Dir verzeih ich alles - 6. Kapitel

6. KAPITEL

Es war das erste Mal, dass Cage Belles Haus betrat, das zwar neuer, aber auch wesentlich kleiner als seins war. Als er hier war, um sie zu überreden, Lucy zu therapieren, war er beide Male auf der Veranda stehen geblieben. Er hatte nicht in ihre Privatsphäre vordringen wollen, und sie hatte ihn auch nicht dazu eingeladen.

     Damals war ihm spontan durch den Kopf geschossen, dass er Gus Days Tochter niemals in einem so bescheidenen Ambiente vermutet hätte, und der Gedanke kam ihm jetzt wieder. Immerhin war der Mann der prominenteste Anwalt von Cheyenne gewesen.

     Cage ging durch das kleine Wohnzimmer in die Küche und wusch sich an der Spüle die Hände. Auf dem Fensterbrett standen Töpfe mit Tausendschön, und am Kühlschrank waren unzählige Fotos mit bunten Magneten befestigt.

     Obwohl er es eigentlich nicht wollte, trat er näher, um die Aufnahmen zu betrachten. Fotos von Gus Day gab es nicht, nur von Belle – zusammen mit Angehörigen der Familie Clay: mit Kindern, die er von der Schule kannte, und mit einer Frau, die ihr sehr ähnlich sah. Wahrscheinlich ihre Schwester.

     Cage beugte sich vor und nahm eine der Aufnahmen näher in Augenschein. Belle trug darauf einen Doktorhut, hielt ein Diplom in der Hand und strahlte übers ganze Gesicht. Sie wirkte sehr jung und unbeschwert.

     Er richtete sich auf und verließ das Haus gerade, als Belle auf die Terrasse kam. Grashalme hingen an ihren Hosenbeinen. Fasziniert beobachtete er, wie sie stehen blieb und sich in aller Seelenruhe die Jeans abstreifte.

     "Na, haben Sie die Schmiere weggekriegt?", erkundigte sie sich unbefangen.

     Cage war längst nicht mehr so leicht zu beeindrucken wie damals als Teenager, als er Sandis Verführungskünsten erlegen war, doch von Belles Reizen fühlte er sich völlig überwältigt. Inzwischen wusste er allerdings, wie hoch der Preis sein konnte, wenn man seinem Verlangen nachgab.

     "Cage?"

     Belles Bikiniunterteil – geschnitten wie Pants – war an modernen Maßstäben gemessen sehr züchtig. Aber es enthüllte genug, um heiße Fantasien in ihm zu wecken.

     Sie blickte an sich hinab und verzog das Gesicht. "Entschuldigung. Ich hätte Sie warnen sollen." Rasch ging sie an ihm vorbei ins Haus.

     Ihre schmale Taille könnte er vermutlich mit beiden Händen umspannen, und ihre Brüste würden sich perfekt in seine Handflächen schmiegen. Ihre Hüften …

     Das Rauschen eines aufgedrehten Wasserhahns riss ihn aus seinen Gedanken. Er spähte in die Küche und beobachte, wie Belle sich Hände und Unterarme abschrubbte. Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, nahm sie ein langärmeliges Hemd von der Hakenleiste an der Hintertür und schlüpfte hinein. Es reichte ihr bis an die Knie.

     "Warnen wovor?", hakte er verspätet nach, während er sich unwillkürlich fragte, wem das Kleidungsstück – unzweifelhaft ein Herrenhemd – gehören mochte.

     "Den Narben. Aber Sie hatten sie ja schon gesehen."

     O nein, die Narben hatten ihn nicht irritiert, sondern der Anblick ihrer festen, sonnengebräunten Schenkel. "Wie lange brauchten Sie, um sich von dem Unfall zu erholen?"

     Belle zog den Pferdeschwanz unter dem Hemdkragen hervor und ging ins Wohnzimmer, ohne Cage anzusehen. "Ich sage Ihnen Bescheid, wenn es so weit ist." Sie beugte sich vor und sammelte die Zeitschriften ein, die auf der Glasplatte des Couchtisches verstreut lagen. Dabei rutschte der Hemdsaum an ihren perfekten Oberschenkeln hinauf.

     Macht sie das absichtlich?

     Cage rieb sich den Nacken und rief sich in Erinnerung, dass er Lucy heute Nachmittag zu seiner Mutter mitnehmen wollte. Doch selbst dieser Gedanke löste nicht die Spannung in ihm.

     Belle richtete sich auf und drehte sich mit einem reuigen Lächeln zu ihm um. "Fast zwei Jahre. Ich habe ein Schuljahr versäumt. Hoffentlich passiert Lucy das nicht auch. Ich musste drei Jahre lang zusätzlich Privatunterricht nehmen, um den Unterrichtsstoff aufzuholen – und um zu verhindern, dass meine Zwillingsschwester vor mir den Abschluss machte."

     Er beschloss, dass er für heute genug über ihre Familie gehört hatte. "Ziehen Sie sich immer vor fremden Männern aus?", wechselte er das Thema.

     Sie senkte rasch den Blick, doch dann sah sie ihn mit großen Augen an. "Aber natürlich, Cage. Ich dachte, das wüssten Sie." Keck stützte sie die Hände in die Seiten. "Jetzt, da wir einander schon so intim kennen, wollen Sie mich da immer noch 'Miss Day' nennen? Ich meine, immerhin haben Sie mich im Bikini gesehen. Womöglich löst das einen derartigen Skandal aus, dass wir heiraten müssen."

     "Ich wasche meine Hände in Unschuld. Sie haben sich ausgezogen, nicht ich."

     "Ich bin allergisch gegen Gras, okay? Und meine Jeans ist voll davon." Belle kehrte geschäftig in die Küche zurück.

     Er folgte ihr. "Warum mähen Sie dann selbst?"

     "Wer soll es denn sonst tun?"

     "Heuern Sie jemanden an."

     "Dasselbe könnte man Ihnen raten. Dann hätten Sie etwas mehr Zeit für Lucy. Übrigens, wie heißen Sie eigentlich wirklich?"

     "Wie bitte?"

     "Cage ist doch nicht Ihr richtiger Name, oder?"

     "Stimmt."

     "Ein seltsamer Spitzname. Wie sind Sie dazu gekommen?"

     "Das weiß ich nicht mehr. Ich war noch sehr klein."

     "Und wie lautet Ihr richtiger Name?"

     "Der ist noch seltsamer. Gewissermaßen einzigartig, unique eben."

     "Inwiefern einzigartig?"

     Cage war nicht bereit, noch mehr über sich preiszugeben. Sollte sie sich doch den hübschen Kopf zerbrechen. "Also, kommen Sie morgen zur Lazy B oder nicht?"

     Unique, hm, sinnierte sie und tippte sich dabei nachdenklich mit dem Finger an die Lippen.

     Hätte es sich um eine andere Frau gehandelt, wäre Cage seinem Impuls gefolgt. Er hätte sie geküsst, bis ihnen beiden Hören und Sehen verging, und ihr das Bikinioberteil abgestreift, um zu erforschen, ob ihre Brüste so perfekt waren, wie er sie sich ausmalte.

     Er zwang sich, sich wieder aufs Thema zu konzentrieren. "Miss Day?"

     "Unter einer Bedingung."

     "Und zwar?"

     "Na ja, eigentlich sind es mehrere."

     "Na los, raus mit der Sprache. Welche?"

     "Dass Sie mich nicht als Feindin betrachten, ist wohl zu viel verlangt. Aber Sie könnten mich zumindest endlich Belle nennen und nicht Miss Day, sonst komme ich mir noch wie eine altjüngferliche Oberlehrerin vor. Sie werden nicht mehr ausflippen, wenn Lucy und ich die Stallungen aufsuchen – nur aufsuchen. Und Sie schlagen ihr vor, eine Geburtstagsparty zu geben."

     "Das will sie doch gar nicht."

     "Ihr Talent liegt darin, eine kaputte Zündkerze zu entdecken, dafür habe ich ein Gespür dafür, wenn ein Kind einsam ist. Außerdem hat sie mit mir darüber gesprochen. Sie möchte eine Party, aber sie glaubt, Sie erlauben es nicht."

     "Wenn sie das wirklich will, ist es mir recht."

     "Mit Jungs?"

     "Was?"

     "Immer locker bleiben", entgegnete sie ruhig. "Ihre Tochter ist ein Teenager, und im Allgemeinen interessieren sich Teenager nun mal für das andere Geschlecht, falls Sie das vergessen haben."

     "Ich erinnere mich sehr gut, was Teenager mit dem anderen Geschlecht treiben." Dasselbe, was ihm fast jedes Mal in den Sinn kam, wenn ihm Miss Belle Day über den Weg lief. "Schließlich war ich erst siebzehn, als ich Lucy gezeugt habe."

     Ihre gelassene Miene verriet ihm, dass dies keine großartige Enthüllung für sie bedeutete. Natürlich nicht. Sie lebte zwar erst ein halbes Jahr in Weaver, doch das war lange genug für eine Kleinstadt, in der Tratsch neben Viehzucht die Hauptbeschäftigung darstellte.

     "Ich glaube nicht, dass Sie sich damals nur die Hörner abgestoßen haben", sagte sie ernst. "Ihr Dad war gestorben. Ihre Mom war lebensgefährlich verletzt. Sie hatten die Verantwortung für die Ranch zu tragen. Sie waren ganz allein und brauchten dringend jemanden, der Ihnen beistand."

     "Ich war verrückt nach einer sexy Blondine, die ich bei einem Rodeo tanzen gesehen hatte", entgegnete er mit ausdrucksloser Miene. Verständnis, Mitgefühl oder dergleichen wollte er nicht von Belle. "Zum Glück habe ich inzwischen gelernt, das Verlangen nach Dingen zu zügeln, die nicht gut für mich sind."

     Mit beiden Händen raffte Belle das Hemd zusammen. "Na ja, jedenfalls sind Lucy und ihre Freundinnen eher auf harmlose Vergnügen aus: Händchenhalten, ein bisschen tanzen … Sie wissen schon. Wenn Sie einwilligen, bin ich morgen da."

     "Sie kann ihre Party haben."

     Belle zog erwartungsvoll die Brauen hoch. "Und?"

     "Sie dürfen in den Stall, ich möchte aber, dass Sie damit warten, bis ich dabei sein kann."

     "Und?"

     "Und wenn ich eine Lehrerin gehabt hätte, die Ihnen ähnlich gewesen wäre, hätte ich nicht den Unterricht geschwänzt, um mit einer Möchtegern-Tänzerin zu schlafen." Er strich mit dem Daumen über ihre warmen, weichen Lippen und bemerkte, wie ihre Augen aufblitzten. "Glauben Sie mir, Miss Day, manche Dinge sollte man lieber auf sich beruhen lassen", sagte er leise.

 

Reglos stand Cage im Scheunentor und beobachtete Lucy und Belle. Zu seinen Füßen saß Strudel, und sogar der Hund verhielt sich ausnahmsweise ruhig und klopfte nur hin und wieder mit der Schwanzspitze auf den Boden.

     Zunächst beklagte sich Lucy über jede einzelne Übung, die sie ausführen sollte. Doch Belle reagierte nie ungehalten. Sie blieb ruhig, aufmunternd und humorvoll.

     Und nach einer Weile strahlte Lucy ebenso oft, wie sie stöhnte.

     Obwohl Cage unzählige Dinge auf der Ranch zu tun hatte, verfolgte er die gesamte Trainingseinheit unbemerkt und wandte sich erst ab, als Belle die Übungsstunde beendete.

     Auch wenn sie eine Day war, ihn ständig zur Verzweiflung brachte und seinen Seelenfrieden gefährdete, war er überzeugt, dass sie genau die richtige Therapeutin für Lucy war.

     Nun konnte kein Richter mehr behaupten, eine andere Person würde besser für seine Tochter sorgen als Cage.

     Seine Zufriedenheit hielt über eine Woche an, und dass sie schließlich gehörig gedämpft wurde, lag nicht an Belle, sondern an Lucy.

     "Wen hast du angerufen?", wollte er wissen, als er sie eines Abends um kurz vor Mitternacht in seinem Büro erwischte.

     Obwohl er bewusst in sanftem Ton gesprochen hatte, zuckte sie heftig zusammen und schaute ihn schuldbewusst an. "Niemand."

     Doch er wusste, dass sie log. "Ist das sein Vor- oder Nachname?"

     Einen spannungsgeladenen Moment lang starrte sie ihn aufsässig an. Dann brach ihr Widerstand zusammen, und Tränen strömten ihr über die Wangen. Lucy schnappte sich ihre Stützen und huschte an ihm vorbei aus dem Raum. Wenige Sekunden später fiel ihre Zimmertür krachend ins Schloss.

     Cage seufzte niedergeschlagen. Schon seit einigen Tagen benahm Lucy sich äußerst launisch. Er folgte ihr und stellte fest, dass sie die Tür abgeschlossen hatte. "Lucy, mach auf!", rief er und klopfte an.

     "Lass mich in Ruhe!"

     "Mit wem hast du telefoniert?"

     "Ich hab gesagt, du sollst mich in Ruhe lassen!"

     Er klopfte lauter. "Mach die verdammte Tür auf!"

     "Cage?" Belle kam die Treppe heruntergeflitzt und spähte erschrocken über das Geländer. "Was ist denn los?"

     "Das geht Sie nichts an."

     "Oh, Entschuldigung." Rasch machte sie auf dem Absatz kehrt und zog sich zurück.

     Cage rüttelte an der Klinke. "Mach auf, Lucy, oder ich trete die Tür ein!"

     Die Tür flog auf. Lucy starrte ihren Vater feindselig an. Sie saß in ihrem Rollstuhl. "Ich will nicht mit dir reden, sondern mit Belle."

     Er musterte sie eindringlich. Trotzig erwiderte sie seinen Blick. Sie war ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, aber das hitzige Temperament hatte sie von ihm. "Mit wem hast du telefoniert?" Falls sie die Oldhams angerufen hatte, musste er das verdammte Telefon wohl demontieren.

     "Das brauche ich dir nicht zu sagen."

     Er zog eine Augenbraue hoch. "Ach, nein?"

     Sie seufzte theatralisch. Cage war überzeugt, dass sie mit dem Fuß aufgestampft hätte, wäre es ihr möglich gewesen. Stattdessen riss sie abrupt den Stuhl zur Seite. "Ich will mit Belle reden", beharrte sie mit tränenerstickter Stimme.

     "Sie ist deine Physiotherapeutin, du kannst sie nicht mitten in der Nacht mit einem privaten Drama belästigen."

     "Sie ist außerdem meine Freundin."

     Und ich bin nur dein Dad. Und so sehr er sich auch bemühte, Belle Day in eine bestimmte Schublade zu verfrachten, schlüpfte sie immer wieder hinaus.

     Widerstrebend ging er nach oben, starrte lange auf eine weitere geschlossene Tür und klopfte schließlich zögernd an.

     Belle öffnete so schnell, als hätte sie nur auf die Gelegenheit gewartet, sich an seinem Elend zu weiden. Doch er konnte keine Schadenfreude auf ihrem Gesicht entdecken. Sie sah ihn einfach nur mitfühlend an.

     Oje, womit hatte er das alles nur verdient? Warum war er von weiblichen Wesen umgeben, mit denen er nicht umzugehen wusste?

     "Lucy möchte mit Ihnen reden."

     Sie zog den Gürtel ihres langen weißen Bademantels fester und zögerte.

     "Worauf warten Sie?"

     Ihr sanfter Blick wurde kühl. "Darauf, dass Sie daran ersticken, mir das ausrichten zu müssen."

     "Wenn Sie nicht wollen, dann sagen Sie es einfach."

     "Inzwischen sollten Sie mich gut genug kennen, um zu wissen, dass ich so ziemlich alles für Lucy tun würde."

     "Und nichts für mich."

     Sie hob die Brauen und strafte ihn mit einem herablassenden Blick. "Als ob Sie irgendwas von mir akzeptieren würden." Sie schob ihn zur Seite und schlüpfte an ihm vorbei.

     Cage folgte ihr nach unten und redete sich ein, dass er sich ihren bedauernden Blick nur einbildete, als Lucy ihm entschieden die Tür vor der Nase zuschlug.

     Frustriert strich er sich über das Gesicht, wandte sich ab und ging in sein Büro. Sein Schreibtisch war mit Papieren und Büchern übersät. Mittendrin stand das Telefon.

     Wen hat sie angerufen? Anya?

     Nein, entschied er, dann hätte sie nicht so aufsässig reagiert.

     Cage trat um den Schreibtisch herum, setzte sich und lehnte sich zurück. Die gegenüberliegende Wand war mit Fotos von Lucy übersät. Doch er brauchte diese Bilder nicht, um sich an jeden einzelnen Moment zu erinnern, die Zahnlücken, die schiefen Rattenschwänze …

     "Ist alles in Ordnung?" Belle stand im Türrahmen, die Arme verschränkt, die Hände in die Ärmel des Bademantels geschoben.

     "Sie hat die Oldhams angerufen, oder?", vermutete Cage.

     "Sie meinen ihre Großeltern?"

     "Natürlich. Also, was hat sie gesagt?"

     "Fahren Sie mich nicht so an. Über ihre Großeltern weiß ich nur, dass sie ihr Geschenke geschickt haben – und Programmhefte von den Tanzveranstaltungen ihrer Mutter in Europa."

     "Und dieses Pferd." Das teuflische Pferd, das Belle und Lucy immer wieder besuchten. Er hatte sie einmal begleitet und musste Belle in einem Punkt recht geben: Lucy mochte zwar vollmundig behaupten, dass sie Satin wieder reiten wollte, aber sie fürchtete sich eindeutig auch vor ihm.

     "Ja, das hat sie nebenbei erwähnt."

     Er beugte sich eindringlich vor. "Und? Was noch?"

     Zögernd betrat sie das enge Büro. Es gab keinen Besucherstuhl. "Von einem Telefongespräch mit ihren Großeltern hat sie nichts gesagt."

     Das bedeutete jedoch nicht, dass Lucy sie nicht angerufen hatte. Er wusste von ihren früheren Telefonaten, auch wenn sie ihn in dieser Hinsicht für völlig ahnungslos hielt. "Was ist denn dann mit ihr los?"

     "Wir müssen morgen in die Stadt fahren."

     "Um die Geburtstagstorte zu bestellen?"

     "Na ja, das können wir bei der Gelegenheit auch gleich erledigen."

     "Es fällt mir schwer zu glauben, dass sie mitten in der Nacht wegen einer Torte überschnappt, die sie erst in einigen Wochen braucht. Noch dazu muss sie nicht erst groß überlegen, welche Farbe die Glasur haben soll. Pink, das ist doch klar."

     "Es geht nicht um die Torte."

     "Worum denn sonst?" Er stand auf, aber das Büro war zu klein, um darin auf und ab laufen zu können, ohne Belle zu nahe zu kommen. Und das wollte Cage unbedingt vermeiden.

     "Da ist etwas, das Sie wissen müssen." Belle wich seinem Blick aus. "Lucy wollte nicht, dass Sie es erfahren, aber ich habe sie davon überzeugt, dass es sein muss."

     "Was?", hakte er so schroff nach, dass sie einen Schritt zurückwich.

     "Nichts Schlimmes", versicherte sie hastig.

     "Nichts Schlimmes? Immerhin ist sie mitten in der Nacht in mein Büro geschlichen und hat heimlich telefoniert, anstatt zu schlafen. Wenn sie ihre Großeltern nicht angerufen hat, wen dann?"

     "Evan Taggart."

     "Was?"

     "Aber sie hat ihn nicht erwischt. Sein Vater ist rangegangen und hat ihr erklärt, wie spät es ist."

     "Zumindest ein Mensch mit Verstand", stöhnte Cage. "Sie ist also außer sich, weil sie nicht mit irgendeinem dummen Bengel sprechen konnte."

     "Sie … mag ihn sehr. Er ist gerade erst aus den Ferien zurück, und sie wollte ihn unbedingt zu ihrer Party einladen."

     "Aha."

     "Aber das ist nicht das eigentliche Problem."

     "Was gibt's denn noch?" Er funkelte sie aufgebracht an.

     "Würden Sie sich bitte beruhigen?" Sie befeuchtete sich die Lippen. "Es ist wirklich nichts, worüber Sie sich aufregen müssten."

     Er umfasste ihre Schultern. "Was ist es?"

     Belle senkte den Blick. "Na ja, Lucy hat heute Abend ihre erste Regelblutung gekriegt. Sie schämt sich, es Ihnen zu sagen. Und deshalb müssen wir morgen in die Stadt fahren. Weil ich auch nicht darauf vorbereitet war."

     Er sank auf die Schreibtischkante. "Wie bitte?"

     "Sie haben mich sehr wohl verstanden."

     "Aber das ist unmöglich! Sie ist erst zwölf!"

     Hastig schloss sie die Tür, damit seine Stimme nicht durch das ganze Haus hallte. "Wollen Sie mit mir über Mutter Natur diskutieren? Egal, wie alt Lucy ist, das ändert nichts an den Tatsachen." Beinahe tat Cage ihr leid, denn er wirkte völlig schockiert. "Ihre Tochter wird erwachsen, das sollten Sie akzeptieren, wenn Sie nicht ständig so unerfreuliche Episoden wie diese erleben wollen. Das arme Ding wird momentan von Hormonen gesteuert."

     Er seufzte, hob hilflos die Hände. "Nach ihrer Geburt konnte ich sie mühelos in beiden Händen halten, so klein war sie." Er ballte die Fäuste. "Sie konnte bis jetzt immer mit mir reden."

     Impulsiv ergriff Belle seine Hände und öffnete seine verkrampften Finger. "Es richtet sich nicht gegen Sie. Sie kommt mit sich selbst nicht klar. Was in ihr vorgeht, körperlich wie seelisch, ist ihr genauso fremd wie Ihnen."

     Cage begegnete ihrem Blick. Und plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie ihn auf eine Art berührte, die über Trost hinausging. Es lag etwas Zärtliches, fast Sinnliches darin. Abrupt wich Belle zurück. Doch Cage hielt ihre Finger fest und strich mit den Daumen über die Knöchel.

     Belle öffnete die Lippen, um etwas zu sagen, aber kein Wort kam über ihre Lippen. Sie waren einander so nahe, dass sie deutlich die dunklen Ringe um seine blaue Iris sehen, eine fast unsichtbare Narbe an seinem Kinn erkennen konnte.

     Belle wurde bewusst, dass sie kurz davor war, sich ihm an den Hals zu werfen. Damit wäre sie nicht besser als ihre Vorgängerin. Erschrocken löste sie sich von Cage.

     Er lehnte sich an den Schreibtisch und umfasste die Kante. "Lassen Sie alles, was Sie morgen besorgen, auf meine Rechnung setzen", sagte er. Seine Stimme klang belegt.

     Sie nickte und wandte sich zum Gehen. Mit brennenden Wangen tastete sie nach der Klinke.

     "Belle?"

     In diesem Moment wäre es ihr lieber gewesen, er hätte sie Miss Day genannt. Dadurch hätte sie sich sicherer gefühlt. Ahnte er, wie versucht sie gewesen war, sich vorzubeugen und seine Lippen zu küssen? Hoffentlich nicht. "Ja?"

     "Danke."

     Sie nickte flüchtig und huschte aus dem Büro.

     Auf dem Weg die Treppe hinauf betete sie inständig, ihr möge schnellstens wieder bewusst werden, dass Cage Buchanan für sie tabu war.

     Er machte ihren Vater für den Unfall verantwortlich, der ihm die Eltern geraubt hatte. Wie würde er reagieren, wenn er die Wahrheit erfuhr? Noch wusste er ja nicht, dass es Belles Schuld war, dass sie und ihr Vater in jener Nacht auf der eisigen Straße unterwegs gewesen waren.

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