Julia Arztroman Band 40

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STÜRMISCHE BEGEGNUNG AUF ST. BONAR von REBECCA LANG

Ein Hurrikan fegt über die Karibikinsel St. Bonar hinweg. Sofort danach will die Chirurgin Dr. Janine Newsome zu ihrem kranken Vater fahren. Inselarzt Dr. Gerard de Prescy stoppt die Leichtsinnige wütend – und verliebt sich spontan in ihre blauen Augen ...

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  • Erscheinungstag 20.12.2025
  • Bandnummer 40
  • ISBN / Artikelnummer 8203250040
  • Seitenanzahl 448

Leseprobe

Rebecca Lang, Dianne Drake, Jennifer Taylor

JULIA ARZTROMAN BAND 40

Rebecca Lang

1. KAPITEL

„Stopp!“

Janine Newsome hörte den Ausruf, kümmerte sich aber nicht weiter darum. Sie hatte alle Hände voll zu tun, den alten Minibus einigermaßen sicher an den vielen Schlaglöchern vorbei zu lenken. Vielleicht war sie ja auch gar nicht gemeint.

Ihre Arme schmerzten, denn es war nicht leicht, das große Lenkrad des Achtsitzers so ganz ohne Servolenkung zu bewegen. Und dann konnte sie sich auch nicht so recht an das Zwischengas gewöhnen, was bei den vielen Steigungen sehr unangenehm war. Im Gegensatz dazu war ihr der Linksverkehr schon bald wieder vertraut.

Allmählich veränderte sich die Landschaft. Die von dichtem Regenwald überwucherten Hänge gingen über in weitläufige Bananenpflanzungen. Eine wunderschöne Natur. Janine gab Gas.

Seit sie am Flughafen mit dem gemieteten Bus in aller Eile in Richtung Manara gestartet war, hatte sie dann und wann Gruppen von Einheimischen gesehen, die die Schäden des Hurrikans beseitigten. Er musste auf der kleinen Karibikinsel ziemlich gewütet haben. Überall sah man umgestürzte Palmen und verstreutes Buschwerk. Ganz zu schweigen vom desolaten Zustand der Straße.

Es gab über Land nur eine einzige Asphaltstraße auf St. Bonar, und die führte vom Flughafen im Hauptort Fort Roche nach Süden. Janine war vor zwei Jahren das letzte Mal auf der Insel gewesen. Wie sehr hatte sich doch alles verändert!

Seltsam, dachte sie. Früher war sie ihr immer so wunderschön vorgekommen. Wie im Paradies. Vielleicht war sie damals ja viel zu unbekümmert gewesen und hatte das Leben durch eine rosarote Brille gesehen. Diesmal empfand sie ihre Umgebung ganz anders. Immerhin lag ihre erste ernsthafte Liebesbeziehung hinter ihr. John … Das war vorbei, und sie hatte endlich aufgehört, ihn zu vermissen.

Janine verzog die Lippen. Die Vergangenheit war plötzlich so unwirklich. Natürlich hatte es nach John andere Männer gegeben. Aber sie hatte ihre Gefühle kontrolliert und sich nicht wieder verliebt. Die beste Möglichkeit, sich von einer so großen Enttäuschung zu erholen.

Genug! Keine unnützen Gedanken mehr. Immerhin war sie noch lange nicht am Ziel ihrer Reise, die sie so überstürzt hatte antreten müssen. Sie musste so schnell wie möglich nach Manara, um nach ihrem Vater zu sehen. Die Telefonleitungen waren vom Hurrikan zerstört, und so hatte sie seit Tagen keine Verbindung mehr bekommen.

Nachdem Janine den Hilferuf ihres Vaters erhalten hatte, war eine Menge zu regeln gewesen. Erst kurz zuvor hatte sie ihr praktisches Jahr als Chirurgin in Boston begonnen. Doch glücklicherweise zeigte sich der Chefarzt sehr verständnisvoll und genehmigte einen dreimonatigen – natürlich unbezahlten – Sonderurlaub. Bei dem Gedanken daran beschlich sie immer noch ein ungutes Gefühl: Schließlich waren eine Menge anderer junger Ärzte an diesem Job interessiert.

Als sie von Boston aus den Internisten ihres Vaters, Don McLean, auf St. Bonar anrief, wusste dieser gar nichts von einer Erkrankung. So hatte sie beschlossen, die Lage selbst zu erkunden. Immerhin konnte sie Don noch sagen, dass sie während ihres Aufenthalts gerne auf der Insel arbeiten würde.

Die Situation war typisch für ihren Vater. Bevor er andere Leute um Hilfe bat, vertraute er sich lieber der Familie an. Und das fiel ihm schon schwer genug. Immerhin hielt er auf Janine als Ärztin große Stücke. Bevor die Telefonverbindung abgebrochen war, hatte sie ihm glücklicherweise noch das Versprechen abnehmen können, ihre Mutter nicht zu verständigen. Diese musste sich in England um ihre eigene kranke Mutter kümmern. Was für eine fatale Situation!

Janine kurbelte das Seitenfenster noch weiter herunter. Sie atmete tief, der Fahrtwind war angenehm erfrischend. Lange würde ihr Geld nicht reichen. Gut, sie hatte ihr kleines Sparkonto aufgelöst. Aber trotzdem. Sie strich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Egal, immerhin ging es um ihren Vater …

Was allerdings mit Manara geschehen würde, wenn ihre Eltern und insbesondere ihr Vater sich nicht mehr um die Plantage kümmern konnten, wusste sie nicht. Ihr Großvater hatte den Besitz vor vielen Jahren in wohlgeordnetem Zustand hinterlassen. Manara bedeutete nicht nur für sie Heimat, Zufluchtsort. Die ganze Familie fühlte sich mit dem Anwesen eng verbunden. Wie schnell konnte sich doch alles ändern …

Janine kniff die Augen zusammen. Etwas blendete sie. Sie schaute in den Seitenspiegel und bemerkte einen Reiter, der ihr in vollem Galopp folgte. Dabei winkte er auffällig. Es musste wohl seine Armbanduhr gewesen sein, die in der Sonne blitzte. Vorsichtig brachte Janine den Bus auf der schmalen Grasnarbe neben der Straße zum Stehen und schaltete den Motor aus.

Sie nahm die Sonnenbrille ab und öffnete die Tür. Es war heiß und still. Bis auf das Schnauben des Pferdes, das immer näher kam. Nach wenigen Minuten hatte der Reiter sie erreicht.

Kaum hatte er das Tempo verlangsamt, stieg er ab und ließ die große braune Stute grasen. Dann drehte er sich um. Er sah einfach blendend aus, war groß, schlank, muskulös. Mit dunklem, dichtem Haar, das er mit einer lässigen Bewegung nach hinten strich. Sein Gang ist selbstbewusst und irgendwie stolz, dachte Janine, als er zu ihr kam. Beeindruckend.

Wie merkwürdig, dass ihr dieser Mann noch nie zuvor begegnet war. Vor einigen Jahren hatte sie jeden Europäer gekannt, der auf der Insel lebte.

Wortlos stützte er seinen Arm auf das heruntergekurbelte Seitenfenster. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis er sprach. „Wohin, zum Teufel, fahren Sie überhaupt? Haben Sie mich nicht rufen hören?“

Sein Akzent ist seltsam, dachte Janine. Eine Mischung aus amerikanischem und britischem Englisch und der typisch karibischen Sprachmelodie, die sie so sehr mochte.

Instinktiv rückte sie ein paar Zentimeter von der Tür weg, was natürlich nicht unbemerkt blieb.

Er war jünger, als sie zuerst angenommen hatte. Sein sonnengebräuntes Gesicht mit der klassischen Nase und dem sehr entschlossen wirkenden Mund zeigte keinerlei Regung. Er sah erschöpft aus, so als ob er viel zu lange viel zu wenig Schlaf bekommen hatte. Diesen Zustand kannte Janine nur allzu gut.

Es war lange her, dass sie einen Mann so ausgiebig betrachtet hatte. Was musste er nur von ihr denken? Und wie sah sie selbst aus? So blass und müde und verschwitzt.

„Ich habe etwas gehört“, gab sie zu. „Aber ich dachte, ich wäre nicht damit gemeint.“

„Sie waren immerhin die Einzige auf der Straße. Da müssen Sie doch anhalten … Das hätte mir viel Zeit erspart.“ Er klang mehr erschöpft als verärgert.

Als er sich durch das offene Fenster näher zu ihr beugte, konnte sie sehen, dass sein Haar nass war. „Ich musste mich aufs Fahren konzentrieren. Ich bin an so einen Bus überhaupt nicht gewöhnt, das können Sie mir glauben. Warum wollten Sie mich denn anhalten?“

„Ein paar Meilen weiter gab es einen Erdrutsch, der noch nicht beseitigt werden konnte. Außerdem wurden durch die starken Regenfälle Teile der Straße unterspült, was man beim Fahren oft viel zu spät bemerkt. Und ganz besonders wenn man so rast, wie Sie es getan haben. Als Sie an mir vorbeischossen, hatte ich gerade alle Hände voll zu tun, ein paar Verunglückten zu helfen.“

„Ich verstehe. Es tut mir leid. Ich hätte besser anhalten sollen. Aber ich war in Eile.“

„Ich nehme an, Sie wissen, dass wir hier einen kleinen Hurrikan hatten und nicht nur einen Regenschauer … Wenn man ihn überhaupt klein nennen konnte.“ Der leichte Sarkasmus in seiner Stimme war nicht zu überhören.

Egal. Sie musste einen anderen Weg nach Manara finden.

„Ja, ich weiß das alles“, antwortete sie langsam.

„Dann wissen Sie auch, welch großen Schaden diese Regenmassen anrichten können.“

Janine nickte. „Ich habe auf Barbados zwei Tage auf meinen Anschlussflug warten müssen. Zu dieser Jahreszeit hat es noch nie Hurrikans gegeben.“ Vielleicht würde er ja merken, dass sie mit dieser Gegend der Welt vertraut war. „Haben Sie eine Ahnung, wann die Straße wieder frei ist?“

Neugierig sah sie ihn an. Vielleicht war er ja ein Ingenieur, der auf der Insel für einige Monate arbeitete. Auf St. Bonar hatte man einen Spitznamen für solche Leute. Man nannte sie Zwölfmonatswunder oder auch manchmal Zweijahreswunder. Sie kamen voller Ideen auf die Insel, wobei nicht wenige von ihnen ganz offensichtlich nur den eigenen Profit verfolgten. Auf jeden Fall erwiesen sich die Projekte nur in den seltensten Fällen als positiv für die Insel. Vielleicht arbeitete er für eine der Hilfsorganisationen, die im Hurrikangebiet tätig waren.

Als ob er ihre Gedanken erraten hatte, lächelte er, erklärte aber nichts. „Vielleicht beginnen die Arbeiten morgen, vielleicht übermorgen“, sagte er. „Heute auf keinen Fall. Es wird Wochen dauern, bis eine neue Straße fertig ist.“

„Also wie üblich“, bemerkte sie trocken.

Er hob die Schultern. „Wir versuchen unser Bestes.“

„Was soll ich nur tun? Ich sitze hier fest mit zwei schweren Taschen. Ich habe keine Lust, den weiten Weg nach Fort Roche zurückzufahren.“ Sie erwartete keine Antwort von ihm. Das Problem würde sie selbst lösen müssen.

Es gab keine andere Straße nach Manara, nur eine Meile weiter einen Pfad durch den Busch. So nah und doch so fern! Auch wenn sie zurückfuhr und sich von der anderen Seite der Insel der Plantage näherte, müsste sie sich zu Fuß durchschlagen – mit ihrem Gepäck eine Unmöglichkeit.

„Wohin wollen Sie eigentlich?“, fragte er.

„Ich will nach Manara. So heißt das Herrenhaus einer Plantage. Ich müsste ungefähr nach einer Meile in einen Weg abbiegen und hätte dann noch weitere zwei Meilen vor mir und …“

„Ich kenne es“, unterbrach er sie. Dann trat er einen Schritt zurück. „Ich schlage vor, Sie fahren zurück und warten ab. Nach ein paar Tagen ist sicherlich eine Notpiste gebaut. Aber auch dann ist es nicht sicher, dass man nicht im Schlamm stecken bleibt.“

„Ich kann nicht zurück. Mein Vater ist krank, und ich muss zu ihm.“ Sie war verzweifelt und müde. Aber sie wusste auch, sie würde nicht so leicht aufgeben. Ganz gleich, was der Unbekannte sagen mochte.

„Steigen Sie aus!“ Es klang wie ein Befehl. „Ich werde sehen, was ich tun kann. Vielleicht kann ein Arbeiter den Bus zurück in die Stadt fahren. Dann müssen wir Sie irgendwie nach Manara schaffen. Sind Sie die Tochter von Jack Newsome?“

„Ja“, antwortete Janine überrascht. „Gott sei Dank, Sie kennen ihn. Ist er in Ordnung? Das Telefon funktioniert nämlich nicht mehr.“

„Als ich ihn vor vier Tagen getroffen habe, ging es ihm gut“, antwortete er. Den Grund seines Besuches erwähnte er nicht.

Janine stieg aus dem Bus und streckte sich. Der leichte Wind tat gut bei all der Hitze.

„Wir hatten noch Glück im Gegensatz zu anderen Inseln“, erläuterte der Mann und betrachtete dabei Janines zierliche Erscheinung. „Die See war zwar ziemlich rau, und es schüttete wie aus Kübeln, aber der Sturm richtete nicht so schlimme Schäden an wie anderswo.“

Beide blickten zum Himmel, dessen strahlendes Blau nur von wenigen schneeweißen Federwölkchen unterbrochen wurde.

„Sie haben meinen Vater gesehen?“, fragte Janine erneut und zog den Rock glatt. „Ich mache mir große Sorgen …“

„Ja. Ich kenne Jack gut“, antwortete der Mann. „Er arbeitet einfach zu viel, wie Sie sicher auch wissen. Aber so ist er nun mal.“

„Das beruhigt mich“, sagte Janine und seufzte. „Nun fühle ich mich besser. Ich bin froh, dass ich wieder hier bin, auch wenn die Lage im Moment nicht so rosig ist. Ich kann auch zu Fuß nach Manara gehen.“ Sie wandte den Kopf und deutete auf das dichte Blätterwerk. „Ich kenne den Weg genau.“

Es wäre zu schön, endlich wieder durch die Natur zu wandern. Vorbei an Bananenstauden und ausladenden Brotfruchtbäumen, schlanken Kokospalmen und dem tiefgrünen Blattwerk der Mangobäume. Sie würde das Flirren der winzigen Kolibris hören und türkisfarbene Eidechsen bewundern. Und sie sehnte sich danach, die blühenden Bougainvilleasträucher von Manara zu sehen.

„Vergessen Sie es“, erwiderte der Mann. Er stand direkt vor ihr, die eine Hand in die Hüfte gestemmt. Er glaubte ihr wohl nicht.

„Ich kenne die Gegend seit meiner Kindheit. Es gibt viele Wege nach Manara“, beharrte sie.

„Na klar“, sagte er und lächelte. „Ich kenne mich auch aus. Aber nach einem solchen Unwetter verändert sich die Natur. Nichts ist mehr so, wie es einmal war. Nur Lebensmüde gehen dann querfeldein.“

Er wirkte wie ein Fels in der Brandung. Nichts konnte ihn umstimmen. Seine helle Baumwollhose war schlammbespritzt wie auch die Gummistiefel. Das Jeanshemd hatte er aufgeknöpft. Er war ein attraktiver Mann, aber viel zu ernst.

„Natürlich will ich noch länger leben“, wandte sie ein.

„Das will ich meinen. Es gibt zu viele Erdverschiebungen. Wenn Sie verunglücken, wird Sie so schnell niemand finden.“

Sie nickte.

„Der Bus muss weg. Erstens ist er auf dem weichen Boden nicht sicher, und zweitens behindert er die Arbeiter, wenn sie mit dem Bulldozer kommen.“

„Ich muss aber irgendwie nach Manara“, beharrte Janine.

„Dann werde ich mit Ihnen gehen“, sagte er. „Ein guter Grund, mich vorzustellen. Ich bin Gerard de Prescy. Ich gehöre zum Hilfskomitee, das sich mit den Unwetterschäden beschäftigt und mit noch so einigem mehr.“

„Und ich bin Janine Newsome“, stellte sie sich vor und streckte ihm die Hand hin.

Sie hatte das Gefühl, seinen Namen schon früher einmal gehört zu haben. „Waren Sie vor zwei Jahren auch hier? Ich meine, ich habe von Ihnen gehört.“

„Ja“, antwortete er knapp, sagte aber nichts weiter.

Für einen Moment ruhte ihre Hand in seiner. Janine fühlte sich zu schwach, sie wegzuziehen. Dann aber gab sie sich einen Ruck.

„Haben Sie überhaupt Zeit, mich zu begleiten? Ich möchte Ihre Arbeit nicht unterbrechen!“

„Ich nehme mir Zeit“, antwortete er höflich. „Ich hätte mich sonst nicht angeboten.“

„Das weiß ich wirklich sehr zu schätzen“, bedankte Janine sich. „Sind Sie Ingenieur?“

„Nein.“ Er schüttelte den Kopf.

„Hallo!“ Sie hatten den Mann nicht gehört, der sie begrüßte. Es war ein Arbeiter, der zur Vorhut des Bautrupps gehörte.

Er führte Gerards Pferd am Zügel, das, von beiden unbemerkt, in die entgegengesetzte Richtung getrottet war. „Gibt es Probleme, Mr. de Prescy?“

„Ein kleines, Joseph“, bejahte er. „Diese junge Dame hier muss nach Manara. Wir brauchen jemanden, der den Bus in die Stadt fährt. Meinen Sie, das geht? Ich werde sie mit dem Pferd begleiten.“

„Vielen Dank! Das hatte ich nicht …“ Janine wurde unterbrochen.

„Ich bringe den Bus zurück“, bot Joseph an und kletterte in seiner lehmverschmierten Arbeitshose schnell hinter das Steuer.

Janine unterdrückte ein Lächeln. Die Männer auf St. Bonar liebten es, mit hoher Geschwindigkeit die schmalen, kurvenreichen Wege entlangzujagen. Sie waren ausgezeichnete Fahrer, aber nur wenige von ihnen besaßen ein eigenes Auto. So war das für Joseph eine willkommene Gelegenheit.

„Ich bin Ihnen sehr dankbar“, sagte Janine. Sie wusste, er würde den Bus sicher nach Fort Roche bringen. „Ich habe ihn von der Tip Top Garage in der Bridge Street gemietet. Die Papiere liegen im Handschuhfach. Was geschieht nun mit meinem Gepäck?“

Sie blickte zu Gerard de Prescy. Sie vertraute ihm. Schließlich kannte er ihren Vater.

„Wir binden die Taschen auf dem Pferd fest“, erwiderte de Prescy und drehte sich um.

Mit wenigen Handgriffen verstauten die Männer das Gepäck. Janine nahm das Sonnenschutzmittel aus der Handtasche und cremte sich ein. Wie gut, dass sie auch eine Flasche Wasser dabeihatte. Jetzt war sie bereit. Von der gegenüberliegenden Straßenseite hatte sie einen weiten Blick über das Meer. So wartete sie geduldig im Schatten einer Akazie und genoss die Sicht.

„Unglaublich schön, nicht wahr?“ Die Stimme erklang dicht hinter ihr.

Janine zuckte zusammen. „Ach … ja“, stammelte sie.

Lautlos war Gerard de Prescy ihr gefolgt. Neben ihr wirkte er so groß, so männlich und so unsagbar sicher. Janine musste sich zwingen, wieder aufs Meer zu schauen. Es war atemberaubend. Der Himmel, das Wasser, das üppige Grün …

Weiter unten war eine Bucht mit einem breiten Sandstrand zu sehen. Hier und da lugten vereinzelt Häuser zwischen den Palmen hervor. Sie waren weiß mit rot gestrichenem Wellblechdach oder ganz in Pastelltönen gehalten. Eden Bay wirkte wie ein kleines Paradies.

„Ich liebe diesen Blick!“ Janine konnte ihre Rührung nicht verbergen, auch wenn dieser fremde Mann neben ihr stand.

Eden Bay schien wie ausgestorben. Nichts bewegte sich, nur die Schaumkronen der Wellen wippten auf und nieder.

„Es ist wunderschön“, stimmte er zu.

„Ohne die Palmen könnte man meinen, das Dorf läge in Devon oder Cornwall in England. Die großen Felsen im Wasser sind ganz ähnlich. Ich war vier Jahre alt, als ich das zum ersten Mal bemerkte.“ Janine musste ihre Freude mit jemandem teilen. „Ich war sehr oft hier. Meistens im Sommer und einige Male auch im Winter.“

„Wo war Ihr Zuhause?“

„Die meiste Zeit in England“, sagte sie. „Obwohl ich jetzt in den Vereinigten Staaten lebe, weil ich mein Studium dort beendet habe. Außerdem haben wir Familie dort.“ Sie hatte den Eindruck, er wollte mehr über sie erfahren, aber dies nicht zeigen.

St. Bonar besaß ganz unterschiedliche Landschaften. Im Norden, wo es wegen der schöneren Strände eine Reihe von Hotels und Ferienanlagen gab, war es viel flacher. Aber auch viel eintöniger, dachte Janine.

Es gab ein fürchterliches Geräusch, als der Motor aufheulte und Joseph mit dem Bus in einer Staubwolke entschwand. Jetzt war sie ganz allein mit Gerard de Prescy.

„Machen Sie sich keine Sorgen, er ist ein guter Fahrer“, beruhigte er sie. „Das Äußere täuscht manchmal.“ Er schmunzelte.

„Ja, natürlich.“

Gerard de Prescy setzte seine Sonnenbrille auf und sagte wie beiläufig: „Ich habe oft in Eden Bay zu tun. Ich bin Arzt.“

„Tatsächlich?“ Janine konnte es kaum glauben. Mit den Kollegen, die sie sonst kannte, hatte er nichts gemein. Zumindest verkörperte er nicht das gängige Bild eines Arztes. Er war groß, gut gebaut, voller Kraft … und in diesem Augenblick ziemlich schmutzig. „Sie hätten es mir eher sagen können.“

„Sie dachten wohl, ich sei einer von diesen Ingenieuren, oder?“

Janine wurde rot. „So ähnlich.“

„Nun entspannen Sie sich mal“, beruhigte er sie. „Wir gehören also beide zur selben Zunft. Ihr Vater hat mir erzählt, dass Sie Ärztin sind. Welche Fachrichtung?“

„Ich bin Chirurgin. Ich habe mich aber auch in Kinderheilkunde und Geburtshilfe fortgebildet.“

„Ich bin beeindruckt. Sie müssen älter sein als Sie aussehen. Auf mich wirken Sie wie ein junges Mädchen.“

„Das bin ich nicht gerade“, erwiderte sie. Erneut spürte sie diese ganz besondere Spannung, oder bildete sie sich das nur ein?

„Wollen wir aufbrechen? Ich denke, es ist Zeit. Das Pferd gehört mir nicht. Wir müssen also im wahrsten Sinne des Wortes auf Nummer sicher gehen.“ Er tätschelte sanft den Hals des Tieres.

„Es ist mir ein Rätsel, dass es in der Hitze und bei dem Tempo keinen Herzschlag bekommen hat“, murmelte sie.

„Ich stelle fest, dass Sie sich um das Pferd mehr Sorgen machen als um mich, Miss Newsome!“ Er lächelte sie an, und sein Gesicht wirkte weicher und noch attraktiver. „Sie können den Fährtenleser spielen, ich konzentriere mich aufs Pferd.“

„Haben Sie wirklich genug Zeit, um mich zu begleiten?“, fragte sie. „Ich fühle mich irgendwie schuldig.“

„Nennen wir es Unfallverhütung. Das ist ja auch ein wesentlicher Teil meiner Arbeit. Ich möchte einfach sehen, ob mit Jack alles in Ordnung ist.“

So machten sie sich auf den Weg. „Wann erwartet Sie Ihr Vater eigentlich, Janine?“ Wenn er ihren Namen aussprach, klang dies so warm, so gefühlvoll.

„Ich habe ihm keine genaue Zeit genannt“, erklärte Janine. „Er weiß nur, dass ich bald komme.“

Sie machte sich große Sorgen. Hoffentlich war er gesund, und hoffentlich hatten er und Manara nicht unter dem Unwetter leiden müssen. Hinzu kamen die finanziellen Schwierigkeiten, in denen die Plantage steckte. In seinen Briefen und am Telefon hatte ihr Vater sogar erwogen, den Besitz zu verkaufen. Seit 1875 war Manara im Besitz der Familie Newsome.

Schon bald hatten Janine und Gerard den Weg erreicht, der von der Straße abzweigte. Dort war es angenehm schattig. „Geben Sie mir die Tasche. Sie kommt zum übrigen Gepäck aufs Pferd.“

„Vielen Dank“, sagte sie endlich.

„Nennen Sie mich Gerard“, forderte er sie auf. „Die Einheimischen nennen mich Dr. Gerard.“

„Was wäre, wenn ich nicht mit Ihnen gehen wollte?“, fragte sie und blickte ihn über die Schulter an. „Schließlich kenne ich Sie doch überhaupt nicht.“

„Bei mir sind Sie sicher!“ Er ließ sich nicht beirren. „Joseph hat inzwischen den anderen Männern erzählt, wer Sie sind und dass wir beide nach Manara gehen. In kürzester Zeit weiß es die ganze Insel. Ich lebe jetzt seit fast drei Jahren hier und alle kennen mich.“

Das musste sie akzeptieren. Zudem war es ein bisschen spät, um sich anders zu entscheiden.

Er glich seine Schritte ihrem Tempo an. Trotz seiner Müdigkeit wirkte sein Gang leicht und entspannt. Wenn sie auf St. Bonar tatsächlich einen Job fand, würden sie sich vielleicht öfter begegnen und unter Umständen sogar zusammenarbeiten. Es war seltsam, aber aus irgendeinem Grunde wehrte sie sich dagegen. Nicht gegen die Arbeit, aber gegen diesen Mann, gegen seine Gesellschaft, seine Nähe – ihre Gefühle? Die Sache mit John Clairmont hatte Spuren hinterlassen …

2. KAPITEL

„Warten Sie!“ Das war keine Bitte, das war ein Befehl. Janine hielt inne. „Meine Machete ist in der Satteltasche. Am besten, ich gehe vorneweg und schaffe Platz fürs Pferd. Das ist viel leichter, als sich hier durchs Gestrüpp zu schlagen. Sie nehmen die Zügel.“ 

Janine nickte. „Da vorn hören die Bodenwellen auf“, bemerkte sie und blickte sich um. Sie hatte ungefähr eine Ahnung, wo sie waren. Der Hurrikan hatte wirklich vieles verändert.

Gerard benutzte die Machete so flink und geschickt wie ein Einheimischer. Sie kamen gut voran, und Janine war ihm unendlich dankbar. Allein hätte sie den Weg nie geschafft, das sah sie ein.

Ohne Frage hatte er sicherlich eine Menge anderer Dinge zu tun, als mit ihr nach Manara zu gehen. Aber irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, dass es da noch andere Gründe gab, ihr zu helfen. Nun, sie würde ja sehen.

Es war klar, dass er über Nacht bleiben musste. Auf St. Bonar wurde es schon um halb sieben dunkel, und vorher würden sie die Plantage auf keinen Fall erreichen. Der Gedanke, dass dieser Mann mit ihr unter dem selben Dach schlafen würde, machte sie unruhig. Viel lieber hätte sie mit ihrem Vater allein und in aller Ruhe den Abend verbracht. Wenn er allerdings krank war, konnte es ganz hilfreich sein, noch einen Kollegen zur Seite zu haben …

„Am Fuß des Hügels zweigt der Weg ab“, erinnerte sich Janine. Sie hatte das Gefühl, schon Stunden unterwegs zu sein. „Dann wird es flach. Möchten Sie einen Schluck Wasser?“

„Warten Sie, bis wir unten sind. Dann machen wir eine Pause.“ Wer die beiden beobachtete, konnte annehmen, dass zwei Freunde gemeinsam auf einer Wandertour waren.

Er half Janine den Hügel hinunter. „Geben Sie mir die Hand“, forderte Gerard sie auf. Seine Finger waren kräftig, und Janine fühlte sich sicher und verletzlich zugleich. Sicher, weil sie nicht allein war, und verletzlich, weil sie die Nähe zu diesem Mann mit allen Sinnen spürte. Das Pferd kam allein klar. Vorsichtig setzte es die Hufe auf den Boden, der mit Laub, Ästen und losem Buschwerk übersät war.

„Nein!“ Janine schrie auf. Sie war auf den feuchten Blättern ausgerutscht und konnte sich nicht mehr halten. Sie schlidderte ein paar Meter weiter und fiel dann auf den Rücken. Gerard, der ihre Hand nicht losgelassen hatte, verlor ebenfalls die Balance und stürzte mit einem leisen Fluch halb über sie.

Sein Gewicht drückte sie zu Boden, sodass Janine sich nicht bewegen konnte. Das Laub war angenehm kühl, und es dauerte eine Weile, bis Gerard sich zur Seite rollte. „Sind Sie in Ordnung?“ Sie seufzte und streckte sich. „Ja, ich denke, ich bin okay.“ Janine räusperte sich. Dann sah sie ihn an. Er hatte den Kopf auf seine Hand gestützt und machte keinerlei Anstalten aufzustehen.

„Was ist mit dem Pferd?“, flüsterte sie.

„Keine Sorge, es wartet auf uns.“ Er lag dicht neben ihr.

„Haben Sie sich wehgetan?“, fragte sie nach einer Weile.

„Nein, überhaupt nicht.“

Gerard hob den Kopf und war jetzt dicht über ihrem Gesicht. Janine hatte das Gefühl, in seinen dunklen Augen zu versinken. „Sie sind sehr schön, Janine Newsome“, sagte er nachdenklich. „Ein bisschen mitgenommen, aber trotzdem schön.“

Seine Worte entwaffneten sie. Und die Bewunderung in seinen Augen verzauberte sie. Es war lange her, dass ihr so etwas passiert war. Überwältigt schloss sie die Augen.

Seine Lippen waren warm und fest. Ohne Hast erforschten sie ihren Mund, küssten ihn mit lasziver Leidenschaft. Gegen jede Vernunft wehrte Janine sich nicht, im Gegenteil. Sie erwiderte seinen Kuss. Mit einem Stöhnen umarmte sie den Mann und streichelte seine kräftigen Schultern. Durch den Stoff konnte sie den muskulösen Körper spüren.

Eng umschlungen vergaßen sie Zeit und Raum. Gerard strich über ihr Haar, seine Lippen liebkosten ihr ganzes Gesicht. Janine seufzte – viel zu lange hatte sie ihre natürlichen Bedürfnisse unterdrückt.

Dann ließ er sie los. Doch bevor er sich aufrichtete, berührte seine Hand wie beiläufig ihren zarten Brustansatz. Janine war wie elektrisiert.

Ich muss aufstehen … Doch sie konnte es nicht.

Das Schnauben des Pferdes brachte sie in die Wirklichkeit zurück. Sie sollten besser aufbrechen, denn schon bald würde es dunkel sein. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätten sich geliebt. Ihre Sehnsucht, sich Gerard hinzugeben, erschreckte sie. Was war nur in sie gefahren? Sie kannte nicht mehr als seinen Namen, ansonsten war er ein Fremder für sie. Vielleicht hatte er eine Frau oder eine Freundin. Trotz aller Einwände wusste sie, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte.

Mit einem Seufzer stand Gerard auf und reichte ihr die Hand. „Wir müssen gehen. Ich hatte diese Unterbrechung wirklich nicht geplant.“

Seine humorvolle Bemerkung entspannte die Situation und ließ ihre Leidenschaft zumindest im Moment ganz natürlich erscheinen. Doch beide warteten im Grunde auf die gegenseitige Erfüllung ihrer Wünsche. Das war klar.

Als sie am Fuße des Hügels angekommen waren, zog Gerard das Hemd aus und stopfte es in eine der Satteltaschen. Auf seinem gebräunten, muskulösen Rücken waren Spuren von Schweiß und feuchter Erde zu sehen. Wortlos nahm er seine Wasserflasche und einen Plastikbecher und reichte beides Janine.

„Das ist ja sehr zivilisiert.“ Sie deutete auf den Becher und versuchte, möglichst unbeschwert zu klingen. Denn eigentlich fürchtete sie sich davor, seinem Blick zu begegnen.

„Bedienen Sie sich“, sagte er. „Ich trinke aus der Flasche.“

„Danke, aber ich habe selbst etwas mit.“ Das kühle Wasser tat gut.

„Ihr Vater hat Sie angerufen, nicht wahr?“, fragte er und prüfte den Gurt, mit dem die Taschen auf dem Pferderücken befestigt waren.

„Ja. Von Boston aus ist es viel näher nach St. Bonar. Meine Mutter ist in England. Dort sind meine Eltern auch zu Hause. Sie verbringen nur höchstens sechs Monate auf der Insel.“ Janine war froh, über etwas Unverfängliches reden zu können. „Normalerweise wären sie jetzt beide hier. Aber meine Großmutter ist krank geworden, deshalb kümmert sich meine Mutter um sie. Und bevor ich nicht genau weiß, was mit meinem Vater los ist, möchte ich sie auch nicht anrufen.“

„Ach so. Ich weiß, dass ein Verwalter und einige Arbeiter sich um Manara kümmern, wenn er nicht dort ist.“

„Mein Vater denkt offenbar, dass ich als Ärztin Wunder bewirken kann. Hoffentlich geht es ihm gut.“

„Und was ist mit Ihrem Job?“, fragte er.

„Ich habe Sonderurlaub für drei Monate. Ich denke, das muss reichen.“

„Sie sind Chirurgin?“

„Ja.“

„Interessant.“

„Mein Vater leidet an einem Magengeschwür“, erklärte Janine und war froh, sich auf sicherem Terrain zu wissen. „Das Problem ist nur, dass er nicht aufpasst und danach lebt.“

„Das kenne ich“, murmelte Gerard.

„Das Einzige, was ihn interessiert, ist die Plantage, die er von seinem Vater übernommen hat“, fuhr sie fort. „Ich will wissen, wie er behandelt wird. Und ich werde dafür sorgen, dass er sich untersuchen lässt. Ich will wissen, ob er Antikörper gegen Helicobacter pylori im Blut hat. Dann sehen wir weiter.“

„Wir können hier keine serologischen Tests vornehmen. Es gibt keinen Pathologen oder Mikrobiologen. Wir müssen die Proben auf eine der größeren Nachbarinseln schicken“, erklärte er.

„Ich kann auch einen Atemtest machen. Der Erreger lässt sich auch darüber nachweisen.“ Janine hielt inne. Es lag ihr fern, ihn zu belehren.

„Nun“, sagte er und lächelte. Er hatte ihr Zögern bemerkt. „Ich hoffe, Sie haben ein paar Fachzeitschriften dabei. Ich könnte sie wirklich brauchen. Wir informieren uns zwar über Internet, aber oft fehlt dazu einfach die Zeit.“

Janine war sich nicht sicher, ob sein Interesse nur gespielt war. Seitdem sie das Fiasko mit John Clairmont erlebt hatte, fühlte sie sich oft viel zu defensiv.

„Warum hat Don McLean Ihren Vater nicht behandelt?“, fragte Gerard sichtlich erstaunt.

„Mein Vater hat ihm kein Wort von seinen Beschwerden erzählt.“

„Ich verstehe. Haben Sie genug getrunken?“, fragte er. Als sie ihm die Flasche gab, trank er den Rest mit einem Schluck.

Er kann nicht älter sein als fünfunddreißig, dachte Janine. Obwohl er einige Falten auf der Stirn und an den Augenwinkeln hatte. Vielleicht war er ja viel in der Sonne. Sein schweißnasses Haar, in dem sich einige Blätter verfangen hatten, fiel in vorwitzigen Wellen ins Gesicht. Eigentlich wirkte er wie ein Junge.

„Das ist mein typisches Aussehen in diesen Tagen“, kommentierte er ihren neugierigen Blick. Und wieder lag eine seltsame Spannung in der Luft.

Janine schaute zur Seite. Er war vorsichtig, immer einen Sprung voraus. Sie spürte, dass auch er keine einfache Vergangenheit hatte. Vielleicht war ihm Ähnliches widerfahren wie ihr mit John?

„Mein Vater sollte eine Magenspiegelung machen lassen“, fuhr sie fort. „Und eine Gewebsuntersuchung, um Krebs auszuschließen. Ist das hier möglich? Ich muss ihn nur dazu überreden.“

„Ja, das geht. Allerdings müssen wir, wie gesagt, die Gewebeproben wegschicken. Es gibt nur einen Pathologen, der für mehrere Inseln zuständig ist“, erklärte er.

„Alles ist so schwierig“, bemerkte sie, als sie weitergingen. Es war gut, sich zu unterhalten. Es ließ die Nähe des anderen selbstverständlich erscheinen.

„Das stimmt. Wie überall haben auch wir mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen“, bestätigte er. „Der Absatz von Bananen und Kokosnüssen ist stark zurückgegangen. Wie auch die Zahl der Touristen.“

Aus den Augenwinkeln betrachtete Janine sein Profil. Warum war Gerard wohl auf der Insel? Woher kam er? Irgendwie schien er doch hierher zu gehören, sein karibischer Akzent war dafür der beste Beweis. Sie hätte ihn so gern gefragt, konnte es aber nicht. Das hatte sie die Vergangenheit gelehrt.

Nach einer halben Stunde konnten sie das Herrenhaus von Manara sehen. Der Weg durch das Tal war nicht mehr so beschwerlich. Offenbar hatte der Hurrikan hier keine Spuren hinterlassen.

Janine ging voran. Es folgte Gerard mit dem Pferd. Sie hörte, wie er begann, alte französische Liebeslieder zu singen. Sie erzählten von der Kolonialgeschichte der Insel, die abwechselnd französisch und britisch gewesen war.

Es waren einfache, zu Herzen gehende Melodien, deren Worte Janine kaum verstand. Aber sie erinnerten sie an den Kuss und die Leidenschaft, die sie so lange in ihrem Leben vermisst hatte. Auch als sie mit John zusammen war – vielleicht gerade mit ihm. Die Erkenntnis kam plötzlich und tat sehr weh.

Es hatte einige Männer in ihrem Leben gegeben. Und es war auch nicht der Kontakt, den sie vermisste. Immer stand der Beruf an erster Stelle. Das war es. Ihr schien es, als hätten sie sie gar nicht so sehr als Frau wahrgenommen. Vom Sex einmal abgesehen.

Mit Gerard de Prescy war das anders. In wenigen Minuten hatte er es geschafft, dass sie sich als Frau fühlte. Sie wusste, dass er sie begehrte–und sie ihn. Merkwürdig, dachte sie. Es hatte auch etwas mit dieser Insel zu tun. Sie brachte die Menschen zurück zu den elementaren Dingen des Lebens. Doch Janine würde aufpassen müssen. Schließlich musste sie nach spätestens drei Monaten wieder nach Boston zurück …

Dann tauchte es auf, wenige Hundert Meter vor ihnen. Das alte Herrenhaus von Manara. Groß und stattlich inmitten der üppigen Vegetation. Wie ein romantisches Gemälde im milden Licht der untergehenden Sonne.

„Da ist es!“ Janine konnte ihre Begeisterung nicht unterdrücken. Müdigkeit und Anstrengungen waren vergessen. „Es ist wunderschön!“

„Wissen Sie eigentlich, woher der Name Manara kommt?“ Gerard hatte sie eingeholt und trat neben sie.

Sie blieben stehen und genossen den Anblick. Die leichte Brise war angenehm. Wie Samt, dachte Janine und genoss das Gefühl auf ihrer Haut.

„Die Legende sagt, dass Manara nach einer Frau benannt worden ist. Sie war eine Sklaventochter, in die sich der Besitzer der Plantage verliebt hatte. Ursprünglich hieß das Anwesen La Belle Maison. Manara und er hatten einige Kinder zusammen. Sie starb während der Cholera-Epidemie 1854 und wurde hier begraben. Er gab dem Besitz ihren Namen und wollte nach seinem Tod neben ihr zur letzten Ruhe gebettet werden.“

„Und wurde sein Wunsch erfüllt?“ Er atmete tief.

„Es gibt ein Grab auf der Plantage. Auf einem Hügel mit Blick über das Meer. Auf dem Stein steht nur sein Name – Henri Daviot.“

„Ja … Daviot.“ Wie abwesend wiederholte er den Namen. „Sehr interessant. Er hat sie wohl nicht geheiratet, oder?“ Seine Stimme hatte einen leicht ironischen Unterton.

„Nein, ich denke, er hat sie nicht geheiratet“, bestätigte sie. „Er hatte wohl eine Frau in Frankreich.“

„Diese Art von Ehe war sehr verbreitet … und ist es vielleicht noch“, bemerkte er.

„Das glaube ich auch“, murmelte Janine. Im selben Moment fragte sie sich, ob er wohl verheiratet wäre. Und vielleicht auch noch eine Freundin nebenbei hatte. Wie würde es sein, ihn als Ehemann zu haben?

„Eine sehr gütliche und zivilisierte Übereinkunft“, unterbrach er ihre Gedanken. „Und das immerhin in einer Gegend der Welt, die als nicht besonders zivilisiert galt. Vorausgesetzt das Arrangement beruhte auf Gegenseitigkeit, was um 1850 sicherlich weniger der Fall war.“

Janine sagte nichts. Sie wollte vermeiden, dass er ihre Gedanken las. Es war eine traurige Geschichte. Vor 150 Jahren gab es viele ähnliche Schicksale wie das von Manara. Viele Plantagenbesitzer hatten damals Ehefrauen, die in Europa lebten und nie einen Fuß in die Kolonien setzten. Die meisten dieser Männer machten sich, weil das Recht auf ihrer Seite war, Sklavinnen gefügig. Die wenigsten brachten den Frauen echte Gefühle entgegen, so wie es offenbar zwischen Manara und Henri Daviot der Fall gewesen war.

„Sie wissen eine ganze Menge darüber“, bemerkte Janine.

Er hatte die Sonnenbrille abgenommen und stand im Schatten eines Mangobaums. Er musterte sie, von Kopf bis Fuß, ohne Hast und ohne dies zu verheimlichen. Janine spürte, wie ihr Herz immer schneller schlug. Sie konnte den Blick kaum ertragen.

„Das stimmt“, sagte er. „Ich habe mich mit der Geschichte von St. Bonar eingehend beschäftigt. Und irgendwie tragen Klima und Natur ihren Teil dazu bei, nicht wahr? Das müssen Sie quasi als Kind dieser Insel doch auch wissen, oder?“ Er lächelte, und der Ausdruck seiner dunklen Augen sprach Bände und zog sie in seinen Bann.

Janine schluckte. Machte er sich lustig? „War das eine Einladung?“, fragte sie betont beiläufig. Sie musste aufpassen.

„Mag sein … wenn Sie es so verstehen“, erwiderte er mit sanfter Stimme.

Janine blickte zum Haus, bemüht, ihre Erregung nicht zu zeigen.

„Cholera war damals weit verbreitet, und die Menschen starben zu Tausenden.“ Gerard versuchte ganz bewusst, sie abzulenken.

„Ja.“

„Kennen Sie eigentlich Father Jessop von der katholischen Kirche in Forte Roche? Er ist zugleich auch Historiker und Archivar der Insel.“

„Ich kenne ihn“, antwortete Janine. Sie war dem Pfarrer einige Male begegnet und bewunderte seine Arbeit.

„Er betreibt Ahnenforschung für mich. Es geht dabei um die Inseln hier, um England, Frankreich und um die Vereinigten Staaten. Sie wissen ja, Insulaner kommen ganz schön herum in der Welt … Und viele kommen auch wieder zurück.“ Etwas in seiner Stimme ließ Janine aufhorchen.

„Henri Daviot.“ Er wiederholte den Namen. „Er gehörte nicht zu Ihrer Familie – bei dem Namen?“

„Nein, er war ja Franzose. Die Plantage war ein Geschenk des französischen Königs an einen Vorfahren von Daviot, glaube ich. Lange bevor mein Urgroßvater Manara erwarb. Daniel Newsome … Er war Handelskapitän und legte den Grundstein zu unserem wunderbaren Besitz … oder allen unseren Problemen, wie auch immer man dies sehen mag.“

„Ein Engländer?“

„Ja.“

„Und liebte sie diesen Henri … ich meine die Sklavin?“, fragte er sanft.

Janine runzelte die Stirn. Die Geschichte hatte sie immer zutiefst berührt. Warum zeigte er dieses auffällige Interesse? „Die Leute glauben es“, sagte sie. „Es ist wohl wahr, dass er sie liebte. Das kann man zumindest an seinem Grabstein sehen.“

Er reagierte nicht.

Als Janine zum ersten Mal als Kind von der Beziehung zwischen Henri Daviot und der Sklavin hörte, stellte sie sich vor, dass es eine wunderbare Liebe gewesen sein musste. Aber nachdem sie mehr über jene Zeit erfahren hatte, wusste sie auch, wie brutal viele Plantagenbesitzer gewesen waren. Doch der Grabstein besagte eindeutig, dass Henri Daviot die Frau wirklich geliebt hatte.

„Und was geschah mit den Kindern … Starben sie auch an der Cholera?“ Gerard de Prescy wollte alles wissen. Mit glänzenden Augen betrachtete er das wunderschöne alte Haus – und danach Janine, die ihn erstaunt beobachtete. Sichtlich erregt fuhr er mit seinen staubigen Fingern durch das feuchte Haar.

„Das weiß offenbar niemand. Vielleicht sind einige Opfer der Epidemie geworden, vielleicht konnten sie aber auch nach Frankreich entkommen“, antwortete sie nachdenklich.

„Father Jessop meint, dass ich mit den Daviots irgendwie verwandt bin“, sagte er. „Er will versuchen, Näheres herausfinden.“

„Tatsächlich?“ Janine war überrascht. „Das ist ja faszinierend. Wann wissen Sie Näheres?“

Er zuckte die Achseln. „Er wartet auf Antwort aus Frankreich. Die meisten Familienmitglieder blieben ja offenbar dort. Nur Onkel Henri nicht.“

Langsam gingen sie zum Haus.

„Ich habe das Gefühl, Ihrem Vater wird Manara allmählich zu viel. Zumindest hat er das öfter angedeutet.“

„Da haben Sie recht. Sie scheinen meinen Vater gut zu kennen.“

„Wir sind uns viele Male begegnet“, sagte er. „Das Leben geht weiter und nimmt manchmal eine ungeahnte Wendung. Ich glaube, er sieht mich als Freund. Und ich mag ihn auch.“ Seine Worte ließen sie aufhorchen. Gab es etwas, das sie nicht wusste?

„Aber Sie haben nicht gemerkt, dass es ihm schlecht geht?“

„Zumindest hat er nicht davon gesprochen“, antwortete er höflich. „Ich nehme an, dazu ist er auch viel zu stolz. Und das muss ich respektieren, Janine.“

Nur noch wenige Meter vom Ziel entfernt, erkannte Janine, wie sehr sich alles verändert hatte. Der Garten wirkte ungepflegt, die Wege waren vom Gras überwuchert, trockene Blätter und abgebrochene Äste lagen überall herum. Und auch um das zweistöckige Herrenhaus hatte sich offenbar niemand genügend gekümmert: Die dicken Mauern aus Naturstein wirkten zwar so solide wie immer, aber die gelbe Farbe war von den Simsen und Nischen abgeblättert, und das Holz der Veranda brauchte dringend einen schützenden Anstrich.

Manara war einst ein sehr eindrucksvoller Besitz gewesen mit zahlreichen hohen Fenstern, die drinnen großzügige, elegante Räume vermuten ließen. Die Sonne hatte das dunkle Grün der kunstvoll verzierten Holzläden ausgeblichen, von denen einige ganz schief neben den Scharnieren hingen.

Nur die üppig blühende Bougainvillea und die Hibiskus- und Oleanderbüsche ließen sich in ihrer Farbenpracht nicht beirren und waren mit ihren Creme- und Rosatönen inmitten der Tristesse ein wunderschöner Trost.

Während sie das Haus betrachteten, kam ein Landrover die breite Auffahrt herauf. Sie hatten ihn gar nicht gehört.

„Es sieht ganz so aus, als ob Jack in Ordnung ist“, bemerkte Gerard de Prescy.

„Glücklicherweise!“ Janine seufzte. „Dad! Dad!“ Aufgeregt lief sie dem Auto entgegen.

Jack Newsome sprang aus dem Wagen und schien überrascht. Dann winkte er. „Janine!“

„Hallo, Dad!“ Sie lächelte und warf sich in seine ausgebreiteten Arme. Tränen traten in ihre Augen.

„Beruhige dich, meine Kleine!“ Fest drückte er sie an sich. Das letzte Mal hatten sie sich in Boston gesehen, als er sie auf seiner Reise von England nach St. Bonar vor einigen Monaten dort besuchte.

Jack Newsome war ein Mann, der etwas auf sich hielt. Egal, wo er sich gerade aufhielt, ob in England oder auf der Insel, immer war er korrekt gekleidet. Und auch jetzt trug er eine helle Hose mit Bügelfalten, ein passendes Hemd und eine Krawatte. Wegen der Hitze hatte er zwar die Ärmel aufgerollt und die Krawatte ein wenig gelockert, aber das tat seiner gepflegten Erscheinung keinen Abbruch. Auch die schweren, schlammverschmierten Gummistiefel nicht.

„Wie geht es dir, Dad?“ Janine sah, wie dünn ihr Vater geworden war.

„Mir geht es gut“, erwiderte er. Aber er konnte sie nicht täuschen. Seine Augen wirkten müde und stumpf, die Wangen waren eingefallen, und seine gelbliche Gesichtsfarbe beunruhigte sie. Janine nahm sich zusammen, sie wollte sich nichts anmerken lassen.

„Ich freue mich, dich zu sehen, Janine … Und Sie, Gerard, natürlich auch. Die beiden Menschen, die ich am liebsten hier habe. War der Weg sehr beschwerlich?“

Janine lächelte und wischte eine Träne aus dem Auge. „Abgesehen von dem unwegsamen Gelände, ging alles glatt.“ Genaueres musste sie ja nicht erzählen.

Wenn sie ihren Vater so betrachtete, hatte sie das Gefühl, gerade zur rechten Zeit gekommen zu sein. Er war immer so zurückhaltend, beklagte sich nie und ließ nur selten seinen Gefühlen freien Lauf. Aber jetzt war es ganz offensichtlich, dass er sich über ihre Ankunft sehr freute.

Als sie sich zu ihrem Begleiter umdrehten, stand dieser noch immer neben dem Pferd. Die Stute schnaubte und scharrte mit den Hufen. Sie war hungrig und durstig und ziemlich erschöpft.

„Hallo, Gerard!“ Janines Vater begrüßte ihn mit einem herzlichen Händedruck. „Wie immer – willkommen auf Manara. Ich stelle keine Fragen, bevor ihr beide nicht einen kühlen Drink bekommen habt. Die Tour war kein Kinderspiel, nicht wahr?“

„Wir haben uns zufällig auf der Straße getroffen. Ihre Tochter wollte sich allein durch den Busch schlagen“, erklärte Gerard und lächelte.

„Das kann ich mir vorstellen“, erwiderte Jack Newsome und legte den Arm um Janines Schulter. „So hartnäckig wie immer, was? Du kommst in einer schwierigen Zeit. Der Hurrikan hat uns ziemlich zu schaffen gemacht.“ Seine Worte klangen so, als ob Janine auf St. Bonar ihre Ferien verbringen wollte.

Sie sagte nichts. Auch nicht, dass sie versuchen wollte, während ihres Aufenthaltes auf der Insel zu arbeiten. Auf Manara brauchten sie dringend Geld, das war nicht zu übersehen. Sie wollte auf eine günstige Gelegenheit warten, mit ihrem Vater allein zu sprechen. Über seine Gesundheit und über die Zukunft der Plantage.

„Ich freue mich, Sie zu sehen, Jack“, unterbrach Gerard ihre Gedanken. Sie schienen sehr vertraut, was ihr sehr merkwürdig vorkam. „Wie ist es Ihnen ergangen?“

„Nun, viel besser“, antwortete ihr Vater. „Vielleicht brauche ich nachher Ihren fachlichen Rat.“

„Selbstverständlich.“

„Kommt ins Haus!“ Jack Newsome machte eine einladende Bewegung. „Ich habe dir viel zu erzählen, Janine. Ich bin von der Umwelt abgeschnitten und ganz allein. Die Leute sind wegen des Unwetters bei ihren Familien in den Dörfern geblieben oder helfen bei den Aufräumarbeiten. Der Weg hierher ist für alle im Moment viel zu beschwerlich.“

„Ist alles in Ordnung, Dad?“ Janine war besorgt.

„Im Grunde ja“, beruhigte ihr Vater sie. „Ich habe eine Menge zu essen und brauche nichts weiter.“

„Ich kümmere mich um das Pferd.“ Gerard lockerte die Gurte und stellte Janines Taschen auf den Boden. Dann führte er die Stute an einen nahen Wassertrog. Er nahm sein Hemd aus der Satteltasche und rieb das Tier trocken.

Gefolgt von den beiden Besuchern, schritt Jack Newsome die breiten Stufen zur Veranda hinauf. Vor der schweren Mahagonitür blieb er stehen und drehte sich um. „Ich bin sehr froh, dass ihr euch getroffen habt. Das erspart mir eine Menge Erklärungen. Ich nehme an, Gerard, Sie haben meiner Tochter erzählt, dass Sie Manara kaufen wollen?“

Er öffnete die Tür und trat in die große Halle. Es roch nach Feuchtigkeit und Sandelholz.

„Wie bitte? Was meinst du damit, Dad?“ Janine war fassungslos. „Ich hatte den Eindruck, dass es dir mit dem Verkauf gar nicht so ernst war!“

Kopfschüttelnd blickte sie auf ihre schweren Taschen am Boden. Sie hatte das Gefühl, dass sie nicht die einzige Last waren, die sie würde tragen müssen. Ernst musterte sie die alten Mahagonimöbel, die noch immer an ihrem vertrauten Platz standen, und den wertvollen, aber abgenutzten Orientteppich, der schon bessere Zeiten gesehen hatte.

„Was meinst du damit?“, wiederholte sie.

Fragend sah sie die Männer an. Gerard de Prescy nahm das Gepäck und trug es zur Treppe. Offensichtlich wollte er ihrem prüfenden Blick lieber ausweichen. Neben ihrem Vater wirkte er noch stattlicher. Es schien, als könnte er diesem riesigen, alten und vernachlässigten Haus neues Leben einhauchen. Was für eine Vorstellung! Verzweifelt wehrte Janine sich gegen diese Vorstellung.

„Wir haben ganz einfach einmal darüber gesprochen, Janine“, sagte ihr Vater sanft. „Komm doch ins Wohnzimmer. Ich werde uns etwas Eistee holen.“

Jack Newsome verschwand in die Küche, was Janine auch sehr lieb war. Schließlich wollte sie sich nicht vor ihrem Vater mit Gerard streiten.

Wütend drehte sie sich zu ihm um. „Wie kommt es, dass Sie nicht ein einziges Wort darüber verloren haben, Dr. de Prescy?“ Ihre Wangen waren rot vor Zorn – und Scham, wenn sie daran dachte, wie innig sie seinen Kuss und die Umarmung erwidert hatte. „Sie hatten doch alle Zeit der Welt, und da sagen Sie mir nichts?“

„Ich dachte, wir hätten mit uns selbst genug zu tun“, antwortete Gerard und sah sie an. „Auch ohne über die Angelegenheiten Ihres Vaters zu reden.“

„Was ihn betrifft, betrifft auch mich“, zischte Janine, außer sich vor Wut, Enttäuschung und Erschöpfung. „Vielleicht hat Ihnen mein Vater nicht erzählt, dass mir ein Teil von Manara gehört. Mein Großvater hat es mir hinterlassen.“

Gerard war überrascht. „Ist das wahr?“

„Ja, natürlich!“ Ihre Stimme klang hart. „Offenbar wollte er damit erreichen, dass Manara in der Familie bleibt.“ Janine kannte ihren Großvater nur von Fotos. Er war zwei Jahre nach ihrer Geburt gestorben. „In jedem Fall bedarf ein Verkauf meiner Unterschrift.“

Je mehr sie über die Situation nachdachte, desto zorniger wurde sie. Hatte er etwa gedacht, dass sie als Frau leicht zu überrumpeln wäre? War das der Grund dafür, dass er es nicht für nötig gehalten hatte, mit ihr über Manara zu sprechen?

Er hatte sie geküsst, sie berührt …

„Ich habe tatsächlich nichts davon gewusst“, sagte er ruhig. „Kann denn Manara in der Familie bleiben? Sind Sie verheiratet? Haben Sie Kinder?“

Sein eindringlicher Blick sprach Bände. Er hatte doch gesehen, dass sie keinen Ring trug. Wollte er sie mit seinen Fragen etwa verunsichern? Dann hatte er sich aber gründlich in ihr getäuscht.

„Nein, ich bin nicht verheiratet“, antwortete sie. „Ich allein bin die Familie.“

„Aber Sie leben hier nicht.“

„Ich könnte es aber tun. Von der Plantage kann man leben“, beharrte sie. „Und abgesehen davon liebe ich dieses Haus.“

„Es handelt sich dabei nicht um das Haus, Janine“, warf ihr Vater ein, der aus der Küche gekommen war.

„Entschuldige, Dad, ich meine …“

„Ich weiß sehr wohl, wie sehr du diesen Ort liebst, mein Kind. Ich habe ja auch nur gemeint, dass Gerard mir ein Angebot unterbreitet hat. Ich habe in den vergangenen Monaten viel nachgedacht. Die Folgen des Unwetters werden all unsere Reserven aufbrauchen. Ich habe darüber mit Gerard gesprochen, und er bot sich als Käufer an. Es besteht kein Grund, sich Sorgen zu machen. Noch ist nichts endgültig. Egal, wir sollten etwas essen und trinken. Später können wir reden.“

„Eine Sekunde, bitte“, Janine wandte sich an Gerard. „Was haben Sie mit Manara vor?“

Diesmal hielt er ihrem Blick stand. „Zum einen möchte ich es für mich selbst, weil vielleicht Verbindungen zu den Daviots bestehen. Ich habe Ihnen davon erzählt. Zum anderen möchte ich eine Privatklinik errichten und zahlungskräftige Patienten nach St. Bonar bringen. Das würde auch der Insel helfen.“

„Was?“

„Manara ist einer von drei möglichen Standorten, die ich gerade überprüfe. Ich möchte im Haus wohnen. Damit auch Gäste und Patienten vor und nach der Operation entsprechend unterkommen können, würde ich es umfassend renovieren“, fuhr er fort. „Der Stil des Hauses würde aber erhalten bleiben. Natürlich brauchen wir weitere Gebäude für die Operationssäle, Aufwachzimmer, Rehabilitationsbereiche, Labors und so weiter.“

Janine schaute ungläubig von einem zum anderen. „Ich glaube, mir gefällt Ihr Vorhaben ganz und gar nicht. Nicht wenn es um Manara geht. Was geschieht mit dem Land?“

„Das meiste davon wird bestellt, so hoffen wir zumindest.“ Es war ihr Vater, der jetzt antwortete. „Auf einer ganzen Reihe von Inseln gibt es ähnliche Projekte, Janine. Es gibt eine Menge wohlhabender Leute, die ihre Schönheitsoperationen lieber geheim halten möchten. Sie machen Ferien, lassen sich liften – und kommen dann erholt und verjüngt wieder nach Hause zurück.“ Jack Newsome lächelte. Er versuchte, so überzeugend wie möglich zu klingen.

Janine konnte all das nicht fassen. Sie bedauerte ihren Vater und hasste Gerard, der ganz offensichtlich aus der Situation seinen Vorteil ziehen wollte.

„Sie würden auch zu einer Routineoperation kommen“, fuhr ihr Vater fort. „Zum Beispiel bei einem Leistenbruch. Das hat Gerard mir versichert.“

Darauf konnte sie wetten, dachte Janine. „Und warum sollten diese Leute ausgerechnet nach St. Bonar kommen wollen? Es gibt Inseln mit einer weitaus besseren Infrastruktur. Die Cayman Islands zum Beispiel oder Bermuda. Und woher kriegen Sie Ihre Chirurgen?“

„Daran arbeiten wir noch“, antwortete er. „Aber das ist kein Problem. Wir haben bereits eine Liste von ernsthaften Interessenten zusammengestellt. Jack hat eine Kopie. Hören Sie, Janine, Manara ist nur eine von mehreren Möglichkeiten.“

„Lasst uns in die Küche gehen und ein Glas Eistee trinken“, sagte ihr Vater leise.

Als Janine den Männern folgte, liefen Tränen über ihre Wangen. Sie war erschöpft und enttäuscht und fühlte sich irgendwie betrogen. Natürlich war sie froh, dass ihrem Vater nichts passiert war. Auf der anderen Seite verstand sie ihn nicht. Von Gerard ganz zu schweigen.

Als Gerard de Prescy ihre Tränen bemerkte, blieb er vor ihr stehen. „Beruhigen Sie sich“, beschwor er sie sanft. „Sie sind müde und müssen sich ausruhen. Alles wird gut, glauben Sie mir.“ Dann schritt er durch die Halle, als wenn ihm Manara bereits gehörte.

Janine war wie benommen. Sie rührte sich nicht. Warum lief so vieles in ihrem Leben schief? Zuerst die Beziehung mit John Clairmont, der sie so sehr enttäuscht hatte. Und jetzt das. Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich gewünscht, eine Familie zu haben. Mit ihren Kindern wollte sie Manara besuchen, damit diese es genauso lieb gewannen wie sie. Ob sie wohl jemals glücklich würde? Wie schön war es doch damals gewesen, als sich die ganze Familie in den Ferien hier traf. Doch das gehörte der Vergangenheit an, und die war endgültig vorbei.

3. KAPITEL

Schon beim ersten Morgenlicht erwachte Janine. Sie betrachtete das gemütlich eingerichtete Zimmer, das ihr seit frühester Jugend vertraut war. Möbel und Vorhänge waren noch dieselben. Vieles hatte ihre Mutter ausgesucht, einiges waren Erbstücke.

Trotz ihrer Erschöpfung hatte sie am Abend nicht sofort einschlafen können. Nach einem leichten Abendessen waren alle früh zu Bett gegangen. Danach hatten sie die eindringlichen Geräusche der Baumfrösche noch lange wach gehalten. Nach den schweren Regenfällen schienen sie besonders aktiv.

Bis zum Frühstück blieb ...

Autor

Dianne Drake
Diane, eine relative neue Erscheinung im Liebesromanbetrieb, ist am meisten für ihre Sachliteratur unter dem Namen JJ Despain bekannt. Sie hat mehr als sieben Sachbücher geschrieben, und ihre Magazin Artikel erschienen in zahlreichen Zeitschriften. Zusätzlich zu ihrer Schreibtätigkeit, unterrichtet Dianne jedes Jahr in dutzenden von Schreibkursen. Dianne`s offizieller Bildungshintergrund besteht...
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Jennifer Taylor
Jennifer Taylor ist Bibliothekarin und nahm nach der Geburt ihres Sohnes eine Halbtagsstelle in einer öffentlichen Bibliothek an, wo sie die Liebesromane von Mills & Boon entdeckte. Bis dato hatte sie noch nie Bücher aus diesem Genre gelesen, wurde aber sofort in ihren Bann gezogen. Je mehr Bücher Sie las,...
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