NOX Band 17

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ICH SEHE DICH IN MEINEN TRÄUMEN von REBECCA DANIELS

In der erbarmungslosen Hitze der Wüste sucht Mallory verzweifelt nach ihrer verschwundenen Zwillingsschwester. Ihre letzte Hoffnung: der Navajo-Medizinmann Benjamin Graywolf. Nur zögernd erklärt er sich bereit, zu helfen. Mallory ahnt nicht, dass er sie in einer schicksalhaften Vision gesehen hat …

ZIMMER FREI? von SUZANNE SIMMS

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  • Erscheinungstag 30.08.2025
  • Bandnummer 17
  • ISBN / Artikelnummer 8098250017
  • Seitenanzahl 320

Leseprobe

Rebecca Daniels, Suzanne Simms

NOX BAND 17

Rebecca Daniels

1. KAPITEL

Mallory Wakefield brachte ihren Wagen zum Stehen und ließ den Motor laufen. Es war heiß, und Schweißperlen liefen ihr den Rücken hinunter. Sie blinzelte in die Nachmittagssonne und sah dann über das Lenkrad ihres Mietwagens hinweg zu der kleinen Ansammlung von Lehmziegelhütten hinüber. Wie sie da dicht zusammengedrängt in der kargen Landschaft standen, sahen sie trostlos und verlassen aus genauso trostlos und verlassen, wie Mallory sich nach den langen Stunden hinter dem Steuer fühlte. Schrottteile, Drähte und Schutt lagen überall herum, und ein Stück weiter entfernt rosteten zwei alte Lieferwagen vor sich hin.

Hier kann es nicht sein, dachte Mallory und sah auf die Skizze, die sie nach den Angaben des Beamten auf der Navajo-Polizeistation von Tuba City gezeichnet hatte. Aber sie hatte sich genau an seine Anweisungen gehalten. Es musste hier sein. Hier also musste Benjamin Graywolf leben, der Schamane, Medizinmann und Fährtenleser.

Sie stellte den Motor ab und blickte sich unruhig um. Doch da war niemand, kein Anzeichen von Leben, kein Geräusch nur der böige Wind, der an den Türen des Autos rüttelte und den Staub aufwirbelte. Das Navajo-Indianerreservat kam Mallory vor wie eine andere Welt, wo es seltsame Regeln und Bräuche gab und wo selbst der bescheidenste Komfort ein Fremdwort war. Wenn es wenigstens ein Telefon gäbe, ein einfaches Telefon, dann hätte sie Benjamin Graywolf anrufen und sich viel Zeit sparen können.

Zeit. Wieder beschlich sie die Ahnung, dass die Zeit knapp wurde. Wenn sie nur die Polizei dazu bringen könnte, ihr zuzuhören. Marissa war in Schwierigkeiten, Mallory wusste es, sie fühlte es und sie musste etwas unternehmen, bevor es zu spät war. So oder so, dachte sie ich werde Marissa finden, und wenn ich dafür jeden Stein einzeln umdrehen muss.

Entschlossen öffnete sie die Tür und stieg aus. Sie hob ihr langes honigblondes Haar im Nacken an, damit der Wind ihre überhitzte Haut kühlte. Vorsichtig ging sie über den Hof zu dem kleinen Lehmziegelhaus, ballte die Hand und klopfte an die alte, verwitterte Tür.

„Hallo?“, rief sie. Sie wartete, dann klopfte sie erneut diesmal so fest, dass ihre Fingerknöchel schmerzten. Sie lauschte wieder, jeder Muskel ihres Körpers aufs Äußerste angespannt. Was würde sie da drin erwarten? Wie sah ein Navajo-Schamane eigentlich aus? „Ist da jemand?“

Nichts. Mallory seufzte erschöpft. Was sollte sie jetzt tun? Nach Tuba City zurückfahren? In der Nähe der Polizeistation von Flagstaff ein Zelt aufschlagen? Zu Marissas winziger Wohnung in Sedona zurückkehren und langsam wahnsinnig werden?

„Verdammt“, murmelte sie und hämmerte gegen die Tür. Als der Riegel plötzlich nachgab, wich sie überrascht einen Schritt zurück. „Na endlich“, rief sie aus, schob die Tür langsam auf und spähte in die Dunkelheit, die drinnen herrschte.

„Jemandes Hogan zu betreten, ohne darum gebeten worden zu sein, wird selbst in der Welt der Biligaanas als unhöflich betrachtet.“

Erschrocken fuhr Mallory herum. Der Klang der Stimme hinter ihr ging ihr durch Mark und Bein. „Es … tut mir leid. Ich …“ Sie verstummte, als sie den Mann erblickte, der hinter ihr stand.

Er starrte auf sie hinunter, die Augen zu Schlitzen verengt und gab sich keinerlei Mühe, sein Misstrauen zu verbergen. „Was wollen Sie?“

Mallory räusperte sich und holte tief Luft. Er überragte sie um Haupteslänge, und plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie mit diesem Mann allein war und nirgendwoher Hilfe erwarten konnte. Er trug nur eine Art Wildlederhose. Sein langes schwarzes Haar reichte ihm bis auf die nackte Brust, seine dunkle Haut glänzte bronzefarben. Der kalte Glanz seiner Augen ließ Mallory trotz der brütenden Hitze erschauern. „Ich … suche Benjamin Graywolf. Man hat mir gesagt, er wohne hier.“

„Was wollen Sie von ihm?“

Zornig blinzelte sie zu ihm hoch. Nicht genug damit, dass er sie zu Tode erschreckt hatte, nun war er auch noch so unfreundlich. „Können Sie mir sagen, ob dies Graywolfs Haus ist, oder nicht?“

Er musterte sie von oben bis unten, dann verzogen sich seine Lippen zu einem zynischen Lächeln. „Das ist Benjamin Graywolfs Hogan.“

„Oh, richtig. Tut mir leid“, sagte Mallory. Natürlich, wie dumm von ihr. Es hieß Hogan, nicht Haus, das wusste sie. „Aber jedenfalls das ist sein Hogan?“

„Ja.“

„Gott sei Dank“, seufzte sie und vergaß ihre Angst. „Ist er hier? Kann ich mit ihm sprechen?“

„Kommt darauf an, was Sie von ihm wollen“, antwortete er ausweichend.

„Hören Sie“, sagte Mallory frustriert, „ich habe keine Lust auf irgendwelche Spielchen. Ich muss mit ihm sprechen. Es ist sehr wichtig. Ich brauche seine Hilfe. Ist er hier oder nicht?“

„Sind Sie Polizistin? FBI?“

„Was?“ Sie musste vor Überraschung schlucken. „Nein.“

„Wer sind Sie? Was machen Sie?“

Mallory schüttelte verzweifelt den Kopf. „Ich heiße Wakefield Mallory Wakefield. Ich bin Journalistin beim Washington Chronicle, aber das ist nicht der Grund …“

„Verschwinden Sie“, unterbrach er sie barsch.

„Was?“ Verdutzt schnappte sie nach Luft.

„Gehen Sie“, wiederholte er. „Verlassen Sie meinen Hogan.“

„Ihren Hogan?“, fragte Mallory erstaunt. „Sie meinen … Sie sind Benjamin Graywolf?“

Er packte sie am Arm und drängte sie fort.

„Hören Sie auf damit!“ Sie versuchte sich aus seinem Griff herauszuwinden. „Warten Sie! Lassen Sie mich doch erklären. Bitte, ich brauche Ihre Hilfe.“

„Journalisten helfe ich nicht“, sagte er kategorisch und schubste sie vorwärts.

„Ich bin nicht als Journalistin hier“, beharrte sie. Was war eigentlich los mit diesem Mann? War er verrückt? „Ich bin nicht auf der Suche nach einer Story.“

„Ich spreche nicht mit Journalisten.“ Er wandte sich ab. „Worüber auch immer.“ Die Tür seines Hogans schlug krachend hinter ihm zu.

In einer Mischung aus Wut und Verblüffung starrte Mallory ihm nach. Sergeant Begay war so sicher gewesen, dass Graywolf ihr helfen würde. Sie war den ganzen Weg hierhergefahren, hatte so viele Stunden in diesem blöden Mietwagen verbracht, die brütende Hitze und viel wertvolle Zeit geopfert und wofür das alles? Um sich hinauswerfen zu lassen, nur weil er keine Journalisten mochte?

Sie setzte sich hinter das Lenkrad ihres Autos und drehte den Zündschlüssel. Vielleicht will er nicht mit Journalisten sprechen, dachte sie, aber mit mir wird er verdammt noch mal sprechen.

Der blaue Türkis glitt in die kleine silberne Mulde und bildete damit das winzige Auge des halbmondförmigen Schmuckstücks. Graywolf richtete sich von der Werkbank auf und hielt sich den schmerzenden Rücken. Er strich sich mit einer Hand über die überanstrengten Augen und schaltete dann die Lampe über seinem Kopf aus.

Er sah auf den Schmuck, den er gerade vollendet hatte. Ein Halbmond. Die Form des Halbmondes und ein Schwarm kleiner Sterne waren bildhafte Muster, die während der letzten Wochen zu immer wiederkehrenden Bestandteilen seiner Arbeit geworden waren. Was hatten sie zu bedeuten? Warum gingen ihm diese Formen nicht mehr aus dem Kopf?

Graywolf dachte an die Frau. Ihr Anblick hatte ihm einen unglaublichen Schock versetzt. Denn neben dem Halbmond und den Sternen war es das Bild einer Biligaana gewesen, das ihn seit Wochen verfolgte. Eine Biligaana-Frau, eine vollkommene weiße Frau mit Haaren von der Farbe der Sonne und Augen, so blau wie das Meer.

Benjamin Graywolf hatte gelernt, dass er seine Visionen nicht ignorieren durfte. Es hatte eine Zeit gegeben, in der er die Traditionen und Riten der Schamanen verschmäht und seine Begabung verachtet hatte. Sein Vater und sein Großvater hatten versucht, seine Visionen zu fördern und ihn dazu zu bringen, dass er seine Gabe verstand und akzeptierte, aber Graywolf hatte nichts davon hören wollen. Er hatte die Überlieferungen seiner Ahnen als Aberglauben, als Ansammlung von Mythen und Legenden abgetan.

Dann war er auf die Schule des weißen Mannes gegangen, um sich in dessen Geheimnisse einweihen zu lassen. Er hatte lernen wollen, wie er sein Volk vom Aberglauben und von der Angst befreien konnte, die seiner Meinung nach den Teufelskreis von Armut und Leid in den Reservaten verschuldet hatten.

Doch damals war er jung und töricht gewesen, und nun war er älter und weiser. Es war eine schmerzliche Lektion gewesen, aber er hatte gelernt, seine Visionen anzunehmen und ihnen zu trauen. Aber er würde nie wieder einer weißen Frau vertrauen. Das war etwas, das ihn die Erfahrung mit Susan gelehrt hatte. Die schöne Susan. So wundervoll, so voller Liebe das jedenfalls hatte er geglaubt. Graywolf schloss die Augen. Er wusste, er würde nie vergessen können, wie sie ihn verraten hatte. Er hatte ihr sein Herz offenbart, seine Träume mit ihr geteilt und sie hatte seine Geheimnisse an eine Zeitung verkauft und ihn bloßgestellt.

Er wickelte den fertiggestellten halbmondförmigen Silberschmuck in ein Baumwolltuch und legte ihn zu den mehr als ein Dutzend weiteren Stücken, die alle dieselbe Form hatten. Das Bild des Halbmonds tauchte unentwegt in seinen Arbeiten auf, er war davon besessen. Was hatte diese Frau diese Journalistin mit dem Halbmond zu tun, und warum geisterten beide ständig durch seine Träume?

Noch immer konnte sich Graywolf an die Schlagzeilen der Sensationspresse erinnern: „Schamane spürt vermisstes Kind auf“, „Medizinmann löst Kidnapping-Fall“. Er dachte an die Reporter, an ihre bohrenden Fragen und die Blitzlichter der Kameras. Er hatte auf schmerzhafte Weise erfahren müssen, wie Journalisten einem die Worte im Mund umdrehen und die Wahrheit verfälschen konnten. Sie hatten ihn zu einer Karikatur degradiert, zu einem Indianer aus einem Schundroman, einem billigen Mystiker mit Kopfschmuck.

Graywolf drehte sich zur Tür, nahm seine Jeansjacke vom Haken und ging quer über den Hof zu seinem Jeep. Er wollte jetzt nicht an seine Visionen denken, an Halbmonde oder weiße Frauen. Mithilfe von ausreichend Feuerwasser würde er die Bilder aus seinem Kopf verbannen können. Todilhil, das Wasser der Dunkelheit ein Geschenk des weißen Mannes an die Navajos, das wie so viele seiner Geschenke zum Fluch geworden war. Aber heute Abend war Graywolf für dieses Geschenk dankbar. Er wollte nicht an die Frau denken, an ihre makellose Schönheit oder an ihren hilflosen Blick. Er traute weißen Frauen und Journalisten nicht, selbst wenn sie ihn in seinen Träumen heimsuchten.

Auch ohne die unruhig flackernde Leuchtreklame „Barney’s“, hätte Mallory keine Schwierigkeiten gehabt, das Lokal zu finden. Der Verkäufer im Gemischtwarenladen von Tuba City hatte ihr den Weg so genau beschrieben, dass sie die alte Taverne, die nur ein Stück außerhalb des Reservats am Highway 89 lag und in der Benjamin Graywolf fast jeden Abend mit Freunden zusammensitzen sollte, problemlos gefunden hatte.

Kurz vor Sonnenuntergang war Mallory auf den kiesbedeckten Parkplatz gefahren. Das war vor zwei Stunden gewesen. Doch so genau sie sich seitdem auch jeden Gast angesehen hatte, der das Lokal betrat, Benjamin Graywolf hatte sie noch nicht ausmachen können. Was tue ich hier? fragte sich Mallory. Ist es nicht völlig sinnlos, hier meine Zeit zu verschwenden?

Aber sie blieb weiterhin im Wagen sitzen. Irgendetwas ein Instinkt vielleicht ließ sie weiter ausharren. Sie wusste, dass sie dieses Gefühl nicht ignorieren durfte. Da war etwas, das ihr sagte, dass ihre einzige Chance, Marissa zu finden, mit Benjamin Graywolf zu tun hatte. Sergeant Begay hatte Mallory erzählt, dass Graywolf bereits mehrere Male vermisste Personen gefunden hatte; und selbst wenn die Polizei das anders sah, für Mallory war Marissa eine vermisste Person.

Mallorys Augen füllten sich mit Tränen. Diese Wochen hätten für die beiden Schwestern eine besondere Zeit werden sollen. Aber nun hatte sich alles in einen Albtraum verwandelt. Als der Verleger des Washington Chronicle Mallory den Auftrag erteilte, dieses Jahr über die Stammesversammlung der Ureinwohner Amerikas zu berichten, hatten die Schwestern angefangen, Pläne zu schmieden. Sie hatten sich nicht mehr gesehen, seit Marissa vor einem knappen Jahr von Washington nach Sedona gezogen war, um dort als Lehrerin zu arbeiten. Also war ein Auftrag, der sie nach Arizona bringen sollte, Mallory wie ein Geschenk des Himmels vorgekommen. Über den einwöchigen Powwow zu berichten, zu dem sich Stämme aus dem ganzen Land auf dem Festplatz der Navajos trafen, würde sicher interessant werden. Aber was Mallory noch mehr reizte, war die Möglichkeit, einige Zeit mit Marissa zu verbringen. Sie hatte es rasch so eingerichtet, dass sie die zwei Wochen vor dem Powwow Urlaub hatte, und die Schwestern hatten sich sehr auf diese gemeinsame Zeit gefreut.

Aber vor vier Tagen, als Mallory am Flughafen von Flagstaff ankam, war Marissa nicht da gewesen, um sie abzuholen. Mallory hatte augenblicklich gespürt, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte Marissa überall gesucht in ihrer Wohnung, an ihrer Schule, sie hatte alle Freunde und sogar die Krankenhäuser angerufen. Doch es schien, als sei Marissa spurlos verschwunden, und Mallory wusste, dass ihre Schwester in Gefahr war.

Mallory konnte sich nicht mehr genau erinnern, wann es begonnen hatte dieses intuitive Gefühl, dieser spezielle „Zwillingsradar“, der sie mit Marissa verband. Seit sie denken konnten, hatte jede von ihnen die Gefühle der anderen mitempfinden können Freude, Trauer, Erregung, sogar Liebe. Als sie jünger gewesen waren, hatte der Kinderarzt, der sie in Jackson, ihrer kleinen kalifornischen Heimatstadt, ärztlich betreute, sie an das Medizinische Zentrum von Stanford überwiesen, wo ihre Fähigkeiten getestet und ausgewertet wurden. Die Gabe der telepathischen Kommunikation zwischen eineiigen Zwillingen war nichts Außergewöhnliches, aber selten war sie so ausgeprägt wie bei den Wakefield-Zwillingen.

Als Marissa nicht zum Flughafen gekommen war und sich auch in ihrer Wohnung in Sedona kein Hinweis auf ihren Verbleib finden ließ, hatte sich Mallory an den Direktor der Schule gewandt, an der Marissa unterrichtete, und hatte zu ihrem Entsetzen erfahren müssen, dass Marissa dort am Montagmorgen nicht erschienen war. Der besorgte Direktor berichtete Mallory, Marissa habe über das Wochenende ins Navajo-Reservat fahren wollen, um dort Förderunterricht zu erteilen. Aber als Mallory dort anrief, hatte man ihr mitgeteilt, Marissa sei dort nie aufgetaucht.

Von der Polizei konnte sie keine große Hilfe erwarten. Die Beamten hatten eine Vermisstenanzeige ausgefüllt, Marissas Wohnung durchsucht und ihren Namen in den Computer eingespeist. Aber da es keinerlei Hinweise auf ein Verbrechen gab, nur Mallorys „Gefühl“, dass etwas nicht stimmte, konnte oder wollte die Polizei nichts mehr tun. Sergeant Begay vom Navajo-Revier in Tuba City hatte ihr geraten, sich an Benjamin Graywolf zu wenden. Mallory war fest entschlossen, Marissa zu finden, und wenn das hieß, dass sie die ganze Nacht vor dieser schmuddeligen Kneipe auf Graywolf warten musste, dann würde sie das eben tun.

Plötzlich tauchten wie aus dem Nichts zwei Scheinwerfer auf, die den Mietwagen direkt anleuchteten und Mallory blendeten. Sie blinzelte verzweifelt, aber es dauerte mehrere Minuten, bis die Scheinwerfer aus ihrem Blickfeld verschwunden waren und sie wieder sehen konnte. Gerade noch rechtzeitig sah sie, wie Benjamin Graywolfs breiter Rücken hinter der verwitterten Kneipentür verschwand.

„Das ist er“, rief sie und zuckte so zusammen, dass sie sich das Knie am Schalthebel stieß. Sie rieb sich die schmerzende Stelle und blieb noch ein paar Sekunden nachdenklich im Auto sitzen. Sie dachte an Benjamin Graywolf, und unwillkürlich erschauerte sie. Irgendetwas an diesem Mann erzeugte in ihr ein unbehagliches Gefühl. Sie erinnerte sich an seine kalten Augen, an seinen bedrohlichen Blick am liebsten hätte sie wieder ihren Wagen angelassen und wäre weggefahren, so weit weg von ihm wie nur irgend möglich. Benjamin Graywolf hatte sie noch nie zuvor gesehen, und dennoch hatte er sie angeschaut, als würde er sie hassen. Was hatte sie ihm jemals angetan?

Will ich wirklich das Risiko eingehen, mir seinen Zorn noch einmal zuzuziehen? fragte sich Mallory. Aber dann dachte sie wieder an Marissa und spürte, welche Angst ihre Schwester gerade empfand. Entschlossen öffnete sie die Autotür und stieg aus. Marissa brauchte ihre Hilfe deswegen, und nur deswegen, würde sie es riskieren, sich Benjamin Graywolfs Wut ein zweites Mal auszusetzen.

Als sie Barneys trostlose Bar betrat, hätte Mallory am liebsten auf der Stelle wieder kehrtgemacht. Rauch hing wie eine Unheil verkündende Wolke unter der Decke des dunklen Raumes. Irgendwo in der Ecke spielte eine Musikbox einen traurigen Song. An der Theke saßen mehrere Gäste auf Barhockern und kippten schweigend einen Drink nach dem anderen, während eine Gruppe von Männern unter johlendem Gelächter am Tisch nebenan Karten spielte.

Mallorys Eintreten blieb nicht unbemerkt. Wie auf Befehl verstummte das Lachen, und Hände, die gerade das Glas zum Munde führen wollten, hielten plötzlich in der Bewegung inne. Alle Blicke waren auf Mallory gerichtet. Voller Unbehagen registrierte sie, dass sie nicht nur die einzige weiße Person im Raum war, sondern auch noch die einzige Frau. Zum Glück konnte sie schnell Benjamin Graywolf ausmachen, der mit einigen anderen Männern an einem Tisch im hinteren Teil der Bar saß. Von den Augen aller verfolgt überquerte sie langsam den überfüllten Raum.

Er beobachtete, wie sie näher kam. Ärgerlich ballte Mallory die Fäuste. Er wusste, dass sie ihn sprechen wollte, und trotzdem machte er keine Anstalten, ihr auf halbem Wege entgegenzukommen. Stattdessen saß er einfach nur da, den Stuhl nach hinten gekippt, ein Knie gegen die Tischkante gestemmt, und führte gelassen ein Glas zum Mund.

„Ich muss mit Ihnen sprechen“, sagte Mallory und gab sich alle Mühe, ihre Stimme nicht unsicher klingen zu lassen.

„Ich habe doch gesagt, dass ich nicht mit Journalisten rede“, antwortete er und stürzte das dunkle Getränk hinunter.

„Aber ich bin nicht als Journalistin hier. Ich brauche Ihre Hilfe.“ Zwei der Männer, die mit am Tisch saßen, hörten grinsend der Unterhaltung zu. „Kann ich Ihnen einen Drink spendieren?“, fragte Mallory Graywolf. „An der Bar? Ich möchte Ihnen alles erklären.“

Graywolf schloss die Augen und spürte, wie der Whiskey in seiner Kehle brannte, dann hob er den Kopf und sah Mallory an. „Was Sie zu sagen haben, können Sie auch hier vor meinen Freunden sagen. Wir haben keine Geheimnisse voreinander.“ Er prostete den anderen Männern zu. „Und wir haben alle Durst.“

„Genau“, stimmten die beiden lachend zu.

Graywolf griff nach der Flasche, die auf dem Tisch stand, und schenkte allen ein. „Und der weiße Mann weiß, wie sich die Zunge eines Indianers lockert, wenn er Feuerwasser hat.“ Er trank Mallory zu. „Die Flasche geht auf Ihre Rechnung.“

„Ich verstehe“, murmelte Mallory. „In Ordnung. Es geht um meine Schwester. Sie wird vermisst, und ich möchte Sie engagieren, damit Sie mir helfen, sie zu finden.“

Graywolf stellte sein Glas auf der Tischfläche ab. „Sorry, weiße Lady“, sagte er kopfschüttelnd, stand auf und warf einige Münzen auf den Tisch. „Aus dem Geschäft habe ich mich zurückgezogen.“ Er bahnte sich einen Weg zur Tür.

„Warten Sie.“ Mallory lief ihm nach. „Sie verstehen nicht. Ich habe Geld, ich kann Sie bezahlen.“ Ihre Verzweiflung wuchs, als er ungerührt weiterging. „Ich … gebe Ihnen alles, was Sie wollen.“

„Alles?“ Graywolf blieb stehen und drehte sich zu ihr um. Er sah in ihre weit aufgerissenen blauen Augen und spürte, wie der Alkohol heiß durch seine Adern floss. Er machte ein paar Schritte vorwärts und drängte Mallory gegen die Theke. „Sind Sie sicher, Lady?“ Er kam noch näher und presste sich lüstern gegen ihren weichen Körper. „Habt ihr das gehört, Leute? Die Biligaana sagt, sie würde mir alles geben.“

Urplötzlich hatten sich alle um sie herum versammelt. Wohin auch immer sie ihren Blick wandte, überall sah Mallory nur anzüglich grinsende Männer, die Graywolf anfeuerten. Mallory befand sich nicht mehr in der sicheren, vernunftgeleiteten Welt, die sie verstand. Sie war in eine fremde, unbezähmbare Welt versetzt worden. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie war auf der Suche nach Hilfe hierhergekommen, aber wer von diesen verrohten Menschen würde ihr helfen?

„Bitte“, wimmerte sie und sah in Graywolfs kalte Augen. „Bitte, nicht.“

Graywolf hatte wild und grausam zu ihr sein wollen, hatte sie so erniedrigen und erschrecken wollen, dass sie weglief und nie mehr wiederkam. Aber als er in ihr schönes blasses Gesicht blickte, den Schmerz in ihrer Stimme hörte und das Flehen in ihren Augen sah, konnte er ihre Angst fast körperlich fühlen. Mallory war nicht mehr nur ein gesichts- und gefühlloses Wesen aus einer Welt, die er vergessen wollte. Sie war die um Hilfe flehende Frau aus seiner Vision.

Voller Abscheu taumelte er zurück. Wegen seines vulgären, rohen Handelns ekelte er sich vor sich selbst. Abrupt wandte er sich von Mallory ab.

„Genug!“, schrie er zornig die Männer an. Was war eigentlich los mit ihnen allen? Sie benahmen sich wie primitive Wilde. „Geht aus dem Weg.“ Er packte die vor Angst bebende Mallory am Arm und zerrte sie durch die Menschenmenge nach draußen.

Die frische Luft weckte Mallorys Lebensgeister. Langsam gelang es ihr, ihren versteinerten Körper wieder zu entspannen. Es dauerte eine Zeit lang, bis sie begriff, dass die Gefahr vorüber und sie aus dieser entsetzlichen Bar entkommen war.

„Lassen Sie mich los!“, fuhr sie Graywolf an, entwand sich seinem Griff und entfernte sich einige Schritte von ihm. „Wie können Sie es wagen?“, klagte sie ihn an und ging die Stufen zum Parkplatz hinunter. „Ist das die Art, wie Sie und Ihre Freunde sich amüsieren?“

„Hören Sie, es tut mir …“, hob Graywolf an und ging auf Mallory zu.

„Kommen Sie ja nicht näher“, unterbrach sie ihn drohend. Sie drehte sich um und rannte zu ihrem Wagen.

„Es tut mir leid, wirklich“, versuchte Graywolf erneut eine Entschuldigung und lief Mallory nach. „Ich … wir … haben nur Spaß gemacht. Keiner von uns hat es wirklich ernst gemeint.“

Mallory wühlte in ihrer Tasche nach dem Autoschlüssel. Als sie ihn endlich gefunden hatte, drehte sie ihn hastig im Schloss herum und riss die Tür mit einem Ruck auf. „Hören Sie“, sagte sie. „Entweder Sie bleiben da stehen, wo Sie sind, oder ich werde Sergeant Begay von dem Vorfall berichten.“

Graywolf ging langsam auf die andere Seite des Wagens und musterte Mallory über das Autodach hinweg. Der Schein des Vollmonds ließ ihr blondes Haar wie weißen Satin glänzen, und Graywolf dachte daran, wie es sich angefühlt hatte, seinen Körper gegen den ihren zu pressen. „Sie kennen Sam?“

Nun, da das Auto zwischen ihnen stand, fühlte sich Mallory etwas sicherer. „Aus unerfindlichen Gründen dachte er, Sie würden mir helfen.“

Graywolf holte tief Luft und strich sich die Haare aus dem Gesicht. „Es tut mir wirklich leid. Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich dachte, Sie wären wegen einer Zeitungsstory hier.“

„Sergeant Begay sagte, Sie könnten vermisste Personen aufspüren.“

„Das mache ich nicht mehr.“

„Ich würde Sie dafür bezahlen“, sagte Mallory rasch, die spürte, wie ihr Wunsch, Marissa zu finden, wieder die Oberhand über ihre Furcht gewann.

„Was sagt die Polizei?“

„Die ist mir keine Hilfe.“

„Und was macht Sie so sicher, dass Ihre Schwester Hilfe braucht?“

Mallory dachte einen Augenblick nach. Sollte sie ihm von ihren … Ahnungen erzählen? Endlich hatte sie es geschafft, dass Benjamin Graywolf ihr zuhörte. Das letzte, was sie nun wollte, war, dass er sie für eine Verrückte hielt. Sie berichtete ihm von den Plänen, die sie und ihre Schwester gemacht hatten, und davon, dass Marissa weder auf dem Flughafen noch zu ihrem Förderunterricht im Reservat erschienen war. Aber sie zog es vor, ihm noch nichts über ihren „Zwillingsradar“, zu sagen.

„Ich weiß, dass ihr etwas zugestoßen ist. Ich muss sie einfach finden.“

„Vielleicht musste sie ihre Pläne ändern“, wandte er ein, „und konnte Sie nicht rechtzeitig benachrichtigen.“

„Sie verstehen nicht, Mr. Graywolf. Die Zeit, die meine Schwester und ich miteinander verbringen, ist immer etwas ganz Besonderes. Wir stehen uns sehr nahe und haben uns lange nicht mehr gesehen. Sie würde nicht einfach so weggehen, ohne mich wissen zu lassen, wo sie ist.“

„Haben Sie ein Foto von Ihrer Schwester?“, fragte er. Der Anblick eines Gesichts konnte ihm manchmal ein Zeichen geben.

„Das brauchen Sie nicht“, entgegnete Mallory und lief aufgeregt um den Wagen herum. Zum ersten Mal, seit dieser Albtraum begonnen hatte, hegte sie einen kleinen Funken Hoffnung.

Während Mallory auf ihn zueilte, wurde Graywolfs Blick von dem goldenen Anhänger abgelenkt, der im Ausschnitt ihrer Baumwollbluse sichtbar wurde.

„Sie brauchen kein Foto“, erklärte sie, als sie vor ihm stehen blieb.

„Wieso nicht?“, fragte er und fühlte sich auf magische Weise zu Mallory hingezogen.

„Sie sieht genauso aus wie ich. Wir sind eineiige Zwillinge“, erklärte Mallory.

„Zwillinge“, murmelte Graywolf nachdenklich. Er deutete auf ihre Kette. „Was ist damit?“

„Was?“ Mallory griff nach dem Anhänger und sah verdutzt zu Graywolf auf. „Meine Halskette?“

„Der Halbmond. Wo haben Sie ihn her?“

„Von meinem Vater“, antwortete sie misstrauisch. „Er hatte uns immer versprochen, uns den Mond und die Sterne vom Himmel zu holen, und als Marissa und ich den College-Abschluss machten, schenkte er uns den Schmuck. Mir den Mond und Marissa die Sterne.“

Graywolf wandte den Blick ab. Ich hätte wissen sollen, dass es für die Visionen einen Grund gibt dachte er, es gibt immer einen. „Noch einmal warum sind Sie so sicher, dass Ihre Schwester in Gefahr ist?“

Mallory holte tief Luft. „Marissa und ich …“, begann sie. „Zwischen uns hat es schon immer dieses … Gefühl gegeben. Die Ärzte sagten, es sei bei eineiigen Zwillingen nicht ungewöhnlich, dass sie eine Art sechsten Sinn füreinander haben.“ Sie schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung, was es ist außersinnliche Wahrnehmung, Gedankenlesen, wie auch immer. Jede von uns kann es fühlen, wenn die andere glücklich, traurig, ängstlich oder … in Gefahr ist. Ich weiß, dass es verrückt klingt, und die meisten Menschen können es nicht verstehen. Deswegen habe ich der Polizei auch nichts davon gesagt.“ Sie sah Graywolf Hilfe suchend an. „Ich weiß, dass meiner Schwester etwas passiert ist.“

Graywolf sah die Unsicherheit in ihren schönen Augen. Sie hat Angst, dass ich sie für verrückt halten könnte, dachte er zweifellos hätten das die Polizisten gedacht, wenn sie ihnen diese Geschichte erzählt hätte. Aber für Graywolf klang sie keineswegs wie eine Irre. Er verstand nur allzu gut, was sie mit dem besonderen „Gefühl“, meinte. Wie oft schon waren ihm fragende, zweifelnde Blicke begegnet, wenn er anderen von seinen Visionen berichtete? Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, seine Gabe für sich zu behalten und niemanden mehr ins Vertrauen zu ziehen.

„Sie kommen jetzt am besten mit“, sagte er plötzlich und griff nach ihrem Arm.

„Wohin?“, fragte Mallory, während er sie um den Wagen herumführte und die Fahrertür öffnete.

„Folgen Sie mir.“ Er drückte sie auf den Sitz und deutete mit dem Kopf auf den Jeep, den er in der Nähe geparkt hatte. Dann schlug er ihre Tür zu und ging quer über den Platz zu seinem Auto.

Sie sah zu, wie Graywolf in den Wagen stieg. Sie verstand diesen Mann nicht. Er hatte nicht ausdrücklich zugestimmt, ihr zu helfen, schien aber dennoch interessiert. Warum verhielt er sich so eigenartig? Anfangs hatte er den Eindruck erweckt, als würde er sie hassen. Was war geschehen, dass sich seine Einstellung geändert hatte?

2. KAPITEL

„Das verstehe ich nicht.“ Mallory starrte auf die silbernen Halbmonde und die schwarmförmig zusammenhängenden Sterne, die auf der alten Werkbank aufgereiht waren, und ein Schauer lief ihr den Rücken hinunter. „Sie sehen genauso aus wie …“

„… Ihre Anhänger“, sagte Graywolf. „Ich weiß.“

„Aber wieso?“, fragte sie und sah zu ihm hoch. Im Schein der schwachen Glühbirne sah Graywolfs Gesicht seltsam blass aus.

„Wieso wissen Sie, was Ihre Schwester fühlt?“, fragte er zurück und sah Mallory über die Werkbank hinweg an. „Es ist einfach da, stimmt’s?“

Sie richtete sich auf. „Ich verstehe nicht ganz.“

„Ahnungen“, sagte Graywolf. Es war nicht nötig, dass die Biligaana-Frau alles über ihn erfuhr. Sie musste nichts von seiner Hellsichtigkeit und von seinen Visionen wissen. Die Visionen hatten ihn dazu gebracht, ihr helfen zu wollen, aber nicht, ihr zu vertrauen.

„Sie haben auch welche?“ Das erklärte, warum er nicht über ihren „Zwillingsradar“, gelacht hatte.

Graywolf zuckte die Achseln, griff in ein Tongefäß, das auf der Arbeitsplatte stand, holte ein Streichholz heraus und zündete es an der Tischkante an. „Etwas in der Art.“

Deswegen kann er vermisste Personen aufspüren, schlussfolgerte Mallory. „Sie helfen mir also, meine Schwester zu finden?“

Graywolf hob den Zylinder einer Öllampe, die an der Wand hing, und steckte den Docht an. „Ich kann es versuchen.“

Mallory sah wieder auf den aufgereihten Silberschmuck. Die Halbmonde und Sterne hatten verschiedene Größen und Ausführungen, aber alle glichen sie auf unheimliche Weise den Schmuckstücken, die sie und Marissa um den Hals trugen. „Wirklich seltsam.“

„Mag sein.“ Graywolf blies das Streichholz aus. „Aber dasselbe könnte man von der telepathischen Verbindung zwischen Ihnen und Ihrer Schwester sagen.“

Mallory nickte. „Ist Ihnen so etwas schon mal passiert?“, fragte sie und zeigte auf die silbernen Halbmonde.

Das kleine Zimmer wurde nur vom sanften goldenen Schein der Öllampe erleuchtet. Graywolf betrachtete Mallory aus den Augenwinkeln und fragte sich, ob ihre helle Haut sich ebenso samtig und weich anfühlte, wie sie aussah. „Eigentlich nicht.“

Er hatte ganz offensichtlich keine Lust, sich mit ihr über den Zusammenhang zwischen seinem Schmuck und den Halsketten der Zwillingsschwestern zu unterhalten, aber Mallory konnte das gut verstehen. Auch ihr war nicht wohl dabei, wenn sie mit anderen Menschen über ihre Ahnungen sprach. „Also damit verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt?“, wechselte sie das Thema. „Sie sind Silberschmied?“

„Manchmal.“

„Und die restliche Zeit?“

Er ging langsam auf sie zu. Im Schein der Lampe sah ihr Gesicht makellos aus, und ihr langes Haar fiel golden wie Honig in Kaskaden über ihre Schultern. Wieder musste er an den Zwischenfall in der Bar denken, an sein rohes Handeln und seinen übermäßigen Zorn. Er hatte ihr einen gehörigen Schrecken einjagen wollen, damit sie ihn für immer in Ruhe ließ. Aber er war ein Mann Mallorys zerbrechliche Gestalt und der überwältigende Wunsch, seinen Körper gegen den ihren zu pressen, konnten ihn trotz seiner Wut nicht kaltlassen.

„Die restliche Zeit“, sagte er und blieb nur wenige Zentimeter vor ihr stehen, „bin ich einfach ein Wilder.“

Mallory sah in seine geheimnisvollen Augen und fühlte ihr Herz höher schlagen. Wieder fiel ihr ein, wie er sie in der Dunkelheit der Bar angeschaut hatte wild, unberechenbar, gefährlich. Plötzlich wurde ihr bewusst, in welcher Situation sie sich befand allein mit diesem Mann, in einem dunklen Zimmer am Ende der Welt. Sie war ihm hilflos ausgeliefert. Er ist ein Fremder, dachte sie und wie er selbst sagt, ein Wilder. Nach all dem, was ich bisher mit ihm erlebt habe, kann er genauso gut ein Irrer sein.

„Vielleicht sollte ich Sie jetzt besser bezahlen“, schlug sie zaghaft vor.

„Ja, vielleicht“, antwortete er. Er musste nur einen Blick auf sie werfen, um zu erkennen, wie unbehaglich sie sich fühlte. Typisch Biligaana, dachte er sie fürchtet die Rothaut, sie zittert beim Anblick des Wilden.

„Nehmen Sie auch Kreditkarten?“, fragte sie und wühlte in ihrer Handtasche.

Graywolf warf den Kopf zurück und lachte. „Wonach sieht das hier aus, Lady? Nach einer schicken Modeboutique?“

„Nein, natürlich nicht, Sie haben recht“, entschuldigte sich Mallory. Ihre Nervosität beeinträchtigte offensichtlich ihr Denkvermögen. „Sind Schecks okay?“

„Bargeld wäre besser“, antwortete er. „Aber Schecks tun’s auch.“

„Was ist Ihr übliches Honorar?“

„Zweitausend Dollar.“ Er nannte absichtlich einen sehr hohen Preis, aber Mallory zuckte nicht einmal mit der Wimper. Es überraschte Graywolf immer wieder, wie selbstverständlich Weiße mit ihrem Reichtum umgingen.

„Wie sollen wir das regeln?“, fragte sie und fischte einen Kugelschreiber aus der Handtasche. „Die Hälfte jetzt, und die andere Hälfte, wenn Sie meine Schwester gefunden haben?“

„Zweitausend“, wiederholte er ernst. „Im Voraus.“

„Und was ist, wenn Sie einfach das Geld nehmen und …“

„Und damit verschwinde? Dieses Risiko werden Sie wohl eingehen müssen.“

Mallory runzelte die Stirn. „Was gefällt Ihnen nicht an mir? Oder sind Sie immer so ein Ekel?“

„Zweitausend Dollar, und zwar im Voraus“, betonte er noch einmal und fragte sich, warum es ihm so ein Vergnügen bereitete, sie zu ärgern. Er war normalerweise nicht der Typ Mann, der seinen Spaß daran hatte, Frauen das Leben schwer zu machen. Aber diese Frau forderte es geradezu heraus.

Wütend schlug sie ihr Scheckheft auf und begann zu unterschreiben. Als sie fertig war, schleuderte sie die Schecks auf die Werkbank. „Zweitausend. Wann fangen Sie an?“

„Gleich morgen früh“, sagte er und griff nach den Schecks. „Geben Sie mir Ihre Nummer. Ich bleibe mit Ihnen in Verbindung.“

„Was wollen Sie damit sagen?“

Graywolf zuckte die Achseln. „Ich will damit sagen, ich gebe Ihnen Bescheid, sobald ich etwas herausfinde.“

„Oh, nein“, entgegnete Mallory und schüttelte den Kopf. „Ich werde nicht tatenlos herumsitzen und auf Ihren Anruf warten. Ich komme mit.“

„Nein“, sagte Graywolf. „Ich arbeite allein.“

„Sie arbeiten für mich“, betonte sie.

Er musterte sie nachdenklich. Im bernsteinfarbenen Schein der Öllampe schimmerten ihre Augen hellgrün. Da war keine Spur von Angst oder Unbehagen mehr, nur noch Wut und Entschlossenheit. Bisher hatte er Mallory nach seinem Willen herumschubsen können, aber nun war offensichtlich die Grenze erreicht.

„Ich habe einen Freund bei der Polizei von Flagstaff. Ich werde morgen hinfahren und mit ihm reden.“

Zufrieden schloss Mallory ihre Handtasche. Das klang ganz danach, als hätten sie eine Vereinbarung getroffen. Sie nickte und ging zur Tür. Aber bevor sie nach der Klinke greifen konnte, wurde diese von außen heruntergedrückt, und die Tür ging schwungvoll auf. Erschrocken wich Mallory zurück.

„Yaa’ eh t’eeh“, sagte der alte Mann, der im Türrahmen auftauchte. Wie er langsam, nach vorne gebeugt, über die Schwelle schritt, wirkte der Greis unglaublich zerbrechlich. Aber als er Mallory erblickte, flammten seine dunklen Augen auf, und ein Lächeln erhellte sein wettergegerbtes Gesicht. „Kenne ich die schöne Lady?“

„Hallo, Großvater“, begrüßte Graywolf ihn respektvoll und ließ die Schecks in seiner Tasche verschwinden. „Das ist …“

Graywolf sah Mallory an und ließ den Satz unvollendet.

„Mallory Wakefield“, beeilte sie sich hinzuzufügen und streckte die Hand aus. Aus den Augenwinkeln sah sie Graywolfs finsteren Blick und fragte sich, gegen welchen Stammesbrauch sie mit dieser Geste wohl verstoßen haben könnte.

„Das ist Hosteen Johnny.“ Graywolf verzichtete auf die Navajo-Tradition, wonach man Menschen zusätzlich mit dem Namen ihrer Ahnenlinie mütterlicherseits vorstellte. Diese höfliche Sitte wäre einer weißen Frau gegenüber die reinste Verschwendung. „Mein Großvater.“

„Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. … äh … Sir“, stammelte Mallory errötend.

„Ich bin zwar alt, und mein Gedächtnis ist nicht mehr das, was es mal war, aber ich kann mich nicht entsinnen, Sie schon einmal gesehen zu haben“, sagte Hosteen Johnny Bistie und hielt sanft Mallorys Hand. „Ich bin sicher, ich könnte mich sonst an die Frau mit dem Sonnenhaar erinnern.“

Mallory lächelte. Trotz seiner Worte über sein Alter hatte sie den Eindruck, dass seinen lebhaften Augen, die das von der Mühsal eines langen Lebens gezeichnete Gesicht beherrschten, nicht viel entging. „Nein, wir sind uns noch nie begegnet.“

„Sie hat mich engagiert“, sagte Graywolf und ging auf Mallory zu. „Um ihre Schwester zu finden.“

Das Lächeln wich langsam aus Hosteen Johnnys Gesicht. „Sie brauchen wohl sehr dringend Hilfe, wenn Sie den langen Weg hierher auf sich genommen haben.“

„Ja“, murmelte Mallory. Langsam beschlich sie das Gefühl, dass der alte Mann mehr wusste, als er zugab.

Hosteen Johnny nickte seinem Enkel zu. „Du hast eine weise Entscheidung getroffen. Ben ist ein guter Fährtenleser. Er wird Ihre Schwester finden.“

„Das hoffe ich“, sagte Mallory aufrichtig.

„Miss Wakefield wollte gerade gehen“, verkündete Graywolf, und es schien ihm völlig egal zu sein, ob es unhöflich klang. Die Situation gefiel ihm nicht. Er wollte nicht das Risiko eingehen, dass die weiße Frau seinen Großvater herablassend behandelte. Und er wollte auch nicht, dass sie mit ihrem gewinnenden Lächeln das Herz des alten Mannes eroberte.

„Sie haben sich den schönen Schmuck angesehen“, fuhr Hosteen Johnny fort, ohne sich um den rüden Umgangston seines Enkels zu kümmern, und führte Mallory zurück ins Zimmer.

„Ja, er ist wirklich wunderschön“, antwortete sie.

„Schon seit vielen Generationen arbeitet mein Stamm mit den Geschenken der Natur.“ Er deutete auf die Sterne und Halbmonde, die auf der Werkbank aufgereiht waren. „Es ist eine Gabe, solche Schönheit erschaffen zu können. Mein Vater hatte sie, und der Vater meines Vaters.“ Er hielt inne und sah seinen Enkel an. „Aber Ben hat eine ganz besondere Begabung.“

„Miss Wakefield hat eine beschwerliche Fahrt vor sich“, beharrte Graywolf und hielt die Tür auf. „Wir sollten sie nicht länger aufhalten, Großvater.“

„Er wollte nicht den Weg seiner Vorväter einschlagen. Er lief weg in die Stadt des weißen Mannes.“ Verächtlich schüttelte Hosteen Johnny den Kopf. „Washington, D.C. Aber dort war seine Arbeit nichts wert.“

Mallory riss überrascht die Augen auf. Benjamin Graywolf in Washington? Was hatte er dort getan? Sie sah Graywolf an, der in der offenen Tür stand. Sein strenges, kantiges Gesicht verriet keine Gemütsbewegung.

„Aber nun ist er wieder zu Hause“, fuhr Hosteen Johnny fort. „Wo er hingehört. Wie seine Ahnen trägt er als Schamane dazu bei, dass das Volk der Navajos im Einklang mit dem Universum bleibt.“ Er führte Mallory wieder zur Tür und tätschelte ihr beruhigend die Hand. „Er wird Ihre Schwester finden.“

Mallorys Augen füllten sich mit Tränen. Die Worte des alten Mannes klangen so zuversichtlich, so hoffnungsvoll. Sie betete, dass er recht hätte.

Sie verabredete sich mit Graywolf für den nächsten Tag auf dem Polizeirevier von Flagstaff, verabschiedete sich dann höflich und fuhr weg. Sie starrte auf die hellen Kreise, die ihre Scheinwerfer auf die dunkle Straße warfen, und musste an Hosteen Johnnys Worte denken. Hatte Graywolfs „besondere Begabung“, etwas mit dem Halbmond und den Sternen zu tun? Und was hatte die Sache mit Washington zu bedeuten? Was hatte Graywolf dazu bewegt, dorthin zu ziehen?

„Sie haben ihn engagiert?“

Mallory nickte und sah enttäuscht von der gerade gekommenen Telefaxmitteilung auf. Es war nicht die Nachricht, auf die sie wartete. „Er soll meine Schwester finden.“

„Hmm“, brummte Wayne Clair nachdenklich. „Es überrascht mich, dass Graywolf das wieder tut.“

„Was tut?“, fragte Mallory.

Wayne lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Es steht alles in den Berichten, die Glen Ihnen schickt. Es ist schon einige Jahre her, wahrscheinlich waren Sie da noch nicht beim Chronicle. Graywolf lebte damals noch in Washington.“

Mallory hatte am frühen Morgen den Verleger des Chronicle angerufen. Glen Harvey wollte ihr gern helfen und hoffte gleichzeitig, dass diese ganze Geschichte eine Story für die Zeitung abgeben könnte, und so hatte er versprochen, seinem alten Collegefreund Wayne, der beim Flagstaff Register Chef vom Dienst war, alle Informationen zu faxen, die er über Benjamin Graywolf auftreiben konnte. Wayne würde dann dafür sorgen, dass Mallory sie bekam.

„Ist er mit dem Gesetz in Konflikt geraten?“, spekulierte Mallory.

„Nein.“ Wayne schüttelte den Kopf. „Nichts in der Richtung. Er war der Polizei in einem Entführungsfall behilflich. Hat das Kind eines Diplomaten gerettet.“

„Sie machen Witze.“

„Nein, wirklich. Graywolf hat außersinnliche Wahrnehmungen oder so was, ich weiß nicht. Die Presse war eine Weile ziemlich hinter ihm her.“

Mallory brauchte einige Sekunden, um das Gehörte zu verdauen. Es erklärte jedenfalls, warum Graywolf so abweisend gewesen war, als sie ihm sagte, sie sei Journalistin. Aber außersinnliche Wahrnehmung? Hatte Hosteen Johnny das gemeint, als er von Graywolfs „besonderer Begabung“, sprach?

„Sie meinen, er kann hellsehen?“

„Keine Ahnung. Eine Zeit lang wurde das alles geheimgehalten“, sagte Wayne. „Niemand wollte so recht darüber berichten.“

„Niemand?“, fragte Mallory ungläubig. Sie war lange genug in der Zeitungsbranche, um eine gute Story zu erkennen.

„Nun.“ Wayne zuckte die Schultern. „Bis die Sensationspresse davon Wind bekam und die ganze Sache unglaublich aufbauschte. Sie machten Graywolf zu so was wie einem Hexenmeister und schossen sich ziemlich auf die Indianer-Schiene ein. Sie nannten ihn Medizinmann, Schamane mit mystischen Kräften all so’n Quatsch.“ Er lehnte sich vor und stützte seine Ellbogen auf den Schreibtisch. „Der arme Kerl wurde von ungefähr jedem Spinner im Land belästigt. Es wurde so schlimm, dass Graywolf schließlich Washington verließ und wieder ins Reservat zurückkehrte. Hat sich seitdem ziemlich von der Öffentlichkeit ferngehalten.“ Wayne schüttelte den Kopf. „Zu dumm. Seine Arbeit hatte wirklich angefangen, einiges im Reservat zu verändern.“

Mallory sah ihn fragend an. „Sie meinen die Schmuckherstellung?“

„Schmuck? Wovon reden Sie?“

„Ist das denn nicht sein Beruf Silberschmied?“

„Davon weiß ich nichts. Ich weiß nur, dass er Rechtsanwalt ist. Er hat in Washington, D.C. für eine Vereinigung gearbeitet, die für den Gesetzgeber als Beraterteam fungierte in Streitfragen, die die Ureinwohner von Amerika betrafen, so’n Zeug eben.“

Das Faxgerät piepste wieder. „Er dachte wohl, die Regierung täte in der Sache nicht genug. Er hat daran gearbeitet, die schiefe Vorstellung zu ändern, die die Öffentlichkeit von den Ureinwohnern Amerikas hat und wurde dann selbst fast zu einer Karikatur eines Indianers gemacht. Ironie des Schicksals.“

Mallory sah auf das Papier, das sich langsam aus dem Faxgerät schob. Auf dem Deckblatt stand Glen als Absender, und Mallory riss jede Seite ungeduldig heraus. Die Kopien waren verkleinert und schlecht leserlich, aber Glen hatte so viele Zeitungsartikel geschickt, dass sie Waynes spärliche Informationen gut ergänzten. Mallory las alles durch, von den seriösen Chronicle-Berichten bis zu den Meldungen der Boulevardpresse, und versuchte sich klarzumachen, dass der Mann, der von den Zeitungen beschrieben wurde, derselbe war, den sie gestern kennengelernt hatte. Aber es war unmöglich. Sie konnte sich Graywolf weder als Anwalt noch als Medizinmann vorstellen.

Doch sie konnte nicht leugnen, dass das alles auf eine eigenartige Weise Sinn machte. Vom ersten Augenblick an hatte sie gespürt, dass ihm irgendetwas Seltsames anhaftete etwas Besonderes, Unerklärliches. Aus irgendeinem Grund wusste sie, dass sie ihm vertrauen konnte in Bezug auf den Auftrag, ihre Schwester zu finden, und in Bezug auf ihre schwerverdienten zweitausend Dollar. Vielleicht war es der Ausdruck der Qual, den sie in seinen Augen gesehen hatte, nachdem er sie in der Bar vor seinen Freunden hatte erniedrigen wollen, oder die detailbesessene Virtuosität, mit der er das Silber bearbeitete. Mallory wusste nur, dass hinter der Maske des grausamen, hartherzigen Wilden, die er sich so krampfhaft vorhielt, ein ganz besonderer Mensch stecken musste.

„Vielen Dank, Wayne“, sagte sie schließlich und stopfte die Artikel in ihre Handtasche. „Sie haben mir sehr geholfen.“

Wayne stand auf und schüttelte Mallory die Hand. „Viel Glück bei der Suche nach Ihrer Schwester.“

„Danke.“ Sie drehte sich um und ging zur Tür.

„Oh, und Mallory? Falls diese Sache den Stoff für eine gute Story liefern sollte“, sagte Wayne vorsichtig, „denken Sie bitte an mich.“

3. KAPITEL

„Mehr können wir wirklich nicht tun“, sagte Lieutenant George Robins. Er lehnte sich zurück, schob seine Hornbrille auf der Nase zurecht und sah Graywolf über den Tisch hinweg an. „Du weißt so gut wie ich, dass man keinen Erwachsenen per Gesetz daran hindern kann, für eine Weile freiwillig unterzutauchen. Und solange es keinerlei Anzeichen für ein Verbrechen gibt, sind uns die Hände gebunden.“

Graywolf sah von dem Polizeibericht auf, der am Tag zuvor nach Mallorys Aussagen angefertigt worden war, und warf dem Beamten einen nachdenklichen Blick zu. „Du meinst, solange keine Leiche gefunden wird.“ Er war dankbar für die Chance, mit George offen reden zu können, bevor Mallory eintraf.

Robins lächelte breit und seufzte. „Ich liebe es, wenn du den abgebrühten Indianer spielst. Es ist schon so lange her, Graywolf.“

Graywolf verdrehte die Augen. Er hatte sich während der vier Jahre, in denen Robins auf der Universität sein Zimmernachbar gewesen war, an dessen trockenen Witz gewöhnt. „Komm schon, George. Diese Frau ist nicht einfach ein paar Tage zum Ausspannen in die Sonne gefahren, das weißt du.“

„Ach ja? Meine Güte, Ben, ich weiß nicht einmal, in welchen Zuständigkeitsbereich der Fall gehört. Sie hat in Sedona gewohnt, an einer Schule außerhalb von Flagstaff unterrichtet, im Reservat Nachhilfe erteilt, und nur der Himmel weiß, wo sie war, als sie verschwand.“ Er schüttelte den Kopf. „Mir dreht sich alles.“

„Die Tatsache, dass sie verschwunden ist, sollte doch ausreichen. Sie ist Lehrerin. Sie hat einen Job und Verpflichtungen. Sie hatte vor, die Ferien mit ihrer Schwester zu verbringen.“ Graywolf schleuderte den Bericht auf den Schreibtisch. „So eine Frau taucht nicht einfach unter, ohne jemandem ein Wort zu sagen.“

„Sag mal, Ben.“ George nahm die Füße vom Schreibtisch und stand auf. „Warum interessiert dich das alles so brennend? Ist es deine mystische Schamanen-Intuition, oder hat es eher mit einer blauäugigen, vollbusigen Blondine zu tun? Tom Layton, der Beamte aus Sedona, der ihre Aussage aufnahm, hat mir gesagt, sie sieht so sagenhaft gut aus, dass einem die Augen aus dem Kopf fallen.“ 

„Du bist ein verdammter Mistkerl, Robins“, sagte Graywolf angewidert. Er stand auf und ging zum Fenster.

„Klar bin ich das“, gab George lächelnd zu. „Ich bin ein Bulle.“

Im selben Moment öffnete eine junge Frau die Tür und streckte den Kopf herein. „George, jemand möchte Sie sprechen. Eine Miss Wakefield.“

„So, so“, sagte Robins und warf Graywolf einen vielsagenden Blick zu. „Wenn man vom Teufel spricht … Führen Sie sie herein, Diane.“

Graywolf schwieg mürrisch, während Mallory Georges kleines Büro betrat und sich vorstellte. Bei seiner Ankunft hatte Graywolf schon gehofft, sie hätte es sich anders überlegt und beschlossen, nicht zu kommen.

Wieder mal falsch gedacht, sagte er sich, als George Mallory einen Stuhl anbot und ihr dann pflichteifrig eine Tasse Kaffee einschenkte. Bei Mallorys Anblick krampfte sich Graywolf der Magen schmerzhaft zusammen. Mit ihrem blonden Haar und ihrer blassen Haut war sie das genaue Gegenteil von ihm mit seiner dunklen Mähne sowie seiner sonnengebräunten Haut. Mallory war die Sorte Frau, die ein Indianer zwar ansehen, aber niemals berühren durfte.

Am Abend zuvor, als er gesehen hatte, wie die Rücklichter ihres Wagens in der Dunkelheit verschwanden, hatte er sich gefragt, ob es ein Fehler gewesen war, Mallory seine Hilfe zuzusichern. Mit ihren zweitausend Dollar konnte man für die Klinik, die er und einige Freunde im Reservat zu errichten planten, eine Menge Wandfarbe kaufen. Aber auch ohne das Geld war er nun an sein Versprechen gebunden.

Er dachte wieder an seine Vision die Vision von einer Frau, die aussah wie Mallory, umgeben von einem gleißend hellen Licht, das sich in einer Galaxie voller Halbmonde und Sterne verlor. Die Vision zwang Graywolf förmlich dazu, Mallory zu helfen. Das heißt aber noch lange nicht, dass ich die Lady mögen muss, dachte er. Er traute weißen Frauen nicht, und er traute Journalisten nicht und diese Frau war beides. Besser, er behandelte sie mit Vorsicht.

Er sah zu, wie Mallory mit George sprach. Sie hatte klare, wachsame Augen, und ihre Stimme klang sanft, aber entschlossen. Setzte sie alles bewusst ein die Neigung ihres Kopfes, die leicht geöffneten Lippen, die Art, wie sie jede Bewegung ihres Gesprächspartners verfolgte oder lag es in ihrer Natur? Selbst George, der stolz von sich behauptete, ein kaltschnäuziger, abgebrühter Polizist zu sein, schien von ihr hypnotisiert es war zum Verzweifeln.

„Wie ich Mr. Graywolf schon sagte“, flötete George und deutete auf seinen Freund, „werden wir alles tun, um Ihnen bei der Suche nach Ihrer Schwester zu helfen.“

Mallorys Blick streifte Graywolf flüchtig und kehrte dann wieder zu Lieutenant Robins’ markantem Gesicht zurück. „Ich weiß das zu schätzen.“

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