Julia Weihnachtsband Band 37

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WEIHNACHTSMÄRCHEN IN MANHATTAN von PENNY ROBERTS

Den prachtvollen New Yorker Weihnachtszauber hat Tamsyn schon als Kind geliebt. Schaufensterdekorateurin im Traditionskaufhaus Spencer’s zu werden, ist ihr Traum! Da trifft sie zufällig den Besitzer. Wie kann es sein, dass Seth so ein Grinch ist? Und trotzdem so faszinierend …

SINNLICHE ÜBERRASCHUNG UNTERM CHRISTBAUM von JACKIE ASHENDEN

Um ihr Familienunternehmen zu retten, muss Isla den so sexy wie kaltherzigen Tycoon Orion North heiraten. Nur auf dem Papier! Aber eingeschneit in seiner Luxus-Lodge in Island – ausgerechnet über die Festtage –, erwacht ein sinnliches Feuer zwischen ihnen. Schenkt er ihr doch seine Liebe?

SCHLITTENFAHRT INS LIEBESGLÜCK von MICHELLE DOUGLAS

Weihnachten in den Bergen? Der freiheitsliebende Milliardär Luis überredet seine neue Geliebte Ruby, vor seinen kuppelfreudigen Eltern in der Schweiz seine Braut zu spielen. Eine reine Scharade! Bis er beim Schlittenfahren und Schneemannbauen ungeahnte Sehnsucht spürt …

KÜSS MICH BITTE, SANTA CLAUS! von FAYE ACHEAMPONG

Santa erkrankt? Naomi braucht dringend Ersatz, sonst muss sie die beliebte Wunschzettelaktion in ihrem Spielzeugladen absagen. Nur wen? Ihren missmutigen Buchhalter Will? Aber mit roter Jacke und weißem Rauschebart entzückt Will nicht nur die Kinderherzen. Auch Naomi fühlt sich plötzlich wie verzaubert.


  • Erscheinungstag 05.10.2024
  • Bandnummer 37
  • ISBN / Artikelnummer 0830240037
  • Seitenanzahl 400

Leseprobe

Penny Roberts, Jackie Ashenden, Michelle Douglas, Faye Acheampong

JULIA WEIHNACHTEN BAND 37

PROLOG

Mit großen Augen starrte Tamsyn Pike aus dem Fenster des Yellowcabs, während die festlich beleuchteten Straßen von Manhattan an ihr vorbeiflogen. Wohin sie auch blickte, überall geschmückte Christbäume und herrlich dekorierte Fenster. Es war einfach wunderschön, und sie konnte sich gar nicht sattsehen daran.

„Sie waren wohl noch nie in New York, oder?“, fragte der Taxifahrer schmunzelnd.

„Sieht man mir das so deutlich an?“ Sie lachte.

„Schon, ja. Aber das ist keine Schande, Miss. Einmal ist immer das erste Mal, wie meine Nana immer sagte.“ Der Mann – er war Ende vierzig, Anfang fünfzig, mit dünnem, graumeliertem Haar – fing ihren Blick im Rückspiegel auf. „Woher kommen Sie, wenn ich fragen darf?“

„Aus Huxtonville.“ Tamsyn strich sich eine kupferrote Locke zurück hinters Ohr. „Das ist ein kleines Kaff in Alabama.“ Sie lachte. „Sagen Sie nichts, Sie haben natürlich noch nie davon gehört. Das hat niemand, der nicht dort in der Nähe lebt.“

Woher auch? In Huxtonville sagten sich jeden Abend Fuchs und Hase gute Nacht. Es gab eine Kirche, einen kleinen Gemischtwarenladen mit angeschlossenem Post Office, eine Schneiderei und am Ortsrand eine Tankstelle und eine Bar – das war’s. Im Grunde lebten dort zwei Kategorien von Menschen. Die einen wurden in Huxtonville geboren und verbrachten ihr ganzes Leben in ihrem Geburtsort, die anderen suchten das Weite, sobald sie alt genug dazu waren.

Zu letzterer Gruppe zählte Tamsyn sich selbst ganz eindeutig. Wobei – wäre ihre Mutter nicht vor knapp einem halben Jahr verstorben, würde sie, Tamsyn, vermutlich weiterhin dort leben. Doch der Tod von Elana Pike hatte alles verändert. Das und der Brief, den sie ihrer Tochter zusammen mit ihrem gesamten Ersparten in Höhe von zweitausend Dollar hinterlassen hatte.

Tamsyn griff in ihre Manteltasche nach dem Brief, den sie schon so oft gelesen hatte, dass das Papier an manchen Stellen bereits ganz dünn und durchscheinend geworden war. Dabei wusste sie auch so, was darin stand. Besonders die letzten Zeilen hatten sich ihr eingebrannt.

und so nimm dieses Geld und tu, was immer dein Herz dir sagt, das du tun sollst. Erfülle dir deine Wünsche und lebe deinen Traum. Das ist alles, was ich für dich will, Darling.

Deine dich über alles liebende Mom

Und genau deshalb war Tamsyn, gerade einmal achtzehneinhalb und unglaublich aufgeregt, jetzt hier. Um diesen letzten Wunsch ihrer Mutter zu erfüllen und ihr Glück zu finden. In New York City. Ganz gleich, was Casey auch sagte. Ihr Ex glaubte nicht an sie? Na und? Deshalb ist er schließlich mein Ex, sagte sie sich selbst.

„Stimmt“, entgegnete der Fahrer und klopfte sich mit der Hand, die nicht das Lenkrad hielt, auf die Brust. „In Brooklyn geboren und aufgewachsen. Meine Familie lebt schon seit drei Generationen in New York City. Sind praktisch vom Schiff, das sie über den Atlantik gebracht hat, runter und haben sich gleich häuslich niedergelassen.“

In diesem Moment passierten sie die Queensboro Bridge, die den East River überspannte. Der Ausblick über den Fluss und das dahinterliegende Manhattan raubte Tamsyn schier den Atem. Sie mochte noch nie selbst in New York City gewesen sein, aber sie hatte ihre Hausaufgaben gemacht und jede Menge Reiseführer gelesen, Dokumentationen geschaut und Stadtpläne studiert. Doch nichts hatte sie auf diesen Anblick vorbereiten können.

„Wow …“

„Ja, ganz schön beeindruckend, nicht wahr? Ist schon was anderes, als es nur auf Bildern und im Fernsehen zu sehen.“

„Allerdings“, entgegnete Tamsyn, die beinahe am Seitenfenster klebte. Es war unglaublich. Fantastisch. Besser als alles, was sie sich in ihren kühnsten Träumen hätte ausmalen können. Und sie war hier. Nicht nur zu Besuch, sondern um ein neues Leben zu beginnen.

Davon hatte sie schon als junges Mädchen geträumt. Von New York, der Stadt, die niemals schlief, dem Big Apple. Wie gebannt hatte sie zur Weihnachtszeit vor dem Fernseher gesessen und dabei zugesehen, wie bei Spencer’s, dem riesigen Kaufhaus, in dem man von der Heftzwecke bis hin zum einmotorigen Propellerflugzeug alles kaufen konnte, die Weihnachtsschaufenster-Dekoration enthüllt wurde.

Ihr kam eine Idee. „Wäre es ein großer Umweg, wenn Sie kurz bei Spencer’s vorbeifahren würden?“, fragte sie den Cabdriver, in dessen Taxi sie vor zwanzig Minuten am LaGuardia Airport eingestiegen war, um sich zur Lower East Side bringen zu lassen, wo sie in Zukunft leben würde.

Er schüttelte den Kopf. „Nein, Spencer’s liegt praktisch auf dem Weg. Soll ich?“

Sie nickte enthusiastisch. „Ja, bitte!“

Keine zehn Minuten später fuhren sie an dem riesigen Kaufhaus vorbei, das sie bis dahin nur aus den TV-Übertragungen von Christmas at Spencer’s kannte. Es nun in echt zu sehen, war sogar noch beeindruckender. Das Gebäude aus weißem Sandstein war riesig, und in den gewaltigen Fensterfronten spiegelten sich die Lichter der Stadt wider.

„Können Sie hier kurz anhalten?“, bat Tamsyn aufgeregt.

„Eigentlich nicht“, erwiderte der Taxifahrer schmunzelnd, lenkte seinen Wagen aber trotzdem an den Straßenrand. „Nun machen Sie schon. Aber beeilen Sie sich, ja? Hier bekommt man schneller einen Strafzettel, als man gucken kann!“

Sie stieg aus und eilte über den breiten Gehweg auf das Spencer’s zu, und es war ein bisschen, als würde ein Kindheitstraum in Erfüllung gehen. Nein, es war sogar genauso. Sie stand vor dem riesigen Kaufhaus, und der Anblick war überwältigend.

Alles war bereits für Weihnachten geschmückt. Da gab es unzählige Lichterketten, die das Gebäude in einem festlichen Glanz erstrahlen ließen, und riesige, kunstvoll bemalte Christbaumkugeln. Die Fassade erstreckte sich über einen ganzen Häuserblock und war bestimmt von Symmetrie und klaren Linien. Über dem prachtvollen Eingang mit seinen Bronzetüren thronte eine majestätische Skulptur, die Hermes, den geflügelten Götterboten darstellte, der ein Füllhorn emporhob, überquellend vor Reichtum. Säulen erstreckten sich in die Höhe, verziert mit aufwendigen Stuckarbeiten, die Efeuranken darstellten. Die Schaufenster waren so hoch, dass Tamsyn den Kopf in den Nacken legen musste, um wirklich alles in sich aufzunehmen.

Im Moment gab es da allerdings auch nicht viel zu sehen, denn die Schaufenster waren allesamt verhangen. Aber Ende November, würde die festliche Enthüllung der Weihnachtsdekoration stattfinden, die bis dahin noch ein Geheimnis blieb.

Tamsyn konnte es gar nicht abwarten, endlich zu sehen, was die Schaufensterkünstler von Spencer’s sich in diesem Jahr für eine Magie hatten einfallen lassen.

Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht. Spencer’s. Der Wahnsinn. Gleich morgen würde sie herkommen, und sich um eine Ausbildung zur Schaufensterdekorateurin bewerben. Sie hatte es schon schriftlich versucht, aber ihre Unterlagen waren vermutlich einfach verloren gegangen, denn eine Antwort hatte sie nie erhalten.

Doch dies war ihr Traum, und sie würde alles geben, um ihn wahr werden zu lassen.

Das Tönen einer Hupe holte sie wieder in die Realität zurück. Sie wirbelte herum und sah ihren Cabdriver aufgeregt winken und gestikulieren. Als sie zwei uniformierte Beamte bemerkte, die sich vom anderen Ende der Straße her näherten, rannte sie los und war mit einem Satz wieder auf der Rückbank des Wagens.

„Na, das ist ja gerade noch mal gut gegangen“, meinte der Fahrer lachend und fädelte sich in den fließenden Verkehr ein.

Zehn Minuten später erreichten sie ihr Ziel. Die Broome Street in der Lower East Side war eine kleine Seitenstraße mit roten Backsteinhäusern, von denen nicht wenige mit Graffiti beschmiert waren. Wobei – Tamsyn fand es eigentlich ganz schön so. Es verlieh dem ganzen Straßenzug ein wenig Farbe und ein modernes Flair, was sicher nicht jedem gefiel – ihr aber schon. Sie hatte sich gleich auf den Fotos auf der Website des Maklers in das Haus, ja, in die ganze Gegend verliebt. Und sie hatte sofort gewusst, dass sie hier leben wollte.

Das Haus, in dem sich ihre zukünftige Wohnung befand, die sie sich mit einer anderen jungen Frau teilen würde, war ein Eckhaus mit einem Blumenladen im Erdgeschoss, dessen Auslagen einen herrlichen Duft verströmten, als Tamsyn aus dem Taxi kletterte.

Der Fahrer stieg ebenfalls aus und holte ihren Koffer für sie heraus, den er dann auf dem Bürgersteig abstellte.

„Na dann“, sagte er, nachdem sie bezahlt und ihm ein großzügiges Trinkgeld gegeben hatte. „Herzlich willkommen in New York City. Auf dass all ihre Träume in Erfüllung gehen mögen.“

Tamsyn schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. „Das werden sie“, erklärte sie. „Für mich kommt nichts anderes infrage.“

1. KAPITEL

Elf Monate später

„Bist du da hinten bald fertig, Tamsyn? Wir müssen bis zehn noch zwei weitere Abteilungen schaffen, das ist dir hoffentlich klar!“

„Jaja.“ Tamsyn strich sich eine Haarsträhne, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte, aus dem Gesicht. Dann nahm sie den Eimer mit dem Schmutzwasser in die eine und den Wischmopp in die andere Hand und ging damit zu ihrem Reinigungswagen zurück.

Dolores, die Schichtleiterin, war eine echte Schinderin vor dem Herrn. Tamsyn und ihren Kolleginnen blieb kaum genug Zeit, um zwischendurch Luft zu holen. Und wehe, wenn die Arbeit am Ende der Schicht nicht absolut perfekt und makellos erledigt war. Es war schon vorgekommen, dass neue Mitarbeiter – Männer ebenso wie Frauen – in Tränen ausgebrochen waren, wenn Dolores so richtig loslegte.

Nein, den Zorn der Schichtleiterin wollte niemand auf sich ziehen. Auch Tamsyn nicht. Selbst wenn dieser Job nun wirklich nicht das war, was sie sich vorgestellt hatte, als sie im letzten Jahr nach New York gezogen war.

Sie erinnerte sich noch gut daran, wie positiv und hoffnungsvoll sie sich gefühlt hatte. Gott, wie naiv sie damals doch gewesen war. Sie hatte tatsächlich geglaubt, dass sie einfach nur herkommen müsste, und die Stadt würde ihr zu Füßen liegen.

Wie sie sich doch getäuscht hatte.

Mit einem Seufzen nahm sie ihr Ledertuch und den Glasreiniger, um die Spiegel in der Umkleidekabine der Damen zu reinigen. Auf dem Weg dorthin ließ sie, wie immer, ihren Blick über die Auslagen schweifen.

Hier war wirklich alles an Designerkleidung vertreten, was in der Modewelt Rang und Namen hatte, und die Qualität der Waren war einfach fantastisch, das konnte Tamsyn wahrlich nicht leugnen. Aber was sollte man von einem Kaufhaus wie Spencer’s auch anderes erwarten?

Denn ja, sie arbeitete tatsächlich für Spencer’s – nur nicht ganz so, wie sie es sich immer ausgemalt hatte. Anstatt dabei zu helfen, die Schaufenster zu dekorieren, gehörte sie zur Reinigungscrew des Kaufhauses. Kein schlechter Job, nein wirklich nicht, ganz gleich, was für ein Drache Dolores auch sein mochte. Aber eben auch nicht die Erfüllung ihres Kindheitstraums.

Nein, das konnte man wahrlich nicht behaupten.

„Tamsyn, leg bitte mal einen Zahn zu. Dir kann man beim Laufen ja die Schuhe besohlen, du liebe Güte!“

Tamsyn verdrehte die Augen, beeilte sich aber, zu den Umkleidekabinen zu kommen. Die Spiegel zu reinigen war eine ihrer liebsten Aufgaben, denn jeder einzelne war ein kleines Kunstwerk im Jugendstil. Die Verzierungen aus Buntglas und Zinn stellten Blumen dar oder einfach nur abstrakte Muster, aber sie waren allesamt kleine Meisterwerke, und sie kannte jedes davon in diesem und dem darunterliegenden Stockwerk, in dem unter anderem die Herrenmode zu finden war.

Knapp eine Stunde später war alles fertig, und Dolores scheuchte sie und ihre Kolleginnen in die Spielwarenabteilung, die, zumindest soweit es Tamsyn betraf, ein weiteres Highlight von Spencer’s darstellte. Doch der wahre Zauber würde erst noch kommen.

Es war bereits fast November, doch im Gegensatz zu den meisten anderen Einzelhändlern war es bei Spencer’s Tradition, die Weihnachtsdekoration immer erst genau einen Monat vor Weihnachten zu präsentieren. Und zweifelsohne hatten sich die kreativen Dekorateure auch in diesem Jahr wieder etwas ganz Besonderes einfallen lassen.

Ihr Lächeln schwand, als sich ein Gefühl von Wehmut bei ihr einschlich. Das war es, was sie sich für sich selbst stets erträumt hatte. All die wunderbaren Dekorationen mitzugestalten, die die Kinderaugen leuchten und die Herzen der Menschen aufgehen ließen.

Doch leider war es nicht so leicht, bei einem großen und angesehenen Unternehmen wie Spencer’s einen Fuß in die Tür zu bekommen. Das hatte sie am eigenen Leib erfahren müssen, als sie im vergangenen Jahr unangemeldet hier erschienen war, um sich um einen Ausbildungsplatz als Schaufensterdekorateurin zu bewerben.

Unangekündigt einfach so aufzutauchen war rückblickend betrachtet nicht unbedingt ihre schlaueste Entscheidung gewesen. Vor allem, da sie sich nicht gut genug auf ein Vorstellungsgespräch vorbereitet hatte.

Schnell war ihr klar geworden, dass allein der unbedingte Wille nicht ausreichte, um sich eine der begehrten Lehrstellen zu verdienen. Und im Gegensatz zu den anderen Bewerbern, die sich schon Monate zuvor mit dem Erstellen von Mappen mit Konzepten und Ideen befasst hatten, war Tamsyn mit leeren Händen erschienen.

Der Personalchef war, gelinde gesagt, nicht besonders beindruckt von ihr gewesen. Und dabei hatte sie sich schon glücklich schätzen können, dass er sich überhaupt die Zeit genommen hatte, sie zu empfangen.

Geändert hatte es am Ende nichts. Mr. Harkins hatte ihr unmissverständlich klargemacht, dass sie ihren Traum, als Schaufensterdekorateurin zu arbeiten, zumindest für die nächsten Jahre vergessen konnte. Denn schon lange im Voraus waren die Stellen bereits anderweitig vergeben worden. Und um dann eine Chance haben zu wollen, musste sie sich schon etwas mehr einfallen lassen als nur eine einfache Bewerbung mit Lebenslauf und Zeugniskopien.

Sie musste aus der Masse hervorstechen. Auffallen. Nur wie?

Dummerweise hatte sie auf diese Frage noch immer keine Antwort gefunden. Und als Mr. Harkins ihr dann eine Stelle im Reinigungsteam angeboten hatte, hatte sie nicht lange gezögert und zugesagt. Sie musste immerhin Geld verdienen, und so kam es, dass sie nach wie vor als Reinigungskraft arbeitete – und zudem zweimal in der Woche mittags als Bedienung in einem Diner –, um ihren Anteil an der Miete bezahlen zu können.

New York war ein teures Pflaster, selbst wenn die Lower East Side, zumindest für Manhattan, noch vergleichsweise bezahlbar war. Mit nur einem Job kam sie nicht über die Runden. Ebenso wenig wie ihre Mitbewohnerin Marnie, die neben der Uni – sie studierte Musik an der Juilliard School – noch Klavierunterricht gab und abends in einem Nachtclub hinter der Bar stand.

Tamsyn seufzte. Das kleine Erbe, das ihre Mutter ihr hinterlassen hatte, war längst aufgebraucht. Sie waren nie reich gewesen. Elana Pikes hatte getan, was sie konnte, um ihrer Tochter eine sorglose Jugend und Kindheit zu ermöglichen, aber an große Sprünge war nicht zu denken gewesen. Als alleinerziehende Mutter hatte sie es in einem kleinen Ort wie Huxtonville nicht leicht gehabt. Nicht wenige hatten auf sie herabgeblickt, weil Tamsyns Vater, als er von der Schwangerschaft erfuhr, sie einfach sitzen gelassen hatte. Dabei war es doch nun wirklich nicht Elana Pikes schuld gewesen, dass der Mann, den sie zu lieben glaubte, sich als verantwortungsloser Nichtsnutz herausstellte.

Tamsyn hatte ihn nie kennengelernt, auch wenn sie wusste, dass Elana ihr daraus nie einen Vorwurf gemacht hätte. Aber warum sollte sie einen Menschen in ihrem Leben wollen, der ihre Mutter und sie im Stich gelassen hatte, noch bevor sie zur Welt gekommen war?

Sie war sechzehn gewesen, als ihre Mutter krank wurde, und kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag hatte Elana den Kampf gegen die Krankheit verloren. Doch zuvor hatte sie Tamsyn noch etwas mit auf den Weg gegeben.

„Tu, was dich glücklich macht“, hatte sie zu ihr gesagt. „Lass dich nicht von anderen zurückhalten. Niemand weiß so gut wie du, was gut für dich ist. Und wenn jemand dich nicht darin unterstützt, deine Träume zu erfüllen, dann ist er deine Aufmerksamkeit nicht wert.“

Tamsyns Freund Casey, mit dem sie seit der Schulzeit zusammen gewesen war, hatte in die letztere Kategorie gepasst, denn er war von ihrem Wunsch, nach New York zu gehen, alles andere als begeistert gewesen.

Ja, er hatte sie am Ende sogar vor die Wahl gestellt. Entweder NYC oder er, hatte er gesagt.

Und Tamsyn hatte sich für die große weite Welt entschieden.

Kurz nach der Beerdigung, ihren Highschool-Abschluss in der Tasche, hatte sie alles, was sie besaß, zu Geld gemacht, ihr Erbe genommen, mit Casey Schluss gemacht und war nach New York aufgebrochen.

Und was war aus ihr geworden?

Sie schob den unbequemen Gedanken beiseite, und atmete tief durch, als sie zwei Stunden später mit schmerzenden Füßen und Stechen im Rücken gemeinsam mit ihren Kolleginnen zum Schichtende stempelte.

Wie jeden Abend nahm sie den Bus nach Hause. Die Haltestelle war einen Block entfernt, aber das störte sie nicht, denn unterwegs kam sie an einem kleinen Café vorbei, in dem sie sich immer noch einen Donut zum Mitnehmen gönnte. Manchmal war es das absolute Highlight ihres Tages, so auch heute.

„Hey, ich bin zu Hause!“, rief sie, als sie etwas später zur Tür ihrer kleinen Wohnung hereinkam. Es blieb still, was sie nicht besonders wunderte. Marnie war vermutlich längst bei der Arbeit. Manchmal kam es vor, dass sie sich mehrere Tage am Stück kaum zu Gesicht bekamen, weil sie beide in verschiedenen Schichten arbeiteten. Es war kein schlechtes Arrangement, wenn auch mitunter ein bisschen einsam.

Sie legte ihren Schlüsselbund in dem Körbchen ab, das auf der Konsole im Flur stand, und schaltete das Licht im Wohnzimmer an, das sie sich mit Marnie teilte. Sie runzelte die Stirn, als sie das Chaos erblickte, das dort herrschte. Im Gegensatz zu ihr selbst war Marnie nicht besonders organisiert, und Ordnung war ihr auch nicht so schrecklich wichtig. Und so blieb die Hausarbeit dann meistens an Tamsyn hängen. Aber heute nicht, schwor sie sich. Heute würde sie einfach nur die Beine hochlegen, sich einen kitschigen Film ansehen und die leeren Fastfood-Verpackungen, die überall herumstanden, ignorieren.

Seufzend kickte sie ihre Schuhe zur Seite – was Marnie konnte, konnte sie schon lange! – und ließ sich auf das Sofa sinken, nachdem sie die Popcornreste von der Sitzfläche gefegt hatte.

Einen Moment lang saß sie einfach nur da und starrte ins Leere, ohne die Fernbedienung, die vor ihr auf dem Tisch lag, auch nur eines Blickes zu würdigen.

Und das sollte jetzt ihr Leben sein? Sie hatte so viele Träume gehabt, so viele Hoffnungen. Aber was war aus ihnen geworden? Nichts. Rein gar nichts. Und daran würde sich in absehbarer Zeit auch nichts ändern. Zumindest nicht, wenn kein Wunder geschah.

Vielleicht hatte sie doch einen Fehler gemacht, Huxtonville zu verlassen. Unwillkürlich musste sie an Casey denken und daran, was er zu ihr gesagt hatte, als sie ihm verkündete, dass sie vorhatte, nach New York zu gehen, um Schaufensterdekorateurin bei Spencer’s zu werden.

„Das schaffst du nie“, waren seine Worte gewesen. „Das da draußen ist die echte Welt, Tamsyn, nicht irgendein romantisches Märchen. Manhattan wartet nicht darauf, von dir erobert zu werden. Du bist naiv, wenn du das glaubst. Und außerdem ist dein Leben hier. Ich bin hier. Wenn du glaubst, dass ich hier sitze und Däumchen drehe, bis du dich dazu bequemst wiederzukommen, täuschst du dich, Sweetheart.“

Und dann hatte er ihr die Pistole auf die Brust gesetzt: Entweder sie würde bei ihm in Huxtonville bleiben, wo sie seiner Ansicht nach hingehörte, oder ihre Beziehung wäre vorbei.

Tamsyn verabscheute Konflikte. Sie war ein harmonieliebender Mensch, und wenn es möglich war, dann ging sie Streitigkeiten aus dem Weg. Doch dieses eine Mal hatte sie sich nicht einschüchtern lassen.

Zwei Tage später waren all ihre Angelegenheiten in Huxtonville geregelt, und sie befand sich mit gepackten Koffern auf dem Weg zum Flughafen.

Fast ein ganzes Jahr war das nun her, und jetzt ertappte sie sich dabei, wie sie darüber nachdachte, Caseys Nummer zu wählen. Was wäre denn schon dabei? Sie kannten sich schon von klein an, und waren über zwei Jahre lang ein Paar gewesen. War es da wirklich so verwunderlich, dass sie ihn vermisste?

Oder vielmehr nicht unbedingt so sehr ihn als irgendeine freundliche Stimme, die ihr sagte, dass alles in Ordnung kommen würde?

Irgendwie hatte, während sie ihren Gedanken nachhing, ihr Smartphone den Weg in ihre Hand gefunden. Und schon, als sie Caseys Nummer wählte, wusste sie, dass es ein Fehler war, ihn anzurufen.

„Tamsyn?“, erklang da aber bereits seine Stimme. „Hey … Ich habe so lange nichts von dir gehört, wie geht es dir?“

„Ich.“ Sie schluckte hart. „Es geht mir gut. Könnte gar nicht besser sein. Ich … ähm … ich glaube, es war ein Fehler dich anzurufen. Tut mir leid, Casey, ich … vergiss einfach, dass ich angerufen habe, ja?“

„Nein, nein, leg nicht auf, Tam. Ich freue mich ehrlich, dass du dich meldest. Erzähl, was machst du so? Wie ist das Leben im Big Apple? Aufregend?“

Sie holte tief Luft. „Ja“, sagte sie, „schon …“

„Aber du klingst nicht besonders glücklich. Du … weißt, dass du jederzeit nach Huxtonville zurückkehren kannst, oder? Wir würden dich alle mit offenen Armen empfangen.“

„Selbst du?“

Er lachte. „Gerade ich. Tam, ich vermisse dich. Seit du fort bist, habe ich oft bereut, dir dieses Ultimatum gestellt zu haben. Wer weiß, vielleicht hätten wir einen Weg gefunden, und es hätte funktioniert. Fernbeziehungen sind ja heute nichts Ungewöhnliches mehr, oder?“

Tamsyn wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Es war nicht so, dass Casey und sie nicht glücklich gewesen wären. Er war im Grunde seines Herzens ein netter Kerl, aber sie hatte sich irgendwie immer nach etwas anderem gesehnt. Nach Aufregung. Abenteuer.

Und von beidem hast du ja als Reinigungskraft im Spencers echt viel.

Sie seufzte. „Tut mir leid, Cas, aber ich komme nicht zurück“, sagte sie mit fester Stimme, denn sie wollte ihm keine falschen Hoffnungen machen, das hatte er nicht verdient.

„Bist du dir ganz sicher? Ich meine, wir waren doch immer ein gutes Team und …“

„Ich komme nicht zurück“, fiel sie ihm sanft ins Wort. „Nicht heute, nicht morgen und auch nicht nächstes Jahr.“

Ein Seufzen erklang auf der anderen Seite der Leitung. „Hör zu, Tamsyn, ich werde das Gespräch an dieser Stelle jetzt beenden. Denk noch mal in Ruhe darüber nach, was du willst, und melde dich, wenn du es dir anders überlegt hast.“

Mit diesen Worten kappte er die Leitung, und Tamsyn ließ sich aufstöhnend auf ihrem Sofa zurücksinken. Na, das war ja wunderbar gelaufen. Aber was hatte sie erwartet? Es war eine dumme Idee gewesen, ihn überhaupt anzurufen. Das Problem war, dass er mit dem, was er sagte, gar nicht so falschlag. Und ein Teil von ihr überlegte, ob es nicht wirklich besser für sie wäre, nach Huxtonville zurückzukehren.

Realistisch betrachtet – was erwartete sie hier schon? Wollte sie wirklich für die nächsten vierzig Jahre in zwei Jobs arbeiten, nur um genug Geld zu verdienen, damit sie sich die Hälfte eines kleinen Apartments in Manhattan leisten konnte?

Das war definitiv nicht ihr Traum gewesen, als sie vor fast einem Jahr in die große weite Welt aufgebrochen war.

Um sich abzulenken, griff sie sich die Fernbedienung vom Tisch und schaltete den Fernseher ein. Dann suchte sie aus ihrer umfangreichen Mediathek von Weihnachtsfilmen ihren absoluten Liebling heraus, in dem es darum ging, dass ein Weihnachtsmuffel von seiner wahren Liebe bekehrt und zu einem echten Weihnachtfan gemacht wurde.

Schon als das Intro begann, breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Weihnachten schaffte es doch immer wieder, sie aus einem Tief herauszuholen, ganz gleich, wie mies sie sich auch fühlte.

Denn immerhin – was gab es Herrlicheres auf der Welt, als zusammen mit seinen Lieben vor dem geschmückten Christbaum zu sitzen, gemeinsam zu singen und zu lachen, gutes Essen zu genießen und sich gegenseitig mit kleinen Geschenken, die von Herzen kamen, zu überraschen?

Nichts, beantwortete sie sich ihre Frage mit einem Anflug von Wehmut selbst. Und eines Tages, das hoffte sie inständig, würde sie all diese Dinge selbst haben.

„Das kann ja wohl nicht wahr sein!“ Wütend schlug Seth Spencer mit seiner flachen Rechten auf die Tischplatte seines edlen Mahagonischreibtisches, der vor ihm bereits seinem Vater und davor dessen Vater gehört hatte. Er hob die andere Hand, um sich durchs Haar zu fahren, bremste sich aber im letzten Moment. Es brauchte morgens eine kleine Ewigkeit, um es genauso zu stylen, wie er es haben wollte, und zog es vor, das Gesamtkunstwerk nicht schon nach ein paar Stunden zu zerstören.

„Was ist los, Boss?“, erklang die Stimme von Beverley aus dem Vorzimmer. Die Tür zu seinem Büro war, wie eigentlich immer, nur angelehnt, denn es war ja nicht so, als würde er hier drin irgendetwas tun, von dem seine Sekretärin nichts mitbekommen durfte.

Er hörte das Klick-Klack von Absätzen auf dem glänzenden Parkettboden, kurz darauf erschien Beverley persönlich im Türrahmen. Sie hatte schon für seinen Vater gearbeitet und war jetzt – Seth musste kurz überlegen – sechsundfünfzig. Siebenundfünfzig? In jedem Fall alt genug, um seine Mutter sein zu können, wie sie ihn immer wieder gern erinnerte. Dabei war sie wirklich alles andere als der mütterliche Typ.

Nicht wenige Männer drehten sich nach ihr um, wenn sie an seiner Seite zu einem Meeting erschien. Sie war kleiner als er, aber nicht viel, schlank, aber nicht zierlich. Ihr blondes Haar, von Grau durchzogen, fiel ihr in Wellen über die Schultern. Sie trug heute einen blassgrauen Hosenanzug, dazu eine cremefarbene Bluse, was ihren hellen Teint betonte. Wie immer hielt sie sich kerzengerade, was Seth dazu veranlasste, seine eigene, etwas schludrige Sitzhaltung zu korrigieren.

Sie sah ihn über den Rand ihrer Lesebrille hinweg fragend an. „Diese Miss Dawson, die ich Ihnen durchgestellt habe, war doch die Verantwortliche von Johnson Events, die für die Organisation des ganzen Weihnachtszirkus’ zuständig ist, oder?“

Seth stützte die Ellbogen auf den Tisch und barg mit einem Stöhnen das Gesicht in beiden Händen. „Ja, das war sie in der Tat. Sie hat mir gerade mitgeteilt, dass die Agentur in diesem Jahr ihren Verpflichtungen bedauerlicherweise nicht nachkommen kann.“ Das „bedauerlicherweise“ triefte regelrecht vor Sarkasmus. „Eine überraschende Krankheitswelle hat angeblich über die Hälfte der Angestellten dahingerafft. Komisch, dass wir keinen ungewöhnlichen Anstieg von Krankschreibungen zu verzeichnen haben, finden Sie nicht?“

„Was?“ Beverley runzelte die Stirn. „Aber der Vertrag für die gesamte Dekoration der Schaufenster wurde doch bereits vor Monaten unterzeichnet. Die können doch nicht einfach so davon zurücktreten. Die Vertragsstrafe ist astronomisch!“

„Was sie nicht zu kümmern scheint“, entgegnete Seth kopfschüttelnd. „Und für uns eine Katastrophe bedeutet. Wo bekommen wir jetzt, vier Wochen vor der feierlichen Eröffnung der Weihnachtsdekoration, noch eine Agentur her, die bereit ist, den Karren aus dem Dreck zu ziehen?“

„Uff.“ Ungebeten ließ Beverley sich auf den Besucherstuhl sinken. Seth störte sich nicht daran. Sie hatten nicht die klassische Chef-Untergebenen-Beziehung, und Beverley wusste genau, wie weit sie sich bei ihm aus dem Fenster lehnen konnte, ohne den Bogen zu überspannen. „Das dürfte sich in der Tat schwierig gestalten. Die meisten Agenturen werden zurzeit mit anderen Projekten beschäftigt sein, und der Zeitrahmen ist ja auch wirklich extrem knapp. Rücken die Leute von Johnson Events wenigstens ihre Konzeptunterlagen heraus?“

„Das ist bedauerlicherweise nicht möglich“, ahmte er die affektierte Stimme der Agenturvertreterin nach. Er schnaubte. „Ich kann nicht fassen, dass sie so etwas mit uns abziehen. Wir sind das Spencer’s, um Himmels willen! Einmal ganz abgesehen von der Vertragsstrafe muss ihnen doch klar sein, dass ich einen PR-Albtraum auf sie niederregnen lassen kann. Wer will schließlich mit einer Agentur zusammenarbeiten, auf die kein Verlass ist?“

„Hm …“ Nachdenklich legte Beverley die Stirn in Falten. „Ich frage mich, ob da nicht jemand ein wenig nachgeholfen hat.“

„Sie meinen, jemand bei Johnson’s wurde bestochen?“, fragte er skeptisch. „Das müsste derjenige aber schon eine Menge Geld in die Hand genommen haben.“

„Nun, die Konsequenzen, wenn die diesjährigen Weihnachtsfeierlichkeiten in die Hose gingen, wären ja auch nicht ohne. Ich kann mir mehr als einen Konkurrenten vorstellen, der bei der Vorstellung, dass das Spencer’s in diesem Jahr seine Kunden enttäuscht, leuchtende Augen bekommt. Und es geht ja nicht nur um die Enthüllung der Schaufenster, Boss. Johnson’s ist auch mit der Organisation für Spencer’s Christmas Dreams an Heiligabend betraut. Und auch wenn die Aktion schon lange nicht mehr live im landesweiten Fernsehen übertragen wird, sind die Klickzahlen vom Live Feed auf unserer Homepage noch immer sehr eindrucksvoll.“ Sie presste die Lippen zusammen. „Ich sag’s ja nicht gern, Boss, aber das ist ein echtes Problem. Vielleicht sollten Sie mal mit Mr. Lewis darüber sprechen?“

„Worüber soll Seth mit mir sprechen?“

Manchmal war Carlton Lewis’ Fähigkeit, immer dann zu erscheinen, wenn gerade vom ihm geredet wurde, Seth beinahe unheimlich. Der ältere Mann hatte schon für seinen Vater gearbeitet und kannte das Spencer’s wie seine Westentasche. Winston Spencer hatte ihm blind vertraut, und vermutlich hatte Carlton, ebenso wie Seth selbst, angenommen, dass er eines Tages die Leitung des Kaufhauses übernehmen würde. Wenn nicht nominell, dann doch zumindest effektiv. Doch Winston hatte sie beide überrascht und testamentarisch verfügt, dass Seth das Kaufhaus in seinem Sinne weiterführen sollte – und zwar persönlich und für mindestens zehn Jahre, wenn er nicht wollte, dass ihm sein Erbe häppchenweise in monatlichen Raten ausgezahlt wurde.

Carlton hatte die Neuigkeiten am Tag der Testamentseröffnung besser aufgenommen als Seth selbst. Seth war wütend gewesen über diesen offensichtlichen Versuch seines Vaters, ihn selbst über den eigenen Tod hinaus zu kontrollieren. Carlton aber hatte ihn zur Seite genommen und ihm vor Augen geführt, dass es nicht das Ende der Welt sein musste, zehn Jahre lang Chef eines der renommiertesten Kaufhäuser der Welt zu sein. Und er hatte recht behalten. Fünf Jahre war das nun her, und es war zwar nicht so, dass Seth besonders viel für seinen Job übrighatte oder dass er Winston Spencer posthum stolz machen wollte. Letzteres wäre ohnehin illusorisch gewesen, denn er hatte seinem Vater nie etwas rechtmachen können. Aber es war nicht so grauenvoll, wie er zuerst angenommen hatte. Vielleicht wollte er sich selbst etwas beweisen, aber er war nicht bereit, klein beizugeben.

„Johnson Events, die Agentur, die die Weihnachtsaktion betreut, ist soeben vom Vertrag zurückgetreten“, sagte Beverley, bevor Seth abwinken konnte.

Carlton, Mitte sechzig, aber locker zehn Jahre jünger aussehend, hob eine Braue. Da ihm bereits vor zwei Jahrzehnten angefangen hatte, das Haar auszugehen, trug er es extrem kurz geschnitten, was seine scharfen Gesichtszüge betonte. Er hatte graue Augen, die einem das Gefühl geben konnten, dass sie einem direkt bis auf den Grund der Seele blickten, eine große, kantige Nase und schmale Lippen. Alles in allem reflektierte er nicht gerade das Bild des gütigen Onkels, doch war er stets freundlicher zu Seth gewesen als sein eigener Vater.

Seth schob den Gedanken beiseite und konzentrierte sich stattdessen darauf, was Carlton, seine rechte Hand, zu diesem Dilemma zu sagen hatte.

„Das ist absolut inakzeptabel“, meinte der. „Ich werde mich sofort darum kümmern, dass sich die Rechtsabteilung der Sache annimmt. Darüber hinaus kann ich meine Kontakte spielen lassen. Es wäre doch gelacht, wenn es mir nicht gelänge, eine neue Agentur für uns aufzutun.“

„Nein“, sagte Seth und überraschte sich damit selbst.

„Nein?“

„Ich werde selbst eine Lösung finden“, verkündete er. „Das hier ist New York City, und Spencer’s ist nicht nur irgendein Laden. Ich finde schon selbst jemanden, der den Job übernehmen will.“

Natürlich wäre es einfacher gewesen, die ganze Angelegenheit einfach vertrauensvoll in Carltons Hände zu legen. Aber genau das war das Problem. Seth ging viel zu oft den leichten Weg und ließ Carlton Dinge tun, die er, als Firmenoberhaupt, eigentlich selbst erledigen sollte.

Und das Weihnachtsgeschäft? Nun, er mochte für Weihnachten persönlich nicht viel übrighaben, aber ihm war durchaus klar, was das Fest für Unternehmen wie das seine bedeutete. In den Wochen kurz vor Weihnachten wurde gut die Hälfte des gesamten Jahresumsatzes gemacht. Und auch wenn sich das Spencer’s keineswegs in wirtschaftlicher Schieflage befand, konnten sie sich einen Verlust des Weihnachtsgeschäftes nicht erlauben.

Hinzu kam, dass das Spencer’s für seine Weihnachtsdekoration regelrecht berühmt war. Früher war die feierliche Enthüllung sogar im Fernsehen übertragen worden. Das gab es zwar heute nicht mehr, aber dafür einen Livestream, der immer noch eine beachtliche Zuschauergemeinde fand. Und nicht wenige Menschen kamen Jahr für Jahr eigens nach Manhattan, um die dekorierten Schaufenster zu bestaunen.

Sie hatten einen Ruf zu verlieren.

Nicht umsonst war der Werbeslogan Spencer’s is Christmas auch heute noch in aller Munde.

„Ganz wie du willst, Seth“, sagte Carlton, doch es schwang ein Hauch von Missbilligung in seiner Stimme mit, die der ältere Mann nicht ganz unterdrücken konnte. „Wenn du Hilfe brauchst …“

„Wirst du der Erste sein, der davon erfährt“, versprach Seth. „Ach, aber einen Gefallen könntest du mir tun.“

„Ja?“

„Beverley hat es vorhin auch schon angesprochen. Es erscheint uns seltsam, dass eine so renommierte Agentur wie Johnson Events ein solches Risiko eingeht. Und mir fällt eigentlich nur eine Person ein, die sowohl die charakterliche Schwäche als auch das notwendige Kleingeld besitzt, da ein wenig nachzuhelfen.“

Carlton neigte den Kopf zur Seite. „Von wem sprechen wir?“

„Ist das nicht offensichtlich? Michael Reardon natürlich.“

Reardon hatte vor ein paar Jahren eine kurz vor dem Konkurs stehende Kette von Kaufhäusern aufgekauft und sie mit viel Geld und aggressiver Werbung wieder zu einem echten Player in der Branche gemacht. Das notwendige Kapital besaß er, weil er mit neunzehn in der Garage seiner Eltern einen revolutionären, neuartigen Mikrochip entwickelt hatte, ohne den Smartphones wohl heute nicht in ihrer derzeitigen Form existieren würden. Er hatte das Patent verkauft und ein unvorstellbares Vermögen damit gemacht, welches er clever investiert und damit noch weiter vermehrt hatte.

Seth selbst hatte den Mann nur einmal flüchtig auf einer Party kennengelernt, aber er wusste, dass sein Vater mehrfach mit Reardon aneinandergeraten war. Seitdem schien dieser wild entschlossen zu sein, das Spencer’s zu übernehmen – vermutlich, um es zu ruinieren, und damit das Lebenswerk von Winston Spencer zu zerstören.

Doch seine Gründe waren Seth relativ egal. Er würde nicht zulassen, dass es dazu kam. Er mochte es nicht gewollt haben, aber das Spencer’s gehörte jetzt ihm, und er würde es sich nicht von einem dahergelaufenen Hardware-Entwickler wegnehmen lassen.

„Reardon?“ Carlton wirkte skeptisch. „Meinst du wirklich? Nun ja, ich werde der Sache auf jeden Fall für dich nachgehen.“

Damit war die Unterhaltung beendet. Sobald er wieder allein in seinem Büro war, lehnte Seth sich nachdenklich zurück. War das gerade ein Fehler gewesen? Denn eins war klar: Trotz seiner markigen Worte hatte er nicht den blassesten Schimmer, wie er jetzt, so kurz vor Weihnachten, eine kompetente Agentur auftreiben sollte, die bereit war, in letzter Minute das gesamte Konzept und die Vorbereitungen für das Christmas at Spencer’s zu übernehmen. Zwar brachte ein solcher Auftrag großes Renommee mit sich, aber die wirklich guten Agenturen waren um diese Zeit längst ausgebucht, und der Zeitdruck war wirklich immens.

Mit einem Seufzen öffnete er den Deckel seines Laptops und rief die Liste der Agenturen auf, mit denen Spencer’s in der Vergangenheit bei anderen Events zusammengearbeitet hatte. Es war an der Zeit, die Dinge persönlich in die Hand zu nehmen. Aber irgendwie war es doch typisch. Er hatte Weihnachten noch nie leiden können, und selbst jetzt, als Erwachsener, hörte es nicht auf, ihm Schwierigkeiten zu machen.

2. KAPITEL

Erste Schneeflocken rieselten vom Himmel herab, als der Bus gerade die Museum Mile am Central Park entlangfuhr. Es war noch ziemlich früh am Morgen, und der M3 in Richtung East Village war gerappelt voll, kam aber aufgrund des Berufsverkehrs nur sehr schleppend voran.

Wenn Tamsyn es eilig hatte oder pünktlich zu einem Termin erscheinen musste, nahm sie die Subway, auf die der Straßenverkehr keinen Einfluss hatte. Aber wann immer sie konnte, bevorzugte sie den Bus. Auch nach fast einem Jahr hatte sie sich an New York City noch immer nicht sattgesehen. Manchmal, wenn sie Zeit hatte, setzte sie sich einfach in irgendeine Linie und fuhr, bis ihr etwas ins Auge fiel, was sie sich aus der Nähe ansehen wollte. Dort stieg sie dann aus, nur um später wahllos umzusteigen und sich in einen anderen Winkel der Stadt fahren zu lassen. Auf diese Weise hatte sie viele Dinge entdeckt, die sie sonst nie gesehen hätte. Ihren Lieblings-Hot-Dog-Stand beispielsweise, der sich, abseits der Touristenpfade, eingepfercht zwischen einem Immobilienmaklerbüro und einem Mehrfamilienhaus, in der Mosholu Ave in der Bronx befand.

Gerade war sie auf dem Weg zu einem Kinderheim, das sich am äußersten Zipfel von Manhattan befand, und das sie, wenn sie die Zeit dazu hatte, besuchte. Angefangen hatte sie damit, als eine Nachbarin, Maria, die ehrenamtlich dort arbeitete, sie mal gebeten hatte, für sie einzuspringen. Und irgendwie waren ihr die Kinder einfach nicht mehr aus dem Kopf gegangen. An ihrem nächsten freien Tag war sie wieder hingefahren, und seitdem immer wieder. Sie half einigen der Kinder bei ihren Schulaufgaben, hörte sich ihre Sorgen an und las den Jüngeren von ihnen Geschichten vor oder spielte mit ihnen Gesellschaftsspiele. Es war nichts Besonderes, was sie tat, aber den Kindern bedeutete es etwas. Und ihr selbst bereitete es auch Freude.

Und ganz besonders jetzt, kurz vor Weihnachten, wenn viele der Kinder ihre Eltern und Familien vermissten, war es Tamsyn wichtig, für sie da zu sein. Es war das Fest der Liebe und des Zusammenhalts, da sollte niemand allein oder traurig sein, fand sie.

Für sie selbst war Weihnachten schon immer etwas ganz Besonderes gewesen, die schönste Zeit im ganzen Jahr. Sie hatten nie viel Geld gehabt, und ihre Mutter hatte ihr nie großartige Geschenke machen können. Im Hause Pike war das Weihnachtsfest immer eine eher spartanische Angelegenheit gewesen, aber es hatte stets einen Baum gegeben, den ihre Mutter und sie gemeinsam mit den Dingen geschmückt hatte, die Tamsyn über die Jahre gebastelt hatte. Die Geschenke waren eher praktischer Natur gewesen: Socken, Pullover, Unterwäsche. Aber ihre Mutter hatte auch jedes Mal dafür gesorgt, dass sie eine Kleinigkeit zum Spielen bekam. Eine Puppe oder ein Kuscheltier.

Das absolute Highlight war es für Tamsyn aber immer gewesen, sich die Übertragung von Spencer’s Christmas Dreams anzusehen. Die Veranstaltung war im Laufe der Zeit zu einem echten Inbegriff von Weihnachten für viele Menschen geworden, weswegen sie jahrzehntelang, ebenso wie die Schaufensterenthüllung einen Monat früher, immer an Heiligabend im Fernsehen übertragen worden war. Es war im Grunde eine vorgezogene Bescherung für Dutzende Kinder aus verschiedenen Waisenhäusern. Die Jungen und Mädchen durften zu Santa und ihm ihre Wünsche und Sehnsüchte erzählen und bekamen ein kleines Geschenk von ihm überreicht. Da dies natürlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein konnte, sorgte die Stiftung, die von Winston Spencer, dem Vater des jetzigen Besitzers des Kaufhauses, ins Leben gerufen worden war, dafür, dass eine Vielzahl anderer Waisen ebenfalls Geschenke erhielt.

Für Tamsyn war Spencer’s Christmas Dreams immer der Höhepunkt der Weihnachtszeit gewesen. Die strahlenden Kinderaugen, wenn Santa Claus ihnen ihre Geschenke überreichte. Die festliche Dekoration. Die Musik. Einfach alles war in ihren Augen vollkommen perfekt gewesen. Und auch heute dachte sie stets mit Nostalgie an jene Zeiten zurück.

Und jetzt war sie hier, in New York, wenn auch anders, als sie sich immer vorgestellt hatte. Und trotzdem, etwas von dem Zauber war immer noch da, gerade jetzt, da Weihnachten vor der Tür stand und sich die Stadt immer mehr in ein weihnachtliches Lichtermeer verwandelte.

Heute war ihr freier Tag, und sie hatte vor, sich am Abend die feierliche Enthüllung der Schaufenster bei Paradiso anzusehen, die immer etwas früher als die von Spencer’s stattfand, wo man traditionell bis genau einen Monat vor Heiligabend darauf warten musste. In ihren Augen konnte das Paradiso auch nicht mit Spencer’s mithalten, das in jedem Jahr alles gab, um seine Kunden zu überraschen und sie in Staunen zu versetzen.

Wobei sie zugeben musste, dass die Kreativität in den vergangenen Jahren ein wenig nachgelassen hatte. Es war ein bisschen mehr Mainstream geworden, also im Prinzip das, was auch die anderen Kaufhäuser präsentierten, nur größer und kostspieliger. Tamsyn hatte es besser gefallen, als alles noch ein bisschen ausgefallener gewesen war. Manche der Schaufenster waren echte Kunstwerke gewesen, und ihre Fotos und Videos waren um die Welt gegangen.

Wenn sie verantwortlich wäre …

Bist du aber nicht, erinnerte sie sich rasch selbst, bevor sie sich zu sehr von ihren Träumereien mitreißen lassen konnte. Und vermutlich wirst du es auch nie sein.

Sie ließ die Schultern hängen und lehnte die Stirn gegen die Fensterscheibe des Busses. Ihr Atem ließ das Glas beschlagen, und sie hob eine Hand, um einen Smiley darauf zu zeichnen, dem sie dann noch eine Weihnachtsmütze aufsetzte.

Fröhlicher machte es sie aber leider nicht. Seit fast einem Jahr lebte sie nun hier, doch sie war noch immer so weit von der Erfüllung ihrer Träume entfernt wie am ersten Tag. Und was noch schlimmer war, sie sah auch nicht, wie sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern sollte.

Sie hatte sich nie wirklich Gedanken darüber gemacht, was für Qualifikationen man mitbringen sollte, wenn man als Schaufensterdekorateurin arbeiten wollte. Naiverweise hatte sie geglaubt, dass ein Highschool-Diplom, großer Enthusiasmus, Talent und Kreativität allein dafür ausreichten.

Nun, sie war eines Besseren belehrt worden.

Es gab eine Schule ganz in der Nähe, in der eine solche Ausbildung angeboten wurde. Dort lernte man die Grundlagen, zu denen auch Nähen und Handwerken gehörte. Aber leider war so etwas nicht billig, und vom Erbe ihrer Mutter war so gut wie nichts mehr übrig.

Wie sie es auch drehte und wendete, sie konnte es sich einfach nicht leisten. Nicht mal einen kleinen Workshop, der sich vielleicht gut in ihrem Lebenslauf machen würde.

Aber vielleicht konnte die Enthüllung heute Abend sie ein wenig von ihren trüben Gedanken ablenken.

So richtig daran glauben konnte Tamsyn aber selbst nicht.

„We wish you a merry Christmas, and a happy New Year …“

Seth beugte sich auf der Rückbank seiner Limousine vor und betätigte den Knopf für die Gegensprechanlage, um mit seinem Chauffeur zu reden. „Stellen Sie das bitte aus, Christopher.“

Zehn Sekunden später herrschte wunderbare Stille, und er atmete erleichtert auf. Es war gerade mal Anfang November, doch die Weihnachtsfanatiker feuerten bereits aus sämtlichen Rohren. Wohin man auch blickte, überall blinkende Lichter, geschmückte Tannenbäume, Weihnachtsmänner und Rentiere. Gott, wie er diesen ganzen faulen Zauber hasste!

Was war Weihnachten heutzutage denn schon noch? Doch nur eine Gelegenheit für den Einzelhandel, sich eine goldene Nase zu verdienen. Nicht dass er sich darüber beschwert hätte. Er verdiente ja selbst nur zu gut daran. Aber seine wahre Bedeutung hatte das Fest doch schon lange verloren. Es ging nicht um Liebe oder gar Nächstenliebe. Es ging um Geschenke und darum, sich gegenseitig zu übertreffen. Teurer, ausgefallener, besser. Und da wunderte sich noch jemand, dass er für Weihnachten nichts übrighatte …

Wobei es, wenn er ganz ehrlich war, nicht allein daran lag. Es waren vielmehr die persönlichen Erfahrungen, die er mit dem Fest verband.

Die wenigsten davon positiv.

Er presste sich die Handballen auf die Augen, bis Blitze auf seinen Netzhäuten explodierten, und bemühte sich die Geister der Vergangenheit, die auf ihn einstürmten, mit reiner Willenskraft zu vertreiben.

Es gelang ihm nicht gänzlich, aber er hatte andere Dinge zu tun, als alten Erinnerungen nachzuhängen. Was geschehen war, war geschehen, und darüber zu jammern, würde daran nichts ändern. Er warf einen Blick auf seine Rolex – er sei ein wandelndes Klischee, hatte sein Vater kritisiert, als er ihn zum ersten Mal damit gesehen hatte. Seitdem trug Seth die Uhr praktisch täglich und nahm sie nur zum Duschen und Schlafen ab.

Sie erinnerte ihn daran, dass er, ganz gleich, wie sehr er sich auch verbiegen mochte, für manche Menschen niemals gut genug sein würde. Früher hatte diese Erkenntnis wie ein Stein auf seiner Seele gelastet, aber heute nicht mehr. Er war, wer er war, und jeder, der damit ein Problem hatte, konnte ihm gestohlen bleiben. Er würde sich für nichts und niemanden mehr verbiegen.

Nun, mit Ausnahme vom Spencer’s vielleicht. Er wies seinen Fahrer an: „Fahren Sie mich bitte zum Paradiso, Christopher.“

„Aber, Sir, findet dort heute nicht die feierliche Enthüllung der Weihnachtsdekoration statt?“

Seth seufzte. „Eben deswegen“, entgegnete er.

Seit zwei Tagen bemühte er sich nun vergeblich darum, eine neue Eventagentur für das Christmas at Spencer’s zu finden. Doch die großen Agenturen, mit denen sie bei Spencer’s in der Vergangenheit zusammengearbeitet hatten, waren allesamt bereits mit anderen Großprojekten beschäftigt. Und die kleineren, die er angefragt hatte, besaßen schlicht und einfach nicht die Kapazitäten, um eine solche Mammutaufgabe zu stemmen.

Es war zum Verzweifeln. Andererseits war Seth niemand, der bei der kleinsten Schwierigkeit gleich aufgab. Und so war er auf den genialen Gedanken gekommen, die Organisation des Events einfach wieder selbst in die Hand zu nehmen. Das hatten sie ja früher, unter der Leitung seines Vaters, schließlich auch gemacht. Das Spencer’s hatte eine eigene Abteilung mit Mitarbeitern, die nur für die Dekorationen zuständig waren, und ganz hervorragende Arbeit leisteten. Es wäre doch gelacht, wenn sie das nicht auch selbst hinbekämen!

Leider hatte sich das als leichter gesagt als getan erwiesen, denn Seth mochte vieles sein und einiges können, aber er besaß keinen Funken Kunstverstand. Er hatte versucht, sich ein Konzept für die Schaufenster zu überlegen, aber das Ergebnis war ernüchternd gewesen. Und die Vorschläge von Mr. Sommersent, dem Chef der Dekorationsabteilung, hatten ihn auch nicht unbedingt umgehauen. Der Mann war ein Traditionalist, dessen Ideen vor fünfzehn oder zwanzig Jahren sicher noch überzeugt hätten. Aber heutzutage erwarteten die Menschen einfach ein bisschen mehr. Teurer, ausgefallener, besser, lautete auch hier inzwischen die Devise.

Ob er nun persönlich ein Fan von Weihnachten war oder nicht, das Christmas at Spencer’s musste etwas Besonderes sein. Etwas, das die Leute dazu brachte, staunend vor den Schaufenstern stehen zu bleiben. Und nichts, was er bisher gesehen hatte, erfüllte diese Prämisse auch nur im Ansatz.

Und genau deshalb war er jetzt so verzweifelt, dass er sich sogar schon dazu herabließ, sich von der Konkurrenz inspirieren zu lassen. Viel Hoffnung hatte er zwar nicht, aber vielleicht vermochten die Schaufenster vom Paradiso es ja, irgendeinen genialen Geistesblitz ihn ihm hervorzurufen.

Er konnte es nur hoffen.

Das Paradiso war eines der größten und schönsten Kaufhäuser von ganz Manhattan. Natürlich konnte es mit dem Spencer’s nicht mithalten, fand Tamsyn, aber es war definitiv eindrucksvoll. Und die Weihnachtsdekoration war in den letzten Jahren auch immer einfallsreicher und innovativer geworden. Was das betraf, war sie bestens informiert. Nicht umsonst hatte sie schon seit ihren Teenagertagen alles verschlungen, was irgendwie mit New York City und Weihnachten zu tun hatte.

Um Punkt acht sollte die feierliche Enthüllung stattfinden. Bis dahin war es noch eine Stunde, aber der Vorplatz des Kaufhauses füllte sich schon jetzt mit Schaulustigen.

Aus verborgenen Lautsprechern, die an der Fassade angebracht waren, drangen fröhlich Weihnachtslieder, und es gab einen Stand, der gegen eine Spende für die Obdachlosenhilfe herrlich duftenden, heißen Punsch ausschenkte.

Tamsyn hatte sich in die lange Schlange eingereiht, um sich selbst einen Becher zu besorgen, und ließ sich von der positiven Stimmung, die auf dem Platz herrschte, mitreißen. So etwas gab es doch wirklich nur zu Weihnachten. Die Menschen in New York waren sonst in der Regel so auf sich selbst fokussiert, dass sie nichts um sich herum wahrnahmen – das war zumindest die Erfahrung, die sie in den letzten Monaten gemacht hatte. In mancher Hinsicht war das gar nicht so schlecht, bedeutete es doch, dass sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerten, statt ihre Nasen in die ihrer Nachbarn zu stecken, so wie es in Huxtonville oft der Fall gewesen war. Aber es hieß auch, dass es viele Menschen gab, die schon seit Jahren Tür an Tür miteinander lebten, ohne jemals auch nur ein Wort miteinander gewechselt zu haben.

Zu Weihnachten aber veränderte sich die Atmosphäre in der riesigen Stadt, wie Tamsyn feststellte. Die Menschen schienen freundlicher und aufgeschlossener zu sein. Aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein, weil sie selbst die Aussicht auf das Weihnachtsfest mit solcher Begeisterung erfüllte, woran sich auch nach dem Tod ihrer Mutter nichts geändert hatte, obwohl sie es nun allein verbringen musste.

Die Schlange bewegte sich ein winziges Stück vorwärts. Bei dem Tempo würde sie ihren Punsch vermutlich erst in den frühen Morgenstunden in den Händen halten. Doch sie ließ sich ihre positive Stimmung nicht vermiesen. Stattdessen nutzte sie die Zeit, sich noch ein wenig umzusehen – und dabei zu überlegen, was sie gegebenenfalls anders machen würde.

Das Erste, was ihr ins Auge fiel, waren die festlich geschmückten Christbäume, die den Haupteingang des Kaufhauses flankierten. Das Gebäude selbst war modern, mit viel Glas und Metall, und die Bäume waren über und über mit silbrig schimmerndem, künstlichem Schnee besprüht, vermutlich, um ihnen einen modernen, hippen Look zu verleihen und zugleich die Tatsache zu kaschieren, dass es sich um Kunstbäume handelte. In Tamsyns Augen wirkte es allerdings einfach nur billig.

Sie überlegte, was sie stattdessen auswählen würde. Ein Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus, als ihr ein Einfall kam. Das Logo des Kaufhauses war leuchtend Pink. Warum also nicht einfach dazu stehen, dass man keine echten Tannen verwendete, und grellpinke Kunstbäume benutzen? Geschmückt mit geschmackvollen silbernen Kugeln und Weihnachtsschmuck, ein wenig Lametta und vielleichte einem winzigen Hauch Kunstschnee … Das Bild nahm in ihrem Kopf Gestalt an, und auch wenn es nicht ihrem persönlichen Geschmack entsprach – sie bevorzugte klassische Weihnachtsdekoration –, so wäre es doch zumindest ein Eyecatcher, der die Blicke der Menschen anzog – und stimmig. Und es wäre in jedem Fall besser als diese unförmigen Abscheulichkeiten, die jetzt am Eingang standen.

Die wartenden Menschen vor ihr hatten sich, von ihr unbemerkt, wieder ein Stück vorwärtsbewegt, und sie beeilte sich aufzuschließen, bevor sie ihren Platz verlor und sich wieder ganz hinten anstellen musste.

Ein kurzer Blick auf ihr Smartphone verriet ihr, dass es fast Zeit für die große Enthüllung war. Zum Glück waren noch zwei weitere Angestellte eingetroffen, die jetzt dabei halfen, den Punsch an die durstigen Schaulustigen auszuschenken.

Als Tamsyn an der Reihe war, sah es ganz so aus, als würde es gleich losgehen. Sie bezahlte, nahm dankend ihren Becher entgegen. Dann drehte sie sich um – und lief gradewegs gegen eine Wand.

Nein, korrigierte sie sich sogleich. Keine Wand. Es handelte sich um einen Mann, und zwar einen verflixt eindrucksvoll gebauten. Mit breiten Schultern, Oberarmen, die die Ärmel seines kostspielig aussehenden Sakkos sprengen zu wollen schienen, und einer schmalen Taille. Die Knöpfe seines weißen Hemds waren redlich bemüht, ihren Job zu erledigen, aber sie standen offensichtlich unter großer Anspannung, was angesichts seiner breiten Schultern und des Brustkorbs kein Wunder war. Was durchaus attraktiv aussah – anders als der sich ausbreitende rote Fleck von ihrem Punsch, der sich über ihn ergossen hatte, als sie mit ihm zusammenstieß.

„Oh nein!“ Sie klopfte ihre Manteltasche auf der Suche nach einem Paket Taschentücher ab. Sie hatte eigentlich immer Taschentücher dabei, aber jetzt, wo sie sie wirklich einmal brauchte, waren sie natürlich nirgends zu finden. „Das … tut mir schrecklich leid!“

„Das kann ja wohl nicht wahr sein!“, polterte der Mann. „Können Sie denn nicht aufpassen? Dieses Hemd ist von Burberry, falls Ihnen das etwas sagt. Es hat ein Vermögen gekostet. Den Fleck bekommt meine Haushälterin doch nie wieder raus!“

„Ich … das war wirklich keine Absicht. Ich komme natürlich für den Schaden auf.“

Er lachte höhnisch. „Ach, ist das so? Sie haben also mal eben achthundert Dollar übrig, um mir ein neues Hemd zu kaufen?“

„Achthundert …“ Sie erbleichte. Das war in der Tat ein Problem. Wer, um Himmels willen, gab denn so viel Geld für ein einziges Kleidungsstück aus?

Sie sah auf und erstarrte, als sie dem Mann nun zum ersten Mal ins Gesicht blickte. Ein Gesicht, das sie sehr gut kannte, wenn sie auch mit der Person, zu der es gehörte, noch nie ein Wort gewechselt hatte. Denn warum sollte es dem Inhaber eines riesigen Kaufhauses einfallen, sich mit einer kleinen Reinigungskraft wie ihr zu unterhalten?

Und niemand anderes war dieser Mann: Seth Spencer, der Besitzer von Spencer’s.

Ihr Boss.

3. KAPITEL

Grundgütiger, warum kann nicht einmal irgendetwas glattgehen? fragte sich Seth. Er schien in letzter Zeit eine echte Pechsträhne zu haben, anders ließ sich das doch schon gar nicht mehr erklären.

Ärgerlich sah er die Frau an, die vor ihm stand. Wobei … jetzt, da er sie so anschaute, fiel es ihm fast ein bisschen schwer, richtig wütend auf sie zu sein. Sie hatte das Antlitz eines Engels, mit hohen Wangenknochen, geschwungenen Lippen und Augen so blau, dass sie mit dem Himmel an einem strahlenden Sommertag am Meer konkurrieren konnten. Kupferfarbenes Haar ergoss sich in weichen Wellen über ihre Schultern, doch ein Teil davon war unter der dicken Strickmütze, die sie trug, verborgen.

Sie war warm eingepackt, in einen knielangen Mantel, dicken Handschuhen und einen Strickschal, dazu hohe Stiefel mit Kunstpelzbesatz. In der Hand hielt sie noch immer den Becher, dessen Inhalt sich auf seinem Designerhemd ausgebreitet hatte.

Hübsch.

Rasch wischte er den Gedanken beiseite. Es war völlig irrelevant, wie sie aussah und ob er sie attraktiv fand oder nicht. Er schüttelte den Kopf über sich selbst, so wie es sein Vater auch getan hätte.

Typisch, dass ein hübsches Gesicht genug ist, um dich völlig den Fokus verlieren zu lassen, hätte Winston Spencer gesagt und missbilligend eine Braue gehoben. Seth wusste das deshalb so genau, weil es oft genug tatsächlich so geschehen war.

Stirnrunzelnd blickte er an sich hinunter. Der Fleck war unschön, aber kein Weltuntergang. Er musste im Grunde einfach nur sein Jackett oder seinen Mantel zuknöpfen, und niemand würde mehr das Geringste sehen. Sicher, es würde nichts an dem unangenehm nassen Gefühl ändern, aber das war nun wirklich nichts, womit er nicht zurechtkommen konnte. Zumindest war das Getränk, das sich über ihn ergossen hatte, nicht glühend heiß gewesen. Welch ein Glück, dass das kulinarische Angebot, das das Paradiso zur großen Weihnachtseröffnung aufgefahren hatte, nicht seinen eigenen Standards entsprach. Unter seiner Verantwortung wäre der Punsch so heiß gewesen, dass er sich damit Verbrennungen zweiten Grades zugezogen hätte.

Er schob ihre Hände beiseite, als sie jetzt versuchte, das Malheur mit einem einzelnen Taschentuch zu beseitigen, das bereits nach dreimaligem vorsichtigem Tupfen völlig durchnässt war.

„Lassen Sie“, knurrte er unfreundlich. „Das macht die Sache jetzt auch nicht besser.“

Sie blickte ihn an. Ihre Augen fesselten ihn sofort, vor allem, da er ihre Farbe nicht gleich einordnen konnte. Je nachdem, wie das Licht auf sie fiel, wirkten sie blau, grau oder grün.

Faszinierend.

„Es tut mir wirklich leid, Mr. Spencer“, sagte sie, und es klang vollkommen aufrichtig. „Ich bin sonst eigentlich nicht so ein Trampeltier.“

Ihre Wortwahl ließ seine Mundwinkel zucken. „Na ja, so weit würde ich dann doch nicht gehen, ich … Moment mal, woher kennen Sie meinen Namen?“

„Mr. Spencer“, antwortete sie. „Das sind Sie doch, oder nicht? Sie sind Seth Spencer.“

Er musterte sie durchdringend. „Und das wissen Sie woher?“

„Weil …“ Sie wirkte irritiert. „Nun, Sie sind mein Boss, Sir.“

Normalerweise hatte er nichts dagegen einzuwenden, Sir genannt zu werden, doch bei ihr stieß es ihm aus irgendeinem Grunde bitter auf. Es dauerte einen Moment, bis er realisierte, was sie außerdem noch gesagt hatte. „Sie arbeiten für mich? In welcher Position? Ich kann mich nicht erinnern, Sie je zuvor gesehen zu haben.“ Und an eine Frau wie Sie würde ich mich ganz gewiss erinnern, dachte er, behielt den Satz aber lieber für sich. Das musste sie nun wirklich nicht unbedingt wissen.

Ihre Wangen färbten sich zartrosa, doch sie reckte stolz das Kinn. „Das liegt vermutlich daran, dass Sie Ihren Reinigungskräften nicht besonders oft Ihre Aufmerksamkeit schenken.“

Er blinzelte überrascht. „Sie gehören zu der Reinigungscrew?“

„Ja, Sir. Ist das ein Problem?“ Jetzt wirkte sie fast ein wenig defensiv, so als rechnete sie damit, von ihm verspottet zu werden.

„Nein, warum sollte das ein Problem sein? Ohne qualifiziertes Reinigungspersonal wäre ein großes Kaufhaus wie Spencer’s gar nicht zu betreiben. Zudem bin ich der Ansicht, dass jeder Mitarbeiter ein Zahnrad im Getriebe ist, das Spencer’s antreibt. Und wenn eines fehlt, und sei es auch noch so klein, kann das große Ganze nicht funktionieren.“

Sie hob eine Braue. „Interessante Rede. Aber wenn Sie das wirklich glauben, dann wäre es nur konsequent, wenn Sie auch für bessere Arbeitsbedingungen und eine angemessene Bezahlung sorgen würden.“

Stirnrunzelnd sah er sie an. „Was haben Sie denn an den Arbeitsbedingungen auszusetzen?“, fragte er dann.

Sie stemmte die Hände in die H...

Autor

Penny Roberts
Penny Roberts verspürte schon als junges Mädchen die Liebe zum Schreiben. Ihre Mutter sah es gar nicht gern, dass sie statt Schule und Hausaufgaben ständig nur ihre Bücher im Kopf hatte. Aber Penny war sich immer sicher, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben, und ihr Erfolg als Autorin gibt ihr...
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