Falsches Spiel mit Miss Betsys Herzen

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Betsys Schicksal scheint besiegelt: Sie muss eine Stelle als Gesellschafterin antreten, um ihre vom Ruin bedrohte Familie zu unterstützen. All ihre Bemühungen, in dieser Saison einen vermögenden Adligen als Ehemann zu gewinnen, sind kläglich gescheitert. Noch ein letzter Besuch bei ihrem Bruder auf dem Lande, bevor ihr entbehrungsreiches Leben beginnt … da begegnet ihr die Liebe in Gestalt des charmanten Gutsverwalters James. Sein Kuss lässt ihr Herz aufgeregt klopfen, auch wenn James weder vermögend noch adlig ist. Was Betsy nicht weiß: James ist ein Viscount, hat aber einen sehr guten Grund, ihr das zu verschweigen!


  • Erscheinungstag 19.08.2025
  • Bandnummer 434
  • ISBN / Artikelnummer 0814250434
  • Seitenanzahl 256

Leseprobe

Annie Burrows

Falsches Spiel mit Miss Betsys Herzen

1. KAPITEL

James Patterdale, der älteste Sohn des Earl of Darwen und mit seinem eigenen Titel der Viscount Dundas, verharrte an der Kreuzung und fragte sich, welchen Weg er einschlagen sollte.

Er blickte zu seiner Linken und dann zu seiner Rechten. In gewisser Weise glaubte er nicht, dass es etwas ausmachen würde, welchen Weg er wählen würde. Wohin er sich auch auf Lord Bramhalls Gut begab, er war sicher, dasselbe vorzufinden. Er hatte nur eine einzige, recht unbequeme Nacht im Herrenhaus verbracht, das nahezu verfallen war. Heute waren ihm während seines Ausritts zum nächstliegenden Dorf viele Dächer aufgefallen, die einer Reparatur bedurften, und Läden, die aussahen, als würden sie kaum über die Runden kommen. Der einzige Ort, der noch zu gedeihen schien, war das Wirtshaus, was für die Nüchternheit der Anwohner nichts Gutes verhieß.

Wohin er auch blickte, entdeckte er Zeichen der Verwahrlosung. Im Park lagen die Äste der Bäume, die während eines Unwetters herabgerissen worden waren, noch immer dort, wo sie gefallen waren, und versperrten den Menschen den Weg. Auf den Ackerländern hatte sich Unkraut auf den Feldern ausgebreitet, die stattdessen einträgliche Ernten hätten hervorbringen sollen, wenn man sah, wie fruchtbar der Boden hier war. Und um das Herrenhaus herum hatten auf den Wiesen, die früher wahrscheinlich gepflegte Rasenflächen gewesen waren, bunte Wildblumen überhandgenommen.

Perfekt! Genau ein solches Projekt hatte er gebraucht. Sein einziges Dilemma war, wo er beginnen sollte.

Er war kein besonders belesener Mann und hatte die Poesie ganz besonders verabscheut, aber als er jetzt so auf seinem Pferd saß und überlegte, in welche Richtung er weiterreiten sollte, kam ihm der Gedanke, dass er unversehens auf eine Metapher für sein Leben gestoßen war.

Denn obwohl er gesund und reich war, hatte er in letzter Zeit das Gefühl gehabt, dass er weder ergiebig noch bedeutsam war. Im Grunde genau wie Lord Bramhalls Gut, das eigentlich ausgesprochen ertragreich hätte sein sollen.

Socks rührte sich unter ihm, als würde ihr seine Anspannung auffallen. James beugte sich vor und tätschelte ihr den Hals.

„Ich weiß, du möchtest dich bewegen und etwas tun, nicht wahr? Ich auch. Deswegen bin ich hergekommen.“

Er hatte überall erzählt, dass er die Hausparty verlassen musste, weil seine vor Kurzem verheiratete Schwester Daisy seine Hilfe brauchte. Er sollte ihrem Mann Ben aus den Schwierigkeiten helfen, in denen er im Moment steckte – in diesem Fall, seinem Gut. Es war nicht Bens Schuld, dass das Anwesen in so übler Verfassung war. Er hatte gerade erst geerbt, und obwohl er bereits Pläne gefasst hatte, hatte er sie sofort aufgegeben, als es Bonaparte irgendwie gelungen war, von Elba zu flüchten. Und so war es Ben wichtiger erschienen, zu seinem Regiment zurückzukehren. Daisys Brief hätte in keinem günstigeren Moment kommen können, denn James war mit seiner Familie am Ende seiner Geduld angelangt.

Jeder von ihnen schien den gesamten Sommer immer in der Wattlesham Priory zu verbringen – mitsamt so vielen Freunden, wie sie in dem weitläufigen Haus nur unterbringen konnten. Und während alle anderen sich blendend zu unterhalten schienen, hatte er selbst ihren Eskapaden mit wachsendem Ärger zugesehen. Für seine jüngeren Brüder war es natürlich großartig. Sie amüsierten sich mit dem üblichen Zeitvertreib, hielten Scheingefechte auf dem ganzen Anwesen ab oder spielten sich gegenseitig Streiche. Aber James war jetzt vierundzwanzig Jahre alt und hatte schon längst keine Freude mehr daran, ahnungslosen Freunden mit einem Eimer Wasser über deren Tür eine Falle zu stellen oder sie mit im Gebüsch versteckten Drähten zu Fall zu bringen, um das zweifelhafte Vergnügen zu haben, sie mit dem Gesicht nach unten in einer Pfütze landen zu sehen.

Seine vier jüngeren Brüder hatten ihn beschuldigt, ein Spielverderber geworden zu sein, und verkündet, dass er nicht das Recht habe, so herablassend zu sein, nur weil er der Älteste sei. Daraufhin hatten sie ihre Bemühungen verdoppelt, ihn auf ihr Niveau herabzuziehen, und er hatte ihnen im Großen und Ganzen widerstanden. Aber er hatte seinem Vater nicht ausweichen können, der ihn dafür gescholten hatte, dass er angeblich jedermanns Freude einen Dämpfer versetzte.

„Du solltest junge Leute in ihrer Verspieltheit ermutigen“, hatte er sich beschwert – ziemlich mürrisch, wie James fand. „Jungen in dem Alter brauchen eine gesunde Weise, ihrem Übermut Luft zu verschaffen.“

Was so ziemlich der letzte Tropfen gewesen war. „Als Vater vierundzwanzig war“, teilte er Socks beleidigt mit, da er in letzter Zeit das Gefühl hatte, sein Pferd sei das einzige Geschöpf, mit dem er reden konnte, war er seit fast zehn Jahren schon Earl gewesen. Ihm hat niemand im Nacken gesessen und ihm gesagt, wie er sich verhalten sollte. Niemand erwartete von ihm, unmöglich hohen Erwartungen gerecht zu werden, während man ihm gleichzeitig verweigerte, richtige Arbeit zu leisten. Und noch wichtiger, er war damals schon verheiratet gewesen und ich und Daisy waren schon auf der Welt. Niemand hat sich ihm damals in den Weg gestellt und ihn davon abgehalten, erwachsen zu werden.

„Zum Henker, Socks“, fuhr James fort und hob erstaunt die Augenbrauen. „Gleich zwei Erleuchtungen in ebenso vielen Minuten.“ Denn ihm war klargeworden, dass es genau das war, was sein Vater tat. Er hielt ihn in einem Zustand der Unreife gefangen und erlaubte ihm nicht, erwachsen zu werden, indem er sich weigerte, ihn irgendwelche Verantwortlichkeiten übernehmen zu lassen. James wünschte nur, er hätte das vorher erkannt. Es hätte ihm vielleicht ermöglicht, eine konstruktivere, vernünftigere Unterhaltung mit seinem Vater zu führen, statt einfach nur zunehmend bitterer zu werden, weil er das Gefühl hatte, mit dem Kopf gegen eine Wand zu laufen.

„Dem Himmel sei Dank für Daisys Brief im genau richtigen Moment“, informierte er Socks, die schnaubte und den Kopf schüttelte, als würde sie vollkommen verstehen, was er meinte. Das war das Großartige bei Pferden – diese Bindung, die sie zu jedem knüpften, der sie ritt. „Denn er lieferte mir die perfekte Ausrede abzureisen, bevor Vater mich hinauswerfen oder ich voller Wut davonstürmen konnte. Bevor wir Worte gewechselt hätten, die zu einem völligen Bruch zwischen uns geführt hätten.“

Socks warf den Kopf zurück und tänzelte ein paar Schritte weiter.

„Ja, genau so habe ich mich gefühlt. Als müsste ich mit den Hufen scharren. Wenn ich welche hätte, heißt das. Weil ich mich … beweisen wollte, nehme ich an. Für Leute wie Ben ist es ja gut und schön. Sie können einfach losmarschieren und sich mit Ruhm bekleckern. Aber kannst du dir vorstellen, was für ein Chaos ich verursachen würde, wenn ich einem Regiment beitreten würde, so wenig, wie ich über Kriegstaktiken und dergleichen weiß? Bestenfalls wäre ich nur eine Bürde für alle und schlimmstenfalls würde ich nicht nur mein Leben wegwerfen, sondern auch das all jener unglückseligen Untergebenen, die unter meinem Kommando stünden. Und wofür? Um zu zeigen, dass ich jetzt ein Mann bin und kein Junge mehr?“

Er schnaubte. Und Socks folgte seinem Beispiel, als würde sie jedem seiner Worte zustimmen.

„Aber hier könnte ich wirklich etwas bewirken“, überlegte er laut und sah sich um. Denn mit der Landbewirtschaftung kannte er sich aus. Vater ließ ihn vielleicht nicht an den Entscheidungen teilhaben, aber er ermutigte ihn, zuzusehen und zu lernen, damit er in der Lage sein würde, die Zügel zu übernehmen, wenn es so weit war. Obwohl das noch gute vierzig Jahre dauern konnte, wenn er bedachte, wie jung sein Vater gewesen war, als er angefangen hatte, das Kinderzimmer mit seinem Nachwuchs zu füllen.

„Es muss etwas in der Luft hier liegen“, sagte er. „Plötzlich ist mir alles völlig klar. Daisys Brief war genau, was ich brauchte – eine einmalige Gelegenheit, etwas zu tun und gleichzeitig Vater zu zeigen, dass ich bereit bin. Sie hatte vollkommenes Vertrauen in meine Fähigkeit, hier alles für sie in Ordnung zu bringen, während Ben dabei ist, Bonaparte zu verprügeln. Und Vater konnte schließlich nichts dagegen einwenden, dass ich meiner Schwester helfen wollte, oder? Nicht, nachdem er mir – mein Leben lang – eingebläut hat, es sei meine Pflicht, ein gutes Beispiel für meine jüngeren Geschwister abzugeben. Ha!“

Socks scharrte diesmal wirklich ungeduldig mit den Hufen.

„Genau“, sagte James, beugte sich vor und klopfte ihr auf den Hals. „Wird höchste Zeit, dass wir nicht hier sitzen und darüber nachgrübeln, wie wir hergekommen sind. Lass uns vom Weg abgehen und über das Land reiten. Mal sehen, was uns da erwartet, was meinst du?“ Er lenkte Socks’ Nase hügelauf. „Würde mich gar nicht wundern, wenn wir an einem so schönen Tag wie heute bis zu den walisischen Bergen sehen können.“

Das war das Einzige auf Bens Ländereien, an dem er nichts auszusetzen hatte. Die Aussichten. Wohin man auch blickte, es bot sich einem ein atemberaubender Blick auf eine schroffe Hügellandschaft mit felsigen Tälern und reißenden Flüssen. Die Erde, die diese Hügel bedeckte, war nicht von der dünnen Sorte, die man in einigen Gegenden der Welt vorfand und die nicht mehr als Stechginster und Farnkraut hervorbrachten. Die Hügel hier wiesen eine reiche, üppige Vegetation auf. Und davon, dachte er verärgert, sollte man Gebrauch machen und nicht brach liegen lassen.

Er lenkte Socks zum steilsten Hügel, den er sehen konnte und auf dessen Gipfel eine große Eiche stand. Diese Eiche war ihm heute bereits mehrere Male aufgefallen, und er stellte sich vor, dass sie wohl so etwas wie ein Wahrzeichen in dieser Gegend sein mochte. Unter ihren Ästen würde er gewiss eine gute Sicht auf Lord Bramhalls Besitz ebenso wie auf die Waliser Berge haben.

Erst als er lediglich wenige Meter von der Eiche entfernt war, fiel ihm auf, dass jemand sich zwischen den knorrigen Wurzeln und einer Felszunge zusammengekauert hatte, an die sich der Baum mit riesigen Holzfingern zu klammern schien.

Jemand, der sich unbefugt hier aufhält, dachte James sofort. Er hatte sich bereits aus dem Sattel geschwungen, sich Socks’ Zügel um den Arm gewickelt und ging mit großen Schritten auf die Stelle zu, wo die Person hockte, bevor ihm Lord Bramhalls Warnung einfiel. Einige seiner Pächter waren in gar nicht guter Stimmung, ein Landwirt hatte James’ Schwager sogar mit einem Gewehr bedroht – und das wegen einer Angelegenheit, die der vorige Earl zu verantworten hatte.

Doch jetzt war es zu spät, Vorsicht walten zu lassen. Die Person hatte ihn kommen hören und hob den Kopf. Es war eine Frau. Und sie hatte geweint, wenn er nach der etwas fleckigen Gesichtsfarbe und den geschwollenen Augen urteilen konnte.

James hätte es fast vorgezogen, dass es ein Eindringling mit Gewehr gewesen wäre. Damit hätte er fertigwerden können, wie er glaubte. Er war zwar nie Soldat gewesen, aber es fehlte ihm nicht an Mut, zumindest glaubte er das nicht. Ein Mann konnte nicht in einem Haus voller Brüder aufwachsen, ohne zu lernen, wie man sich gegen andere behauptete.

Aber eine weinende Frau war etwas, dem er sich nicht gewachsen fühlte. Er kannte sich nicht sehr gut mit Frauen aus – aus mehreren Gründen. Zum einen bestand sein Vater darauf, dass er als der Älteste seinen jüngeren Brüdern ein gutes Beispiel abgab. Ganz besonders wenn es um, wie es sein Vater nannte, „lockere Frauenspersonen“ ging. Deswegen hatte James es sich zweimal überlegt, wann immer sich ihm eine Versuchung oder Gelegenheit aus dieser Ecke geboten hatte. Und vornehme Damen, über die er ein wenig mehr wusste, weinten niemals in der Öffentlichkeit.

Es wäre jedoch feige, sich zurückzuziehen, und so blieb James einfach stehen und sah die Frau an, während er sich fragte, was er sagen sollte. Sie war offensichtlich in Schwierigkeiten, und es ziemte sich nicht für einen Gentleman, eine Dame in Not im Stich zu lassen. Also würde er sich dazu durchringen müssen, etwas zu sagen.

„Wer sind Sie?“, fragte sie recht verärgert, bevor ihm die richtigen Worte einfallen wollten. „Und was tun Sie hier? Wissen Sie nicht, dass Sie sich auf Privatland befinden?“

„Doch, aber es gehört nicht Ihnen“, antwortete er unwillkürlich, und das flüchtige Gefühl, dass er ihr helfen sollte, verschwand sehr viel schneller, als es erschienen war. Zunächst einmal war er noch niemandem begegnet, der nicht wusste, wer er war und wie vornehm seine Abstammung. Und dann verübelte er es ihr, dass sie verärgert über ihn war, obwohl er nichts weiter gewollt hatte, als ihr seine Hilfe anzubieten.

Nun, am Ende war das jedenfalls seine Absicht gewesen, als er sah, dass sie weinte, und er war danach nicht einmal seinem ersten Impuls gefolgt, sie einfach ihren Sorgen zu überlassen. Was ihn daran erinnerte, warum er am Anfang auf sie zugegangen war.

„Sie sind es, die sich widerrechtlich hier aufhält“, sagte er. „Jedenfalls ist es so, wenn Sie nicht für Lord und Lady Bramhall arbeiten …“ Es kam ihm unwahrscheinlich vor. Als er gestern Abend angekommen war, hatte er festgestellt, dass es nur noch drei Dienstboten im Haus gab. Und dieses Mädchen war nicht dabei gewesen. Also …

„Für sie arbeiten?“ Ihr Ton und ihr Gesicht drückten Empörung darüber aus, wie er glauben konnte, sie sei eines solch abscheulichen Verbrechens fähig.

Hastig durchforstete er sein Hirn nach Umständen, die das Verhalten dieser Frau erklären könnten. Sie benahm sich, als hätte sie ein Recht darauf, hier zu sein.

„Sind Sie also mit ihnen befreundet?“ Sie sprach sicher wie eine vornehme Dame, das musste er ihr lassen.

Sie lachte bitter. „Befreundet? Wohl kaum. Vielmehr könnte fast man sagen, wir sind …“ Aber sie brach abrupt ab und runzelte die Stirn, als wäre sie kurz davor gewesen, etwas zuzugeben, das besser ungesagt bliebe.

Dann warf sie stolz den Kopf in den Nacken. „Was geht Sie das überhaupt an? Sie haben kein Recht, mich auszufragen!“

James spürte, wie sich ein Lächeln auf sein Gesicht schlich, und ein Gefühl breitete sich in ihm aus, das er seit sehr, sehr langer Zeit nicht mehr empfunden hatte. Der Missmut und die Langeweile, die ihn ständig plagten, verflüchtigten sich, und gleichzeitig häuften sich die Fragen in seinem Kopf. Wer war dieses Mädchen? Was hatte sie getan, dass sie sich nicht als Freund der Bramhalls betrachtete? Und warum glaubte sie dennoch, das Recht zu haben, unter deren Eiche zu sitzen und sich einem Tränenausbruch hinzugeben?

„Verzeihen Sie“, sagte er ohne den Anflug von Reue. „Aber ich bin nach Bramley Park gekommen, um mich darum zu kümmern, solange Lord und Lady Bramhall fort sind.“

Darum hatte Lord Bramhall ihn jedenfalls gebeten. Bens Brief, ganz anders als Daisys recht zusammenhanglose Ergüsse, hatte eine Liste all jener Projekte enthalten, die er bereits in die Wege geleitet hatte. Er hatte vermerkt, welche Fortschritte er bis jetzt gemacht hatte, und die Hoffnung zum Ausdruck gebracht, James könne sie beaufsichtigen, wenn es keine allzu große Zumutung für ihn wäre. Er hatte ihm außerdem versichert – denn er wusste wohl, wie impulsiv Daisy sein konnte –, dass er ihn natürlich von der Aufgabe entbinden würde, sollte James etwas anderes zu tun haben.

Nun, er hatte nichts anderes zu tun, oder? Dank der hartnäckigen Weigerung seines Vaters, ihm etwas zu tun zu geben. Und wie Daisy in ihrem Brief hervorgehoben hatte, würde eine Herausforderung, wie Bens vernachlässigte Ländereien sie darstellten, ihrem Bruder nur guttun.

Das Mädchen rappelte sich hoch. „Also sind sie nicht einfach davongelaufen und haben allem den Rücken zugekehrt, trotz …“ Sie presste wieder die Lippen zusammen und erschauderte leicht. „Was für eine Erleichterung das ist. Sie können keine Vorstellung davon haben … nicht, dass irgendjemand es könnte. Zumindest hoffe ich das.“ Sie betrachtete ihn prüfend. „Ich meine, natürlich“, fuhr sie fort und hob leicht das Kinn an, „wird es für jeden in dieser Gegend eine große Erleichterung sein zu erfahren, dass Lord Bramhall für einen Verwalter gesorgt hat, der sich in seiner Abwesenheit um den Besitz kümmern soll.“

Was er wohl hätte tun sollen, war, sie davon in Kenntnis zu setzen, dass er, weit entfernt davon, ein Verwalter zu sein, vielmehr ein Viscount war und Lady Bramhalls Bruder. Aber es war lange her, dass er sich jemandem gegenüber hatte rechtfertigen müssen. Und jetzt, da sie glaubte, er sei ein Verwalter, hatte sie wenigstens aufgehört zu weinen, oder? Der Gedanke hatte sie beruhigt. Warum sollte er sie also wieder in Aufruhr versetzen, indem er ihr klarmachte, dass sie sich irrte?

Außerdem war es ein ziemlich neuartiges Gefühl, dass sich jemand ihm gegenüber so locker und ungezwungen verhielt. Diese Ungezwungenheit würde verschwinden, sobald sie seinen Rang erfuhr.

„Ich bin so froh, dass Sie gekommen sind“, fuhr sie fort, während er noch überlegte. „Es bedeutet … nun ja, dass Ben nicht in solcher Eile abgereist ist, dass all seine Pläne für das Gut scheitern könnten. Ich dachte wirklich, ich hätte …“

Ben? Sie stand seinem Schwager so nahe, dass sie ihn einfach Ben nennen konnte?

James runzelte die Stirn. Was mochte das für die Ehe seiner Schwester mit diesem Mann bedeuten? Eine Ehe, die nicht nach einer gewöhnlichen Brautwerbung vollzogen wurde, wie es sich gehörte, sondern beiden aufgezwungen worden war, nachdem einige seiner jüngeren Brüder – betrunken und zu Schabernack aufgelegt – sie in eine besonders skandalöse Situation manövriert hatten. Wenn James jetzt gestehen würde, dass er Lady Bramhalls Bruder war, würde er nie erfahren, warum dieses Mädchen sich offensichtlich wegen etwas schuldig fühlte und warum sie sich an diesem einsamen Ort die Augen aus dem Kopf geweint hatte. Und er würde es eigentlich schon gern wissen, falls es eine Auswirkung auf das Wohlergehen seiner Schwester haben könnte.

Ach, wem machte er etwas vor? Er wollte einfach nur alles über diese junge Frau erfahren. Noch nie war er einer begegnet, die so sehr sein Interesse erweckt hatte wie sie. Und sie wusste nicht, wer er war, und würde dementsprechend auch nicht versuchen, ihn einzufangen. Alle Frauen taten das zwangsläufig, sobald sie erfuhren, wer er war. Sie klimperten mit den Wimpern, kicherten und sprachen plötzlich ganz affektiert, wenn sie zu jenen gehörten, die seinen Titel heiraten wollten. Oder sie beugten sich weit vor, um ihn einen Blick in ihren Ausschnitt werfen zu lassen, wenn sie lediglich einen reichen Liebhaber suchten. In dem Zusammenhang fiel ihm jetzt, da sie aufstand, auch plötzlich auf, dass sie zwar nicht besonders hochgewachsen war, aber frauliche Rundungen an genau den richtigen Stellen aufweisen konnte. Auch ihr Gesicht war sehr ansprechend. Er vermutete, wenn ihre Augen nicht so geschwollen wären, ihr Gesicht nicht so fleckig und ihr dunkles Haar nicht so windzerzaust, würde sie wahrscheinlich recht hübsch aussehen.

Aber es war mehr als das. Er war, wenn er ehrlich sein wollte, ziemlich beeindruckt von der Tatsache, dass sie der Gedanke beunruhigte, sie könnte jemandem geschadet haben. Den meisten Frauen, denen er begegnete, abgesehen von seiner Mutter und seiner Schwester, schien es nichts auszumachen, wenn sie sich schlecht benahmen, und auch die Folgen ihrer Handlung kümmerten sie nicht.

Tatsächlich war er der ersten Frau begegnet, die ihm das Gefühl gab, es könnte die Mühe wert sein, sie besser kennenzulernen.

2. KAPITEL

„Was glaubten Sie“, fragte der auf robuste Art recht attraktive Fremde mit einem ziemlich verschmitzten, aber ermutigenden Lächeln, „getan zu haben?“

Betsy mochte ja auf einem absoluten Tiefpunkt angekommen sein, aber noch hatte sie nicht vergessen, was gut für sie war. Bis jetzt wusste außer ihr und Ben und seiner Frau niemand, was sie getan hatte. Und da sie gegangen waren, bevor sie die Zeit finden konnten, bösartigen Klatsch über sie zu verbreiten, sah es ganz so aus, als würde es auch so bleiben. Solange sie nur nicht der Versuchung erlag, dem ersten mitfühlenden, einigermaßen ansehnlichen Mann ihr Herz auszuschütten, dessen Brust breit genug aussah, um sie halten zu können, sollte sie sich weinend an sie schmiegen wollen.

Also hob sie stolz das Kinn an. „Das verrate ich Ihnen nicht. Ich kenne Sie schließlich gar nicht.“

Sein Lächeln vertiefte sich, was ihn noch schelmischer aussehen ließ – und irgendwie auch wie die Sorte Mann, die sehr gut verstehen würde, warum sie getan hatte, was sie getan hatte.

„Selbst wenn ich mich, nun ja, unüberlegt verhalten habe, und obwohl es dazu beigetragen haben mag, dass …“ Was tat sie denn nur? Sie konnte doch einem wildfremden Mann nicht ihr Geheimnis anvertrauen. Es gab keine Menschenseele auf der ganzen Welt, der sie es anvertrauen könnte. „Das heißt, jetzt da Sie hier sind, kann ich sehen, dass es den Menschen in der Gegend hier keinen bleibenden Schaden zugefügt hat, und das beruhigt mein Gewissen ungemein.“ Aha, das war vielleicht der Grund, weswegen sie plötzlich den verrückten Drang verspürt hatte, sich ihm anzuvertrauen. Seine bloße Anwesenheit war das Zeichen, dass sie keinen wirklichen Schaden angerichtet hatte und mit Hoffnung in die Zukunft blicken konnte.

Abgesehen davon wusste sie nichts über ihn. Und nur weil er ein schelmisches Lächeln und ein gut aussehendes Gesicht, einen mitfühlenden Blick und eine sehr breite Brust aufweisen konnte, hieß das ganz und gar nicht, dass er auch vertrauenswürdig war. Ihre Mutter hatte sie oft genug vor ersten Eindrücken gewarnt, denen man absolut nicht glauben sollte – ganz besonders wenn es um Männer ging.

„Soll ich Sie nach Hause begleiten?“, fragte er sanft, als fürchtete er, sie könnte wieder zu weinen anfangen, wenn er sie zu schroff ansprach.

„Das ist nicht nötig“, antwortete sie entschlossen. „Ich kenne mich hier sehr viel besser aus als Sie, da ich schon fast mein ganzes Leben lang hier lebe.“

„Nun, ich bin sicher, das stimmt“, meinte er beschwichtigend. „Aber es gefällt mir nicht, dass ich Sie von einem Ort verjage, an dem Sie ganz offensichtlich ungestört sein wollten. Und ich möchte Sie auch nicht nach Hause schicken, solange Sie noch so aufgebracht sind.“

„Ach was. Mir ist nicht mehr nach Weinen zumute, jetzt, wo ich weiß, dass Sie gekommen sind, um die Arbeit fortzusetzen, mit der Ben begonnen hat. Und ich war auch nie so aufgebracht, dass ich daran denken würde, mich wegen ihm in den Mühlteich zu werfen“, fügte sie bitter hinzu, „auch wenn manche Leute das glauben.“ Mama, genau genommen. Aber dass Ben eine andere Frau geheiratet hatte, hatte ihre Mutter sehr viel mehr verletzt als Betsy selbst. „Zum einen würde ich niemals so hohlköpfig sein, auch nur daran zu denken, mich wegen eines Mannes in einen Mühlteich zu stürzen“ – ganz besonders wenn sie ihn kaum kannte –, „und zum anderen gibt es keinen Mühlteich, den man zu Fuß erreichen könnte.“

Der Verwalter lachte. „Das würde es sehr erschweren, sich zu ertränken, da stimme ich Ihnen zu“, sagte er. „Bis Sie dort angekommen wären, hätten Sie vielleicht Ihre Meinung geändert, auch wenn Sie mit der Absicht losgegangen wären.“

Sie kniff leicht die Augen zusammen und schenkte ihm ihren herablassendsten Blick. „Gerade als ich anfing zu glauben, Sie seien ein Gentleman und freundlich, beweisen Sie mir, dass Sie nichts dergleichen sind, indem Sie sich über mich lustig machen.“

„Überhaupt nicht.“ Er legte die Hand auf das Herz. „Weil Sie nicht zu den Mädchen gehören, die einfältig genug sind, mehrere Meilen lang bis zu einem Mühlteich zu gehen, um sich zu ertränken. Das haben Sie selbst gesagt. Wenn ich mich über jemanden lustig machen würde, dann über die Art Frau, die etwas so Sinnloses tun würde.“

„Hm.“

„Außerdem habe ich Ihnen angeboten, Sie nach Hause zu begleiten, oder? Dabei bringt mich der Anblick eines weinenden Frauenzimmers meist dazu, die entgegengesetzte Richtung einzuschlagen, um vor ihr zu fliehen.“

„Sie haben also viel Erfahrung mit weinenden Frauen, was?“

„Glücklicherweise sehr wenig. Wie gesagt, normalerweise unternehme ich Schritte, einer solchen Person aus dem Weg zu gehen.“

„Warum machen Sie also bei mir eine Ausnahme?“

Er neigte den Kopf leicht zur Seite. „Ich habe nicht die geringste Ahnung. Vielleicht weil …“ Er brach ab und sah ein wenig verwirrt aus. Dann räusperte er sich. „Sagen Sie, würde es Ihnen etwas ausmachen, mir Ihren Namen zu nennen?“

„Ich bin nicht sicher, dass das klug wäre.“

„Warum nicht? Wir werden uns zwangsläufig über den Weg laufen, da ich auf absehbare Zeit auf Bramley Park verbringen werde. Uns einfach selbst einander vorzustellen, mag ja nicht völlig angemessen sein, aber auch unsere Begegnung war ein kleines bisschen ungewöhnlich, nicht wahr?“

Da hatte er wohl recht. „Es ist nicht so, dass ich etwas dagegen hätte, mich Ihnen so formlos vorzustellen, aber mir wäre lieber, niemand würde davon erfahren, dass wir uns so ganz allein hier begegnet sind.“

„Warum? Schließlich haben wir nichts Falsches getan.“

„Aber es ist keiner da, der das bestätigen könnte, oder? Keine Anstandsdame. Und meine Mutter ist so verzweifelt darauf aus, mich zu verheiraten, dass sie sich in den Kopf setzen könnte, Sie heiratswürdig zu finden, Ihnen dann vorzuwerfen, Sie hätten mich kompromittiert, und uns beide vor den Altar zu zerren.“

Der Schrecken in seinem Blick über die Vorstellung, vor den Altar gezerrt zu werden, war wenig schmeichelhaft. Was sie so sehr irritierte, dass sie dem Impuls nicht widerstehen konnte, sich sofort an ihm zu rächen. „Oder vielleicht tue ich es doch.“

„Was?“

„Sie einfangen.“

„Warum sollten Sie so etwas tun wollen?“, fragte er stirnrunzelnd.

„Tunbridge Wells“, erwiderte sie erschaudernd.

„Äh … ist das ein Euphemismus für etwas in dieser Gegend?“

„Es ist genau, was es sagt – Tunbridge Wells. Die Stadt. Um genau zu sein, habe ich neulich entdeckt, dass man nie weiß, zu welchen verzweifelten Maßnahmen ein Mädchen fähig ist, um nicht die Gesellschafterin für eine unverheiratete Tante werden zu müssen.“ Maßnahmen, die sie dazu geführt hatten, die Missetat zu begehen, für die sie sich so fürchterlich schämte. Maßnahmen, die sie in kalten Schweiß ausbrechen ließen, wann immer sie an den Ausdruck auf Lady Bramhalls Gesicht dachte, als sie hereingekommen war und Betsy mit Lord Bramhall gesehen hatte. Maßnahmen, die sie nicht schlafen ließen oder die, wenn sie doch endlich eingeschlafen war, sie mit schrecklichen Albträumen quälten.

„Ein grausames Schicksal“, räumte er ein, obwohl er sie noch immer ein wenig argwöhnisch betrachtete. „Das heißt, ich war eigentlich noch nie in Tunbridge Wells …“

„Glauben Sie mir, es lohnt sich nicht. Ich hörte, es ist der ödeste Ort auf Erden. Wenn Großtante Cornelia wenigstens in Bath leben würde, wäre es vielleicht nicht so übel gewesen. Ich meine, dort gibt es Bälle und Konzerte, nicht wahr? Und obwohl die meisten Bewohner alt sein sollen, erhalten sie doch sicher gelegentlich Besuch von Verwandten, oder? Also könnte ich die Gelegenheit haben, Freundschaften zu schließen. Aber heute Morgen wurde mir klar, dass ich Tunbridge Wells nicht entkommen kann. Jetzt nicht. Trotz allem, was ich tat oder wenigstens versuchte zu tun …“

Sie spürte, dass sie die Schultern hängen ließ, und straffte sie sofort und zwang sich zu einem Lächeln. „Es war nett, Sie kennenzulernen … äh …“

„Dundas“, sagte er und zuckte zusammen. Wahrscheinlich konnte er nicht fassen, dass er ihr seinen Namen genannt hatte, während sie sich bisher geweigert hatte, ihm ihren zu verraten.

„Ich heiße Fairfax“, lenkte sie ein. „Sollten Sie aber verraten, dass Sie meinen Namen kennen, bevor wir angemessen vorgestellt worden sind, werde ich …“ Sie stockte. Es gab nicht viel, womit sie ihm drohen könnte. Und Mr. Dundas wusste das, das Scheusal, dem Grinsen nach zu urteilen, mit dem er sie bedachte.

„Ich erbebe bei der Vorstellung, was Sie tun werden“, sagte er. „Dennoch würde die bloße Androhung, Sie könnten Ihre gute Meinung über mich ändern, bereits ausreichen.“

Sie warf ihm einen misstrauischen Blick zu. Das hatte geklungen, als würde er mit ihr flirten, was natürlich ihre Stimmung erheblich besserte und Betsy den Wunsch eingab, entsprechend zu antworten. „Was lässt Sie glauben“, sagte sie herausfordernd, „ich hätte eine gute Meinung über Sie?“

„Weil Sie mit mir reden, als wäre ich Ihr … Bruder. Sie machen sich nicht wichtig, um interessanter zu wirken, als Sie bereits sind. Nichts an Ihrem Auftreten ist berechnend. Und das lässt mich schließen, dass Sie aus irgendwelchen Gründen in meiner Gesellschaft Sie selbst sind. Sie haben Ihre Empörung darüber, dass ich Sie beim Weinen ertappt habe, nicht verborgen, und Sie haben auch nicht geweint, weil Sie Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollten, sonst wären Sie nicht so scharfzüngig gewesen. Ich meine …“ Er nahm den Hut ab und fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. „Ich drücke mich nicht sehr geschickt aus, oder?“, schloss er kläglich.

„Ganz im Gegenteil. Ich finde, Sie drücken Sie sehr gut aus“, erwiderte sie, wandte sich von ihm ab und begann, den Hügel hinunterzugehen. Was von sehr schlechten Manieren zeugte. Aber was machte es schon aus? Sein Versuch, mit ihr zu flirten, wenn es überhaupt einer gewesen war, hatte sich als sehr kurzlebig erwiesen. „Sie denken, ich bin eine zänkische Person, eine scharfzüngige Xanthippe mit schlechtem Benehmen!“

„Die aber nicht berechnend ist“, betonte er, wickelte sich die Zügel seines Pferdes um den Arm und setzte sich ebenfalls in Bewegung, wie sie nach einem Blick über die Schulter feststellte.

„Warum folgen Sie mir? Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie mich nicht nach Hause begleiten müssen.“

„Wegen des Vergnügens an Ihrer Gesellschaft?“

„Ha! Welches Vergnügen könnten Sie an der Gesellschaft einer scharfzüngigen Xanthippe schon finden?“

„Sie wären überrascht.“

„Zweifellos!“

„Es ist nicht leicht zu erklären“, sagte er und holte sie mit einigen wenigen langen, trägen Schritten ein, die Betsy ihm übelnahm, da sie selbst so schnell weitergeeilt war, wie sie auf diesem unebenen Hügel nur konnte. „Vielleicht weil ich noch nie jemanden getroffen habe, der so … offen mit mir umging. So aufrichtig.“

„Daran ist nur schuld, dass ich so wütend auf mich bin“, sagte sie. „Und dass ich mich so sehr wegen etwas schäme, was ich getan habe, das – wenn wir schon aufrichtig sein wollen – geradezu boshaft war.“ Sie blieb stehen und sah zu ihm auf. „Ich weiß nicht, warum ich Ihnen ständig Dinge verrate, die ich sonst niemandem gesagt habe und es auch nie tun werde. Manchmal weiß ich nicht, was über mich kommt“, fuhr sie ganz fassungslos fort.

„Vielleicht haben Sie ein impulsives Wesen?“

„Nein. Meistens bin ich, oder zumindest war ich es, sehr, sehr vorsichtig in meinem Verhalten. Meine Mutter hat mir so viele Manieren und dergleichen eingebläut, dass ich mir wie eine Marionette vorkomme“, meinte sie voller Abscheu.

„Vielleicht war es befreiend für Sie, zu sagen, was Sie wirklich empfinden“, sagte er nachdenklich.

„Befreiend.“ Sie dachte einen Moment über seine Worte nach. Ja, es war befreiend gewesen, sich so hemmungslos auszuweinen, wie sie nur wollte. Auf dem Boden zu sitzen, ohne auf ihre Kleidung zu achten, und ihren aufgestauten Gefühlen freien Lauf zu lassen. Vielleicht war sie deswegen diesem wildfremden Mann gegenüber so offen gewesen. Weil sie bereits unachtsam gewesen war und weil alles, was sie lange Zeit unterdrückt hatte, sich so dicht an der Oberfläche befunden hatte, dass es einfach aus ihr herausgesprudelt war. Nun, nicht alles. Nicht die Tatsache, dass sie so weit gegangen war, einen Mann zu küssen, woraufhin eine Frau sie dabei ertappt hatte – eine Frau, die sich als die Frau besagten Mannes herausgestellt hatte! Dabei hatte niemand, am wenigstens sie, vermutet, dass er überhaupt verheiratet war.

Doch auch ohne diese Einzelheit hatte sie sehr viel mehr zugegeben, als klug sein konnte.

„Ich wünschte, ich wäre ein Mann“, sagte sie erbost. „Sie brauchen nicht jede Handlung zu durchdenken, die Sie in der Öffentlichkeit machen, und nicht jedes Wort, das Sie sagen, nur um Ihren guten Ruf zu wahren. Und wenn Sie etwas wollen, machen Sie sich einfach locker daran, es sich zu nehmen.“

Sie erreichten den Fuß des Hügels, und sie blieb am Ufer des Bachs stehen. Es ging nicht an zu plaudern, während sie ihn überquerte. Zwar gab es viele Steine, die sie benutzen konnte, um ihn zu überqueren, aber sie würde aufpassen müssen, wohin sie trat.

„Nur weil ich ein Mann bin, heißt das nicht, dass ich alles haben kann, was ich will, oder tun kann, was ich will“, erwiderte er mit mehr als nur einem Anflug von Verbitterung.

Sie unterbrach ihre Suche nach passenden Steinen und betrachtete ihn. Zuerst seine verbitterte Miene, dann seine verschmutzte, abgetragene Reitkleidung und die verkratzten Stiefel, und sie empfand plötzlich Mitleid mit ihm.

„Nein, ich nehme an, es kann nicht viel Spaß bringen, für einen Hungerlohn die Güter eines anderen Mannes führen zu müssen, während der den größten Teil des Pachtgeldes einheimst und einfach nach Frankreich abzieht, wenn ihm danach ist.“

Sie sah ihn kurz die Lippen zusammenpressen. „Das ist nicht … ich meine, Sie lassen es so klingen, als wäre Lord Bramhall zu seinem Vergnügen in Frankreich, während er tatsächlich dort ist, um für sein Land zu kämpfen. Und ich …“ Er seufzte und sah blicklos in die Ferne. „Ich gebe zu, ich beneide ihn um die Freiheit, das tun zu können. Er tut etwas, das Teil der Geschichte sein wird, wenn er Bonaparte und seine Armee bekämpft, oder? Während ich …“ Jetzt sah er stirnrunzelnd auf seine Stiefel. „Dass es kein Spaß sein wird, hier zu arbeiten, stimmt schon. Aber es stört mich nicht auf die Weise, die Sie vielleicht vermuten. Vielmehr denke ich, dass ich die Herausforderung genießen werde, während der Abwesenheit von Lord und Lady Bramhall alle Verbesserungen vorzunehmen, die sie für ihr Gut geplant haben.“

„Schön, dass Sie es so sehen“, sagte sie. Er klang wie ein Mann, der am liebsten die positive Seite der Dinge betrachtete, statt sich darüber zu beklagen, was er nicht tun konnte.

Er lächelte und reichte ihr die Hand.

Es konnte nichts Ungehöriges daran sein, die Hand eines Mannes anzunehmen, damit er ihr über einen Bach helfen konnte, während sie auf gefährlich wackligen Steinen balancierte, oder? Aber selbst wenn es das wäre, wäre es ihr gleichgültig. Sie wollte nicht, dass der Saum ihres Kleides nass wurde oder sie sich womöglich einen Knöchel verrenkte, weil beides dazu führen würde, dass sie erklären musste, wo sie gewesen war.

Also nahm sie seine helfende Hand an und erwiderte sein Lächeln.

Er brachte seine Stute dazu weiterzugehen, und während Betsy von einem Stein zum nächsten hüpfte, wateten er und sein Pferd einfach mit recht viel Geplätscher durch das Wasser.

„Ich bewundere wirklich die Art, wie Sie sich ausgedrückt haben“, gab sie zu, als sie schließlich am anderen Ufer angekommen waren. „Sehr taktvoll. Sehr respektvoll.“ 

„Was ausgedrückt?“

„Was Sie über die Herausforderungen gesagt haben, Bens … ich meine, Lord Bramhalls Pläne in die Tat umzusetzen. Ich meine …“, fügte sie hinzu und spürte, wie sie rot wurde, als ihr auffiel, dass er noch immer ihre Hand hielt. Oder sie hielt noch immer seine. „Abgesehen davon, dass seine Ideen ein wenig radikal sind“, sagte sie und zog ihre Hand zurück, „war er nicht für seine Aufgabe erzogen worden.“

„Sie scheinen ja ganz schön viel über Lord Bramhalls Pläne zu wissen“, warf er ein und sah nicht besonders erfreut darüber aus.

„Jeder in der Gegend weiß sehr viel über seine Pläne.“ Sie schüttelte den Kopf über seine Andeutung, sie und Ben könnten sich nahegestanden haben. „Zuerst einmal, dass er gegen alle Wahrscheinlichkeit geerbt hat, wussten alle hier in der Gegend. Und …“ Sie hielt inne und sah in sein finsteres Gesicht. „Äh … wie viel wissen Sie eigentlich über Ihre Arbeitgeber?“

Er wandte den Blick ab und räusperte sich. „Ich weiß, dass er den größten Teil seines Lebens, seit er erwachsen war, in der Armee verbracht hat und kürzlich heimkam und feststellen musste, dass sein Vater den Besitz in einem fürchterlichen Zustand zurückgelassen hatte.“

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