Dir verzeih ich alles - 3. Kapitel

3. KAPITEL

"Ich möchte mit Ihnen über Lucy reden. Ich wollte es gestern Abend schon tun, aber Sie haben mir keine Chance gegeben."

     Cage ging an Belle vorbei durch die Küche und zur Hintertür hinaus. "Ich muss einen Wassertank reparieren." Sein Ton klang schroff, als würde es ihm widerstreben, ihr selbst diese kleine Information zu geben.

     Schade, dachte Belle. Vergangene Nacht war er kurz davor gewesen, ein wenig aufzutauen, aber davon war heute leider nichts mehr zu spüren. Doch der sonnige Morgen war zu schön, um ihn sich durch Cages schlechte Laune verderben zu lassen.

     Belle knallte die Fliegengittertür hinter sich zu und folgte ihm. "Lucy sagt, dass Sie nicht mit ihr an den Übungen gearbeitet haben, die sie allein ausführen soll."

     Abrupt blieb er stehen. Dann drehte er sich betont langsam zu ihr um. Der Schatten, den sein dunkelbrauner Cowboyhut auf sein Gesicht warf, verbarg den Ausdruck in seinen Augen. Doch sein Unmut war deutlich zu spüren. "Ich kann nicht gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten sein, Miss Day."

     Sie unterdrückte ein Seufzen. Offensichtlich war es nur ein Versprecher gewesen, als er sie gestern Abend Belle genannt hatte. "Das ist mir klar. Aber Sie haben mich engagiert, damit ich Lucy helfe, und …"

     "Ich habe Sie nicht eingestellt, damit Sie mir Vorträge über meine Fähigkeit halten, meine eigene Tochter zu versorgen."

     "Ich wollte nicht andeuten …"

     Er zog die Augenbrauen hoch, wodurch er noch zynischer wirkte als gewöhnlich. "Ach nein?"

     "Nein!"

     "Sie waren nicht so zurückhaltend, als Sie mir Uneinsichtigkeit vorwarfen, weil ich Lucy nicht an dieser verdammten Klassenfahrt nach Chicago teilnehmen lassen wollte."

     Sie hatte ihn wirklich für uneinsichtig gehalten. Aber das lag ein halbes Jahr zurück, und sie hatte Wichtigeres zu tun, als über vergangene Schulausflüge zu diskutieren. "Hören Sie, vielleicht sollten wir einfach über … die bewusste Angelegenheit reden." Sie war schon lange dieser Meinung, aber er hatte ihr keine Gelegenheit dazu gegeben.

     "Sie sind aus einem einzigen Grund hier, Miss Day. Es wäre in jeder Hinsicht besser, wenn Sie das nicht vergessen."

     "Ich bin nicht der Feind", entgegnete sie nachdrücklich.

     Sein Gesichtsausdruck wirkte plötzlich wie versteinert.

     "Ich verstehe. Ich bin doch der Feind." Als Resultat einer längst vergangenen Tragödie, die nicht zu ändern war.

     "Falls Sie etwas brauchen, das in direktem Zusammenhang mit Lucy steht – sei es nun ihre Therapie oder ihre Schularbeiten –, dann lassen Sie es mich wissen. Ansonsten …"

     "Soll ich Sie gefälligst nicht nerven und in Ruhe lassen?" Ihr Ton klang bissig.

     "Wenn Sie es so ausdrücken wollen. Entschuldigen Sie mich jetzt bitte." Er machte auf dem Absatz kehrt und eilte davon.

     Belle warf ihm einen wütenden Blick hinterher und kehrte ins Haus zurück. Verärgert riss sie den alten Kühlschrank auf und verschlang ein großes Stück Pizza, das vom vergangenen Abend übrig war. Anschließend bereitete sie das Frühstück für Lucy vor.

     Da das Mädchen noch schlief, zog Belle sich Turnschuhe an und ging joggen. Die Luft war noch feucht vom Regen des Vortags, obwohl die Sonne an einem wolkenlos blauen Himmel stand.

     Nach einer Stunde entspannten Laufens kehrte Belle ins Haus zurück und weckte Lucy. Sie duschte rasch und zog sich frische Sportkleidung an. Dann wanderte sie in dem gemütlichen Wohnzimmer umher und musterte die Schwarz-Weiß-Fotos auf dem Kaminsims, die Cage als Kind und seine Eltern zeigten.

     Sie wusste nur zu gut, dass er schon als Teenager seinen Vater und gewissermaßen auch seine Mutter verloren hatte. Mit einem leisen Seufzen strich sie über das ernste Gesicht des Kindes. Gab es Fotos von ihm, auf denen er lächelte? Lächelte Cage Buchanan überhaupt jemals?

     "Hey, Belle!" Lucy durchquerte in ihrem Rollstuhl den Flur. "Ich mach uns Tiefkühlwaffeln zum Frühstück. Mit Schlagsahne schmecken die echt gut. Wie Nachtisch."

     Belle folgte ihr in die Küche und unterdrückte ein Lächeln, als Lucy ein Gesicht zog, weil das Frühstück bereits aufgedeckt war und Waffeln definitiv nicht auf dem Speiseplan standen. "Es wird dir bestimmt schmecken", versicherte Belle tröstend.

     "Dad nennt so was Körnerfraß."

     "Tja, dieser Körnerfraß ist viel gesünder als Tiefkühlwaffeln", erklärte Belle lachend. "Verschiedene Getreideflocken mit ungezuckerten Erdbeeren. Sehr lecker. Aber wenn du willst, kann ich dir auch Eier machen."

     Mit gerümpfter Nase entgegnete Lucy: "Eier? Brrr, eklig!"

     "Ich mochte früher auch keine. Aber sie sind gut für dich, und man kann sie auf viele verschiedene Arten zubereiten. Also, was soll's sein?"

     Lucy zuckte die Schultern und rollte näher an den Tisch heran.

     Belle stellte sich ihr wie beiläufig in den Weg, hielt ihr die Hände hin und wartete geduldig. Sie hatte viele Patienten erlebt, denen es widerstrebte, den sicheren Rollstuhl zu verlassen.

     Schließlich ergriff Lucy Belles Hände und ließ sich mit zusammengepressten Lippen hochziehen und an den Tisch helfen. "Isst du gar nichts?"

     "Ich habe schon längst gefrühstückt. Nicht jeder schläft bis Mittag."

     Lucy verdrehte die Augen und probierte skeptisch die ihr zugedachten Frühstücksflocken. Nach ein paar Löffeln erhellte sich ihr Gesicht, und sie aß mit Appetit weiter.

     Währenddessen räumte Belle das Geschirr vom vergangenen Abend fort.

     "Hast du meinen Dad heute schon gesehen?", wollte Lucy wissen.

     "Ja, aber nur ganz kurz. Er muss dringend einen Wassertank reparieren."

     "Aha."

     "Hattest du etwas anderes gehofft?"

     Es gelang Lucy nicht ganz, ihre Enttäuschung zu verbergen, obwohl sie betont gleichgültig die Schultern zuckte. "Er bearbeitet die Ranch im Grunde ganz allein, weißt du."

     "Ja." Belle wusste außerdem, dass er nur im Notfall Teilzeitkräfte einstellte und nicht eingestehen wollte, dass er gelegentlich Hilfe brauchte. "Es ist ein wunderschöner Tag. Lass uns ein bisschen nach draußen gehen", wechselte sie das Thema.

     "Muss ich denn nicht trainieren?"

     Belle half ihr in den Rollstuhl zurück und hockte sich vor sie. "Ich verrate dir ein Geheimnis. Es gibt sehr viele Möglichkeiten zu trainieren. Manchmal wirst du gar nicht merken, dass du es tust. Also, was ist? Nach draußen?"

     Lucy nickte.

     Bald nachdem sie das Haus verlassen hatten, musste Belle den Rollstuhl schieben, weil der Boden vom Regen aufgeweicht war. Sie legten die ganze Strecke bis zum Tor an der Straße zurück und kehrten dann um. Der Morgen war erholsam still. Nur das Zwitschern der Vögel in den hohen Pappeln, die das Haus umgaben, war zu hören.

     "Gefällt es dir auf der Ranch?"

     "Einigermaßen", erwiderte Lucy. "Während der Schulzeit habe ich die halbe Woche in der Stadt gewohnt, bei Anya Johannson. Dad bezahlt ihre Mutter für meine Verpflegung, und sie gibt mir Klavierunterricht und bringt mich zum Ballettunterricht und so. Na ja, so war das früher mal." Sie warf sich den langen Zopf über die Schulter zurück. "Du hast in Cheyenne gelebt, oder?"

     "Ja. Mein Leben lang – bis ich den Job an deiner Schule angenommen habe. Meine Zwillingsschwester Nikki wohnt immer noch da, und meine Mutter lebt auf der Double C Ranch, seit sie mit Squire Clay verheiratet ist."

     "Sind deine Eltern geschieden?"

     "Nein. Mein Dad ist gestorben, als Nikki und ich fünfzehn waren."

     "Sieht sie genauso aus wie du?"

     "Nein. Sie ist viel hübscher", winkte Belle ab. "Sie trägt gern richtig schicke Kleider, nicht nur Jeans und Sportsachen. Und sie hat eine tolle Figur."

     Lucy blickte skeptisch an sich hinab, zupfte an ihrem weiten T-Shirt und verzog das Gesicht. "Ich kriege auch nie …, du weißt schon …, Brüste." Ihr blasses Gesicht wurde rot. "Nicht, dass du keine hast …"

     Belle lachte. "Schon gut. Ich habe wesentlich weniger abgekriegt als meine Schwester. Aber du bist ja erst zwölf. Da kommt schon noch was."

     "Ich werde nächsten Monat dreizehn."

     "Und? Gibst du eine große Party?"

     Lucy schlug heftig mit den flachen Händen auf die Armlehnen des Rollstuhls. "Wozu? Was soll ich denn da anfangen?"

     "Wieso? Als Nikki und ich dreizehn wurden, haben wir auch nur mit unseren Freundinnen zusammengehockt, über Jungs und Make-up und Mode gequatscht, Pizza und Popcorn in uns reingestopft und laute Musik gehört."

     "Und wenn schon! Dad würde mir sowieso keine Party erlauben."

     "Warum fragst du ihn nicht einfach mal? Mehr als Nein sagen kann er doch nicht. Damit rechnest du sowieso. Und vielleicht überrascht er dich ja."

     "Er lässt mich gar nichts machen", beklagte sich Lucy. "Seit dem Unfall ist er so …" Sie schüttelte den Kopf und verstummte.

     "Bestimmt ist er besorgt", vermutete Belle, während sie den Rollstuhl in die Scheune schob.

     Lucy antwortete nicht darauf. Aber sie reagierte auf die umgestellten Trainingsgeräte und vor allem auf die tragbare Stereoanlage, die neu war.

     "Ich hoffe, hier ist was dabei, was dir gefällt." Belle reichte ihr einen Stapel CDs. "Vorsichtshalber habe ich von allem etwas mitgebracht."

     "Die hier von den Beatles würde Dad gefallen."

     Verflixt, dachte Belle, ausgerechnet meine Lieblingsmusik. "Und was gefällt dir?"

     "Klassik. Das ist verrückt, oder?"

     "Überhaupt nicht. Damit kann ich dienen. Beethoven, Pachelbel, Rachmaninoff, Mozart. Du hast die Wahl."

Cage hörte die Musik schon aus einer Entfernung von einer Meile. Sie war so ohrenbetäubend laut, dass Lucy womöglich bereits vor ihrem nächsten Geburtstag ein Hörgerät benötigen würde und seine preisgekrönten Färsen vor lauter Schreck zwei Jahre länger brauchten, um trächtig zu werden.

     Am liebsten wäre er sofort zur Scheune gestürmt, um dem Lärm ein Ende zu setzen. Doch Rory zuliebe hielt er sich zurück. Er führte das lahmende Pferd gerade zum Stall und hoffte, dass die Heilung nicht mehr als Salbe und Schonung erforderte. Den Tierarzt wollte er nur im äußersten Notfall rufen, um den ohnehin schon bestehenden Schuldenberg nicht noch zu vergrößern.

     Nachdem Cage das Pferd versorgt hatte, eilte er in die Scheune – und blieb vor Verblüffung abrupt in der Tür stehen. Lucy lag auf der Trainingsbank. Das an sich war kein ungewöhnlicher Anblick. Aber sie lachte lauthals.

     Und Belle lachte auch. Sie saß vor der Bank und hatte die Beine in einem Winkel gespreizt, den Cage bisher nur olympiaverdächtigen Turnern zugetraut hatte. Ihr Oberkörper war bis auf die blaue Bodenmatte vorgebeugt, sodass ihr schwarzes T-Shirt hochgerutscht war und den unteren Teil ihres schmalen, jedoch kräftigen Rückens enthüllte.

     Beide schienen ihn nicht zu bemerken, und er fühlte sich ein bisschen wie ein Außenseiter. Das gefiel ihm gar nicht.

     Doch dann drehte Belle den Kopf zur Seite und sah Cage an. "Kommen Sie rein."

     Er registrierte die Dringlichkeit ihrer Aufforderung, obwohl sie die Stimme nicht erhoben hatte. Ihre Augen blickten sanft und offen. Sie zuckte nicht einmal mit der Wimper, als Strudel auf sie zuschoss und ihr Gesicht beschnüffelte, bevor er über ihren Körper sprang, um eifrig Lucy zu begrüßen.

     Cage konnte sich nicht entscheiden, was ungefährlicher war – auf Belles Rücken zu blicken oder in diese dunklen Augen. Er ging zur Stereoanlage und drosselte die Lautstärke. "Wollt ihr taub werden?"

     Lucy verdrehte die Augen. "So laut war es doch gar nicht."

     Er wünschte sich die Zeiten zurück, als sie ihm noch mit mehr Respekt begegnet war. "Ich gehe rein und mache dir was zu essen."

     "Das hat Belle schon getan."

     Belle setzte sich auf, zog die Knie an und wackelte mit den Zehen. Die Nägel waren rot lackiert, und an einem Zeh sah er etwas glitzern. Sie trug einen Zehenring. Typisch, dachte er abschätzig.

     "Wir haben Ihnen einen Teller übrig gelassen", verkündete sie munter.

     Offensichtlich war sie überzeugt, dass er ihr keinen Vortrag über ihre Aufgaben halten würde, solange Lucy dabei war. Und in diesem Punkt hatte sie recht. "Dann hole ich jetzt die Post."

     "Wenn Sie heute Nachmittag etwas Zeit haben, könnte Lucy Ihnen die neuen Übungen vorführen, an denen wir gerade arbeiten."

     Er nickte und wandte sich zum Gehen. In den wenigen Sekunden, bevor die Lautstärke wieder voll aufgedreht wurde, hörte er Lucy traurig sagen: "Er kommt bestimmt nicht. Das tut er nie."

     Das war eine Übertreibung, und trotzdem trafen ihn die Worte. Doch er konnte schließlich nicht überall gleichzeitig sein. Er musste die Ranch versorgen, ein Fulltimejob, der ihm nur wenig Zeit für seine Tochter ließ. Deshalb hatte er ja auch eine Therapeutin eingestellt. Er stieß einen Pfiff aus, und Strudel gehorchte ausnahmsweise sofort und folgte ihm schwanzwedelnd.

     Normalerweise ritt Cage zu den Briefkästen, die für ihn und die sechs Nachbarn in der Umgebung in fünf Meilen Entfernung aufgestellt worden waren. Doch diesmal fuhr er aus Rücksicht auf Rory mit dem Truck.

     Als er wieder im Haus war, warf er die Post und die Morgenzeitung auf den Küchentisch und öffnete den Kühlschrank. Tatsächlich stand ein mit Alufolie abgedeckter Teller darin. Cage dachte an die Pizza aus Vollkornweizen. Er bezweifelte, dass das Zeug aus seinen Vorräten stammte. Womöglich hatte Belle es in ihrem Koffer mitgebracht.

     Der Himmel mochte wissen, was sich unter der Folie verbarg. Cage ignorierte den Teller und machte sich ein Roastbeef-Sandwich. Er aß an den Tresen gelehnt und schlug die Zeitung auf. Aus den Augenwinkeln sah er durch das Fenster über der Spüle Belle zum Haus kommen. Um sich von ihrem Anblick abzulenken, las er einen Artikel über irgendeinen Kochwettbewerb, der ihn überhaupt nicht interessierte. Sie hatte eine aufreizend sinnliche Art, sich zu bewegen, daher war es besser, sie nicht zu beachten. Er mochte sie nicht, ebenso wenig wie ihre Familie, und sie war nur hier, um Lucy zu behandeln. Er musste die irritierenden Gefühle für sie überwinden, und zwar schleunigst.

     Die Fliegengittertür klapperte, als Belle in die Küche kam. Er senkte den Blick auf ihre Füße. Weiße Turnschuhe verbargen nun die rot lackierten Zehennägel und den Ring. Cage biss in das Sandwich und konzentrierte sich wieder auf die Zeitung.

     Doch Belle ging nicht weiter ins Badezimmer oder wohin sie auch immer unterwegs sein mochte. Sie blieb einfach stehen.

     Er schluckte und trank das Glas Milch aus, das er sich eingeschenkt hatte.

     Belle rührte sich immer noch nicht.

     Cage seufzte, faltete die Zeitung fein säuberlich zusammen, trat an den Tisch und blätterte die Post durch. Rechnungen, Postwurfsendungen und ein teuer aussehender Umschlag mit einer unliebsamen Absenderadresse. Er faltete den Umschlag und schob ihn in die Gesäßtasche. "Was gibt es denn jetzt schon wieder?"

     "Mir ist aufgefallen, dass Lucy ausschließlich den Rollstuhl benutzt."

     Die Worte raubten ihm den letzten Nerv, und er war schon gereizt genug. Cage öffnete einen Schrank und nahm die Plastikflasche Aspirin heraus, die noch vor wenigen Wochen voll gewesen war. Er schüttelte ein paar Tabletten in die hohle Hand und hakte in scharfem Ton nach: "Ja, und?"

     "Und es macht mir Sorge, weil sich die Genesung dadurch verzögert."

     "Sie soll das Bein noch nicht belasten." Er schenkte sich ein Glas Wasser ein und schluckte die Tabletten.

     "Nicht ständig", räumte Belle ein. "Aber sie hätte schon vor Wochen die Gehstützen benutzen sollen, doch seit ich hier bin …"

     "Noch keine vierundzwanzig Stunden, wie ich betonen möchte", warf Cage ein.

     "… habe ich nicht mal Stützen gesehen. Hat sie überhaupt welche?"

     Mit großen Schritten ging Cage zu dem hohen, schmalen Schrank am Ende der Küchenzeile und öffnete die Tür. Dahinter stand neben einem Besen und einem Staubsauber ein funkelnagelneues Paar Gehstützen. "Zufrieden?"

     Belle presste die Lippen zusammen, warf den Zopf zurück und zwängte sich an Cage vorbei, um die Stützen herauszuholen. Sie reichte ihm nicht einmal bis ans Kinn, war kaum größer als Lucy.

     Er schloss die Tür. "Sie sagt, dass es ihr immer noch zu sehr wehtut, sie zu benutzen."

     Belle nickte. "Das verstehe ich, glauben Sie mir. Aber mithilfe der Stützen wieder auf die Beine zu kommen, ist ein wesentlicher Bestandteil ihrer Genesung. Und je länger wir warten, umso mehr wird es wehtun. Sie müssen aufhören, sie so übertrieben zu beschützen. Die Therapie wird nicht immer angenehm für sie sein, aber sie muss durchhalten, damit es besser wird." Aufmunternd legte sie ihm eine Hand auf den Unterarm. "Und es wird garantiert besser werden." Als ihr die Vertraulichkeit ihrer Berührung bewusst wurde, zog sie rasch die Hand zurück.

     "Sie haben gut reden", entgegnete er rau. "Können Sie sich vorstellen, was es für ein Gefühl ist zuzusehen, wie Ihr Kind sich vergeblich bemüht, ein Bein zu strecken oder zu beugen, das trotz zweier Operationen nicht mitmachen will? Was es für ein Gefühl ist, sich gegen die flehenden Blicke zu wappnen, die darum bitten, einfach nur aufhören zu dürfen?"

     "Da ich kein Kind habe, ist es natürlich schwierig, das wirklich nachzuempfinden." Unvermittelt stellte sie einen Fuß auf den Stuhl und zog sich das Hosenbein bis über das Knie hinauf. Eine verblasste alte Narbe schlängelte sich von der Innenseite ihres straffen Oberschenkels um das Knie herum und an der Wade hinunter. "Aber ich hatte selbst damit zu tun."

     Sein Magen verkrampfte sich. Lucys Operationsnarben waren hässlich. Aber er wusste, dass sie wesentlich besser aussehen würden als Belles, wenn sie erst einmal verheilt waren.

     "Kein hübscher Anblick", murmelte sie, während sie das Hosenbein wieder hinunterzog. "Meine Hüfte sieht nicht ganz so schlimm aus."

     Es schien unmöglich, aber ihre braunen Augen wirkten noch dunkler als gewöhnlich. "Was ist passiert?"

     "Ich dachte, das wüssten Sie."

     "Ich nehme an, das ist der Grund, weshalb Sie Physiotherapeutin geworden sind", vermutete er.

     "Ja." Gedankenverloren nagte sie an der Unterlippe. Ihre Miene wirkte seltsam unbewegt. "Ich war an dem Abend bei meinem Dad. Am Abend des Unfalls."

     "Ich wusste nicht, dass Sie verletzt wurden." Er hatte es nicht wissen können, denn damals hatte sie mit ihrer Familie in Cheyenne gelebt.

     Sie musterte die Gehstützen in ihrer Hand. "Ich lag auf dem Rücksitz. Und ich war nicht angeschnallt. Als es passierte, wurde ich aus dem Auto geschleudert …" Sie zuckte die Achseln. "Ich dachte, Sie wüssten das", wiederholte sie, und dann schwieg sie.

     Sie wirkte plötzlich sehr verletzlich. Und so gern er sich auch einreden wollte, dass es nur vorgetäuscht war, gelang es ihm nicht.

     "Hören Sie, Cage, es ist noch nicht zu spät für mich zu gehen. Mir ist klar, dass Lucy von dem Unfall unserer Eltern weiß, und sie scheint es meiner Familie nicht zu verübeln. Durch mein Kommen habe ich möglicherweise die bösen Erinnerungen wieder erweckt, doch darüber kann ich mich hinwegsetzen. Aber wenn Ihre Einstellung Lucys Fortschritte boykottiert, dann ist mein Aufenthalt hier sinnlos. Wollen Sie wirklich, dass ich bleibe?"

     Nein. Er starrte aus dem Fenster. Lucy saß in ihrem Rollstuhl vor der Scheune. Strudel lag halb auf ihrem Schoß, während sie Tauziehen mit einem Stock spielten. "Sie braucht trotzdem Hilfe."

     Belle seufzte leise. "Ich könnte mich an die Leute wenden, mit denen ich in der Klinik zusammengearbeitet habe. Vielleicht finde ich jemanden, der bereit ist …"

     "Nein." Er konnte es sich nicht leisten, ein volles Gehalt zu zahlen. Belle hatte eingewilligt, sich mit weniger als der Hälfte des üblichen Honorars zu begnügen. Er wusste, dass sie es nur getan hatte, weil sie seine Tochter sehr gern mochte. Und das hatte er ausgenutzt. Dass sie darüber hinaus bereit war, Nachhilfeunterricht zu erteilen, war ein zusätzlicher Bonus. "Sie sind gekommen, um Lucy zu helfen. Ich erwarte, dass Sie Wort halten."

     Nach kurzem Nachdenken sagte sie: "In Ordnung." Sie ging mit den Stützen in der Hand zur Tür und blieb noch einmal stehen. "Es tut mir wirklich leid, dass Ihr Vater den Unfall nicht überlebt hat."

     "Mir auch", entgegnete er schroff. Er hatte an jenem Abend beide Elternteile verloren, auch wenn seine Mutter technisch gesehen überlebt hatte. Der Einzige, der jenen Winterabend vor fast vierzehn Jahren unbeschadet überstanden hatte, war offensichtlich der Mann, der den Unfall verursacht hatte.

     Dass er etwa ein Jahr später gestorben war, änderte nichts daran, dass Cage in Belle immer noch vorrangig die Tochter ihres Vaters sah.

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