Herz an Herz Weihnachten Band 1

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DIE KLEINE WEIHNACHTSBÄCKEREI AM ELBUFER von LOU ACHTERFELD

Mit einer Konditorei erfüllt Clara sich nach ihrer schmerzvollen Heimkehr nach Dresden einen Traum. Während sie Leckereien für den Striezelmarkt zaubert, empfindet sie endlich wieder Freude. Da steht ihre Jugendliebe Konstantin vor ihr. Sofort knistert es – aber belügt er sie?

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  • Erscheinungstag 01.11.2025
  • Bandnummer 1
  • ISBN / Artikelnummer 9783751538022
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Lou Achterfeld, Emma Winterberg, Sophie Scherrer

HERZ AN HERZ WEIHNACHTEN BAND 1

Lou Achterfeld

1. KAPITEL

Die kalte Luft tat gut, sie kühlte Claras Wangen, die vor Aufregung zu glühen schienen. Sie stand in der offenen Tür der kleinen Bäckerei und sah hinaus auf die Frauenstraße. Den Blick ließ sie über den Neumarkt wandern, auf dem sich die Schneedecke langsam schloss. Noch immer sanken vereinzelt kleine Flocken vom Himmel herab, inzwischen aber weit weniger als am Vormittag, als Dresden von einem Wintereinbruch überrascht worden war.

„Wunderbar, was Sie hier aus der Taufe gehoben haben“, sagte die Kundin, die neben ihr stand und der sie die Tür aufhielt, um sie zu verabschieden. Wenn sie richtig informiert war, handelte es sich um eine frühere Mitschülerin ihrer Tante Marthe. Die Frau, eine Mittsechzigerin, hatte eine prall gefüllte Papiertüte in warmem Creme-Ton bei sich, auf der in geschwungener Schrift Maison Moritz – die Dresdner Zuckerbäckerei stand. Ein Anblick, der Clara lächeln ließ. Wie viel Zeit sie allein damit verbrachte hatte, die richtige Farbe dieser Tüten auszusuchen, denn ihr Ziel war gewesen, dass sie beige bis goldgelb sein sollten, um an gebackene Kekse und ähnliches Naschwerk zu erinnern.

„Dann lassen Sie es sich jetzt gut gehen, und feiern Sie den heutigen Erfolg“, sagte die Frau nun, legte Clara kurz eine Hand auf den Arm, lächelte ihr zu und trat auf den schneeverwehten Bürgersteig hinaus.

Was für ein Tag.

Langsam schloss Clara die Ladentür. Es war tatsächlich etwas mühsam gewesen, die letzten Kundinnen und Kunden, die zur Einweihungsfeier erschienen waren, aus dem Laden zu bekommen. Die Uhr zeigte weit nach 19 Uhr, und eigentlich hatte sie um 18 Uhr schließen wollen. Aber einige der Gäste hatten sich offenbar so wohl bei ihnen gefühlt, dass sie gar nicht hatten gehen wollen.

Natürlich hatten weder Clara noch Marthe am Tag der Einweihung nicht auf die Uhr schauen wollen, aber: Sie war einfach müde, obwohl angenehm erschöpft ihr treffender erschien. Gestern hatte sie mit Unterstützung ihrer Tante bis tief in die Nacht noch eingeräumt, sortiert und vorbereitet. Heute Morgen hatten sie besonders früh mit den letzten Vorbereitungen begonnen, um noch weitere Backbleche voll mit Keksvariationen in den Ofen zu schieben. Clara war es wichtig gewesen, dass der Duft, der beim Backen entstand und den nahezu alle Menschen liebten, im Laden hing, wenn sich das erste Mal die Tür öffnen würde.

Ein bisschen schien es so, als hätte sich der Duft über das gesamte Viertel ausgebreitet, durch das Schneegestöber – im November – hindurch. Auf jeden Fall hatten sie deutlich mehr Kundschaft als erwartet im Maison Moritz begrüßen dürfen. Menschen, die sich mit einem Strahlen umgesehen und meist auch direkt eingekauft hatten. Und Clara Benkebach strahlte auch. Immer noch. Sie glühte regelrecht vor Glück.

Sogar ein Redakteur der Lokalpresse war vorbeigekommen. Er hatte sich gefreut, dass eine ehemalige Dresdnerin nach Hause zurückgekehrt war, um hier ein Geschäft zu eröffnen. Eine junge Frau, die in Brüssel ihr Handwerk erlernt, es in Wien und England verfeinert hatte, und die nun die traditionelle Bäckerei der Tante übernommen hatte, um die kulinarische Vielfalt der Stadt zu bereichern. So ungefähr hatte der Journalist versprochen, würde er den Artikel formulieren.

Clara drehte sich zu Marthe um, die gerade die Glasfronten der Theke reinigte, lief lachend auf sie zu, umarmte sie und wirbelte mit ihr durch den kleinen Laden.

„Nun ist mal gut, ich bekomme ja einen Drehwurm!“, rief Marthe irgendwann und löste sich aus den Armen ihrer Nichte. Für einen Moment konnte Clara wieder deutlich erkennen, wie ähnlich sie ihrer Schwester sah. Claras Mutter.

Ein Schatten von Traurigkeit legte sich kurz über ihre kaum bezähmbare Freunde. „Wenn sie das doch nur hätte miterleben können …“

Marthe wies auf eines der Regale. „Da oben, siehst du das kleine Schälchen?“

Clara nickte.

„Da ist ein Plätzchen drin, das habe ich meinem Schwesterherz hingestellt. Diese Sorte hätte sie gemocht, dieses knackig-zarte Baiser, das hätte sie geliebt. Die Frauen der Familie Benkebach waren leider schon immer etwas zu zuckerbegeistert.“ Sie klopfte sich auf ihre Hüften und lachte.

„Deshalb haben wir auch so viele andere Varianten im Angebot“, erwiderte Clara zufrieden. „Hier sollen alle glücklich werden: Allergiker, Diabetiker, Menschen mit Mehrgewicht oder auch Untergewicht. Einfach alle Naschkatzen.“

Nun verschränkte Marthe die Arme, den Putzlappen noch immer in der Hand. Auch das sind die Benkebach-Frauen: „Kreativ und selbstständig. Hier wird nicht lange gefackelt, hier werden die Ärmel hochgekrempelt. Das war schon eine gute Idee von dir.“

Clara lächelte. „Danke, das ist lieb von dir. Deine Unterstützung ist mir so wichtig.“

„Ach, ich bin froh, dass du das Ruder übernommen hast. Denn da müssen wir uns nichts vormachen: Meine Bäckerei mit den paar Brötchen- und Brotsorten hatte ausgedient. Das hat zweiundzwanzig Jahre sehr gut funktioniert, aber dieses Konzept ist heute schwierig zu halten, da muss man dann schon ein riesiges Kuchenangebot haben, und das wollte ich nicht. Kuchen ja, aber die gewünschte Vielfalt hätte ich hier nicht bieten können. Die Leute kaufen heutzutage Brot und Brötchen im Supermarkt oder Discounter einfach mit, und mich mit zweiundsechzig Jahren noch mal neu zu erfinden, wäre mir zu aufwendig gewesen. Aber das hier, das kann funktionieren.“

„Hoffentlich!“, sagte Clara und ließ den Blick über den Tresen wandern. „Schau mal, wir sind fast ausverkauft.“

Marthe lief nun hinter den Tresen und zog das Tablett mit den Frauenkirchen-Talern aus der Auslage hervor. Zügig ließ sie einige der runden Kekse in eine der kleineren Papiertüten gleiten. „Glücklicherweise haben wir von denen genug gebacken, die liebe ich so. Sie sind unglaublich lecker, diese Mischung aus Vanille, Mandel- und Hafermehl mit Tonkabohne – hättest du mir davon erzählt, ich hätte die Nase gerümpft.“

„Na ja, ein paar Zutaten mehr sind schon noch dabei. Aber genau aus dem Grund, weil wir hier Gebäck aus aller Welt anbieten, das nicht unbedingt alle kennen, sind mir die Probierhäppchen so wichtig. Aber diese Schüsselchen sind geleert bis auf den letzten Krümel. Wunderbar, so soll das sein.“

Marthe holte ihre Jacke aus dem kleinen Büro, das im Flur hinter dem Verkaufsraum rechterhand abging. Direkt gegenüber lag die große Backstube, Claras liebster Raum des Ladens, denn hier konnte sie kreativ werden. Klassiker zubereiten und neue Kreationen schaffen. Am Ende des langen Flures, der an den Toiletten, einem Umkleideraum und dem Lager vorbeiführte, gab es einen Hintereingang in den Innenhof. Dieser Extra-Eingang vereinfachte die Anlieferung der Backzutaten, denn viele der Zutaten wie Mehl wurden in 25-Kilo-Säcken geliefert, Milch und Hafergetränke gleich in 12-Liter-Stiegen.

„Durchdacht bis ins Detail ist es bei dir, ich weiß!“, hörte Clara ihre Tante im Büro weiterreden. „Bis zum letzten Schüsselchen, das spüren die Kundinnen und Kunden auch. Aber jetzt, meine Liebe, ist alles so weit geputzt, wir haben Feierabend. Übertreibe es nicht, geh nach Hause, haue dich aufs Sofa, telefoniere mit deinen Freundinnen oder schaue einen entspannenden Film. Denn wir zwei Hübschen“, sie sah auf die Uhr, „müssen gleich schon wieder in der Backstube stehen.“

Nachdem Clara Marthe aus dem Laden verabschiedet und die Tür hinter ihr verriegelt hatte, zog sie aus dem Kassensystem den Bon mit der Tagesabrechnung, die einen enormen Umsatz auswies. Es war klar, dass das nicht immer so laufen würde, aber schön zu sehen, war es trotzdem. Sie füllte die Einnahmen in einen Geldbeutel und beschloss, sie zu Hause nachzuzählen, auch das Wechselgeld konnte sie dort vorbereiten und morgen wieder mitbringen.

Ihr Handy vibrierte. Sie warf einen Blick auf das Display.

Meine Liebe, ich gratuliere dir. Wie war der erste Tag als Jungunternehmerin?

Julius.

Clara zog sich das Herz schmerzhaft zusammen.

Kurz verharrte ihr Finger über dem Display, dann schüttelte sie den Kopf. Warum heuchelte er Interesse? Seinetwegen war sie hier, in Dresden. So war es doch, wenn sie ehrlich war. Sonst hätte sie Marthes Angebot, den Laden zu übernehmen, nie angenommen. Das Maison Moritz war eine Flucht.

Sie legte ihr Handy auf den Tresen, holte den Besen und erinnerte sich dann, dass Marthe das Fegen bereits erledigt hatte. Stattdessen eilte sie ins Lager, um noch einmal die Vorräte zu prüfen. Ablenken, das half. Schon immer. Nicht an Julius denken.

Ein halbe Stunde später verließ sie den Laden durch den Vorderausgang. Sie schloss die Tür ab und trat einen Schritt zurück, auf die Frauenstraße hinaus, den Blick nach oben gewandt. Das Haus war in einem Grauton verputzt, der schon fast ins Weiße überging. Vor diesem elegant wirkenden Hintergrund kam das glänzende Schwarz des Emaille-Schildes ihres Ladens besonders schön zur Geltung. Der goldene Schriftzug Maison Moritz, war nun, angeleuchtet in der Dunkelheit, noch schöner als am Tage. Der Name des Ladens war eine Verneigung vor Schloss Moritzburg. Schon als Kind hatte diese Welt sie glücklich gemacht – der prächtige Schlosspark und erst recht die opulenten Barocksäle.

Ein Stoß traf sie im Rücken und riss sie unsanft aus ihren Erinnerungen.

Erschrocken stieß sie einen Schrei aus, konnte sich gerade noch abfangen, indem sie nach dem Arm des Mannes griff, in den sie gerade hineingelaufen, vielmehr gestolpert war.

Oder war er in sie hineingelaufen?

Für den Bruchteil einer Sekunde war Clara so verwirrt, dass sie nicht wusste, ob sie sich entschuldigen oder empören sollte.

In diesem Moment schüttelte der Mann ihre Hand von seinem Arm ab, trat einen Schritt zurück und fuhr sie an: „Haben Sie keine Augen im Kopf, oder was?“

Clara schnappte nach Luft und stemmte die Hände in die Hüften. „Du meine Güte, selbst wenn – das kann man auch freundlicher sagen. Und vielen Dank der netten Nachfrage: Nein, ich habe mir nicht wehgetan.“

„Wie wäre es mal mit einer Entschuldigung?“

„Wissen Sie, eigentlich hätte ich mich entschuldigt, aber Sie geben mir vor lauter Unverschämtheit gar keine Gelegenheit dazu. Macht man das so in Dresden?“

„Wie bitte? Ich komme direkt aus Australien, und da gibt es solches …!“

Clara hielt inne und sah genauer hin. Der Mann war attraktiv. Sehr attraktiv. Und irgendwie kam er ihr bekannt vor. „Sie sind aus Australien, sagten Sie?“, fiel sie ihm ins Wort.

Irritiert brach er seine Tirade ab. Er nickte. „Ja, warum? Spielt das eine Rolle?“

In diesem Moment schaute er sich um, sah die Fensterfront hinauf und schnupperte. „Ihr Laden?“

Sie nickte.

„Riecht immerhin gut.“

„Kennen wir uns?“

Nun blickte er sie sehr konzentriert an. Und sie konnte an seinem Mienenspiel den Moment ablesen, in dem er sie erkannte: Erst war der Blick zögerlich, immer noch skeptisch. Dann schien ihm etwas zu dämmern, seine Züge wurden weicher, was bedeutete, sie wurden noch attraktiver. Dann wich die Verschlossenheit einem Lächeln, das im Bruchteil einer Sekunde seine Augen erreichte. „Clara?“, fragte er und klang tatsächlich überrascht.

Erneut nickte Clara und musste inzwischen ebenfalls lächeln. Er war es! Vor ihr stand Konstantin von Kling! Sie war am Tag der Ladeneröffnung ihrer Jugendliebe in die Arme gestolpert. Was für ein Zufall!

Nun lachte Konstantin laut auf, und Clara musterte ihn genauer. Er war schon damals einen Meter neunzig groß gewesen, aber inzwischen wirkte er sportlicher, fast athletisch, das war selbst durch den hochwertigen dunklen Mantel zu erkennen. Auch sein Gesicht hatte das Teeniehafte verloren, das ihm damals, mit gerade einmal neunzehn Jahren, noch angehaftet hatte. Seine Gesichtszüge waren männlich, das Kinn ausgeprägt, die Nase aristokratisch, aber alles schien einem Gleichmaß verschrieben, ohne kantig zu wirken, und der Dreitagebart stand ihm hervorragend. Sie konnte im indirekten Nachtlicht der Ladenbeleuchtung seine Augenfarbe nicht ausmachen, meinte aber, sich an ein tiefes Blau zu erinnern. Sein dunkles Haar lugte unter einer steingrauen Mütze hervor, ein Modell, das sie sonst nur aus Filmen von Fischern kannte, die ihm jedoch etwas Weitgereistes verlieh, ihn ein wenig wirken ließ wie einen Abenteurer, der die Weltmeere überquert hatte. Der weiche Schal und edle Wollstoff des Mantels bildeten einen interessanten Kontrast, der ihm gleichzeitig etwas Intellektuelles verlieh. Konstantin war heute offensichtlich eine interessante Melange aus Abenteurer, Kosmopolit, griechischer Statue und Junior-Professor. Sie war beeindruckt.

„Das fasse ich nicht. Ich bin erst seit sechsunddreißig Stunden wieder in Dresden, und schon laufe ich dir über den Weg.“

„Ich bin auch erst seit einigen Monaten wieder hier …“

„Und wo warst du die Jahre über?“

„Ich war in Europa unterwegs, vornehmlich in Paris, Brüssel, Wien und London. Ich kann es gar nicht glauben, dass das hier gerade geschieht.“

„Das ist Schicksal, oder? Hast du Zeit? Wollen wir noch spontan irgendwo einen Kaffee oder Wein trinken?“

Wie lange war das her? Sechzehn oder siebzehn Jahre? Inzwischen war sie sechsunddreißig, er war ungefähr so alt wie sie. Sie waren damals jedenfalls keine zwanzig gewesen. Sie hatten in einer Zeit ihr Abitur gemacht, als weniger der klassische Abiball die Schulzeit beendete als vielmehr eine wilde Party und eine anschließende Fahrt des Jahrgangs an die Ostsee, wo sie fünf Tage gezeltet hatten. Das Wetter war blendend gewesen, sie hatten es sich in den Dünen eines Campingplatzes gemütlich gemacht und es sich gut gehen lassen. Vor ihrem inneren Auge liefen Bilder von Strandspaziergängen, Beachvolleyball und Grillabenden ab. Konstantin und sie hatten den langen Sommer, bis das erste Uni-Semester begann, dann noch genutzt, um durch Europa zu reisen. Sechs Wochen lang waren sie unterwegs gewesen. Schon damals hatte sich abgezeichnet, dass sie Kosmopoliten werden würden, die Welt sehen wollten. Das hatte sie beide miteinander verbunden, das und noch einiges mehr. Er war einfach einer von den beeindruckenden jungen Männern ihres Jahrgangs gewesen, vor allem so vielseitig talentiert. Sie platzte vor Neugier, zu erfahren, wie es ihm ergangen war.

Ihr Handy vibrierte in der Manteltasche. Vermutlich war das wieder Julius. Konnte er sich nicht wenigstens jetzt mal zurückhalten?

Wie ist das eigentlich mit uns auseinandergegangen? versuchte Clara sich zu erinnern. Da gab es kein Störgefühl, keinen Schmerzimpuls, der sich meldete, wenn sie an ihre Jugendliebe dachte. So ganz anders als bei Julius …

Wie um unangenehme Gedanken zu vertreiben, schüttelte sie den Kopf und dachte weiter über die Zeit mit Konstantin zurück: Die Beziehung mit Konstantin war damals einfach an der Entfernung der Studienorte gescheitert – sehr undramatisch, fast vernunftgesteuert und dennoch liebevoll zugewandt. Es klang seltsam, wenn sie es so formulierte, aber genau so war es gewesen. Das, was sie verband, die Neugier, die Welt zu sehen, sich vielseitig zu interessieren, hatte sie schließlich entzweit. Aber es war einfacher gewesen, weil beide verstanden hatten, was der jeweils andere wollte.

Ganz anders die Trennung von Julius, die ihr immer noch auf der Seele lag. Insofern verstand sie nicht, warum er sich derzeit so oft meldete. Er sollte verschwinden. Aus ihrem Leben.

Sie sah Konstantin an. Hatte das Universum ihn geschickt?

Konstantin konnte nicht anders: Er schloss Clara in die Arme und drückte sie an sich. Er fühlte sich ihr immer noch so nah, als wäre nicht inzwischen mehr als ein Jahrzehnt vergangen, indem sie sich nicht gesehen hatten. Meist hatten sie sich zum Geburtstag gratuliert, in den sozialen Medien oder in irgendwelchen Messenger-Diensten, aber das war auch schon das Äußerste der Gefühle gewesen.

Clara löste sich aus seiner Umarmung und blieb mit einer Armlänge Abstand vor ihm stehen. Als er sah, wie ihre Augen leuchteten, wärmte es ihm das Herz.

„Hast du gerade erst Feierabend gemacht?“, fragte er. „Das ist aber spät.“

Sie wies stolz neben sich. „Ja, es ist spät, da hast du recht, aber ich habe den Laden heute erst eröffnet.“

Nun war Konstantin nahezu fassungslos. „Du hast heute deine Ladeneröffnung, und wir treffen uns direkt danach?“ Lachend schüttelte er den Kopf. „Jetzt bin ich davon überzeugt, es sollte so sein, dass wir uns wiederbegegnen.“ Er trat einen Schritt zurück und schaute die Fassade hinauf. Ob dieses Haus auch zum Bestand seiner Eltern gehört? Er war nicht sicher, aber sie hatten im Laufe der Jahre in der Dresdener Altstadt mehrere Immobilien erworben. Er war lange in Australien gewesen und hatte nicht jede Investition seiner Eltern mitbekommen. Und seit er wieder hier war, hatte sich noch keine Gelegenheit ergeben, in Ruhe über alles Geschäftliche zu sprechen. Aber eigentlich spielte das jetzt auch keine Rolle, denn es würde seltsam klingen, wenn er darauf verwies.

Sein Blick glitt über das Ladenschild, dann zu der dunkelgrün gestrichenen Holztür mit den Butzenfenstern. Rechts und links der Tür waren mehrere kleine Fenster, die Fensterläden hatten. Sie waren in einem Salbeiton zartgrün gestrichen, was sehr hübsch harmonierte mit den zwei großen Blumentöpfen, die direkt neben der Tür standen und mit grünem Rankwerk bepflanzt waren. Er konnte Efeu und Christrosen ausmachen, doch die Schneedecke ließ nur noch vereinzelte Blätter und Blüten hervorlugen. „Auch wenn ich es nur bisher von außen gesehen habe: Ich bin begeistert und kann mir genau vorstellen, wie hier im Sommer auf dem Bürgersteig noch Tische und Stühle zum Verweilen einladen. Das ist sehr geschmackvoll, ganz toll. Aber warum feiert ihr heute nicht ausgiebig?“

„Wir haben in den letzten Wochen und erst recht in den letzten Tagen so hart gearbeitet, wir hatten keine Zeit und Kraft noch Gedanken an eine Feier zu verschwenden. Und meine Tante, die hier mitarbeitet, ist über sechzig, sie war geschafft.“

„Das kann ich verstehen, auf so ein Ereignis könnt ihr immer noch anstoßen. Bist du Bäckerin?“

„Ich bin gelernte Konditorin mit Schwerpunkt Confiserie, das ist noch mal ein wenig anders gelagert als die klassische Bäckerei: Nach dem Abschluss habe ich in unterschiedlichen Ländern gearbeitet, um mein Handwerk zu verfeinern. Insofern biete ich alles an, vom französischen Biskuit über deutsche Kekse bis hin zu englischen Cookies und Wiener Zuckerbäckerei wie den guten Apfelstrudel.“ Stolz schwang in ihrer Stimme mit. „Aber was führt dich nach Dresden? Du warst doch in den letzten Jahren nur selten zu Besuch, oder?“

„Ja, das war ich. Aber ich lebe in Sydney, da wird jeder Besuch der guten, alten Heimat eine Weltreise, im wahrsten Sinne des Wortes.“

„Und was machst du beruflich? Arzt? Professor für Mikrobiologie? Erfolgsautor? Nein, warte: Du bist Schauspieler?“

Konstantin wusste nicht, ob sie ihn mit der Nennung der Berufe auf den Arm nehmen oder ihm nur signalisieren wollte, wie viel sie ihm zutraute.

„Ich habe eine Consultingfirma und bin an der Börse tätig.“

Er sah die Verwunderung in ihrem Gesicht. „Wenn ich Leute von früher wiedersehe, dann schauen sie immer so, wenn ich ihnen von meinem Job erzähle“, gab er zu.

„Ich glaube, wir haben alle angenommen, du holst den Oscar nach Dresden oder einen Nobelpreis für Medizin.“

„Na ja, nicht so ganz.“

„Gut, wenn du uns keinen Oscar zeigen willst, was führt dich her?“

„Meine Eltern haben inzwischen kleinere und größere Schwierigkeiten, gesundheitlich meine ich. Da habe ich beschlossen, für einige Monate meinen Lebensmittelpunkt, wie man das so schön nennt, wieder hierher zu verlegen. Um dann zu schauen, wie es weitergeht. Das ist der Vorteil an meinem Job, ich bin sehr flexibel.“

„Oh, wie schön, dass du dir Zeit für deine Eltern nimmst. Wie geht es Mira und Kurt?“

„Wir hatten noch nicht genug Zeit, uns länger zu unterhalten.“ Konstantin warf nun einen Blick in den Laden. Da die Lichter bis auf eine indirekte Nachtbeleuchtung gelöscht waren, konnte er die Einrichtung nur erahnen. Es war eine wunderbare Mischung: originaler Fliesenboden, viel Glas, mattschwarze Fronten, die mit Chrom und Messing durchsetzt waren. Alles blitzte und blinkte, wirkte britisch und doch sehr stylisch. Clara schien ein sicheres Händchen in Einrichtungsfragen zu haben, und wenn ihr Naschwerk nur halb so gut war wie ihr Gespür fürs Interieur, dann war er sehr gespannt auf das, was sie in dieser kleinen Backstube zauberte. „Du hast auch eine Backstube, richtig?“

„Ja, hinten im Laden, es gibt auch eine Einfahrt zum Hof mit Zugang zum Laden. Sehr praktisch für Lieferungen, weil die Parkplatz-Situation hier durchaus angespannt ist.“

„Deine Kaffeemaschinen sind aus“, sagte er. „Wollen wir noch irgendwo einen Kaffee trinken gehen? Hast du Zeit? Wenn du nach diesem Tag nach Hause wolltest, könnte ich das verstehen, aber vielleicht darf ich dich in irgendein Café einladen?“

„Vor fünfzehn Minuten habe ich noch drei Kreuze gemacht, den Laden endlich verlassen zu können, weil meine Füße mich wirklich inzwischen umbringen. Aber jetzt noch mal die Kaffeemaschine für unser Wiedersehen anzuwerfen, das ist kein Problem. Mit den neuen Kaffeeautomaten geht das superschnell. Komm, lass uns reingehen. Man soll die Feste schließlich feiern, wie sie fallen“, sagte Clara.

Konstantin konnte gar nicht so schnell schauen, wie sie den Schlüssel ins Schloss geschoben hatte und ihn nun hineinbat.

Er stand im Halbdunkel und sog die Luft ein. Es duftete noch immer köstlich.

Schnell hatte sie schummeriges Licht angeknipst, dann drehte sie das kleine „Geschlossen“-Schild an der Eingangstür um und verriegelte die Tür.

Während Konstantin seinen Mantel ablegte und am Garderobenhaken aufhängte, betrachtete er die Regale. Hier fanden sich kleine Tütchen und Schachteln mit unterschiedlichsten Kreationen, deren Namen er zum Teil noch nie gehört hatte, die aber allesamt wie Musik oder Poesie klangen: Meringue, Paris-Brest en petit oder Sablé pur Beurre. Es gab auch die Klassiker wie Vanilleherzen, Florentiner oder Kokosberge. Er drehte sich um und beobachtete, wie Clara mit wenigen Handgriffen die Kaffeemaschine wieder anstellte und den Milchschäumer in Betrieb nahm.

Dann sah sie ihn an und winkte ihn herbei. „Komm, du kannst gern hinter den Tresen kommen, ich zeige dir alles“, sagte sie und kicherte. „Es ist alles neu und aufregend, ich kann es selbst noch nicht so ganz glauben. Halb Dresden war heute zur Eröffnung da. Du nicht, und deshalb wirst du dir jetzt alles anhören müssen.“

Konstantin grinste. Es war schon ein unglaublicher Zufall, dass er an seinem ersten Tag in Dresden direkt der Frau in die Arme gelaufen war, die ihm früher einmal so viel bedeutet hatte. Ihr kleiner Laden begeisterte ihn. Das war eine andere Welt als die, in der er sich herumtrieb, irgendwelche abstrakten Gewinnkurven in unpersönlichen Onlinebörsen. Die Welt, die jetzt die seine war, war Außenstehenden schwer zu vermitteln. Ja, er hatte zu viele Stunden seines Lebens vor dem Computerbildschirm verbracht und jeden einzelnen Kurswert inhaliert. Aber das hier, das war die positive Seite des Stresses, dem er sich die letzten Jahre ausgesetzt hatte: Er konnte einfach so in Dresden in einem kleinen Laden mit einer Jugendfreundin einen Kaffee genießen, und er hatte Zeit, sich seiner Familie widmen zu können. Kurz wurde er von einer Welle Wehmut erfasst.

Familie.

Das war ein heikles Thema.

Jetzt bloß nicht daran rühren.

Er wusste, dass Clara bei ihrer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen war und sie vor wenigen Jahren verloren hatte. Ein Unfall, der damals ein Schock für alle gewesen war. Seine Familie bestand aus seinen Eltern, und er war dankbar, dass sie noch guter Dinge waren, selbst wenn sie jetzt in ein Alter gekommen waren, wo hier und da Hilfe vonnöten sein würde.

Aber ansonsten?

Er hatte kaum noch Kontakt zu alten Freunden.

Und auch zu Agnes nicht.

Kurz tauchte ihr Bild vor seinem inneren Auge auf. Agnes und er waren damals sehr verliebt gewesen. Sie hatten sich zu Beginn des Studiums kennengelernt, und dann war sie schwanger geworden, unbeabsichtigt.

Damit hatte sein Versagen begonnen.

Der Gedanke, so jung Vater zu werden – es war noch im Grundstudium gewesen –, hatte ihn in Panik versetzt. Und was hatte er getan? Er war mitten im Studium nach Australien gegangen, was komplett unsinnig gewesen war, weil die Studiengebühren und Kosten für den Lebensunterhalt sehr hoch gewesen waren. Aber es war ihm tatsächlich gelungen, ein Stipendium zu erhalten. Natürlich hatte er Agnes angeboten, sie mitzunehmen, wohl wissend, dass ihr das mit einem Baby kaum möglich sein würde. Denn in Dresden konnte sie auf die Unterstützung ihrer Eltern zurückgreifen, aber in Down Under? Irgendwann hatte er es geschafft, sich selbst einzureden, dass sie nicht mit ihm hatte gehen wollen. Inzwischen war er da ehrlicher mit sich: Er war schlichtweg abgehauen.

Ja, er hatte Kontakt zu seiner Tochter. Aber der war bemüht bis dürftig.

Es war eine Entwicklung seines Lebens, die er sehr gern verschwieg. Weil er sich dafür schämte. Weil er sich so verhielt, wie er es bei anderen verwerflich fand. Er hatte zwar gezahlt, immer großzügig, aber das war es auch gewesen. Und nun, da er hier in Dresden war, waren all diese Gefühle wieder so nah. Wie würde es werden, seiner früheren Partnerin wieder zu begegnen und erst recht seiner Tochter, die gerade sechzehn Jahre alt geworden war?

Ella.

Er hatte sie im Laufe der Jahre nur ein paarmal persönlich gesehen. Sie war für ihn wie ein fremdes Kind gewesen, genauso wie er für sie ein fremder Mann, und er war sich unsicher, ob sie ihn auf der Straße überhaupt erkennen würde.

Clara reichte ihm einen Latte macchiato und riss ihn damit aus seinen Gedanken. Er umschloss das Glas mit einer Hand und genoss die Wärme des Getränks. Ja – Wärme, das war es, was Clara und ihr Laden ausstrahlten. Ihr Lachen, die positive Energie, das zischende Geräusch der Kaffeemaschine, all das war eine Ablenkung und eine Wohltat für seine strapazierten Nerven. Er konnte es nicht leugnen, es war wundervoll, jemandem aus seiner Jugendzeit wiederzubegegnen.

„Wenn ich zu viel rede“, sagte Clara, „dann sagst du mir das, ja?“

Ihr Lächeln war zuckersüß, so wie der Kuchenduft, der in der Luft lag.

Konstantin grinste. „Glaube es mir, die Index-Kurven irgendwelcher ETF-Portfolios werden dich nicht interessieren, aber sie haben meine letzten Jahre bestimmt. Ich glaube, ich habe weit weniger zu erzählen als du. Also, bitte: Ich will alles wissen, von deinen Jahren unterwegs und den Köstlichkeiten in diesem Paradies der Zuckerbäckerei.“

Ob sie von mir und Agnes gehört hat? durchfuhr es ihn. Wusste sie, dass er Vater war?

Clara öffnete inzwischen verschiedene Schränke, und er folgte ihr gern, froh darüber, diesem Gedanken entkommen zu können. „In der Kühlung lagere ich einige der Zuckerbäckereien über Nacht, damit sie frisch bleiben, vor allem jene, die Füllungen haben. Das ist anders als beispielsweise bei den Brand- und Mürbeteiggebäcken. Die können teilweise ungekühlt aufbewahrt werden.“

Er blickte in die Schränke, während sie die Deckel einiger Vorratsdosen anhob. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen: winzige Eclairs, gefüllte Baisers in verschiedenen Farben, Macarons, und mehrere Tarte-Kreationen, die Auswahl war enorm.

„Tagsüber sieht das natürlich viel charmanter aus, wenn der Tresen überquillt vor verschiedenen Keksen, Bisquits, Tartes, Törtchen oder auch den allseits beliebten Macarons. Wenn du magst, kann ich uns einen Teller zusammenstellen, und ich würde dir dann erklären, was wir da essen – aber nur, wenn du sie kosten möchtest. Süß ist ja nicht jedermanns Sache.“

„Natürlich, wenn es solches Naschwerk nicht gäbe, hätte ich es erfunden“, erwiderte Konstantin, um einen gespielt empörten Ton bemüht.

Sofort hielt sie ihm einen Keks vor den Mund, der aussah wie ein Florentiner mit Erdbeer-Vanille-Füllung. „Wollen wir schon mal anfangen?“

Überrascht von dieser Geste biss Konstantin zu. Der Geschmack in seinem Mund war erst von der cremigen Vanille-Note bestimmt, dann trat tatsächlich ein Erdbeeraroma hervor, das in karamellisierten Mandelblättchen aufging. Die Komposition zerfiel ihm auf der Zunge, dann entfaltete sich eine Aroma-Explosion, die er in der Schnelle nicht einordnen konnte. „Meine Güte, ist das lecker“, sagt er mit vollem Mund. „Was ist das denn? Wenn die alle so großartig sind, fürchte ich um mein Gewicht. Jedenfalls habt ihr einen neuen Stammgast“, sagte er.

Nun strahlte auch Clara. „Ich sage Marthe ja immer, dass die Probierhäppchen so wichtig sind.“

Er nickte anerkennend. „Wenn die auch nur annähernd so köstlich sind, dann unbedingt.“

Clara schäumte Milch auf, und das laute Geräusch unterbrach das Gespräch.

Ein Moment, den Konstantin nutzte, um sie unauffällig zu mustern. Sie trug einen Bob, der sich bei ihrem Beruf sicherlich anbot, denn der Schnitt war pflegeleicht und stand ihr außerdem ausgezeichnet. Das Haar war fein, und er hätte fast gesagt, die Farbe wäre keksteigfarben, eine warme Mischung aus knusprigen Gebäckstücken. Er musste lachen, in welchen Gedanken er sich verlor, und war dankbar, dass der Milchaufschäumer mit seinem Lärm das Lachen übertönte. Vermutlich hätte es seltsam gewirkt, wie er an den Tresen gelehnt stand und sich amüsierte. Alles an Clara war zart und schmal, was sie jünger wirken ließ.

Sie waren beide ungefähr gleichaltrig, aber Clara hätte man vermutlich auch noch ohne großes Nachfragen abgenommen, dass sie studierte und vielleicht Ende zwanzig war. Sein Blick glitt über ihr Profil, die weichen Lippen, die gerade Nase und die fein geschwungenen Augenbrauen, die über braunen Augen lagen. Sie waren ihm schon bei der Begrüßung aufgefallen, denn sie betonte sie anders, ohne überschminkt zu wirken. Vielleicht war sie auch einfach gereift, denn das Mädchenhafte von früher war verloren gegangen. Er wusste noch nicht so genau, woran er das festmachte, nur dass diese Augen noch eindrucksvoller waren als damals. Er konnte sich noch daran erinnern, wie er als Abiturient oftmals förmlich darin versunken war.

Kurz dachte er an ihren Körper.

Sah sie, wie er sie damals erlebt hatte: Clara, die sich wohlig neben ihm im Bett rekelte, nackt, mit weicher Haut, die im Kerzenlicht zu schimmern schien. Dann sah er, wie sie, beide tastend und küssend, ihre Erfahrungen gesammelt hatten, neugierig forschend und ohne Hemmnisse in Kopf und Herz. Er hatte es nie vergessen.

Es waren wundervolle Zeiten gewesen, einen magischen Sommer lang, und er wollte lieber nicht länger darüber nachdenken. Er wollte wissen, wie es ihr ergangen war. Familiär und beruflich. Alles andere war Vergangenheit.

2. KAPITEL

Zögernd trat Clara durch die Tür und stand auf einmal wieder im Haus von Konstantins Familie, dessen prunkvolle Jugendstilornamente sie damals schon sehr geliebt hatte: Auf dem Boden lagen originale Fliesen im Schachbrettmuster, die Wände waren bis auf gut anderthalb Meter Höhe mit Marmor verkleidet, darüber hing auf der rechten Seite ein großer Spiegel mit Art-déco-Rahmen, auf der linken Seite gab es eine Wandmalerei. Eine Landschaftsszenerie, vermutlich Italien. Sie warf kurz einen Blick in den Spiegel. So wie damals.

Aber es war eine andere Clara, die aus dem Spiegel zurückschaute. Damals eine Teenagerin von vielleicht achtzehn Jahren, heute eine erwachsene Frau. Konstantin hatte seinen Eltern erzählt, dass sie sich getroffen hatten. Seine Mutter hatte sich offensichtlich sehr darüber gefreut und sie gleich zum Kaffee eingeladen.

Sie musste lächeln. Als sie nach Dresden zurückgekehrt war, um Marthes Laden zu übernehmen, hatte sie mit vielem gerechnet: mit jeder Menge Arbeit, mit schlechtem Wetter und mit bergeweise Papierkram rund um die Behörden. Aber erstaunlicherweise entwickelte sich alles anders als erwartet.

Seitdem sie den Laden eröffnet hatte, und das war inzwischen schon zehn Tage her, war es sonnig und kalt, sodass immer noch Schnee auf Dächern und Tannen lag. In den Pausen hatte sie es sich angewöhnt, Spaziergänge in der Altstadt zu machen, die aussah, als wäre sie mit Puderzucker überzogen worden. Vor allem der Anblick der Frauenkirche bannte immer wieder ihren Blick. Die Frauenkirche, die Patin für ihren Taler gestanden hatte. Ein kreisrunder Keks, der dabei war, sich zu ihrem Verkaufsschlager zu entwickeln. Sie konnte es nicht anders sagen: Sie war angekommen. Viele der Dresdnerinnen und Dresdner hatten inzwischen vom Maison Moritz gehört. Gut, manche konnten sich den Namen nicht merken und schienen von der kleinen Keksbude zu reden, aber damit kam Clara zurecht.

Und als Krönung, als wäre all das noch nicht genug des Glücks, war sie über Konstantin gestolpert. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Kurz warf sie ihm einen Blick zu. Er hatte einen Anruf bekommen und lief telefonierend im Hausflur auf und ab.

Vor zehn Tagen hatten sie gemeinsam den ersten Abend seit Jahren miteinander verbracht, hatten sich, Kekse probierend und Kaffee trinkend, an Geschichten von früher erinnert und detailliert erzählt, was sie nach dem Abi gemacht hatten. Seitdem hatten sie jeden Tag miteinander getextet und sich mehrfach getroffen.

Und auch heute waren sie wieder zusammen unterwegs. Dieses Mal würde ihr Treffen aber deutlich privater werden. Noch einmal warf sie einen Blick in den Spiegel und versuchte, mit sich ehrlich zu sein. Denn es ließ sich nicht leugnen: Sie verbrachten eindeutig gern Zeit miteinander, und Dresdens Kultur, die sie als Teenies weniger interessiert hatte, bot so viele Anregungen: Den einen Abend waren sie im Kino gewesen und hatten eine französische Komödie geschaut und dabei viel Popcorn weggeknuspert. In der Semper-Oper hatten sie eine Schwanensee-Aufführung gesehen, die Clara sehr bewegt hatte. Vorgestern hatten sie eine Lesung besucht, bei der Dresdnerinnen von ihren Erfahrungen mit dem Mauerfall berichteten, die sie in einem Essay-Band festgehalten hatten. Die Abende waren so unterschiedlich und anregend gewesen, und ganz gleich, was sie unternommen hatten – an Konstantins Seite fühlte sich alles gut an.

Inzwischen war sich Clara nicht ganz sicher, ob sie noch immer dieses sentimentale Gefühl für ihn hegte, das sie im ersten Moment des Wiedersehens empfunden hatte. War da mehrfach ein Kribbeln über ihren Rücken gelaufen, oder hatte die winterliche Kälte sie frösteln lassen? Hatte sich da Aufregung in die Freude gemischt, mit ihm verabredet zu sein? Und war es nicht vielleicht auch ein wenig schräg, dass sie schon nach so kurzer Zeit bei ihm zu Hause eingeladen war, um seine Eltern wiederzusehen?

Konstantin und sie hatten sich am Neumarkt getroffen und waren Essen gewesen. Er trug wieder seinen dunklen Mantel, den sie so an ihm mochte. Sein Haar war heute welliger als sonst, vermutlich war die Luftfeuchtigkeit höher, weil es doch ein wenig Regen gegeben hatte und der Schnee dabei war, langsam, aber sicher wegzutauen. Dieses Wetter brachte also die Locken zum Vorschein, die er früher durchaus gehabt hatte.

Nun beendete er das Telefonat, winkte ihr zu und wies die Treppe hinauf.

Warum sollte ich nicht seine Eltern besuchen? dachte sie, während sie über den roten Sisalteppich lief, der über die hölzernen Treppenstufen gelegt worden war. Schließlich hatte sie Mira und Kurt damals kennen- und schätzen gelernt, warum sollte sie ihnen nicht einen kleinen Wiedersehens-Sonntagsbesuch abstatten? Sie hatte eine der cremefarbenen Tüten dabei, in der sie eine Mischung verschiedenster Kekse ihres Ladens zusammengestellt hatte.

In der Beletage blieben sie vor der doppelflügeligen Wohnungstür stehen. Clara öffnete ihre Daunenjacke und lockerte den anthrazitfarbenen Wollschal, während Konstantin klingelte.

Mira von Kling öffnete ihnen. Ein wenig fülliger, ein wenig grauer, aber ansonsten sah sie noch so aus, wie Clara sie in Erinnerung hatte.

„Meine Liebe, ich freue mich so, dich wiederzusehen!“, rief Mira und lächelte. Nun zeigte sich ein Netz feiner Linien um die Augen herum und machte deutlich, dass die Zeit auch Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen hatte. Sie erzählten Geschichten, die mit Lachen und mit Zufriedenheit zu tun hatten. Es war ein wenig so, als würde außen an Mira dranstehen, was in ihr verborgen war: viel Lust aufs Leben.

Sie zog Clara in eine herzliche Umarmung, die sie begeistert erwiderte. Dann betraten sie das große Wohnzimmer mit den Stuckdecken. Dort wartete bereits Kurt, der Vater von Konstantin, der immer ruhig und zurückhaltend gewesen war, und der nach der Wende, wenn sie sich recht entsann, im sächsischen Rechnungshof der Landeshauptstadt gearbeitet hatte.

Sie nahmen am Tisch Platz, und es gab Tee und Kuchen, den Mira selbst gebacken hatte. Claras Kekse wurden ebenfalls auf den Tisch gestellt, und während sie Kuchen und Kekse genossen, fragte Mira Clara aus, wie es ihr in den Jahren seit dem Schulabschluss ergangen war.

Dann machten sie es sich auf dem Ecksofa gemütlich. Clara saß neben Konstantin und spürte seine körperliche Präsenz. Es fühlt sich wieder ein wenig so an wie früher, als wir ein Paar waren, dachte sie während des Gesprächs.

„Und hast du schon Kinder?“, fragte Kurt irgendwann unvermittelt.

Clara war überrascht. Diese Frage hätte sie von ihm am allerwenigsten erwartet.

Mira schlug ihm empört auf den Oberschenkel. „Du meine Güte, so was fragt man nicht. Du würdest einen Freund von Konstantin so etwas auch nicht fragen.“

Auch Miras Einwurf erstaunte Clara ebenso: Sie war offensichtlich mit der Zeit gegangen und wusste sehr wohl um den Druck, der auf Frauen ausgeübt wurde, vor allem auf Frauen in ihrem Alter. Konstantin sah auf den Boden und schien sich für das filigrane Muster des Perserteppichs zu interessieren.

Clara wiegelte ab. „Nein, nein. Kein Problem. Ich habe mich vor ein paar Monaten von meinem Freund getrennt. Wir waren lange zusammen, haben in Brüssel gelebt und einen Laden zusammen geführt. Es war alles wunderbar, aber als ich anfing, von Kindern zu träumen – zack, so schnell konnte ich gar nicht gucken, da war er schon weg.“

Kurt schaute zu seinem Sohn hinüber, der noch immer angelegentlich den Teppich betrachtete.

„Wir sind heute noch freundschaftlich verbunden“, fuhr sie fort, „aber ich befürchte, mein früherer Partner wird noch eine Weile brauchen, bis er so weit ist, eine Familie zu gründen. Ich allerdings habe diese Zeit vielleicht nicht, auch da brauchen wir nicht drum herumzureden. Aber es gibt Dinge, die lassen sich halt nicht erzwingen.“

„Ja, so ist das ja auch bei Konstantin, da kann man nichts erzwingen und schon gar nicht von außen“, antwortete Kurt. „Er und Agn…“

Mira schnellte nach vorne und schlug ihm erneut auf den Oberschenkel. Sie lachte Clara an, aber es war ein Lachen, das ihre Augen nicht erreichte. „Was Kurt“, fiel sie ihrem Mann ins Wort, „sagen will: Zu solchen Plänen gehören immer zwei, und alles im Leben kann sich schnell ändern.“

Schweigen breitete sich im Zimmer aus.

Clara ergriff ihre Tasse und trank hastig einen Schluck, weil sie nicht wusste, was sie erwidern sollte. Was hatte Kurt sagen wollen? Warum war seine Frau ihm ins Wort gefallen?

„Ja, so ist es“, sagte Mira nun nachdenklich. Sie sah empört zu Kurt, dann zu Konstantin. „Manche Dinge kann man wirklich nicht ändern: Und wer bekommt immer die dummen Fragen ab? Wir Frauen.“

Erleichtert atmete Clara aus. Mira hatte sie verstanden. Vielleicht war es wirklich an der Zeit, dass Frauen viel offensiver mit solchen Themen umgehen sollten. Lebensvorstellungen konnten sich ändern, und manchmal kam es vor, dass sie auch nicht mehr zusammenpassten.

Sie warf Konstantin einen Blick zu. Er saß zurückgelehnt in der anderen Ecke des Zweisitzers, den sie miteinander teilten, und sah sie jetzt voller Mitgefühl an.

Sie lächelte, und er erwiderte es kurz, griff ihre Hand, drückte sie sanft, um sich dann einen Keks zu nehmen.

Auch er verstand sie.

Clara war dankbar und beschwor sich selbst, das Thema künftig nicht überall breitzutreten. Auch wenn die Leute fragten, wollten sie nicht immer zwangsläufig eine ehrliche Antwort bekommen. Ja, sie wollte offen und ehrlich sein, aber es fühlte sich bei dem Thema Kinder nicht gut an. Weil es Betroffenheit verursachte, ganz so, als hätten Frauen kein anderes Lebensziel. Sie hoffte, dass nicht mehr Leute, denen sie noch wiederbegegnen würde, wie Kurt waren und derart mit der Tür ins Haus fielen. Mit Mitte dreißig konnten solche Fragen eine gefährliche Wirkung haben.

„Ach, übrigens“, sagte Konstantin, „ich habe dir noch gar nicht erzählt, dass das Haus, in dem dein Laden ist, meinen Eltern gehört.“

Clara war dankbar dafür, nicht länger über ihre private Lebenssituation reden zu müssen. Und erstaunt: Sie hatte mit einer Hausverwaltung zu tun gehabt, die stets vom Vermieter oder Eigentümer gesprochen hatte, aber ohne jemals einen Namen zu erwähnen.

„Falls du mal Ärger mit der Hausverwaltung hast“, sagte Konstantin grinsend, „weißt du ja nun, an wen du dich wenden kannst.“

Clara musste lachen.

„So, meine Lieben“, Mira erhob sich, „es war schön, dich wiedergesehen zu haben, Clara, aber Kurt und ich sind heute Abend noch zu einer Skatrunde verabredet. Das heißt, wir brechen jetzt auf. Konstantin, ich lege dir einen Schlüssel auf die Kommode, falls ihr noch sitzen bleiben wollt, könnt ihr das sehr gern machen …“

Binnen weniger Minuten waren Konstantins Eltern verschwunden, und Clara und Konstantin standen im Flur der großen Wohnung. Eben hatten sie noch seine Eltern an der Tür verabschiedet, und dieser Moment war seltsam familiär gewesen.

Clara schaute Konstantin an, eher flüchtig, um ihre Nervosität zu verbergen, die sie nun überkam.

Und da war sie wieder: diese Gänsehaut, die ihr den Rücken hinablief.

Clara sah sich um, um sich auf andere Gedanken zu bringen. „Sag mal, war das nicht dahinten dein Zimmer?“, fragte sie und wies den Flur entlang.

Was für eine bescheuerte Frage. Es war das Zimmer, in dem sie sich damals das erste Mal geliebt hatten, als seine Eltern übers Wochenende verreist gewesen waren.

Konstantin schien nichts von ihren Gedanken zu ahnen. „Ja, das war mein Zimmer.“ Er ging den Flur hinunter und öffnete die Tür.

Zögerlich folgte Clara ihm und trat neben ihn, erwartete einen Exkurs in ihre Vergangenheit. Doch dann lachte sie laut auf. Das Jugendzimmer war verschwunden, und stattdessen befand sich hier nun ein Nähzimmer.

Konstantin zuckte mit den Schultern. „So ist das, wenn der Sohn weit weg lebt. Meine Mutter konnte ausschließen, dass ich am Wochenende überraschend zu Besuch kommen würde. Sie hat das Zimmer verständlicherweise aufgelöst. Deshalb wohne ich in einem Apartment, weil ich hier nicht auf dem Sofa kampieren wollte. Aber selbst, wenn es das Zimmer noch gäbe: Ich wollte nicht so lange bei meinen Eltern wohnen. Du weißt ja, wie das mit Besuch ist, nach drei Tagen geht man sich auf den Senkel.“ Er zögerte. „Und … es tut mir leid, dass mein Vater vorhin so nachgefragt hat, manchmal mangelt es ihm an Feingefühl. Es geht ihn nichts an, aber immerhin ist meine Mutter dazwischengegangen. Hätte ich dazu etwas gesagt“ … Kurz richtete Konstantin den Blick nach innen, dann schüttelte er den Kopf. „Na, ich sage es mal so: Es hätte vermutlich wieder eine Grundsatzdiskussion gegeben.“

Sie verließen das Zimmer. „Wollen wir noch einen Spaziergang an der Elbe machen?“, fragte Clara nun, um das Schweigen zu brechen, das mit einem Mal zwischen ihnen stand und seltsamerweise eine gewisse Schwere hatte.

Konstantin nickte und wirkte erleichtert. Denn jetzt ohne seine Eltern in dieser Wohnung zu stehen, fühlte sich seltsam an. Es war alles vertraut und doch fremd, so nah und doch schon so lange her. Gleichzeitig war alles aufregend und neu. Tatsächlich sah Clara sich kurz in Konstantins Armen, wie sie ihm das Hemd aufknöpfte, aber sie konnte wohl schlecht hier, in der Wohnung seiner Eltern, über ihn herfallen. Vor allem, wenn seine Eltern jederzeit nach Hause kommen konnten. Und überhaupt: Sie waren keine zwanzig mehr.

Clara spürte Hitze in sich aufsteigen.

Sie brauchte frische Luft! Jetzt und sofort.

Als sie das Zimmer gleichzeitig verlassen wollten, streifte Clara mit der Schulter Konstantins Arm. Sie zuckte regelrecht zusammen.

Er bemerkte die Bewegung und hielt inne.

Jetzt stand er vor ihr, viel zu dicht. Sie sah ihn an. Diese Augen. Dieses Meeresblau.

Konstantin wirkte, als hätte er das Atmen vergessen, auch sein Wimpernschlag hatte sich eindeutig verlangsamt. Er schaute sie an, hob langsam eine Hand und strich ihr über die Wange.

Clara sog scharf die Luft ein. Sie war dankbar, dass er die Gänsehaut nicht sehen konnte, die seine Berührung auslöste, und die nun ihren Rücken hinabprickelte. Die wievielte Gänsehaut war das in dieser Stunde?

Er beugte sich vor, ganz langsam. „Darf ich?“, fragte er leise.

„Unbedingt.“ Clara reckte sich ihm entgegen, schloss die Augen und versank in seinem Kuss.

Ja, tatsächlich, sie waren keine zwanzig mehr.

Das hier war weitaus besser.

Das Apartment, das Konstantin von seinen Eltern zur Verfügung gestellt worden war, war perfekt ausgestattet. Auf der weitläufigen und überdachten Terrasse stand sogar ein Whirlpool, den er trotz der Jahreszeit in Betrieb hätte nehmen können. Konstantin saß am großen Esstisch und genoss den Ausblick aus den bodentiefen Fenstern über Dresden hinweg. Alles war anders, als er es sich vorgestellt hatte. Erfreulicherweise ging es seinen Eltern besser als befürchtet, vielleicht trug auch seine Anwesenheit dazu bei, und entgegen seiner Erwartungen hatte er bisher weder Agnes getroffen noch seine Tochter. Wenn ihn vorab jemand gefragt hätte, wem er in Dresden zuerst in die Arme laufen würde, dann hätte er eine dieser beiden Frauen vermutet. Natürlich hatte er sich bei beiden gemeldet, aber bisher hatte nur Agnes ein Treffen vorgeschlagen, Ella war schweigsam geblieben, und er konnte es verstehen.

Die Begegnung mit Clara wiederum wühlte ihn zutiefst auf. Sie hatten sich gestern geküsst und schon überlegt, ob sie zu ihm oder zu ihr gehen wollten, aber ein Anruf ihrer Tante hatte sie in die Realität zurückgeholt. Marthes Frage, ob Clara noch drei Stiegen mit jeweils dreißig Eiern einkaufen könnte, hatte jegliche Romantik und erst recht Erotik erledigt. Denn an einem Sonntag drei Stiegen zu ergattern, war nur bei einem Bauer im Umland möglich gewesen, den Clara kannte. Sie waren aufs Land gefahren, und für einen Spaziergang war es inzwischen zu dunkel geworden. Er hatte es nicht gewagt, sie noch einmal zu küssen, weil er sich unsicher war, ob sie eine Entschuldigung gemurmelt hatte. Und wenn dem so war – wofür? Dafür, dass sie sich geküsst hatten, oder dafür, dass ihre Tante mit einer Eierbestellung für den Realitätscheck gesorgt hatte?

Das war nicht gut.

Gar nicht gut, ganz gleich wie die Antwort lautete. Er war dabei, sich zu verlieben. Das durfte auf keinen Fall passieren, denn es war deutlich, dass Clara nicht abgeneigt war. Wenn er Beziehungen einging, mündete das offenbar immer im Chaos und im Unglück. Vielleicht sollte er mal eine Therapie machen, um herauszufinden, warum er nicht dazu in der Lage zu sein schien, eine erfolgreiche Beziehung zu führen.

Das Piepen seines Handys ließ ihn aufschauen. Er hatte Ella am Morgen eine weitere Nachricht geschrieben. Sie hatte nicht darauf reagiert, und noch hoffte er, wenn eine Nachricht einging, dass die von ihr sein könnte. Er nahm sein Smartphone, schaute auf das Display und tatsächlich: Dieses Mal war es Ella.

Wir können uns heute nicht treffen. Ich habe so viel zu tun mit der Berufsschule.

Wie wäre es in den kommenden Tagen? tippte er umgehend ein, weil er sehen konnte, dass sie noch online war.

Ne, sorry, habe leider keine Zeit.

Dann melde dich, wenn es passt. Ich würde mich freuen. Liebe Grüße

Ok

Konstantin seufzte. Genau das war es, worüber er gerade nachgedacht hatte. Dass das Verhältnis zu seiner Tochter so schlecht war, war darauf zurückzuführen, dass er geschäftlich zielstrebig, erfolgreich und top ausgebildet war, aber privat auswich. Und das war noch freundlich formuliert.

Genau aus diesem Grund musste er im Umgang mit Clara aufpassen. Er wollte in ihrer Nähe sein, ihre Gegenwart genießen, aber er musste sich und vor allem sie davor beschützen, sich näher aufeinander einzulassen. Denn er würde einen Teufel tun, ihr reinen Wein einzuschenken, was für ein emotionaler Dilettant er war, und ihr von Ella erzählen. Mit Offenheit hatte er es zweimal versucht, in Australien. Was aber nur dazu geführt hatte, dass beide Frauen der festen Überzeugung gewesen waren, mit ihnen wäre alles anders. Was leider eine vergebliche Hoffnung gewesen war, was wiederum die jeweilige Beziehung sehr verkompliziert hatte.

Konstantin sah auf seine Armbanduhr und schob den Kaffeebecher beiseite. Es wurde Zeit aufzubrechen, denn er war um 15.30 Uhr mit Clara auf dem Striezelmarkt verabredet. Die Buden für den jährlichen Weihnachtsmarkt, den es bald sechshundert Jahre gab, waren bereits aufgebaut, und nun liefen die Vorbereitungen auf dem Altmarkt auf Hochtouren. Sogar der große Weihnachtsbaum stand bereits, in diesem Jahr war die Tanne 23,5 Meter hoch und stammte aus der Nähe von Pulsnitz. Dort gab es also nicht nur Lebkuchen, sondern auch beeindruckend hohe Nadelbäume.

Clara hatte ihm nur eine Sprachnachricht mit der Frage geschickt, ob er sie zu einem Termin begleiten wolle. Einen Grund für den Vor-Ort-Besuch hatte sie nicht genannt. Ob sie dort einen Stand anmieten wollte? Aber soviel er wusste, gab es eine Anmeldefrist, die bestimmt längst abgelaufen war. Vielleicht war kurzfristig ein Stand frei geworden?

Schon von Weitem konnte Konstantin Clara sehen, die auf den Weihnachtsmarkt zusteuerte. Mittig ragte auf dem Platz die noch ungeschmückte Tanne in die Höhe, die Bühne war schon aufgebaut, und das Riesenrad stand ebenfalls. Viele der Buden beziehungsweise Stände waren bereits an ihrem Platz, Transporter fuhren in den Gassen zwischen den Ständen im Schritttempo umher, vermutlich für erste Anlieferungen. Soviel er wusste, wurde der Markt stets am Mittwoch vor dem ersten Advent eröffnet. Er konnte sich erinnern, dass im letzten Jahr sogar das Fernsehen vor Ort gewesen war.

Clara blieb vor ihm stehen und umarmte ihn zur Begrüßung, sodass er ihr zartes Parfüm riechen konnte. Oder war es der Duft der Backstube? „Was führt uns denn zum Striezelmarkt?“, fragte er neugierig.

„Die Wirtschaftsförderung der Stadt hat mich kontaktiert. Sie bieten seit mehreren Jahren einen Newcomerstand auf dem Striezelmarkt an, bei dem kleinere Aussteller mal das große Weihnachtsgeschäft ausprobieren können. Für eine Woche dürfen kleine Unternehmen sich hier ausprobieren, meist sind sogar zwei Händlerinnen und Händler gleichzeitig in einer Hütte, also an einem Stand, da sie ja recht groß sind. Nun hat man wegen der großen Nachfrage von kleineren Anbieterinnen und Anbietern, und vermutlich auch, weil die Zahl der Aussteller dennoch leicht rückläufig ist, das Konzept ausgebaut. Es wird drei Newcomerstände geben: einen geteilten, in dem zwei Händlerinnen und Händler zusammen ihre Produkte anbieten und bei dem das Team wöchentlich wechselt. An dem zweiten Stand gibt es einen vierzehntägigen Wechsel für jeweils einen Anbieter, und der dritte Stand soll durchgehend von einem Anbieter bespielt werden. So hat er es formuliert.“

Konstantin lauschte konzentriert, das klang spannend.

Clara beugte sich vor. „Der Anbieter für den dritten Stand ist kurzfristig ausgefallen, und nun möchte man mir den Stand anbieten, weil mein Konzept für das Maison Moritz so überzeugend ist.“

„Weißt du, was das für eine Auszeichnung ist? Man bietet dir den Stand an, bei dem es keinen Wechsel der Aussteller gibt? Habe ich das richtig verstanden?“, fragte Konstantin.

„Genau, ich habe einen Stand für mich allein, die ganze Zeit. Ich empfinde das auch als eine große Ehre, und ich bin so aufgeregt“, Clara wippte nervös von einem Fuß auf den anderen, „denn da kommen jährlich zwei Millionen Besucherinnen und Besucher. Zwei Millionen, stell dir das mal vor“, hauchte sie mit weit aufgerissenen Augen. „Und soviel ich weiß, sind die Stände kostenfrei oder derart günstig, dass es kaum der Rede wert ist.“

„Ich würde dich jetzt gern nehmen und dich in der Luft herumwirbeln, aber ich vermute, das möchtest du nicht so gern, oder?“

Sie grinste. „Nein, weil jede Sekunde der Typ von der Wirtschaftsförderung kommt. Aber weißt du was? Das ist noch nicht alles. Denn mit dem großen Stand, ich nenne ihn jetzt mal so, ist auch noch eine Charity-Aktion des Weihnachtsmarktes verbunden, die Kindern aus dem Wohnheim des Moritz-Stiftes Dresden zugutekommen soll.“

„Na, dass das Maison Moritz sich für das Wohnheim des Moritz-Stiftes starkmacht, ist ja naheliegend.“

„Du kennst es?“

„Ja, das gibt es schon seit Jahrzehnten, meine Eltern unterstützen es auch, das Team leistet da tolle Arbeit. Dort leben Kinder, die keine Familie mehr haben oder deren Eltern es nicht schaffen, sich um ihre Kinder zu kümmern, das kann ja viele Gründe haben. Es sind sehr viele schwere Schicksale, die dort aufeinandertreffen.“ Dass er auch schon mehrfach gespendet hatte, verschwieg er.

„Ich fühle mich denen auch sofort wegen des Namens nahe“, plauderte Clara aufgeregt weiter. „Jedenfalls sollen dabei auch meine Frauenkirchen-Taler eine Rolle spielen.“

„Ich bin beeindruckt, aber so richtig! Gleichzeitig finde ich, dass du das verdient hast. Und ich kann allen erzählen, dass ich schon mal in der Backstube war, in der diese Leckerei entsteht.“ Er streichelte ihr die Wange und musste sich zusammenreißen, um nicht zusammenzuzucken, so sehr durchfuhr es ihn, als er ihre weiche Haut berührte.

Warum hatte er das getan?

Er musste damit aufhören. Noch immer wusste sie nichts von seiner Tochter, und ahnte nicht, dass er dem Stift selbst schon Spenden hatte zukommen lassen. Denn spenden und schweigen, das waren seine Stärken. Weil er es nicht hinbekommen hatte, sich um seine Tochter zu kümmern, hatte er stets Wert darauf gelegt, sich für andere Kinder einzusetzen. Seitdem er eigenes Geld verdiente, spendete er immer wieder.

Die Tatsache war gut, der Hintergrund blieb traurig.

Das konnte er nicht leugnen.

Konstantin ließ seinen Blick über den Altmarkt und die Altbauten schweifen, die um den Platz herumstanden. Viele Fassaden aus Sandstein, durchlaufende Erker, ziegelrote Satteldächer, die eine oder andere D...

Autor

Emma Winterberg
<p>Emma Winterberg hat schon früh ihre Liebe zum Schreiben entdeckt. Bereits als Kind hat sie sich Geschichten ausgedacht und zu Papier gebracht. Lesen und Schreiben ist für sie wie eine Reise in andere Zeiten und Länder. In der Wirklichkeit reist Anne Taylor vorzugsweise nach Bella Italia. Ihr Traumland ist allerdings...
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Sophie Scherrer
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