieben, was man darauf schreiben muss, wenn man etwas spenden will.“ Drew hielt inne, um Luft zu schöpfen, und sah Ronni eindringlich an. „Ronni, sag nicht, dass es eine dumme Idee ist. Sag nicht, dass ich doch nur ein Kind bin und mir keine Sorgen machen soll. Sag mir nur, dass du mir hilfst, und dass du meinem Dad nichts davon erzählst.“

     Sie schaute ihn an. Noch nie hatte er seinem Vater ähnlicher gesehen als jetzt. „Hast du es denn deiner Großmutter schon gesagt?“

     „Nein, ich wollte erst mit dir reden.“ Ungeduldig fragte er: „Und? Hilfst du mir?“

     „Zuerst muss deine Großmutter damit einverstanden sein.“

     „Wir können ja nachher mit ihr reden.“

     „Es wird garantiert ziemlich kalt“, gab Ronni zu bedenken, „wenn man im Februar draußen vorm Supermarkt sitzt. Und wahrscheinlich regnet es auch.“

     „Na und? Dann ziehen wir uns eben warme Jacken an.“

     „Außerdem, Leute um Geld zu bitten, ist nicht immer leicht. Manchmal sind sie unhöflich, und fast immer sagen sie Nein.“

     „Aber manchmal sagen sie auch Ja. Und darüber will ich nachdenken. Wie ich sie dazu bringen kann, Ja zu sagen. Ich sage ihnen, es geht nur um fünfzig Cents oder einen Dollar, oder ein Vierteldollar ist auch prima.“

     Sie lächelte. „Du scheinst dir ja schon viele Gedanken darüber gemacht zu haben.“

     „Ja, hab ich auch. Sag ja, Ronni. Bitte.“

     „Lass uns erst mal mit deiner Großmutter sprechen und sehen, was sie dazu sagt.“

     „Okay, aber erst nach dem Essen, wenn die Kleinen ein Video angucken. Weil sie sonst vielleicht alles verraten.“

 

Während des Abendessens verhielt Lily sich Ronni gegenüber kühl, aber höflich. Und nach dem Essen halfen alle Kinder wohlerzogen mit beim Abräumen.

     „Zeit für einen Film“, verkündete Drew seinen Geschwistern dann. „Wie wär’s mit In einem Land vor unserer Zeit, Teil II?“

     „Ja!“, schrie Griffin begeistert, und auch Lisbeths Gesicht leuchtete auf. „Au ja.“

     Drew ging mit den beiden ins Wohnzimmer, sodass Ronni und Lily für kurze Zeit allein waren.

     „Ich kann Ihnen wirklich nicht sagen, wann Ryan heute Abend nach Hause kommt“, meinte Lily, die die Spülmaschine einzuräumen begann, abweisend.

     „Lily.“ Ronni hatte die Stimme gesenkt. „Ich bin nicht wegen Ryan hier.“ Sie zwang sich weiter zu sprechen: „Auch wenn er mir sehr viel bedeutet.“

     Das Besteck in der Hand, drehte Lily sich um. „Ich gehe davon aus, dass ich informiert werde, falls … irgendwelche wichtigen Entscheidungen fallen sollten?“

     „Aber selbstverständlich. Wir …“

     „Gut. Und bis es soweit ist, glaube ich, dass das, was zwischen meinem Schwiegersohn und Ihnen vor sich geht, mich nichts angeht.“ Sie wandte sich wieder zur Spüle.

     „Aber Lily …“

     „Schsch … Andrew.“

     Ronni warf einen Blick zur Tür, wo der Junge stand.

     Er lächelte nervös. „Ihr flüstert. Hast du’s ihr schon gesagt?“

     Energisch schloss Lily die Klappe der Spülmaschine. „Was denn?“

     Da erklärte Ronni: „Lily, Drew möchte etwas Wichtiges mit Ihnen besprechen.“ Ermutigend lächelte sie ihm zu. „Komm, sag’s ihr.“

     Seufzend meinte Lily: „Also gut, dann setzen wir uns doch am besten.“

     Gemeinsam nahmen sie rund um den Küchentisch Platz, und Drew berichtete von seinem Plan.

     Schließlich sah Lily Ronni fragend an. „Sie würden ihm also helfen, wenn ich mein Einverständnis gebe?“

     „Ja, sehr gern.“

     „Aber wie wollen Sie realistischerweise Zeit dafür finden?“

     „Wie Drew schon sagte, ich habe etwas Zeit an den Wochenenden, die ich erübrigen könnte.“

     „Sind Sie sich dessen sicher?“

     In diesem Augenblick konnte Ronni nicht umhin, Lily zu bewundern. Denn trotz ihrer Entschlossenheit, Ronni auf Distanz zu halten, war sie dennoch imstande zu erkennen, wie sehr ihrem Enkel daran lag, seinen Vorschlag umzusetzen. Und sie wollte ihn dabei unterstützen.

     „Absolut“, bestätigte Ronni. „Und ich wäre auch bereit, mich mit dem Supermarkt in Verbindung zu setzen und die notwendige Erlaubnis für das Aufstellen eines Tisches einzuholen. Außerdem können wir bestimmt noch ein paar Poster und einige offizielle Spendendosen bekommen.“

     „Das ist … sehr freundlich von Ihnen“, sagte Lily.

     „Großmutter.“ Unruhig rutschte Drew auf seinem Stuhl hin und her. „Darf ich? Bitte?“

     „Also gut. Ich finde, das ist eine wunderbare Idee, und ich bin stolz auf dich.“

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