Rebecca Hardaway geriet auf ihren wackeligen High Heels ins Wanken.
Einen kurzen, entsetzlichen Moment lang fürchtete sie, vornüberzustürzen – direkt auf den silbergrauen Sarg, der über dem geöffneten Grab hing.
Lieber Gott, bitte gib mir die nötige Kraft! betete sie, während sie eisern darum kämpfte, sich auf ihren zitternden Beinen zu halten und den Schwindel aus ihrem Kopf zu vertreiben.
Sie musste jetzt stark sein. Wenn schon nicht für sich selbst, dann wenigstens für jenen Menschen, der in wenigen Minuten in die Erde hinuntergelassen würde.
Bis vor fünf Tagen hatte Rebecca noch nicht einmal geahnt, dass sie eine Tante hatte – geschweige denn von Gertrude O’Dells Existenz gewusst. Hätte Gertrude bei ihrem Anwalt nicht die strikte Anweisung hinterlassen, Rebecca von ihrem Ableben zu informieren, hätte sie es wahrscheinlich nie erfahren.
Die Anwaltskanzlei von Barnes, Bentley & Barnes hatte im Bordeaux angerufen – jenem Kaufhaus in Houston, in dem Rebecca als Modeeinkäuferin arbeitete. Zunächst hatte sie gedacht, ein Kollege wolle sich einen Scherz mit ihr erlauben. Ihre Mutter hatte keine Zwillingsschwester in New Mexico! Bestimmt lag da irgendeine Verwechslung vor.
Doch zu Rebeccas Bestürzung war dem nicht so. Und nun hörten die Fragen nicht auf, sie zu zermartern. Wie konnte ein solches Geheimnis so lange bewahrt bleiben? Warum hatte Gwyn, ihre Mutter, das nur getan?
Ihr Vater war vor achtzehn Jahren gestorben. Hatte er von Gertrudes Existenz gewusst? Oder hatte Gwyn ihre Zwillingsschwester vor allen Menschen geheim gehalten?
Das verstehst du nicht, Rebecca. Gertrude und ich standen uns nie besonders nahe. Wir waren zwar Schwestern, dennoch waren wir sehr verschieden. Sie führte ihr eigenes Leben und ich meins. Wir beschlossen, getrennte Wege zu gehen.
Die ausweichenden Antworten ihrer Mutter auf Rebeccas bohrende Fragen waren absolut unbefriedigend. Gwyn drückte sich noch immer sehr vage aus. Und jeder weitere Tag ohne eine konkrete Antwort verstärkte Rebeccas Unmut und Verwunderung.
Bisher hatte sie geglaubt, bis auf ihre Mutter keine Angehörigen zu haben. Und nun wurde ihr klar, dass man sie um die Chance betrogen hatte, ihre Tante kennenzulernen.
Jetzt war es zu spät.
Am anderen Ende des Sarges las ein Pfarrer den 23. Psalm zu Ende, gefolgt von einem kurzen, tröstenden Gebet. Als Rebecca „Amen“ flüsterte, spürte sie, wie sich eine starke Hand auf ihren Ellbogen legte.
Sie hob den Kopf und blickte direkt in ein goldbraunes Augenpaar, das von dicken Wimpern umrahmt wurde. Das Gesicht war zum Teil unter der Krempe eines grauen Cowboyhutes verborgen, doch Rebecca erkannte in ihm einen der acht Menschen, die die Zeit und das Bedürfnis gehabt hatten, der schlichten Beerdigung beizuwohnen.
„Ich hatte den Eindruck, Sie könnten ein bisschen Unterstützung gebrauchen“, sagte er leise. „Heute ist ein heißer Tag. Und Trauer kann einen Menschen regelrecht austrocknen.“
Trauer. Oh ja, Trauer empfand sie auf jede nur erdenkbare Art. Rebecca hatte mehr verloren als nur eine Tante. Sie kam sich vor, als hätte man ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. Der Glaube an die Familie war erschüttert. Und ihre Mutter ging der Wahrheit noch immer aus dem Weg. Das jedoch konnte dieser Mann ja nicht wissen. „Danke“, murmelte sie.
Ein paar Schritte weiter beendete der Pfarrer die Predigt, richtete noch einige mitfühlende Worte an Rebecca, und dann ging er.
Der junge Cowboy neben ihr hielt weiter ihren Ellbogen fest.
Er trug ein gestärktes weißes Hemd und dazu Bluejeans mit rasiermesserscharfen Falten. Er duftete nach Gras, Sonne und ihm selbst. Seine Hand war warm, und die Finger umschlossen ihre Haut mit unglaublicher Kraft.
Wer war dieser Mann? Und in welcher Beziehung stand er zu Gertrude O’Dell?
„Gleich lassen sie den Sarg hinunter“, sagte er mit tiefer, kräftiger Stimme. „Möchten Sie eine der Rosen als Andenken behalten?“
Dankbar für seine Umsicht, richtete sie den Blick kurz auf die einzeln auf dem Sarg verstreuten Blumen, dann wieder auf den Mann. „Ja, sehr gern.“
Er löste den Griff um ihren Arm und trat vor, um eine der langstieligen Rosen aus einem Gebinde zu lösen. Als er Rebecca die Blume reichte, schnürte sich ihre Kehle zu. Tränen schossen ihr in die Augen.
Bis zu diesem Moment hatte sie keine einzige Träne vergossen oder den Gefühlen nachgegeben, die in ihrem Inneren wie Sturmwellen tosten. Doch irgendetwas an der Freundlichkeit dieses Mannes hatte ihren Schutzwall durchdrungen.
„Danke“, sagte sie, hob den tränenfeuchten Blick von der Rosenblüte und richtete ihn wieder auf sein Gesicht.
Seine dunklen Züge waren männlich, sehr markant und ließen das sanfte Leuchten in seinen Augen umso mehr als Kontrast erscheinen.
„Ich bin Rebecca Hardaway, Gertrudes Nichte. Kannten Sie meine Tante gut, Mr. …?“ Sie errötete leicht. „Tut mir leid. Ich muss gestehen, dass ich keinen ihrer Freunde kenne.“
Wieder umfasste er ihren Ellbogen mit seiner Hand. Mit sanftem Drängen führte er sie weg von dem Sarg und hin zu der tief wachsenden, Schatten spendenden Krone eines frei stehenden Süßhülsenbaumes.
„Ich heiße Jake Rollins“, sagte er. „Leider muss ich gestehen, dass ich Ihre Tante nicht persönlich kannte. Ich habe sie nur hin und wieder gesehen, wenn ich an ihrem Haus vorbeigefahren bin. Zu ihrer Beerdigung bin ich gekommen, weil ich dachte, dass sie sich freuen würde, wenn jemand da ist, der sich von ihr verabschiedet.“
„Oh.“
Die Tränen rollten über ihre Wangen.
Der Mann zog ein weißes Taschentuch aus seiner Hosentasche und reichte es ihr.
Rebecca bedankte sich und wischte die feuchten Spuren mit dem weichen Baumwolltuch ab. Während sie sich weiter um Fassung bemühte, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf seine breite Statur. Und auf seine braunen Augen, mit denen er sie ganz genau unter die Lupe nahm.