Jakes tröstende Arme fühlten sich so gut an.
Zu gut, dachte Rebecca, als sie die Tränen zurückdrängte und sich aus seiner Umarmung löste.
Sie wusste nicht, wie lange ihr Kopf auf seiner Brust gelegen und Jake ihren Kopf gestreichelt hatte. Für einen Augenblick hatte sie jede Kontrolle über sich verloren.
„Es tut mir leid, Jake“, murmelte sie peinlich berührt. „Ich wollte Ihnen gegenüber nicht die Fassung verlieren. Der Tag war nur so lang, und ganz plötzlich schien alles auf mich einzustürmen. Und jetzt habe ich auch noch Ihr schönes weißes Hemd mit meinem Lidschatten verschmiert.“
Sie warf ihm einen Blick zu und sah, dass seine braunen Augen sie besorgt musterten.
Belustigung, Ekel, Überraschung … Alles wäre besser gewesen als dieses Mitgefühl. Wieder kämpfte sie gegen die Tränen an.
„Vergessen Sie es“, murmelte er. „Geht es jetzt wieder?“
Während sie in seinen Armen gelegen hatte, ihre Wange an seine gedrückt, da hatte er sie Becca genannt. Niemand hatte sie bisher so genannt, und sie fragte sich, warum es aus seinem Mund so bezaubernd und natürlich klang. Sie atmete tief durch, nickte und öffnete die Tür. „Ja, mir geht’s gut. Bitte treten Sie ein, dann führe ich Sie herum.“
Sie betraten ein kleines Wohnzimmer, das fast überquoll vor altem Mobiliar, Zeitschriften- und Zeitungsstapeln sowie Regalen mit allerlei verstaubtem Plunder. Die Fenster waren geöffnet, doch eine Außenmarkise schirmte die Sonnenstrahlen ab, sodass das unaufgeräumte Zimmer in ein düsteres Zwielicht getaucht war.
Als Rebecca eine Tischlampe anknipste, sagte Jake: „Ich glaube, ich war acht Jahre alt, als ich Apache Wells zum ersten Mal mit Quint zusammen besucht habe. Soweit ich mich erinnere, hat Ihre Tante damals schon hier gewohnt. Es wird ein seltsames Gefühl sein, hier vorbeizufahren und zu wissen, dass sie nicht mehr da ist.“
Rebecca deutete mit einer Hand durch das Zimmer. „Es ist kaum zu übersehen, dass meine Tante sehr bescheiden gelebt hat. Wahrscheinlich wollte sie das so.“
„Vielleicht konnte sie sich nicht mehr leisten“, vermutete er.
„Meine Tante war keine arme Schluckerin“, erklärte Rebecca. „Sie hatte viel Geld auf ihrem Bankkonto.“
„Dann hat sie vermutlich für etwas Wichtigeres gespart.“
Etwas Wichtigeres? Das Geld, das Anwesen – all das hatte sie Rebecca hinterlassen.
Nichts im Leben ihrer Tante oder ihren letzten Wünschen ergab irgendeinen Sinn. Hatte die Frau nur deshalb so bescheiden gelebt, um Rebecca ein kleines Vermögen zu hinterlassen? Sie hatte ihre Nichte doch überhaupt nicht gekannt.
Rebecca wünschte, sie könnte verstehen, was all das zu bedeuten hatte.
„Folgen Sie mir in die Küche“, sagte sie zu Jake. „Ich würde Ihnen ja etwas anbieten, aber ich fürchte, es ist nichts zu essen oder zu trinken im Haus.“
„Ich brauche nichts“, versicherte er. „So lange ist es ja noch nicht her, dass wir bei Abe Erfrischungen hatten.“
Die Küche war winzig, beherbergte eine Schrankreihe sowie ein einziges Spülbecken mit einem Fenster darüber.
Durch die vergilbten, ausgebleichten Vorhänge waren in weiter Ferne die aufragenden Gipfel einiger Wüstenberge zu sehen. Zwischen ihnen und dem Haus lag freies Land, mit grünem Gras, Salbeifeldern und blühenden Yuccapflanzen.
„Sehen Sie sich mal diesen Kühlschrank an“, sagte Jake. „Ich wette, der hat mindestens fünfzig Jahre auf dem Buckel.“
Rebecca warf einen Blick auf das Gerät mit seinen abgerundeten Ecken und dem verchromten Griff. Obwohl die Farbe schon abgenutzt war und stellenweise der Rost durchschimmerte, funktionierte das Ding noch. Und das, obwohl irgendjemand – sie hatte keine Ahnung, wer – die Vorräte aus den Fächern genommen hatte. Vermutlich, um sie nicht verderben zu lassen. Vielleicht hatte Gertrudes Freundin Bess das übernommen.
„Ja, Tante Gertrude hielt wohl nichts davon, irgendetwas auszutauschen, solange es noch funktionierte.“ Damit war sie das genaue Gegenteil ihrer Zwillingsschwester, dachte Rebecca sarkastisch.
In Houston war Gwyn unaufhörlich damit beschäftigt, ihr Haus mit dem Neuesten und Besten auszustatten. Die Gegensätzlichkeit der Schwestern war schockierend. Rebecca fragte sich nun umso mehr, wie es wohl zum Bruch zwischen den beiden gekommen war.
Sie deutete in einen kurzen Gang, der aus der Küche hinausführte. „Die Schlaf- und Badezimmer sind da hinten. Ich würde Sie Ihnen ja zeigen, aber dort herrscht eine entsetzliche Unordnung. Würden Sie gern einen Blick hinters Haus werfen?“
„Sicher.“
Er folgte ihr zur Küche hinaus, auf eine hölzerne Veranda, die von einem Vordach geschützt wurde.
An einem Ende bewegten sich die dünnen Äste einer Wüstenweide in der schwachen Brise und verteilten ihre Lavendelblüten auf dem staubigen Bretterboden.
Das Gras im Garten war lang, ungepflegt und voller Unkraut. Unwillkürlich musste Rebecca an den gepflegten Rasen ihrer Mutter in Houston denken.
Dort kümmerte sich ein eigens dafür angestellter Gärtner regelmäßig um das St.-Augustine-Gras. Und teure Gartenmöbel waren in optisch ansprechender Weise unter dem Schatten einer Eiche aufgestellt.
Gertrude O’Dell hat anscheinend nicht einmal eine Verandaschaukel besessen, dachte Rebecca bedrückt.
„Sieht aus, als seien hier auch einige Aufräum- und Reparaturarbeiten nötig“, bemerkte Jake. „Ich wusste gar nicht, dass ein Schuppen hinter dem Haus steht. Von der Straße aus wird er von den Bäumen verdeckt. Werden dort irgendwelche Tiere oder Gerätschaften aufbewahrt?“
„Keine Traktoren oder sonst irgendetwas in der Art“, gab sie zurück. „Allerdings gibt es drei Stallkatzen. Und heute Morgen war noch ein Pferd da. Wahrscheinlich bewegt es sich frei zwischen Schuppen und Weide. Als ich es gesehen habe, war es jedenfalls nicht in eine Stallbox gesperrt. Irgendwo ist auch noch ein Hund.“
„Lassen Sie uns nachsehen“, schlug er vor. Dann warf er einen Blick auf ihre High Heels. „Sie vielleicht besser nicht.“
„Der Boden ist hart und trocken. Um meine Schuhe mache ich mir keine Sorgen, Jake.“
Er lächelte, und für einen kurzen Moment durchlebte sie noch einmal seine kurze Umarmung.
Sein Körper hatte sich warm angefühlt. Unglaublich warm. Und seine Muskeln waren kraftvoll und hart. Sein männlicher Duft hatte sie eingehüllt, und sie sehnte sich danach, ihr Gesicht im V-Kragen seines T-Shirts zu versenken und sich an ihn zu klammern, bis sie die Welt um sich herum und ihre Probleme für eine Weile vergessen konnte.
Ihre heftige Reaktion auf den Cowboy erschreckte und verwirrte sie. Rebecca hatte männliche Gesellschaft immer genossen, dennoch hatte sie ihr Glück nie von einem Mann abhängig gemacht. Wie konnte sie auch, wo doch alle Leute, die sie bisher kennengelernt hatte, so unbeständig und unzuverlässig gewesen waren wie der Wind?
In all den Jahren hatte sie auf die harte Tour gelernt, dass Männer sich fortwährend an erster Stelle sahen. Ein Opfer erbringen bedeutete für sie, auf Footballtickets verzichten und sie stattdessen in die Oper auszuführen. Darauf konnte sie gut verzichten. Zumindest glaubte sie das.
Natürlich gab es immer wieder Momente wie den auf der Apache Wells Ranch, als sie Mauras und Quints liebevolles Gespräch über ihre kleinen Söhne mitgehört hatte. Dann fragte sie sich, ob sie jemals selbst diese Art von Liebe finden und irgendwann eigene Kinder haben würde.
„Gut.“ Jake unterbrach sie in ihren trüben Gedanken. „Dann gehen Sie voran.“
Sie hatten kaum die Veranda verlassen, als sich ein rot-brauner Hund mit langem Fell unter dem Hofzaun hindurchschob und auf sie zugerannt kam. Seinem Schwanzwedeln nach zu urteilen, freute er sich, Rebecca zu sehen. Sie bückte sich und streichelte ihm über den Kopf.
„Ich war überrascht, dass meine Tante Tiere hinterlassen hat“, sagte sie zu Jake. „Vor meiner Abreise muss ich sie wohl zu irgendjemandem bringen, der sie in ein neues Zuhause vermitteln kann. Außerdem muss ich einen vertrauenswürdigen Makler auftreiben, der sich um das Anwesen kümmert.“
Jake musterte sie eingehend. „Hat Gertie denn kein Testament hinterlassen?“, fragte er nachdenklich.
Rebecca schoss das Blut in die Wangen, auch wenn sie selbst nicht verstand, weshalb sie die Frage beunruhigen sollte. Es war schließlich kein Verbrechen, etwas zu erben. Auch nicht ein so heruntergekommenes Anwesen wie dieses. „Doch. Gertrude hat mich zur Alleinerbin bestimmt.“
Sie steuerte auf den Stall zu, und Jake schlenderte neben ihr her.
Auf der Rückseite des Hofs wuchs eine Gruppe Zitterpappeln, und als sie ihre Schatten durchquerten, war die Luft trocken und angenehm. Rebecca nahm an, dass es in der Nacht richtig kalt werden würde.
„Warum bleiben Sie dann nicht hier und nutzen das Anwesen?“, fragte er. „Oder besitzen Sie bereits eine Wohnung in Houston?“
War der Mann verrückt? Wie konnte er glauben, dass sie auf Gertrudes altem Gehöft unterkommen wollte oder musste? Sie hatte ihm und seinen Freunden zwar erzählt, dass sie als Modeeinkäuferin arbeitete, doch offensichtlich hatte Jake die Bedeutung ihrer Arbeit nicht ganz verstanden. Zumindest nicht die Bedeutung für ihr eigenes Leben.
„Ein Jammer“, sagte er. „Mit etwas liebevoller Pflege könnte man das zu einer hübschen kleinen Behausung machen. Aber ich nehme an, eine so extravagante Dame wie Sie würde sich nie mit etwas so Schlichtem abgeben.“
Seine Stimme klang keineswegs sarkastisch oder gar anklagend. Er sprach einfach nur aus, was für ihn eine Tatsache war. Rebecca war sich jedoch nicht so ganz sicher, ob ihr das Bild gefiel, das er sich von ihr machte.
„Morgen werde ich noch nicht abreisen“, entgegnete sie. Dabei fragte sie sich, weshalb sie es wichtig fand, ihn das wissen zu lassen. „Ich werde ein paar Tage brauchen, um mich hier um alles zu kümmern und das Anwesen zum Verkauf herzurichten.“
„Nun, ich hoffe, dass alles so kommt, wie Sie es sich vorstellen“, sagte er leise.
„Das hoffe ich auch“, murmelte sie und ging schneller, bis sie den Stall erreicht hatte.
Der Bau bestand aus Brettern und hatte ein Wellblechdach. Der Anstrich war irgendwann einmal weiß gewesen, verblasste jedoch längst zu einem kraftlosen Grau.
Die schwächer werdenden Sonnenstrahlen fielen durch zwei breite, offene Türen auf einen schmutzverkrusteten Boden.
Im Innern kauerten zwei Katzen – die eine grau gestreift, die andere weiß – auf einem kleinen Stapel Heuballen.
Daneben streckte sich ein gelber Kater im Schatten einer mit zahlreichen Rostlöchern gespickten, eisernen Tränke.
Wohin sie ihren Blick auch richtete – alles hier sah aus, als sei es vor langer Zeit in Vergessenheit geraten. Als wäre ihre Tante nicht erst gestern, sondern schon vor Jahren gestorben. Diese Vorstellung machte Rebecca nur noch trauriger.