Julia Ärzte zum Verlieben Band 207

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SÜDSEENÄCHTE MIT DR. WILTON von JC HARROWAY

Unfallchirurgin Della Wilton verbindet eine Hassliebe mit Dr. Harvey Ward, dem besten Freund ihres Bruders. Und ausgerechnet mit ihm muss sie nun auf einer Südseeinsel zusammenarbeiten! Sofort lodert die Rivalität zwischen ihnen wieder auf. Aber auch die unwiderstehliche Anziehungskraft …

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  • Erscheinungstag 23.08.2025
  • Bandnummer 207
  • ISBN / Artikelnummer 8031250207
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

JC Harroway, Emily Forbes, Becky Wicks

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 207

JC Harroway

1. KAPITEL

Als sie in die Ankunftshalle des Fiji Nadi Airport kam, stieß Della Wilton einen glücklichen Seufzer aus. Obwohl sie zu einem Arbeitsurlaub hier war, schienen sich ihre Probleme schlagartig aufgelöst zu haben, sobald sie über die Metalltreppe vom Flugzeug auf den glühend heißen Asphalt getreten war.

Della hievte ihren übervollen Koffer auf einen Flughafen-Trolley, wobei sie sich den großen Zeh anstieß. Schmerzlich verzog sie das Gesicht, doch nicht einmal ein geprellter Zeh konnte ihrer guten Stimmung etwas anhaben. Zwei ganze Wochen voller Sonnenschein, Seminaren und Operationen am Pacific Health Hospital auf Viti Levu, der Hauptinsel der Fidschi-Inseln, lagen vor ihr. Genau der richtige Auftrieb, den sie nach der dreieinhalbjährigen Flaute seit ihrer Scheidung brauchte.

Sobald sie all ihre Gepäckstücke sicher verstaut hatte, schob sie den Trolley zum Ausgang, wobei sie bereits vom Schnorcheln an den Korallenriffen im glasklaren Meer und Hängematten zwischen Kokospalmen träumte. Von früheren Ferien mit ihrer Familie, aber auch von ihren unseligen Flitterwochen zu Beginn ihrer dreijährigen Ehe wusste Della, dass sich vor dem Flughafengebäude ein Taxistand befand. Doch schon nach zwei Schritten in diese Richtung kam ihr schwer beladener Trolley unvermittelt zum Stehen, weil seine Rollen blockierten. Da ihr Oberkörper dabei gegen den Griff prallte, schnappte sie einen Moment lang nach Luft. Typisch, dass sie ausgerechnet den miesesten Trolley erwischt hatte. Verärgert zerrte sie den Wagen rückwärts, in der Hoffnung, die Rollen auf diese Weise wieder in Gang zu bekommen. Jedoch vergeblich.

Erneut blieb der Trolley abrupt stehen, wodurch ihr Bordcase mit lautem Getöse herunterfiel. Della bückte sich danach, um ihn aufzuheben. Ihr Nacken fühlte sich bereits verschwitzt an, sowohl von der feuchten Hitze als auch von dem Kampf mit ihrem Gepäck. Entnervt richtete sie sich wieder auf … und sah sich plötzlich der Person gegenüber, die sie zuallerletzt auf Fidschi erwartet hätte: Harvey Ward.

„Della …“, meinte er gedehnt, wobei ein belustigtes Lächeln seine Mundwinkel umspielte. Mit einem argwöhnischen Ausdruck musterte er ihren großen Koffer, als wäre dieser voll von Sexspielzeugen, Pralinen und Tequila – die bedauernswerte Überlebensausrüstung einer Single-Frau. „Hat dir noch keiner erklärt, wie man mit leichtem Gepäck reist?“

Ehe Della auch nur ein Wort sagen konnte, drückte Harvey ihr einen Kuss auf die Wange. Sprachlos blieb ihr der Mund offen stehen, während der ungewohnte Kontakt augenblicklich und völlig unpassenderweise erotische Gefühle in ihr auslöste, die ihre Nervenfasern zu elektrisieren schienen. So etwas hatte Harvey noch nie getan. Ihre übliche Begrüßung bestand in einem widerstrebenden Zunicken oder einem knappen „Hallo“.

„Was in aller Welt tust du denn hier?“, fuhr sie ihn an. Dabei ließ sie die höfliche Gleichgültigkeit fallen, die sie ihm gegenüber sonst zeigte. Er war kein Freund, auch wenn sie sich schon seit vielen Jahren kannten. Aber auch kein wirklicher Feind, obwohl er als der erfahrenere Unfallchirurg Della ihren Traumjob in Melbourne vor der Nase weggeschnappt hatte. Und ganz sicher kein Lover – abgesehen von jener einen unbesonnenen Nacht, nachdem sie vor drei Jahren ihre Scheidungsurkunde erhalten hatte. Weil sie sich beschämt und zurückgewiesen fühlte, hatte sie an dem Abend zu viel Roséwein getrunken und vorübergehend den Verstand verloren.

Wie aufs Stichwort erinnerte sie sich daran, wie es gewesen war, nackt in seinen starken Armen zu liegen. Ein einziges Mal hatte sie mit Harvey Sex gehabt und konnte es noch immer nicht vergessen.

„Freut mich auch, dich zu sehen.“ Er lachte, bevor er mit aufreizender Gelassenheit an Della vorbeiging, um einen neuen Trolley zu nehmen, der offenbar perfekt funktionierende Rollen besaß.

Diesem blöden Kerl gelang eben einfach alles. Wie konnte er so cool, entspannt und sexy in den legeren Leinenshorts und dem Poloshirt aussehen, die seine Sonnenbräune und seinen schlanken, athletischen Körperbau betonten, wohingegen Della dringend duschen musste. Vorzugsweise möglichst kalt.

„Ich bin hier, um dich abzuholen“, meinte Harvey.

Della schob sich das feuchte, lockige Haar aus dem geröteten Gesicht. Ihre Haut kribbelte vor lauter Hitze. „Na, das erklärt ja alles“, murmelte sie.

Ihr wurde flau zumute. Der letzte Mensch, dem sie in ihrem Urlaub begegnen wollte, war ihr beruflicher Konkurrent und ewiger Widersacher Harvey. Anscheinend war er extra aus Australien angereist, um sie zu provozieren und auf ihre Unzulänglichkeiten hinzuweisen. Wie immer.

„Das hab ich gehört.“ Amüsiert zuckte er die Achseln, während er ihre Gepäckstücke mühelos auf seinen besseren Trolley stellte. „Freust du dich etwa nicht, mich zu sehen?“

Mürrisch presste Della den Mund zusammen. Das war auch etwas, was sie ärgerte. Genau wie ihr älterer Bruder Brody, sein bester Freund, war auch Harvey auf Konkurrenzkampf ausgerichtet. Wahrscheinlich fühlte er sich deshalb so wohl in ihrer Familie. Dellas Eltern waren Allgemeinmediziner und Brody einer der besten Nierenspezialisten Australiens. Als Jüngste war Della mit dem Gefühl aufgewachsen, den Ansprüchen ihrer Familie nie wirklich gerecht werden zu können. Dieses Gefühl hatte sich nur noch weiter verstärkt, als der selbstbewusste, arrogante Harvey als Familienmitglied ehrenhalber bei den Wiltons aufgenommen wurde.

Sobald beide Koffer in perfekter Balance auf dem Trolley lagen, lächelte Harvey ihr triumphierend zu und steuerte damit lässig auf den Ausgang zu. Als wäre er vollkommen sicher, dass Della ihm folgen würde.

„Wie ich sehe, hegst du mir gegenüber also immer noch einen Groll.“ Er warf einen herausfordernden Blick über seine breite Schulter, der wie immer sofort Dellas Angriffslust weckte.

Seit damals, als Brody seinen Freund Harvey als frischgebackenen Arzt zum ersten Mal nach Hause mitgebracht hatte, besaß dieser einen hungrigen Ausdruck in seinen Augen, von dem Della sich immer leicht bedroht fühlte. Als würde er ein Geheimnis kennen, das sie nicht sehen konnte, weil sie zu dumm war. Natürlich war sie als Achtzehnjährige scharf auf ihn gewesen, trotz der Beziehung mit ihrem damaligen Freund, einem angehenden Ingenieur. Harvey war ein attraktiver Mann. Schon damals, mit dreiundzwanzig, bevor er Chirurg geworden war, hatte er eine unglaublich selbstsichere Ausstrahlung gehabt. Doch sobald sie miteinander sprachen, war schon nach wenigen Minuten klar gewesen, dass sie beide niemals gut miteinander auskommen würden. Ihre gegenseitige Verachtung hatte sich geradezu blitzartig gezeigt, und beide hatten einen absolut negativen Eindruck voneinander bekommen.

Brody hatte Della von der armen Frau berichtet, mit der Harvey die vorhergehende Nacht verbracht hatte, aber nie wieder anrufen würde.

Achselzuckend hatte Harvey dies kommentiert mit: „Ich habe ihr gleich gesagt, dass es nichts Ernstes ist.“

Della dagegen war traurig darüber, dass sie wegen des Medizinstudiums ihren Freund zurücklassen und eine Fernbeziehung führen musste. Als Brody sie deshalb aufzog, hatte Harvey völlig unsensibel zugestimmt mit der Bemerkung: „Das wird wahrscheinlich sowieso nicht halten.“

Della, die zu dem Zeitpunkt noch sehr verliebt gewesen war, hatte sofort Anstoß an Harveys Einstellung zu Beziehungen im Allgemeinen genommen. Er tat so, als wäre der Wunsch nach Liebe und Bindung unter seiner Würde und nur etwas für Dummköpfe.

„Ich hege keinen Groll.“ Della eilte ihm nach. Mit einem Meter achtundachtzig und seinen langen Schritten war er im Gegensatz zu ihren ein Meter achtundsechzig allerdings klar im Vorteil. „Aber ich möchte doch festhalten, dass du mir tatsächlich meinen Job weggeschnappt hast.“

Der verbitterte Jammerton in ihrer Stimme nervte sie. Ja, natürlich grollte sie Harvey. Im Grunde war die Stelle als Chefärztin der Unfallchirurgie am Melbourne Medical Center nicht ihr Job. Sondern Harvey hatte genauso viel Anrecht darauf wie Della. Da sie nur wegen ihres Ex-Mannes aus ihrer Heimatstadt Melbourne nach Sydney gezogen war, hätte sie nach der demütigenden Scheidung diesen beruflichen Erfolg dringend gebraucht, um ihr Selbstvertrauen wieder aufzubauen. Dass sie die Stelle dann ausgerechnet an Harvey verlor – vor allem, nachdem sie gerade mit ihm geschlafen hatte, war eine bittere Pille gewesen. Letztendlich hatte dies dazu geführt, dass Della nach Neuseeland flüchtete, um dort eine Stelle als Oberärztin anzutreten und so von Sydney und Ethan wegzukommen.

„Kann ich was dafür, dass sie den besten Chirurgen für den Job haben wollten?“, erwiderte Harvey augenzwinkernd. Er ging durch die Automatiktür, wo durch einen Schwall kühler Luft Della sein sexy Männerduft entgegenwehte.

„Nein, aber du kannst was dafür, dass du ein arroganter Kontrollfreak bist.“ Sie merkte nicht, dass er stehen geblieben war, bis sie mit ihm zusammenstieß und ihre Brüste seinen Arm streiften. Sie blickte auf, wobei ihr glühende Hitze ins Gesicht schoss und ihren gesamten Körper durchströmte. Er war ihr viel zu nah, viel zu groß und zu sehr … Harvey.

Schnell wich sie zurück, denn statt dem scherzhaften Ausdruck in seinen Augen sah sie nur den intensiven Blick, mit dem er sie in jener Nacht angeschaut hatte, als sie in seinen Armen lag.

„Komm schon, Della.“ Er warf ihr ein strahlendes Lächeln zu, als wüsste er genau, wie viel Macht sein Charme besaß. „Die Sache mit dem Melbourne-Job ist drei Jahre her. Findest du nicht, du könntest allmählich mal das Kriegsbeil begraben?“

„Von wegen!“, fauchte sie gereizt und entriss ihm den Trolley. Dabei erhaschte sie erneut einen Hauch seines dezenten Aftershaves, dem frischen Geruch seiner Kleidung sowie seiner Körperwärme. Und wieder musste sie energisch die ungebetenen, intimen Erinnerungen an diese eine Nacht verdrängen.

Der Sex mit Harvey hatte dazu gedient, sie daran zu erinnern, dass sie auch mit Mitte Dreißig noch eine begehrenswerte Frau war. Denn was Sex betraf, hatte Harvey jede Menge Erfahrung.

„Wieso bist du überhaupt hier?“, wollte Della wissen und blieb stehen. „Nicht hier am Flughafen, sondern auf Fidschi.“ Bis jetzt war sie ihm so gut wie möglich aus dem Weg gegangen. Von Anfang an waren sie fast nie einer Meinung gewesen, sondern hatten ständig miteinander gezankt, wie ein eingespieltes altes Ehepaar. Für Harvey gab es nichts Schöneres, als gegen Della und jeden ihrer Freunde, die sie zu einem Familientreffen mitbrachte, zu sticheln. Della hingegen verdrehte jedes Mal die Augen, wenn es um seine neuesten sexuellen Eskapaden ging. Im Namen aller Frauen empfand sie seine Unverbindlichkeit als persönliche Beleidigung.

„Ich wurde von Dr. Tora, dem Chefarzt der Chirurgie, eingeladen“, antwortete er. „Hat man dir nichts mitgeteilt?“ Er zog einen Autoschlüssel aus der Tasche.

„Was denn?“ Trotz der heißen Tropenluft wurde ihr kalt, und es überlief sie eine Gänsehaut.

„Dass ich genau wie du hier bin, um einige Seminare abzuhalten und meine chirurgischen Fähigkeiten kostenlos zur Verfügung zu stellen.“ Nachdem er die Bombe hatte platzen lassen, schlenderte Harvey zu einem Geländefahrzeug mit offenem Dach, auf dessen Tür der Name des Krankenhauses prangte.

Della sträubten sich die Haare. Hastig eilte sie ihm mitsamt dem Trolley hinterher. „Was soll das heißen? Das verstehe ich nicht.“ Hoffentlich war das nur ein Missverständnis. Auf gar keinen Fall konnte sie ihren Urlaub mit Harvey zusammen verbringen. Sonst würden sie sich womöglich noch gegenseitig killen.

„Wir werden zwei Wochen lang zusammenarbeiten“, stellte er ungerührt fest. Ohne jede Anstrengung hob er ihre Koffer in den Laderaum des Wagens, brachte den leeren Trolley weg und ging dann auf die Fahrerseite. Dabei zog er seine Sonnenbrille aus dem Hemdkragen.

Della schwankte ein wenig, und ihr war schwindelig zumute. Zusammenarbeiten? Das würde ein Katastrophe werden. Sie würde Harvey täglich im Krankenhaus sehen, ohne sich seiner arroganten Angeberei und seinem übermächtigen Sexappeal entziehen zu können. Total unfair.

„Das ist doch ein Witz, oder?“ Eine heftige Schimpfkanonade ging ihr durch den Kopf, als sie die Beifahrertür öffnete und widerstrebend einstieg.

„Ich fürchte nein.“ Harvey ließ den Motor an, ehe er sich zu ihr herüberlehnte. „Du wirst es wohl oder übel eine Weile mit mir aushalten müssen.“

„Oder du mit mir!“, gab sie trotzig zurück. Die Arme verschränkt, starrte sie aus dem Seitenfenster, während Harvey mit einem belustigten Lachen rückwärts ausparkte und zum Ausgang des Flughafens fuhr.

Dellas schöne zweiwöchige Auszeit mit Sonne und Chirurgie, in der sie ihre fidschianischen Kollegen unterstützen wollte, bevor sie erfrischt und erholt zu ihrer Arbeit nach Neuseeland zurückkehrte, löste sich vor ihren Augen in Luft auf. Selbstverständlich würde sie die Sache durchziehen, da sie es niemals zulassen würde, sich von Harvey Ward vertreiben zu lassen. Wenn er sie ertragen konnte, konnte sie auch ihn ertragen.

Aber vierzehn Tage mit ihrem beruflichen Konkurrenten zusammenarbeiten? Zwei Wochen mit einem Mann auf einer Insel gefangen, den sie nur allzu gut kannte? Zwei Wochen, in denen sie ständig an jene unglaubliche Nacht in seinem Bett erinnert werden würde? Obwohl sie seitdem nicht mal einen keuschen Wangenkuss von irgendeinem Mann erhalten hatte?

Das klang eher nach Strafe als nach Urlaub.

2. KAPITEL

Eine halbe Stunde hatte es gedauert, bis Harvey nach der kurzen, aber schweigsamen Fahrt mit Della zum Krankenhaus wieder zur Ruhe gekommen war. Trotz einer Rasur, einer kalten Dusche und mit frischem Hemd und Chinohose spürte er auch jetzt noch ein irritierendes Gefühl, das ihm unter die Haut ging. Diese Frau brachte ihn zur Weißglut wie niemand sonst, und das war schon immer so gewesen. Außerdem war sie umwerfend sexy.

„… und das hier ist unsere Notaufnahme, wie Sie ja wissen“, sagte Dr. Tora, der Chefarzt der chirurgischen Abteilung des Pacific Health Hospital. Womit er Harvey von dessen Erinnerungen an jene eine Nacht vor drei Jahren ablenkte.

Damals hatte Della ihn nach einem gemeinsamen Abend bei ihrer Familie mit einem Abschiedskuss auf die Wange überrascht, der sich auf einmal in etwas Explosives verwandelt hatte. Genauso explosiv wie ihr endloses Gezanke, aus dem ihre Kommunikation üblicherweise immer bestand.

Harvey schüttelte diese Gedanken ab und winkte einigen Mitarbeitern der Notaufnahme zu, die er wiedererkannte. Er war stolz darauf, dieses Krankenhaus zu unterstützen. Unter keinen Umständen durften die lang anhaltenden Unstimmigkeiten mit Della seinen Ruf beschädigen, den er sich über die Jahre hier aufgebaut hatte.

Da piepte auf einmal Dr. Toras Pager. Der ältere Kollege warf einen Blick auf das Display. „Oh, ich fürchte, ich muss gehen. Darf ich Ihnen Dr. Wiltons Sicherheitsausweis anvertrauen? Sie wird bestimmt bald hier sein.“

„Natürlich.“ Harvey nahm das Band und steckte es in die Tasche. Wo blieb Della nur? Der Grund, weshalb er sie am Flughafen abgeholt hatte, war der, dass er versuchen wollte, jede Befangenheit zwischen ihnen aus der Welt zu schaffen. Denn seit der Nacht, in der sie miteinander geschlafen hatten, waren sie sich höchstens sechs Mal im Kreis ihrer Familie begegnet. Doch stattdessen hatte sie ihn mit ihrem kurzen sexy Sonnenkleid völlig aus dem Konzept gebracht. Sie trug das blonde Haar länger als beim letzten Mal, als er sie gesehen hatte, sodass es ihr bildschönes herzförmiges Gesicht in sanften Wellen umrahmte. Aber abgesehen von der überwältigenden Anziehungskraft zwischen ihnen waren sie sofort wieder in ihre gewohnten Rollen verfallen.

Della mit ihrer kaum verhüllten Verärgerung, und er, indem er sie so provozierte, bis ihre blauen Augen zornige Funken sprühten. Daher war Harvey seine ursprüngliche Absicht, mit ihr reinen Tisch zu machen, bevor sie zum Krankenhaus fuhren, vollkommen entfallen. Er hatte Bilder vor sich gesehen, wie sie nackt und lustvoll stöhnend auf ihm saß. Über diese Nacht hatten sie kein einziges Mal gesprochen, sondern einfach so getan, als wäre es nie passiert. Hier saßen sie jedoch gemeinsam fest, ob es ihnen passte oder nicht. Sie mussten also einen Weg finden, ihre Differenzen beiseitezuschieben, um vernünftig zusammenzuarbeiten. Harvey verzog seine Miene und wappnete sich für zwei sehr lange Wochen.

Da näherten sich schnelle Schritte, sodass Dr. Tora und er sich umdrehten. Es war Della. Außer Atem, die Wangen noch immer gerötet und mit einem finsteren Blick in Harveys Richtung. Und noch immer wahnsinnig sexy. Um der ständigen Versuchung, die von ihr ausging, zu entgehen, machte er sich bewusst, wie geringschätzig sie ihn immer betrachtete, als sei er irgendetwas Unappetitliches, was sie gerade unter ihrer Schuhsohle entdeckt hatte.

„Verzeihen Sie meine Verspätung“, sagte sie zu Dr. Tora, während sie Harvey komplett ignorierte. „Ich habe mich ein bisschen verlaufen.“ Entschuldigend streckte sie die Hand aus. „Ich bin Della Wilton aus dem Auckland Harbour Hospital. Vielen herzlichen Dank, dass ich hier ins Pacific Health kommen durfte.“

Ebenso wie Harvey hatte auch Della sich geduscht und umgezogen, nachdem er sie vor einer Stunde vor den Mitarbeiter-Bungalows abgesetzt hatte. Sie duftete einfach fantastisch, wie eine Meeresbrise, und das ärmellose Kleid betonte ihren hinreißenden Körper. Obwohl Harvey dafür keine Erinnerungsstütze brauchte. Er besaß ein hervorragendes Gedächtnis und hatte fast zwanzig Jahre lang Zeit gehabt, Dellas zahlreiche Vorzüge zu studieren.

Bula, Dr. Wilton“, antwortete Dr. Tora. „Leider haben Sie die Führung durch die chirurgische Abteilung gerade verpasst, und ich muss jetzt dringend zu einem Patienten. Aber Dr. Ward wird Ihnen kompetent zur Seite stehen. Nach all den Jahren kennt er sich hier aus wie ein Einheimischer.“ Mit einem liebenswürdigen Lächeln eilte er davon.

„Nach all den Jahren?“, wiederholte Della misstrauisch. Ihre Wangen waren vom Laufen gerötet, und von den hellen Sommersprossen auf ihrer Nase konnte Harvey kaum seinen Blick losreißen. Er wusste aus eigener Erfahrung, dass genau solche auch über ihre Schultern und ihr Dekolleté verstreut waren. So sehr er sich auch bemühte, die wilde Leidenschaft aus jener Nacht konnte er einfach nicht vergessen. Sie waren wie Öl und Wasser, unvereinbar, aber leicht entflammbar.

Im Stillen zählte Harvey bis fünf, in der Hoffnung, dass er nichts Falsches sagen würde, was womöglich wieder zu einer Zankerei führen könnte. An dem Tag, als sie sich das erste Mal trafen, hatte er noch um seine verstorbene Freundin Alice getrauert und war wahllos mit anderen Frauen ins Bett gegangen, um den Schmerz zu betäuben. Verblüfft über die völlig unerwartete und auch unpassende Anziehung, die er der Schwester seines besten Freundes gegenüber empfand, hatte er eine gedankenlose, sarkastische Bemerkung darüber gemacht, dass eine Fernbeziehung zwischen Della und ihrem Freund wohl nicht überleben würde, wenn sie beide in verschiedenen Städten studierten. Das hatte sie ihm niemals verziehen. Im Laufe der Jahre hatte sie Harvey bei jeder Gelegenheit darauf hingewiesen, dass er und sie in Bezug auf Beziehungen vollkommen unterschiedliche Vorstellungen hatten, aber ihre sei die bessere.

„Ich komme jedes Jahr hierher.“ Er ging voran zum Aufenthaltsraum der Notaufnahme. „Normalerweise gebe ich dann ein paar Auffrischungsseminare für unsere fidschianischen Kollegen und führe einige Operationen durch, um sie zu unterstützen.“ Schließlich hatte er weder eine feste Partnerin noch eine Familie, mit denen er seinen Urlaub hätte verbringen können. Und er zog es immer vor, beschäftigt zu sein.

„War ja klar“, meinte Della spöttisch und presste ärgerlich die vollen Lippen zusammen. „Wie kommt es, dass du immer da bist, egal, wo ich hinschaue? Bei Feiern in meiner Familie, in meinem Job in Melbourne, und jetzt kaperst du auch noch meinen Urlaub!“

„Genauso gut könnte ich sagen, dass du mich verfolgst“, entgegnete Harvey, während sein Blick an ihrem eleganten, schmalen Hals hängen blieb. Dort war ihre Haut ganz besonders zart und weich. „Es ist ja nicht so, als wäre ich dieses Jahr einzig und allein mit der Absicht nach Fidschi gekommen, um dich zu ärgern.“

„Zutrauen würde ich es dir jedenfalls.“ Missmutig marschierte sie davon.

Er atmete einmal tief durch. Wie sollte er zwei Wochen mit Della zusammen aushalten, wenn sie keine Unterhaltung führen konnten, ohne dass sie an ihm Anstoß nahm oder er sie provozierte?

Vor dem Raum, in dem mehrere Pflegekräfte gerade Pause machten, holte er sie ein.

Um der Harmonie willen biss er sich auf die Zunge. „Das hier ist also der Aufenthaltsraum der Notaufnahme“, erklärte er. „Und dies das Ärzte-Büro.“ Er wies auf den gegenüberliegenden Raum. Da er leer war, gingen sie hinein. „Computer, Drucker, Fotokopierer und so weiter.“ Harvey holte Dellas Sicherheitsausweis aus seiner Tasche. „Den kannst du benutzen, um dich einzuloggen.“

Zur Veranschaulichung scannte er seinen eigenen Ausweis an dem digitalen Display ein, obwohl das eigentlich gar nicht nötig war. Als Oberärztin der Unfallchirurgie in dem führenden Krankenhaus Neuseelands war Della selbstverständlich imstande, herauszufinden, wie sie einen Fotokopierer benutzen sollte. Aber nun hatte er es lange genug hinausgezögert. Es wurde endlich Zeit für das geplante schwierige Gespräch.

„Also, wie ist es dir ergangen?“ Er steckte die Hände in die Hosentaschen.

„Ach, na ja …“ Sie ging durch das Zimmer und schaute sich um. „Ich bin immer noch dieselbe alte Della, immer noch geschieden, und arbeite in Auckland.“

Sobald sie sich eingeschüchtert fühlte, erwähnte sie jedes Mal all das, was sie als ihre schlimmsten Schwächen empfand. Als könnte sie sich dadurch verteidigen, indem sie es laut aussprach, bevor irgendjemand anders es tat.

„Hör mal.“ Harvey schloss die Tür. „Ich habe dich am Flughafen abgeholt, weil ich mit dir reinen Tisch machen wollte.“ Er stellte sich direkt vor sie, sodass sie ihn nicht mehr ignorieren konnte. „Wir haben nie über diese eine Nacht geredet, aber es war nur Sex.“

Nur Sex. Aber die Art von Sex, die seine Wahrnehmung dieser Frau grundlegend verändert hatte. Sechzehn Jahre lang hatte er gegen die Anziehung angekämpft, die sie auf ihn ausübte, und sie nur als die unantastbare Schwester seines besten Freundes betrachtet. Allein dafür hätte er eigentlich schon eine Goldmedaille verdient.

„Wir sollten nicht zulassen, dass dies unsere Zusammenarbeit in den nächsten beiden Wochen beeinträchtigt.“ Eindringlich sah er sie an.

„Keine Sorge“, gab sie spöttisch zurück. Doch eine verräterische Röte erschien an ihrem Nacken. „Ich bin Profi, und so toll war es nun auch wieder nicht.“

„Lügnerin.“ In seinen dunklen Augen lag ein Ausdruck, mit dem er sie dazu herausforderte, ihm zu widersprechen. Dann hätte er erwähnen können, mit welch feuriger Leidenschaft sie sich einander hingegeben hatten. Allerdings hatte Della ihm auch gestanden, dass er der erste Mann gewesen war, mit dem sie geschlafen hatte, nachdem ihre Ehe ein halbes Jahr zuvor in die Brüche gegangen war. Bei dem Gedanken, dass sie den guten alten Harvey damals dazu benutzt hatte, um über ihren Ex-Mann hinwegzukommen, schnürte sich ihm unwillkürlich der Magen zusammen.

„Tja, du brauchst dir jedenfalls keine Sorgen zu machen, dass ich dich in Versuchung bringen würde, deine Einmal-und-nie-wieder-Regel zu brechen“, erwiderte sie mit einem vernichtenden Blick.

Sie hatte schon immer sehr deutlich gezeigt, was sie von seiner Bindungsscheu hielt. Della hatte ihn dafür verurteilt und war jedes Mal für die Frauen eingetreten, mit denen er geschlafen hatte. Mit einer Miene, als wäre er ein echter Drecksack. Sie hatte keine Ahnung davon, dass die Oberflächlichkeit seiner Beziehungen seine Art war, mit den Verlusten in seinem Leben umzugehen. Sowohl seine Mutter als auch Alice hatten ihn auf unterschiedliche Weise verlassen, und er wollte sich nie wieder wegen einer Frau so machtlos fühlen. Solange er allein blieb und die Kontrolle behielt, war er besser dran.

Abwehrend schüttelte Harvey den Kopf. „Ich mache mir keine Sorgen, und ich habe auch keine solche Regel.“

Es war schließlich nicht seine Schuld, dass Della ein Beziehungsmensch war, er dagegen mit Ausnahme von Alice eher ein Einzelgänger. Sie war in der liebevollen und lauten Wilton-Familie aufgewachsen, während seine Mutter ihn im Alter von acht Jahren im Stich gelassen hatte. Was konnte er dafür, dass er absichtlich Single geblieben war, während Della sich in mehrere Männer verliebt hatte, die ihr alle nacheinander das viel zu große Herz gebrochen hatten?

„Aber du bist zweiundvierzig und warst noch nie in einer Beziehung, die eine längere Haltbarkeit hatte als eine Packung Milch.“ Verächtlich verzog sie ihren verführerischen Mund.

„Wieso tust du das immer?“ Harvey fragte sich, ob es wirklich eine so gute Entscheidung gewesen war, wie geplant nach Fidschi zu kommen, nachdem er von Brody erfahren hatte, dass Della auch hier sein würde.

„Was denn?“ Streitlustig hob sie das Kinn.

„Mir zu verstehen geben, dass mein Sexualleben dich stört.“ Er kam einen Schritt auf sie zu, wobei sein Pulsschlag sich beschleunigte, als er sah, wie ihre Pupillen sich plötzlich weiteten. „Der Liebe gegenüber skeptisch zu sein, ist kein Verbrechen. Und es schien dir auch nichts auszumachen, als du eine schnelle Nummer schieben wolltest, um deine Scheidung zu feiern.“

„Es stört mich überhaupt nicht.“ Ihre Atmung schien schneller zu werden, und sie wurde rot. „Und tu du mal nicht so, als hättest du dir gewünscht, dass aus der einen Nacht damals mehr werden würde. Das ist nicht dein Stil.“

Sie hatte recht. Nur weil sie hier gemeinsam festsaßen, wäre es eine große Dummheit, wenn er der erotischen Anziehung nachgab. Am besten wäre es, sie wie gewohnt zu ignorieren.

„Na und? Du wusstest an dem Abend genau, worauf du dich einlässt, und wolltest mich trotzdem“, entgegnete er. „Vielleicht, weil du auf Nummer sicher gehen wolltest und der gute alte Harvey gerade da war.“ Er konnte nicht widerstehen, Della damit zu sticheln, wenn sie sich wie eine Heilige darstellte. Schließlich hatte sie ihn benutzt und es danach nie mehr erwähnt. Hatte sie in den vergangenen drei Jahren auch nur eine einzige Sekunde mal daran gedacht?

Sprachlos blickte sie zu ihm auf, doch sie sollte nicht wissen, dass die Tatsache, von ihr benutzt worden zu sein, ihn gekränkt hatte. Jetzt konnte er sich zumindest ein wenig dafür rächen.

Harvey trat noch einen Schritt auf sie zu und senkte die Stimme. „Vielleicht gefällt dir die Idee, mal wieder eine Nacht mit mir zu verbringen. Wenn das der Fall ist, musst du es nur sagen. Meine Schlafzimmertür steht dir jederzeit offen.“

„Na klar“, gab sie mit blitzenden Augen zurück. „Immer derselbe alte Harvey. Du änderst dich nie.“

„Genauso wenig wie deine Vorverurteilungen“, erwiderte er. „Aber da du das Thema Beziehungen angesprochen hast, willst du offensichtlich, dass ich danach frage. Also, bist du mit jemandem zusammen? Wartet ein zukünftiger zweiter Ehemann in Auckland auf dich?“

Abrupt brach er ab. Eigentlich wollte er Della gar nicht weiter verärgern. Aber ihn überfiel eine plötzliche Eifersucht. Im Grunde sollte es ihm egal sein, ob sie wieder eine Beziehung hatte. Das ging ihn nichts an. Er musste nur dafür sorgen, die nächsten beiden Wochen heile zu überstehen.

Della reckte das Kinn, senkte jedoch die Augen. Also nein, dachte Harvey bei sich. Verdammt! Es wäre viel leichter, falls sie in einer Beziehung gewesen und daher für ihn tabu gewesen wäre.

„Ich hatte viel um die Ohren.“ Sie schaute weg. „Der Umzug, der neue Job, die Reisen nach Melbourne, um meine Familie zu besuchen.“

„Du hast seit deiner Scheidung keine Dates gehabt?“, fragte er ungläubig.

„Mein Liebesleben braucht dich nicht zu interessieren“, meinte sie abweisend.

„Obwohl du mich für Sex benutzt und es danach nie wieder erwähnt hast, auch wenn wir uns ständig sehen?“, platzte es aus ihm heraus.

Mist, warum hatte er ihr nicht einfach den Sicherheitsausweis übergeben, entschlossen ignoriert, wie gerne er sie geküsst hätte, und den Mund gehalten? Seit jener einer leidenschaftlichen Nacht schien es, als wäre die Sache zwischen ihm und Della noch nicht endgültig abgeschlossen.

Mit offenem Mund starrte sie Harvey an.

Während sein Herzschlag sich auf einmal wie verrückt beschleunigte, blieb sein Blick an ihren schön geschwungenen, vollen Lippen hängen. Er wusste genau, wie sie schmeckten und sich mit einem sinnlichen Seufzen öffneten. Harvey hatte sie auf seiner Haut gespürt, als Della in Ekstase aufgeschrien hatte. Vielleicht sollte er sie jetzt einfach küssen …

Doch in diesem Augenblick klopfte es an der Tür. Rasch fuhren sie auseinander, ehe Seema, eine der Krankenschwestern aus der Notaufnahme, hereinkam.

„Harvey, wir haben einen Notfall, und es sieht schlimm aus. Können Sie kommen?“

„Natürlich.“ Er eilte zum Schockraum der Notaufnahme, dicht gefolgt von Della.

Dort wurde ein Mann auf einer Liege in den Reanimationsbereich gebracht.

„Seine Arbeitskollegen haben ihn hier reingetragen“, berichtete Seema. Der Patient, der bei Bewusstsein war, stöhnte vor Schmerzen, und seine Atmung klang rasselnd unter der Sauerstoffmaske. „Er ist von einem Baugerüst im Obergeschoss gefallen. Ein Sturz aus sieben Metern Höhe. Sein Name ist Warren.“

Mit einem Blick zu Della griff Harvey nach einem Stethoskop. Ihre Auseinandersetzung musste warten. Als wären sie es gewöhnt, zusammenzuarbeiten, stellte Della sich auf die Position ihm gegenüber und nahm ebenfalls ein Stethoskop, während die Pflegekräfte die Kleidung des Verunglückten aufschnitten, um seinen Oberkörper zu entblößen. Harvey überprüfte die Vitalzeichen des Mannes. Niedriger Blutdruck, Herzfrequenz schnell, aber gleichmäßig.

„Ein offener Bruch am linken Oberarm“, stellte Della fest.

Der Patient benötigte eine Operation, aber vorher mussten sie sich vergewissern, dass er keine anderen, möglicherweise lebensbedrohlichen Verletzungen erlitten hatte.

„War er bewusstlos oder hatte Krämpfe?“ Mit einer Stiftlampe prüfte Harvey die Pupillenreflexe des Mannes. Eine Kopfverletzung musste unbedingt ausgeschlossen werden. Zum Glück hatte ihm jemand eine Halskrause angelegt, um seine Halswirbelsäule zu stabilisieren.

„Nein“, antwortete Seema. „Einer seiner Kollegen, der unten arbeitete, war schnell bei ihm.“

„Warren, ich muss Sie jetzt einmal gründlich untersuchen.“ Harvey tastete die Luftröhre oberhalb des Brustbeins ab, bevor er mit dem Stethoskop die Lunge abhorchte.

„Ein Pneumothorax auf der linken Seite und eine Luftröhrenverschiebung“, sagte er zu Della. Er wusste, dass sie die Dringlichkeit in Bezug auf den Zustand des Patienten verstehen würde.

Sie nickte und nahm eine große, sterile Kanüle vom Notfallwagen. Sie mussten das Herz von dem Druck der Luftansammlung entlasten, die sich im Brustkorb befand. Erst danach durfte Warren geröntgt werden. Ansonsten drohte ein Herzstillstand.

„Ich fürchte, es könnte ein instabiler Thorax auf dieser Seite vorliegen. Die Brustwand zeigt starke Prellungen und ein Emphysem.“ Sie öffnete die Packung mit der Kanüle, als der Blutdruckmonitor einen durchdringenden Alarmton von sich gab.

„Sein Blutdruck sinkt. Wir müssen ihn entlasten, danach sehen wir weiter“, meinte Harvey.

Schnell desinfizierte sie die entsprechende Hautstelle, ehe sie die Nadel in den Brustkorb des Patienten einführte, um die dort eingeschlossene Luft von der durchbohrten Lunge abzulassen.

Harvey zog ein intravenöses Schmerzmittel auf, das er dem Mann verabreichte, sobald dessen Blutdruck wieder anstieg. „Warren, vermutlich haben bei Ihnen einige gebrochene Rippen die Lunge durchbohrt. Um sicherzugehen, müssen wir noch ein paar Röntgenaufnahmen machen.“

An Seema gewandt, sagte Della: „Bitte bereiten Sie ein Set für die Thoraxdrainage vor. Außerdem brauchen wir dringend eine Kreuzprobe für eine Bluttransfusion.“ Rasch beschriftete sie mehrere Ampullen und übergab sie einem Stationshelfer, der sie zum Labor bringen sollte.

Nachdem der Patient vorerst stabilisiert war, traten Harvey und Della beiseite, um den Fall zu besprechen.

„Der Oberarmknochen muss chirurgisch gerichtet werden.“ Mit besorgter Miene machte sie der Röntgenassistentin Platz, die das mobile Röntgengerät hereinrollte.

„Könnte sein, dass wir auch die gebrochenen Rippen chirurgisch stabilisieren müssen“, ergänzte Harvey.

Della nickte zustimmend. „Ich rufe den Anästhesisten und das OP-Team an. So oder so muss er auf der Intensivstation aufgenommen werden.“

„Und ich spreche mit Warrens Angehörigen, um die Einverständniserklärung für die Operation zu erhalten.“ Er war beeindruckt, wie leicht sie bei der Arbeit ihre persönlichen Meinungsverschiedenheiten vergessen hatten.

„Ich hatte nicht damit gerechnet, gleich am ersten Tag zu operieren.“ Als Della zu ihm aufsah, lag in ihrem Ausdruck eine Mischung aus Erstaunen und Respekt. „Willst du den Oberarm oder den Brustkorb übernehmen?“

„Das entscheiden wir am besten direkt im OP“, erwiderte Harvey.

„Klingt gut.“ Sie wirkte erleichtert.

Während sie beide ihre jeweiligen Aufgaben erledigten, fragte er sich, wie lange diese Waffenruhe zwischen ihnen wohl anhalten würde. Die sexuelle Anziehung würde wohl zu nichts führen. Sie mussten also noch einmal darüber sprechen, wie sie am besten damit umgehen sollten. Vorausgesetzt, sie waren in der Lage, einander lange genug zu ertragen, um ein solches Gespräch zu führen.

Wie befürchtet, standen Harvey die längsten zwei Wochen seines Lebens bevor.

3. KAPITEL

Nachdem sie den ganzen Nachmittag lang operiert hatten, holte Della sich später an diesem Tag ein kühles Bier von der Bar und ging hinaus. Im Savu, einer Strandbar in der Nähe des Krankenhauses, standen ein paar Tische draußen im Sand. Wie konnte man sich besser entspannen, als den herrlichen fidschianischen Sonnenuntergang zu beobachten? Nach diesem unerwartet ereignisreichen ersten Tag, brauchte Della dringend ein bisschen Zeit für sich, um all diese Eindrücke zu verarbeiten. Wie zum Beispiel, dass sie Harvey in dem Ärzte-Büro beinahe geküsst hätte …

Was zum Teufel hatte sie sich dabei nur gedacht? Sie hatte ihre schnelle Nummer mit ihm ja bereits gehabt. Beschämt dachte sie an seine gekränkte Miene. Er hatte ihr vorgeworfen, ihn zum Sex benutzt zu haben, was zum Teil sicher stimmte. Aber das würde ihm bestimmt nichts ausmachen, oder? Schließlich war er ja der wandelnde One-Night-Stand. Aber vielleicht sollte sie sich morgen doch bei ihm dafür entschuldigen.

Sobald Della die Bar verließ, fiel ihr Blick sofort auf Harvey, der allein an einem Tisch am Wasser saß. Ihr wurde unwillkürlich flau zumute, als sie ihn sah, die langen Beine vor sich ausgestreckt, lässig eine Bierflasche in der Hand, die Augen aufs Meer gerichtet.

Wie immer bestand Dellas erster Impuls darin, ihm aus dem Weg zu gehen. Sie könnte sich wieder in die Bar setzen, ihr Bier trinken und sich dann in ihre Unterkunft zurückziehen, ohne weiter darüber nachzudenken, wie sie sehr sie diesen arroganten Kerl noch immer begehrte. Trotz der Tatsache, dass sie in den nächsten zwei Wochen mit ihm zusammenarbeiten würde und er genau wusste, welche Knöpfe er bei ihr drücken musste, um sie zu provozieren.

Meine Schlafzimmertür steht dir jederzeit offen …

Klar, mir und jeder anderen Single-Frau auf diesem Planeten, dachte sie sarkastisch.

Als hätte er ihre Gedanken gehört, drehte Harvey sich um, und ihre Augen trafen sich. Sofort überlief Della das vertraute erotische Prickeln, das die Anziehung, die er auf sie ausübte, ihr jedes Mal verursachte. Mist, jetzt, da er sie gesehen hatte, konnte sie nicht mehr weglaufen. Andererseits hatte sie keine große Lust, mit ihm zu reden. Falls es ihnen gelingen sollte, eine Unterhaltung ohne irgendwelche Zankereien zu führen, würde sie sich womöglich dazu verpflichtet fühlen, zuzugeben, dass sie ihm gegenüber eine neue Achtung als Arzt empfand.

Mit ihrem Unfallpatienten hatten sie beide stundenlang im OP gestanden, um dessen Oberarm sowie die mehrfachen Rippenbrüche operativ zu richten. Zu ihrem Erstaunen hatte Della festgestellt, dass Harvey sich im Operationssaal ganz und gar nicht arrogant verhielt. Als Operateur war er ausgesprochen gründlich und sorgfältig. Als es darum ging, die Rippenbrüche entweder mit Draht oder Platten zu fixieren, hatte er sogar nach Dellas bevorzugter Operationstechnik gefragt.

Locker hob er jetzt die Hand und winkte ihr zu, damit sie sich zu ihm setzte. Dabei umspielte ein absolut liebenswürdiges Lächeln seinen schön geschnittenen Mund. Wie konnte es sein, dass sie offenbar nicht die geringste Wirkung auf ihn hatte, während er sie völlig durcheinanderbrachte? Ihr wurde heiß, und Groll stieg in ihr auf, weil er die gemeinsam verbrachte Nacht von damals anscheinend problemlos hinter sich gelassen hatte.

Widerstrebend ging sie auf dem Sand zu ihm hinüber. Vielleicht fühlte sie sich ja auch bloß durch den Gedanken gestresst, ihn rund um die Uhr in ihrer Nähe zu haben. Heute waren sie länger zusammen in einem Raum alleine gewesen als in den gesamten neunzehn Jahren, seitdem sie sich kannten. Im Allgemeinen konnten sie sich höchstens mal einen Abend lang gegenseitig ertragen. Außerdem wurde dieser Kontakt durch die Anwesenheit der anderen Familienmitglieder abgemildert.

Als Della seinen Tisch erreichte, stand Harvey auf und rückte ihr den zweiten Stuhl zurecht. „Zwei Dumme, ein Gedanke.“

Bei dem Lächeln, mit dem er sie ansah, beschleunigte sich ihr Pulsschlag gleich um das Dreifache. Warum schien er sich in seiner Haut immer so wohlzufühlen? Und warum löste alles, was er sagte oder tat, ständig solche heftigen Gegenreaktionen in ihr aus? Ausgerechnet jetzt zeigte er ihr, was für ein guter Mensch er war, indem er regelmäßig seine Zeit und sein Können hier auf Fidschi zur Verfügung stellte. Dadurch unterminierte er all die Vorurteile, an denen Della immer festgehalten hatte, um Harvey in eine bestimmte Schublade zu stecken.

„Ja, das war ein ziemlich aufregender erster Tag.“ Della setzte sich und trank schnell von ihrem Bier, da sie erneut damit kämpfte, wie sehr sie sich zu ihm hingezogen fühlte. „Ich brauchte ein bisschen Entspannung.“

„Dafür gibt es keinen besseren Ort als das Savu.“ Lächelnd hob er seine Flasche. „Auf die schönen Abende auf Fidschi.“

Wieder war er so … nett. Zögernd hob sie ihr Glas und stieß mit ihm an. Sie hatte Schmetterlinge im Bauch, als er ihren Blick festhielt und dabei einen tiefen Schluck aus seiner Flasche nahm. Er war viel zu sexy, einfach unfair.

Vielleicht sollte sie sein Angebot annehmen. Drei Jahre ohne Sex waren eindeutig zu lang.

Stattdessen sagte sie: „Bevor ich gegangen bin, habe ich noch mal nach unserem Patienten geschaut. Er ist stabil und ist gut auf der Intensivstation untergebracht.“

„Ich habe auch nach ihm geschaut.“ Seine leicht verengten Augen und der belustigte Ausdruck um seine Mundwinkel zeigten Della, dass Harvey ohne Weiteres ihre Gedanken lesen konnte. „Aber willst du wirklich über die Arbeit sprechen, wenn wir hier den Sonnenuntergang genießen können?“

Mit einem Nicken wies er auf die orange-rosafarbenen Streifen am Himmel, die einen starken Kontrast zu dem sich verdunkelnden Meer und dem weißen Sand darstellten, der von den Lichterketten an der Bar erhellt wurde. Unwillig presste Della den Mund zusammen. Wenn nicht über die Arbeit, worüber sollten sie denn dann reden?

„Wie geht es Brody?“ Sie nippte wieder an ihrem Glas.

„Weißt du das nicht?“, meinte er mit einem spöttischen Lächeln. „Schließlich ist er doch dein Bruder.“

„Aber du siehst ihn häufiger als ich.“ Sie zwang sich, ihren Blick von Harveys offenem Hemdkragen loszureißen. Wie sie nur allzu genau wusste, verbarg sich darunter der sonnengebräunte Oberkörper eines durchtrainierten Adonis. „Seitdem du mir den Job in Melbourne geklaut hast“, setzte sie mit einem angespannten Lächeln hinzu.

„Brody geht es gut“, meinte Harvey. „Er und Amy arbeiten viel, freuen sich aber auf die Namensfeier für ihr Baby.“

Della nickte. Sie sehnte sich danach, ihren kleinen Neffen Jack wiederzusehen. Sie brauchte gar nicht zu fragen, ob Harvey zu der Familienfeier der Wiltons eingeladen war. Er war bei fast allen Festen dabei. Wie sie heute Morgen schon erwähnt hatte, konnte sie ihm einfach nicht entkommen.

„Hör mal … wegen des Jobs.“ Auf einmal wurde er ernst. „Das wollte ich dir auch noch erklären. Ich weiß nicht, ob Brody es dir erzählt hat, aber mein Dad ist nicht gesund. Ich habe mich auf die Stelle beworben, weil ich unbedingt bei ihm in Melbourne bleiben musste. Ich bin der Einzige, den er noch hat.“

Bestürzt schüttelte Della den Kopf. „Das wusste ich nicht. Brody hat nie was davon gesagt. Was ist denn mit Bill?“ Sie wusste, dass Harveys Eltern geschieden waren und er seinem Vater nahestand. Doch bisher hatte er ihr noch nie persönliche Dinge erzählt, genauso wenig wie umgekehrt. Als hätten sie einen unausgesprochenen Pakt geschlossen, sich gegenseitig so weit wie möglich auf Abstand zu halten.

Brody beharrte zwar darauf, dass sein Freund versteckte Qualitäten besaß, was Della aber bis jetzt immer bezweifelt hatte.

„Er ist okay.“ Harvey war offensichtlich in Sorge um Bill Ward, versuchte es jedoch zu überspielen. „Bei ihm wurde Multiple Sklerose diagnostiziert.“

Schockiert schoss ihr heiße Röte ins Gesicht, weil sie sich so zickig verhalten hatte, ohne die ganze Geschichte zu kennen. Es schnürte ihr die Kehle zu. Armer Bill. Harveys Vater wurde an Feiertagen häufig zu den Familientreffen bei den Wiltons eingeladen. Della mochte ihn.

„Das tut mir sehr leid.“ Ohne nachzudenken, legte sie Harvey die Hand auf den warmen, muskulösen Arm. Durch die tröstende Geste lief sofort ein elektrisierendes Prickeln ihren eigenen Arm hinauf. Schnell zog sie die Hand wieder zurück. Ihn zu berühren, war tabu, falls sie die sexuelle Spannung zwischen ihnen unter Kontrolle behalten wollte. Solange Harvey diese Spannung problemlos ignorierte, konnte sie das auch.

„Du machst dir bestimmt Sorgen um ihn“, meinte Della. So wie sie Harvey kannte, wollte er es vermutlich nicht wahrhaben. Kein Wunder. Niemand wollte an das Altern oder an Erkrankungen seiner Eltern denken.

Achselzuckend nahm Harvey einen tiefen Zug aus seiner Bierflasche. „Dad hat seinen Stolz. Er will kein Mitleid, und er hasst es, wenn ich ein großes Aufhebens um ihn mache. Aber du kannst vielleicht verstehen, warum ich in seiner Nähe bleiben wollte, für den Fall, dass er mich braucht.“

„Natürlich.“ Wieder löste sich eines ihrer Vorurteile über ihn auf. „Ist er stark betroffen?“

Harvey blickte in den Sonnenuntergang. „Seinen Alltag schafft er noch ganz gut, hat jedoch Mühe mit dem Treppensteigen. Deshalb habe ich sein Bett ins Erdgeschoss umgestellt. Aber eigentlich wäre es mir lieber, wenn er das Haus verkaufen und in einen barrierefreien Bungalow ziehen würde.“

Della schwieg. Sie konnte beide Seiten gut verstehen. Einerseits wollte Bill unbedingt seine Unabhängigkeit bewahren. Andererseits wünschte Harvey sich das beruhigende Gefühl, dass sein Vater in Sicherheit war.

„Jedenfalls …“ Er zog das Wort in die Länge, um das Thema zu wechseln. „Zurück zu meiner Frage von heute Vormittag, bevor wir durch unseren Notfall unterbrochen wurden. Keine Dates in dreieinhalb Jahren? Wie kommst du damit klar?“

Sie seufzte. Der blöde Harvey war wieder da. Nur konnte sie es ihm jetzt nicht mehr übelnehmen, ihr die Stelle in Melbourne weggenommen zu haben. Da sie nun ihre Verbitterung darüber loslassen musste, wurde ihr bewusst, wie sehr sie diese als Schutzschild benutzt hatte, um nicht an jene unglaubliche Nacht zu denken. Damals hatte sie selbst erlebt, dass die Geschichten über Harvey der Wahrheit entsprachen. Er war tatsächlich in allem gut.

„Du brauchst gar nicht so erstaunt zu tun“, gab Della abweisend zurück. „Es ist keine tödliche Krankheit. Ich bin bloß noch nicht bereit für eine neue Beziehung.“ Auf gar keinen Fall wollte sie mit Harvey über das Scheitern ihrer Ehe sprechen. Den Fehler, Ethan vertraut zu haben. Die demütigende Scheidung, obwohl sie sich nichts sehnlicher wünschte, als so zu sein wie ihr Bruder: glücklich verheiratet und im Begriff, eine Familie zu gründen.

„Wer hat was von Beziehungen gesagt?“ Harvey hielt ihren Blick fest. „Ich rede von Sex.“

Als er sich nach dem nächsten Schluck Bier mit der Zunge über die Lippen fuhr, wurde ihr auf einmal der Mund trocken. Harvey war der Letzte, mit dem sie ihr nicht vorhandenes Sexualleben besprechen wollte.

Er musterte sie mit verengten Augen. „Soll das heißen, dein letztes Mal war unsere gemeinsame Nacht?“, fragte er ungläubig.

„Und wenn?“, fuhr Della ihn an. All das Mitgefühl, das sie eben noch für ihn empfunden hatte, war schlagartig verschwunden. „Du kannst aus meinem Privatleben keinen Wettbewerb machen.“

Denn diesen würde er ganz sicher auch gewinnen. Abgesehen von jener einzigen Ausnahme, als sie Harvey Wards Charme erlag, hatte sie seit ihrer Scheidung wie eine Nonne gelebt. Denn Della brauchte immer eine gefühlsmäßige Verbindung, um mit jemandem intim werden zu können. So wie die meisten Frauen.

„Aber du darfst dich über mein Privatleben lustig machen?“, gab er zurück. „Ich mag Sex. Du nicht?“

Sie spürte seinen Blick auf dem ganzen Körper. Was für eine Frage. Selbstverständlich mochte sie Sex.

„Provozier mich nicht, nur weil wir verschieden sind“, entgegnete sie hitzig. „Ich bin nicht so wie du.“

Verärgert schaute sie weg. Wieso ließ sie es jedes Mal wieder zu, dass Harvey ihr so auf die Nerven ging? Warum konnte sie ihn nicht einfach ignorieren, wie sie es schon seit Jahren versuchte? Wenn es um Brodys besten Freund ging, war es immer leichter gewesen, ihn verächtlich zu behandeln und ihm aus dem Weg zu gehen, als zuzugeben, dass seine Abneigung gegen Beziehungen, seine lockere Haltung beim Daten und sein Zynismus in Bezug auf die Liebe die Unterschiede zwischen ihnen nur noch betonte. Dadurch fühlte Della sich irgendwie unzulänglich, was wiederum ihre Ängste schürte, diejenige zu sein, die in ihrer Familie abgehängt wurde.

Schon immer hatte sie sich eine liebevolle, feste Beziehung und eine eigene Familie gewünscht, während Harvey nicht mal an die Liebe glaubte.

Aber jetzt, da sie zwei Wochen zusammenarbeiten würden, gab es keine Chance, ihn zu ignorieren. Kein Wunder also, dass sie sich so unausgeglichen fühlte.

„Inwiefern sind wir verschieden?“, fragte er interessiert. „Ich finde, wir haben erstaunlich viel gemeinsam, wenn man bedenkt, wie oft wir uns streiten.“

Della atmete tief durch. Nur allzu gern hätte sie ihn darauf hingewiesen, dass er für ihre ständigen Streitereien verantwortlich war, hielt sich jedoch zurück.

„Ach, komm schon, Harvey“, meinte sie stattdessen. „Wir sind das absolute Gegenteil voneinander, vor allem im Hinblick auf Beziehungen. Und tu nicht so, als könnten wir uns jemals vertragen. Du konntest mich doch noch nie leiden.“

Ohne die Augen von ihr abzuwenden, trank er wieder von seinem Bier. „Ich kann dich eigentlich ziemlich gut leiden, Della.“

Bei seiner rauen Stimme mit dem gedehnten Tonfall wurden ihr unwillkürlich die Knie weich. War das möglich? Mochte er sie etwa tatsächlich?

Weil sein Geständnis sie nervös machte, gab sie angriffslustig zurück: „Wenn du mich so gut leiden kannst, warum sitzt du dann immer auf dem hohen Ross, sobald es um unsere Meinungsverschiedenheiten geht? Besonders bei Beziehungen. Es ist, als würdest du die Art von Bindung, die sich die meisten Menschen wünschen, als eine Bedrohung betrachten. Als wärst du zu clever, um dich zu verlieben. Oder du hältst die Liebe für einen Witz.“

„Nein, überhaupt nicht.“ Zum ersten Mal wirkte er, als wäre ihm etwas unbehaglich zumute. „Wir haben bloß immer unterschiedliche Dinge gewollt. Aber du hast mich von Anfang an verurteilt.“

„Du hast mich ja auch verletzt“, erwiderte Della. „Brody hatte uns einander gerade erst vorgestellt, da dachtest du, du müsstest mir unter die Nase reiben, dass meine damalige Beziehung ohnehin nicht lange halten würde. Aus irgendeinem Grund hattest du was gegen jeden meiner Freunde einzuwenden. Du mochtest nicht mal Ethan, als ob du, der große Beziehungsexperte, irgendein Insider-Wissen hättest, dass unsere Ehe scheitern würde.“

Sie ärgerte sich, weil Harvey wieder einmal recht behalten hatte. Im Gegensatz zu ihr hatte er ihren Ex offenbar besser eingeschätzt als sie. Mittlerweile traute Della ihrem eigenen Gefühl nicht mehr, um eine weitere Beziehung einzugehen. Vielleicht sollte sie sich ein Beispiel an Harvey nehmen und sich einfach auf lockeren Gelegenheitssex einlassen.

„Und du hattest schon immer etwas gegen mich.“ In seinen dunklen Augen lag ein Glitzern. „Als wäre ich nicht gut genug, um mit Brody befreundet zu sein oder etwas mit deiner Familie zu tun zu haben. Nur weil ich es vorziehe, Single zu bleiben.“

Entrüstet lehnte Della sich zurück. „Siehst du, das passiert jedes Mal. Wir machen uns doch bloß was vor, wenn wir glauben, wir könnten zwei Wochen lang zusammenarbeiten. Wir sind einfach zu verschieden und befinden uns zu sehr im Konkurrenzkampf, als dass wir jemals gut miteinander auskommen würden.“ Entnervt nahm sie einen großen Schluck Bier und wandte den Blick von ihm ab. Die Wiltons waren eine ehrgeizige Truppe, in die Harvey hervorragend hineinpasste. In ihrer Jugend hatte Della Mühe gehabt, in die Fußstapfen ihres Überflieger-Bruders zu treten. Und gerade als es ihr gelungen war, ebenfalls einen Platz fürs Medizinstudium zu ergattern, hatte er den begabten, karrierebewussten Harvey mit nach Hause gebracht.

„Wenn es sein muss, können wir das auch“, erklärte er ruhig. „Und damals in der Nacht im Bett haben wir uns auch nicht gestritten. Oder hast du das vergessen?“

Finster sah Della ihn an. „Wie könnte ich, nachdem ich im Laufe der Jahre von Brody so viele wilde Geschichten über dein Sexualleben gehört habe?“ Sie beugte sich vor. „Die Dreier, die unglücklichen älteren Frauen, die Drehtür zu deinem Schlafzimmer und dein unberührbares Herz.“

Seine Augen verengten sich. „Es war ein einziger Dreier, und das ist schon Jahre her.“ Dann blieb sein Blick an ihren Lippen hängen. „Aber du klingst ja beinahe eifersüchtig. Dagegen können wir was unternehmen.“ Mit weit ausgebreiteten Armen lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück.

Jede einzelne Zelle ihres Körpers regte sich plötzlich, denn Harveys Angebot war äußerst verführerisch. Wie sollte Della sich dieser unwiderstehlichen Anziehung zwei volle Wochen lang entziehen? Nicht einmal ihre Zankereien schienen dieser Flamme etwas anhaben zu können. „Oh nein“, gab sie spöttisch zurück, obwohl ihr heiß geworden war. „Von Männern habe ich die Nase endgültig voll.“

Natürlich hatte Harvey recht. Sie waren wirklich gut zusammen. Trotzdem wollte sie ihn herunterputzen, um ihm das selbstgefällige Lächeln vom Gesicht zu wischen.

„Hey.“ Abwehrend hob er die Hand. „Bring nicht wieder deinen Ex ins Spiel.“ Kühl, ruhig und gelassen nahm er erneut einen Schluck.

Angestrengt atmete Della tief durch. Sie war viel zu emotional. Tatsächlich war es ihr vollkommen egal, ob Harvey mit allen anderen Frauen auf dem Planeten schlief. Hauptsache nicht mit ihr. Es wurde dringend Zeit, das Thema zu wechseln.

„Bloß interessehalber, warum mochtest du Ethan eigentlich nicht?“, fragte sie. Eigentlich sollte es keine Bedeutung für sie haben. Schließlich waren ihre Ehe und die Scheidung allein ihre Angelegenheit. Doch der Teil von ihr, der sich früher immer mit dem Goldjungen Brody und später mit dem unbekümmerten Harvey verglichen hatte, traute sich nicht, völlig ihrem eigenen Urteil zu vertrauen. Waren ihr irgendwelche Anzeichen entgangen, die andere bemerkt hatten? Ethan hatte sie im Sturm erobert, ihr nach zwei Jahren einen Heiratsantrag gemacht und sich nach der Hochzeit allmählich immer mehr verändert.

„Lass uns lieber nicht darüber reden“, meinte Harvey. „Das ist Vergangenheit und hat nichts mit mir zu tun.“ Er presste die Kiefer zusammen.

„Ich möchte es gerne wissen“, drängte Della. Sie fühlte sich zutiefst beschämt. Schlimm genug, dass sie bei dem gescheitert war, was Brody problemlos gelang: eine gute Ehe zu führen und eine Familie zu gründen. Aber dass ausgerechnet Harvey ihr Scheitern vorhergeahnt hatte, verstärkte ihr Gefühl des Versagens noch mehr.

Als er sie ansah, lag ein warnender Ausdruck in seinen Augen. „Es würde dir nicht gefallen, und dann fangen wir wieder an zu streiten.“

„Sag es mir trotzdem“, forderte sie ihn auf.

Seufzend gab er nach. „Ich kenne dich seit deinem achtzehnten Lebensjahr, Della. Du trägst dein großes Herz auf der Zunge. Du verliebst dich und wirfst dich mit allem in eine Beziehung hinein, als ob … Ich weiß nicht. Als müsstest du dir irgendetwas beweisen. Als wärst du in einem ständigen Wettbewerb mit jedem anderen Paar auf der Welt.“

Entrüstet schnappte sie nach Luft. „Ich bin seitdem aber auch erwachsen geworden.“ Obwohl sie gar nicht anders konnte, als sich mit ihrem Bruder zu vergleichen. Wie war es möglich, dass ihr ewiger Widersacher, der unantastbare Harvey, sie so gut kannte? Wie konnte er so leicht ihr Bedürfnis nach Anerkennung und Liebe erkennen, obwohl er von Gefühlen keine Ahnung hatte? „Glaub mir“, fuhr sie schroff fort. „Ich habe nicht die geringste Absicht, mein Herz zu verlieren oder eine weitere Beziehung einzugehen, ehe ich nicht ganz sicher bin, dass der Typ ganz genau dasselbe will wie ich.“

Am Ende ihrer Ehe hatte Ethan ihr vorgeworfen, sie sei von Babys besessen. Dabei hatte er anfangs behauptet, er wolle auch eine Familie. Wenn Della für ihre nächste Beziehung bereit war, dann nur mit einem Mann, der genau wie sie das ganze Paket haben wollte: eine tiefe Verbindung, Ehe und Familie. Andererseits, wie sollte sie jemals sicher sein, dass derjenige ehrlich war, nachdem Ethan sie schon so hinters Licht geführt hatte?

„Gut.“ Harvey zuckte die Achseln. „Na ja, so kleine Sachen, die er gesagt hat … Da hatte ich manchmal den Eindruck, dass Ethan … ich weiß nicht … irgendwas zurückhalten würde.“

Sie erschrak, wollte aber dennoch, dass er weitersprach.

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